Ungeheuer

Mitten in der Nacht weckte mich das Licht. Ich richtete mich auf den Ellbogen auf und deckte mit der anderen Hand die Augen. Harey saß ins Leintuch gewickelt am Fußende des Bettes, zusammengeknüllt, das Haar vors Gesicht geworfen. Ihre Schultern bebten. Sie weinte, ohne einen Ton von sich zu geben.

— Harey!

Sie krümmte sich noch tiefer.

— Was ist mit dir?… Harey…

Ich setzte mich aufs Bett, noch nicht voll bei Sinnen, langsam den Alptraum abschüttelnd, der mich eben noch gewürgt hatte. Das Mädchen zitterte. Ich umarmte sie. Sie stieß mich mit dem Ellbogen zurück. Verbarg das Gesicht.

— Liebling.

— Sag nur nicht so was.

— Aber Harey, was ist denn los?

Ich erblickte ihr nasses, bibberndes Gesicht. Dicke, kindliche Tränen rollten über die Wangen, glänzten in dem Grübchen über dem Kinn, tropften aufs Leintuch.

— Du willst mich nicht.

— Was fällt dir nur ein!

— Ich habe es gehört.

Ich spürte, daß mir das ganze Gesicht einfror.

— Was hast du gehört? Du hast nicht verstanden, das war bloß…

— Nein. Nein. Du hast gesagt, das bin nicht ich. Und ich soll gehen. Ich ginge ja. Gott, ich ginge ja, aber ich kann nicht. Ich weiß nicht, was das ist. Ich wollte und kann nicht. Ich bin ja so gemein!

— Kind!!!

Ich packte sie, drückte sie mit aller Kraft an mich, alles fiel flach, ich küßte ihre Hände, die nassen salzigen Finger, wiederholte irgendwelche Beschwörungen, Schwüre, Entschuldigungen, sagte, das sei ein dummer, ekliger Traum gewesen. Langsam beruhigte sie sich. Hörte zu weinen auf. Ihre Augen waren riesig, lunatisch. Trockneten. Sie wandte den Kopf weg.

— Nein — sagte sie — sag das nicht. Nicht nötig. Du bist nicht mehr derselbe gegen mich…

— Wer, ich bin nicht derselbe!

Das brach aus mir wie ein Stöhnen.

— Ja. Du willst mich nicht. Ich habe das andauernd gefühlt. Ich stellte mich, als sehe ich es nicht. Ich dachte, vielleicht kommt mir das nur so vor, oder so was. Aber nein. Du benimmst dich… anders. Du nimmst mich nicht ernst. Das war ein Traum, das stimmt, aber von mir hast du geträumt. Du hast mich beim Namen genannt. Du hast dich geekelt. Warum! Warum?!

Ich kniete vor ihr nieder, umfing ihre Knie.

— Kind…

— Ich will nicht, daß du so redest. Ich will nicht, hörst du? Ich bin kein Kind. Ich bin…

Sie schluchzte los und fiel mit dem Gesicht aufs Bett. Ich stand auf. Mit leisem Prasseln zog aus den Ventilationsöffnungen

kühle Luft. Mir war kalt. Ich hängte mir den Bademantel über, setzte mich aufs Bett und berührte Hareys Arm.

— Harey, hör zu. Ich sag dir was. Ich sag dir die Wahrheit…

Sie stützte sich langsam mit den Händen hoch, setzte sich auf Ich sah, wie unter der dünnen Haut am Hals der Puls jagte. Mir wurde wieder das Gesicht starr und ich fühlte solche Kälte, als hätte ich im Frost herumgestanden. Mein Kopf war vollständig leer.

— Die Wahrheit? — sagte sie. — Auf dein heiliges Wort?

Ich antwortete nicht gleich, ich mußte erst einen Krampf in der Kehle hinunterzwingen. Das war zwischen uns so ein altes Beschwörungswort. War es gefallen, so hatten wir beide nicht nur nicht mehr zu lügen gewagt, sondern auch nichts zu verschweigen. Es hatte eine Zeit gegeben, da quälten wir einander mit übertriebener Aufrichtigkeit, in der naiven Überzeugung, sie werde uns retten.

— Auf mein heiliges Wort — sagte ich ernst. — Harey… Sie wartete.

— Du hast dich auch geändert. Alle ändern wir uns. Aber nicht das wollte ich sagen. In der Tat sieht es so aus… wie wenn du aus irgendeinem Grund, den wir beide nicht genau kennen… nicht von mir loskommen könntest. Aber das trifft sich sogar gut, denn ich kann von dir auch nicht…

— Kris!

Ich hob sie auf, wie sie ins Leintuch gewickelt war. Ein Zipfel, feucht von Tränen, ruhte auf meiner Schulter. Ich ging durchs Zimmer und schaukelte Harey. Sie streichelte mir das Gesicht.

— Nein. Du hast dich nicht verändert. Nur ich — flüsterte sie mir ins Ohr. — Mit mir ist irgendwas. Vielleicht das?

Sie schaute auf das schwarze, leere Rechteck, wo die zerschmetterte Tür gewesen war, deren Trümmer ich am Abend in den Lagerraum fortgetragen hatte. — Ich werde eine neue einhängen müssen — dachte ich. Ich setzte Harey aufs Bett.

— Schläfst du überhaupt? — fragte ich, während ich vor ihr stand und die Arme hängen ließ.

— Weiß ich nicht.

— Wieso weißt du das nicht? Denk einmal nach, Liebling.

— Das ist wohl kein richtiger Schlaf. Vielleicht bin ich krank. Ich liege so und denke, und, weißt du…

Sie erzitterte.

— Was? — fragte ich flüsternd, die Stimme hätte mich im Stich lassen können.

— Das sind sehr merkwürdige Gedanken. Ich weiß nicht, woher mir die kommen.

— Zum Beispiel?

Ich dachte: — Ich muß ruhig bleiben, ohne Rücksicht darauf, was ich hören werde, — und ich bereitete mich auf ihre Worte vor wie auf einen starken Schlag. Sie schüttelte hilflos den Kopf.

— Das ist so irgendwie… ringsherum…

— Ich verstehe nicht…?

— Wie wenn nicht nur in mir, sondern weiter, so irgendwie, ich kann das nicht so sagen. Dafür gibt es keine Worte…

— Das sind sicher Träume — versetzte ich wie beiläufig und atmete auf. — Und jetzt löschen wir das Licht und werden bis morgen früh keinen Kummer haben, und morgen früh werden wir uns, wenn wir Lust kriegen, um einen neuen bemühen. Gut?

Sie streckte die Hand nach dem Schalter aus, Finsternis fiel ein, ich legte mich auf dem ausgekühlten Bettzeug zurecht und spürte Hareys warmen Atem näherkommen.

Ich umarmte sie.

— Fester — flüsterte sie. Und nach langer Zeit: — Kris!

— Was denn?

— Ich liebe dich.

Mir war zum Schreien.

Der Morgen war rot. Die aufgedunsene Sonnenscheibe stand knapp über dem Horizont. Bei der Türschwelle lag ein Brief. Ich riß den Umschlag auf. Harey war im Bad, ich hörte sie summen. Hin und wieder guckte sie heraus, mit nassen Haarsträhnen beklebt. Ich trat ans Fenster und las:

«Kelvin, wir haben uns festgefahren. Sartorius ist für energisches Vorgehen. Er glaubt, es wird ihm gelingen, Neutrino-Strukturen zu destabilisieren. Für die Versuche benötigt er eine bestimmte Menge Plasma, als den Ausgangsbaustoff der F. Er schlägt vor, daß Du auf Erkundung ausziehst und eine bestimmte Menge Plasma in den Behälter faßt. Handle nach eigenem Ermessen, aberteile mir Deinen Entschluß mit. Ich habe keine Meinung. Ich habe, scheint's, überhaupt nichts mehr. Lieber wäre mir, Du tätest das, nur deshalb, weil wir dann von der Stelle kommen, und sei es scheinbar. Sonst bleibt nichts übrig, als G. zu beneiden.

Ratz

P.S. Komm nicht in die Funkstation. Das kannst Du für mich noch tun. Ruf am besten an.»

Mir zog sich das Herz zusammen, als ich diesen Brief las. Ich sah ihn nochmals aufmerksam durch, zerriß ihn und warf die Schnipsel in den Ausguß. Dann begann ich einen Schutzanzug für Harey zu suchen. Schon das allein war gräßlich. Ganz wie voriges Mal. Aber sie wußte nichts, sonst hätte sie sich nicht so freuen können, als ich ihr sagte, ich müsse einen kleinen Erkundungsflug machen und bitte sie, mich zu begleiten. Wir frühstückten in der kleinen Küche (wieder schluckte Harey kaum ein paar Bissen hinunter), dann gingen wir in die Bibliothek.

Ich wollte Literatur zu den Problemen des Neutrinofeldes und der Neutrinostrukturen durchsehen, bevor ich tun würde, was Sartorius sich wünschte. Ich wußte noch nicht, wie ich es anpacken sollte, aber ich hatte beschlossen, seine Arbeit zu kontrollieren. Mir fiel ein, dieser noch nicht existierende Neutrino-Annihilator, oder was das war, könnte ja Sartorius und Snaut befreien, und ich würde mit Harey während der «Operation» irgendwo außerhalb warten, im Flugzeug zum Beispiel. Ich murkste einige Zeit bei dem großen elektronischen Katalog herum: wenn ich eine Frage stellte, antwortete er entweder durch Auswerfen eines Kärtchens mit der lakonischen Aufschrift «Nicht in der Bibliografie», oder er riet mir, in ein solches Dickicht physikalischer Spezialarbeiten einzudringen, daß ich nichts damit anzufangen wußte. Ich wollte nicht recht fort aus diesem großen runden Raum mit den glatten Wänden aus lauter kleinen Karos von Schubladen mit zahllosen Mikrofilmen und elektronischen Aufzeichnungen. Die Bibliothek lag genau im Zentrum der Station und hatte keine Fenster, sie war der best-isolierte Platz innerhalb des Stahlpanzers. Wer weiß, vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb hier wohl, trotz des klaren Mißerfolgs beim Suchen. Ich durchstreifte den großen Saal; vor einem riesigen, bis an die Decke reichenden Regal mit Büchern blieb ich schließlich stehen. Das war nicht so sehr ein Luxus, als solcher im übrigen mehr als fragwürdig, sondern eher ein Ausdruck der Pietät und der Achtung den Pionieren der Solarisforschung gegenüber: diese Fächer trugen rund sechshundert Bände, die ganze Klassik des Sachgebiets, angefangen bei der monumentalen, wenn auch schon weitgehend veralteten zehnbändigen Monographie von Giese. Ich nahm diese Bände heraus, unter deren Gewicht sofort die Hand sank, und blätterte lässig in ihnen herum, halb auf der Lehne des Armstuhls sitzend. Harey fand sich auch ein Buch; über ihre Schulter hinweg entzifferte ich ein paar Druckzeilen: Das war eines der wenigen Bücher aus den Beständen der ersten Expedition, mir scheint, einst hatte gar Giese selbst es besessen: "Der interplanetare Koch»… Ich sagte nichts, als ich sah, wie aufmerksam Harey diese den harten Lebensbedingungen der Kosmonautik angepaßten Kochrezepte studierte, und wandte mich wieder dem ehrwürdigen Folianten zu, den ich auf den Knien hielt.»Zehn Jahre Solaris-Forschung» ist in der Reihe «Solariana» als Band vier bis dreizehn erschienen, während die jetzigen vierstellige Nummern haben.

Giese hatte nicht allzuviel Schwung, aber einem Solarisforscher kann diese Eigenschaft nur schaden. Wohl nirgends sonst können Phantasie und die Fertigkeit raschen Hypothesenbildens so viel verderben. Schließlich ist auf diesem Planeten alles möglich. Unglaubwürdig klingende Beschreibungen von Konstellationen, die das Plasma herausbildet, sind aller Wahrscheinlichkeit nach authentisch, wenn auch im allgemeinen unüberprüfbar, da der Ozean kaum jemals seine Evolutionen wiederholt. Wer sie zum ersten Mal beobachtet, den erschüttern sie hauptsächlich durch ihre Fremdheit und Riesengröße; würden sie in kleinem Maßstab auftreten, in irgendeinem Tümpel, so hätte man sie gewiß als eine weitere «Laune der Natur» aufgefaßt, als Äußerung der Zufälligkeit und des blinden Spiels der Kräfte. Daß Mittelmaß und Genie gleichermaßen hilflos der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit solarischer Formen gegenüberstehen, erleichtert auch nicht gerade den Umgang mit den Phänomenen des lebenden Ozeans. Giese war weder eines noch das andere. Er war einfach ein pedantischer Systematiker, von der Art derer, unter deren äußerlicher Ruhe sich unermüdlicher, das ganze Leben aufzehrender Arbeitsfanatismus verbirgt. Solang er konnte, bediente sich Giese einfach der Sprache der Beschreibung, und wenn ihm Wörter fehlten, half er sich, indem er neue Wörter schuf, oft unglückliche, den beschriebenen Phänomenen nicht angemessene. Aber letztlich können keinerlei Termini wiedergeben, was auf der Solaris vorgeht. Seine «Bergbaumer», seine «Längichte»,"Verpilzungen»,"Mimoide», «Symmetriaden» und «Asymmetriaden","Wirbelknöchrigen» und «Schneller» klingen schrecklich künstlich, aber irgendeine Vorstellung von der Solaris geben sie sogar denen, die außer undeutlichen Fotos und höchst unvollkommenen Filmen nichts gesehen haben. Selbstverständlich hat auch dieser gewissenhafte Systematiker durch manche Unvorsichtigkeit gesündigt. Der Mensch stellt immer Hypothesen auf, selbst wenn er auf der Hut ist, selbst wenn er es nicht weiß. Giese meinte, daß die «Längichte» die Grundform seien, und verglich sie mit vielfach vergrößerten und übereinandergetürmten Flutwellen irdischer Meere. Wer im übrigen die Erstausgabe seines Werkes durchgeackert hat, der weiß, daß Giese diese Formen ursprünglich gerade als «Fluten» bezeichnete, von einem Geozentrismus angeregt, über den sich lachen ließe, wäre er nicht so hilflos. Das sind schließlich Formationen, die an Ausmaßen den Grand Canyon des Colorado übertreffen — wenn schon auf der Erde nach Vergleichen gesucht werden soll — und aus einem Stoff gemodelt sind, der an der Oberfläche gallertig-schaumige Konsistenz hat (wobei dieser Schaum zu riesigem, brüchigem Gerank erstarrt, zu riesenmaschigem Spitzenwerk, und sich sogar manchen Forschern als «skelettige Auswüchse» präsentierte), im Inneren jedoch in immer kernigere Substanz übergeht, kernig wie ein gespannter Muskel, aber ein Muskel, der sehr bald, schon in einer Tiefe von etwas mehr als zehn Metern, härter als Stein wird, obwohl er weiterhin seine Elastizität bewahrt. Zwischen den wie die Kammhaut eines Ungetüms gespannten Wänden, woran sich die «Skelettranken» klammern, erstreckt sich kilometerweit der eigentliche «Längicht», ein scheinselbständiges Gebilde, etwas wie ein enormer Python, der sich mit ganzen Bergen vollgefressen hat und sie nun schweigend verdaut, wobei er seinen fischhaft zusammengezogenen Körper hin und wieder in langsame, vibrierende Bewegung setzt. Aber nur von oben, von Bord einer fliegenden Maschine aus, erscheint der «Längicht» so. Nähert man sich ihm, bis beide «Kluft-wände» das Flugzeug hunderte Meter hoch überragen, so erweist sich der «Pythonleib» als eine bis an den Horizont ausgedehnte Zone schwindelerregend schneller und dadurch als passiv ruhende, aufgeblähte Walze erscheinender Bewegung. Der erste Eindruck ist der, daß glitschiger, graugrünlicher Brei wirbelt und in Aufstauungen die starken Sonnenstrahlen zurückwirft, aber wenn die Maschine knapp über der Oberfläche selbst schwebt (und die Ränder der «Kluft», die den «Längicht» in sich birgt, gleichsam zu Gipfeln beiderseits einer Erdfalte werden), dann sieht man, daß die Bewegung weit komplizierter ist. Sie besitzt konzentrische Umläufe, in ihr kreuzen sich dunklere Strömungen, zuweilen wird der äußere «Mantel» zur Spiegelfläche, die Himmel und Wolken widerspiegelt und unter schußartigem Knall von Eruptionen der mit Gas vermischten, halb-flüssigen Innensubstanz durchstoßen wird. Langsam durchschaut man, daß man knapp unter sich das Zentrum des Wirkens jener Kräfte hat, die die seitwärts gebogenen, in den Himmel ragenden Steilhänge aus träge kristallisierender Gallerte aufrechthalten; aber was für das Auge unmittelbar einleuchtend ist, das wird von der Wissenschaft nicht so einfach zur Kenntnis genommen. Wie viele Jahre lang wurde erbittert diskutiert, was nun eigentlich innerhalb der «Längichte» geschehe, die zu Millionen das Unmaß des lebenden Ozeans durchpflügen. Man meinte, das seien irgendwelche Organe des Monstrums, in ihnen vollziehe sich der Stoffwechsel, oder Atmungsprozesse, oder der Transport von Nährstoffen, und nur verstaubte Bibliotheken wissen, was sonst noch alles. Jede Hypothese konnte schließlich mittels tausender mühseliger und oftmals auch gefährlicher Experimente umgestürzt werden. Und das alles betrifft allein die «Längichte», die eigentlich einfachste Form und die dauerhafteste, da ja ihr Dasein nach Wochen zu messen ist, hier überhaupt ein Ausnahmefall.

Eine verschlungenere, launenhaftere und im Betrachter wohl den heftigsten Protest wachrufende Form (instinktiven Protest, versteht sich) sind die «Mimoide». Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß Giese sie liebgewonnen hat und sich bis zuletzt ihrer Erforschung, ihrer Beschreibung, dem Enträtseln ihres Wesens gewidmet hat. Durch den Namen wollte er das wiedergeben, was an ihnen für den Menschen das sonderbarste ist: eine gewisse Neigung, umliegende Formen nachzuahmen, gleichviel, ob sie nah oder entfernt sind.

Tief unter der Ozeanoberfläche beginnt sich eines Tages ein weiter flacher Kreis zu verdunkeln, mit ausgefranstem Rand und gleichsam pechübergossener Oberfläche. Nach mehr als zehn Stunden wird er lappig, weist immer deutlichere Gliederungen auf und stößt zugleich nach oben vor, der Ozeanoberfläche entgegen. Der Beobachter würde schwören, daß unter ihm ein heftiger Kampf tobt, denn wie Lippen, die sich zusammenkrampfen, wie lebende, muskulöse, sich schließende Krater laufen hier aus der ganzen Umgebung unendliche Reihen konzentrischer Ringwellen zusammen, stauen sich über dem tief unten ausgegossenen, schwärzlichen, schwankenden Phantom, bäumen sich und stürzen in die Tiefe. Jeden solchen Rutsch mehrerer hunderttausend Tonnen begleitet ein sekundenlang ausgedehntes, pappiges, ich bin versucht zu sagen, schmatzendes… Donnern, denn hier geschieht alles in monströser Größenordnung. Das dunkle Gebilde wird tiefer hin abgedrängt; jeder neue Aufschlag scheint es plattzuhämmern und aufzuspalten; von den einzelnen Lappen, die wie durchnäßte Flügel weghängen, teilen sich längliche Trauben ab, verschmälern sich zu langen Perlenschnüren, verschmelzen miteinander und schwimmen aufwärts, die gleichsam an sie angewachsene verklumpte Mutterscheibe hebend, indes von oben in den immer deutlicher eingebuchteten Kreis nacheinander die Wellenringe fallen. Und dieses Spiel zieht sich bisweilen einen Tag, bisweilen einen Monat lang hin. Manchmal ist damit schon alles zu Ende. Der gewissenhafte Giese nannte diese Spielart «abortives Mimoid», als hätte er aus unbekannter Quelle das exakte Wissen darum bezogen, daß das endgültig letzte Ziel eines jeden solchen Kataklysmus das «reife Mimoid» sei, das heißt, diese Kolonie polypenhafter, hellhäutiger Auswüchse (gewöhnlich größer als eine irdische Stadt), deren Bestimmung es ist, Formen der Außenwelt nachzuäffen… Selbstverständlich fehlte es nicht an einem anderen Solaristen, Uyvens mit Namen, der diese letzte Phase just zur «degenerativen» erklärte, zu Entartung und Absterben, und den Wald geschaffener Formen — zum offensichtlichen Anzeichen für die Loslösung der Sproßgebilde aus der Gewalt des Mutterstücks.

Giese hingegen, der in den Beschreibungen anderer solarischer Gebilde immer wie eine wandernde Ameise auf einem gefrorenen Wasserfall agiert und sich durch nichts aus dem Gleichschritt seiner trockenen Diktion bringen läßt, war hier seiner Sache so sicher, daß er aus den einzelnen Auftauch-Phasen des Mimoids eine Folge von wachsender Vollkommenheit zusammenreihte.

Aus großer Höhe betrachtet, scheint das Mimoid einer Stadt ähnlich zu sehen, aber das ist Einbildung, ein Effekt der Suche nach irgendeiner Analogie aus dem Bereich des Bekannten. Wenn der Himmel klar ist, umgibt alle vielstöckigen Gewächse und ihre Gipfel-Palisaden eine Schicht erwärmter Luft und bewirkt scheinbares Schwanken und Sich-Beugen der ohnedies schon schwer eruierbaren Formen. Die erste durchs Blau segelnde Wolke (so sagte ich aus Gewohnheit, dieses «Blau» ist ja rostfarben während des roten und ätzend weiß während des blauen Tages) ruft sofortige Reaktion wach. Jähes Knospen setzt ein, in die Höhe schießt eine fast ganz vom Untergrund abgetrennte, dehnbare, sich höckerig aufblähende Hülle, die gleichzeitig verblaßt und nach einigen Minuten täuschend eine Quellwolke imitiert. Dieses riesige Objekt wirft einen rötlichen Schatten; die einen Mimoidgipfel geben es gleichsam an die nächsten weiter; diese Bewegung vollzieht sich immer gegenläufig zu der Bewegung der wirklichen Wolke. Ich denke, Giese hätte sich gewiß die Hand abhacken lassen, um auch nur dies zu erfahren: warum sich das so abspielt. Aber solche «einsame» Erzeugnisse des Mimoids sind noch gar nichts gegen die unbändige Tätigkeit, die es zeigt, wenn es durch die Anwesenheit von Gegenständen und Formen «gereizt» wird, die durch Zutun der irdischen Ankömmlinge über ihm erscheinen.

Das Abbilden von Formen bezieht tatsächlich alles mit ein, was nicht weiter als acht, neun Meilen entfernt ist. Zumeist produziert das Mimoid ein vergrößertes Abbild, es verzerrt es zuweilen, es schafft Karikaturen oder groteske Vereinfachungen, insbesondere von Maschinen. Werkstoff ist selbstredend immer dieselbe schnell verblassende Masse, die in die Luft emporgeschleudert wird und, statt zu fallen, in Schwebe bleibt, durch Nabelschnüre, die leicht reißen, mit dem Untergrund verbunden, über dem sie sich wie kriechend verschiebt, während sie sich durch Schrumpfungen, Verknotungen, Schwellungen zügig zu den verschlungensten Mustern formt. Ein Flugzeug, ein Gitter, ein Mast werden mit gleicher Schnelligkeit reproduziert; nur auf die Menschen selbst reagiert das Mimoid nicht; genauer gesagt, auf alle Lebewesen, auch auf Pflanzen nicht, — denn die nimmermüden Forscher haben auch diese zu Versuchszwecken auf die Solaris geschafft. Eine Figur dagegen, eine menschliche Puppe, die aus beliebigem Material geformte Statuette eines Hundes oder Baumes werden sofort kopiert.

Hier ist leider am Rande zu vermerken, daß dieser «Gehorsam» des Mimoids gegenüber den Experimentatoren, der auf der Solaris so einzig dasteht, zuweilen der Suspendierung anheimfällt. Das reifste Mimoid macht seine «faulen Tage» durch; dann tut es nichts, als daß es überaus langsam pulsiert. Für das Auge ist dieses Pulsieren im übrigen nicht wahrnehmbar: sein Rhythmus, die einzelne «Pulsphase», umfaßt mehr als zwei Stunden, und erst mit Hilfe eigener Filmaufnahmen konnte es entdeckt werden.

Unter solchen Umständen ist ein Mimoid, besonders ein altes, vorzüglich zur Besichtigung geeignet, da sowohl die tragende, in den Ozean eingetauchte Scheibe, als auch die aus ihr emporgetürmten Gebilde dem Fuß nur allzu sicheren Halt bieten.

Selbstverständlich kann man sich auch während der «fleißigen» Tage eines Mimoids in seinem Bereich aufhalten, aber dann ist die Sicht fast null, weil unaufhörlich das flaumige, wie zerstäubter Schnee weißliche Kolloid herabfällt, das pausenlos aus den gebauchten Verästelungen des formenkopierenden Endgliedes stiebt. Diese Formen sind im übrigen aus der Nähe nicht zu erfassen, denn ihre Riesigkeit gehört in die Größenordnung von Bergen. Überdies wird der Untergrund des «arbeitenden» Mimoids schlammig von dem fleischigen Regen, der erst nach zehn und mehr Stunden zu einer harten Kruste gerinnt, noch um ein Vielfaches leichter als Bimsstein. Endlich: ohne entsprechende Ausrüstung verirrt man sich leicht in dem Labyrinth bauchiger, bald an zusammenzuckende Säulen und bald an halbflüssige Geiser gemahnen der Schößlinge, und dies sogar bei voller Sonne, denn ihre Strahlen dringen nicht durch die Decke der pausenlos in die Atmosphäre geschleuderten «imitierenden Explosionen».

Ein Mimoid an seinen glücklichen Tagen zu beobachten (genauer gesagt, an den glücklichen Tagen des Forschers, der sich über ihm befindet), das kann unverwischliche Eindrücke ergeben. Das Mimoid hat so seine «schöpferischen Aufschwünge», dann beginnt es eine unheimliche Hyperproduktion. Es schafft dann bald eigene Spielarten der Formen aus der Außenwelt, bald Komplikationen oder gar «formale Weiterentwicklungen» davon, und so kann es sich stundenlang unterhalten, zur Freude eines abstrakten Malers und zur Verzweiflung des Wissenschaftlers, der sich vergeblich bemüht, irgend etwas von den ablaufenden Prozessen zu verstehen. Manchmal zeigen sich in der Tätigkeit des Mimoids Züge ausgesprochen kindlicher Vereinfachung, manchmal verfällt es in «barockisierende Abweichung": alles, was es dann schafft, ist geprägt von schwulstiger Elephantiasis. Insbesondere alte Mimoide fabrizieren Gestalten, die herzlich lachen machen können. Ich habe es allerdings nie fertiggebracht, über sie zu lachen, ich war zu bestürzt über die Rätselhaftigkeit des Schauspiels.

Selbstverständlich hat man die Mimoide in den ersten Forschungsjahren förmlich bestürmt — als angeblich die Hoffnungen erfüllende Zentren des solarischen Ozeans, als die Stellen, wo der ersehnte Kontakt zweier Zivilisationen stattfinden sollte. Nur zu bald stellte sich jedoch heraus, daß von Kontakt nicht die Rede sein kann. Denn alles beginnt und endet zugleich wieder mit Formenimitation, die nirgendshin weiterführt.

Der Anthropo— oder auch Zoomorphismus, der beim verzweifelten Umhersuchen der Forscher unablässig wiederkehrt, deutete immer wieder andere Erzeugnisse des lebenden Ozeans als „Sinnesorgane“, oder gar als „Gliedmaßen" — denn dafür hielten die Wissenschaftler (so Maartens und Ekkonai) eine Zeitlang Gieses „Wirbelknöchrige“ und „Schneller“. Aber diese oft bis zu zwei Meilen hoch in die Atmosphäre schnellenden Protuberanzen des lebenden Ozeans sind ebensogut „Gliedmaßen“, wie ein Erdbeben die „Gymnastik“ der Erdrinde wäre.

Etwa dreihundert Posten umfaßt der Katalog vergleichsweise konstant wiederkehrender Formen, die dem lebenden Ozean so häufig entspringen, daß binnen vierundzwanzig Stunden mindestens Dutzende oder auch Hunderte auf seiner Oberfläche zu entdecken sind. Am unmenschlichsten — im Sinne vollkommensten Fehlens jeder Ähnlichkeit mit irgend etwas, was der Mensch auf der Erde kennengelernt hat — sind laut Giese-Schule die Symmetriaden. Schon war bestens bekannt, daß sich der Ozean nicht aggressiv verhält, daß in seinen Plasma-Strudeln nur umkommen kann, wer es durch eigene Unvorsichtigkeit oder Gedankenlosigkeit besonders darauf anlegt (ich rede natürlich nicht von Unfällen, die z.B. durch Schäden am Sauerstoffgerät oder an der Klimaanlage verursacht wurden), und daß man sogar durch die walzenförmigen Flüsse der Längichte und durch die monströsen, unstet zwischen den Wolken schwankenden Pfähle der Wirbelknöchrigen mit dem Flugzeug oder sonst einer fliegenden Maschine ohne die geringste Gefahr hindurchstoßen kann: das Plasma gibt den Weg frei, es teilt sich vor dem Fremdkörper mit einer Geschwindigkeit, die der des Schalls in der Solarisatmosphäre gleichkommt, und öffnet sogar unter der Ozeanoberfläche tiefe Tunnel, wenn man es dazu zwingt (Die Energie, die es zu diesem Zweck augenblicklich aktiviert, ist enorm: in Extremfällen hat Skrjabin 1019 erg errechnet!!!). Doch an die Untersuchung der Symmetriaden machte man sich mit außergewöhnlicher Vorsicht, immer wieder zurückweichend, die Sicherheitsvorkehrungen vervielfachend, — die oft freilich Fiktion sind; die Namen derer, die als erste in die Abgründe der Symmetriaden eindrangen, kennt auf der Erde jedes Kind.

Nicht das Aussehen, das allerdings wahrlich Alpträume hervorrufen kann, ist das eigentlich Beängstigende an diesen Riesen. Eher wirkt sich da aus, daß es in ihrem Bereich nichts Feststehendes oder Gewisses gibt; selbst physikalische Gesetze unterliegen in ihnen zeitweiliger Aufhebung. Gerade die Symmetriadenforscher haben immer am lautstärksten die These wiederholt, der lebende Ozean sei vernunftbegabt.

Die Symmetriaden entstehen plötzlich. Ihre Geburt ist eine Art Eruption. Etwa eine Stunde vorher beginnt der Ozean intensiv zu glänzen, als wäre an ihm eine zwanzig bis hundert Quadratkilometer große Fläche zu Glas geworden. Hiervon abgesehen ändert sich weder sein flüssiger Zustand, noch der Rhythmus der Wellenschläge. Manchmal bricht eine Symmetriade dort aus, wo sich von einem eingesaugten Schneller her ein Trichter befunden hat, aber das ist nicht die Regel. Nach etwa einer Stunde fliegt der glasige Überzug als ungeheure Blase hoch, in der sich das ganze Himmelsgewölbe, Sonne, Wolken und alle Horizonte spiegeln, schillernd und sich brechend. Das blitzartige Farbenspiel, das teils durch Beugung und teils durch Brechung des Lichts bewirkt wird, hat nicht seinesgleichen.

Besonders heftige Lichteffekte ergeben Symmetriaden, die während des blauen Tages oder knapp vor Sonnenuntergang entstehen. Dann hat es den Anschein, der Planet gebäre einen zweiten, mit jedem Augenblick sein Volumen verdoppelnden. Kaum ist der flammenblitzende Globus aus den Tiefen hervorgeschleudert, da platzt er vom höchsten Punkt aus in senkrechte Sektoren auf. Aber das ist kein Zerfall. Dieses Stadium, nicht sonderlich glücklich „Blütenkelchphase“ genannt, dauert Sekunden. Die zum Himmel strebenden Bögen der hautigen Gurtungen wenden sich um, heften sich mit der Spitze im unsichtbaren Innenraum fest und beginnen blitzschnell etwas wie einen gedrungenen Rumpf zu formieren, in dessen Innerem sich Hunderte von Phänomenen zugleich abspielen. Im Zentrum selbst, das erstmals von Hamaleas Siebzig-Mann-Equipe untersucht wurde, entsteht durch Giganto— und Polykristallisierung eine tragende Achse, die zuweilen „Wirbelsäule“ genannt wird, aber ich gehöre nicht zu den Anhängern dieses Terminus. Die halsbrecherische architektonische Komposition dieses zentralen Trägers wird in statu nascendi gestützt durch pausenlos aus kilometertiefen Senkungen spritzende lotrechte Säulen aus sehr verdünnter, ja fast wäßriger Gallerte. Während dieses Prozesses gibt der Koloß ein dumpfes, langgezogenes Brüllen von sich, und ihn umgrenzt ein Wall aus heftig flatterndem, schneeigem, großblasigem Schaum. Dann erfolgen — vom Zentrum zur Umrandung hin — unsagbar komplizierte Umdrehungen der verdickten Ebenen, an denen sich Schicht für Schicht das aus der Tiefe sprudelnde, dehnbare Material ablagert; zugleich verfestigen sich die vorhin erwähnten Tiefen-Geiser zu beweglichen, tentakelartigen Säulen, wobei sie bündelweise auf genau durch die Dynamik des Ganzen bestimmte Stellen der Konstruktion zustreben und an irgendwelche himmelhohe Kiemen einer mit tausendfacher Beschleunigung wachsenden Leibes-frucht denken lassen, in denen Strömungen rosigen Bluts und dunkelgrünen, ja fast schwarzen

Wassers fließen. Von diesem Zeitpunkt an beginnt die Symmetriade bereits ihre ungewöhnlichste Eigenschaft zu offenbaren: die des Modellierens oder schlechtweg Aufhebens gewisser physikalischer Gesetze. Schicken wir voraus, daß es zwei gleiche Symmetriaden nicht gibt, und daß die Geometrie einer jeden gleichsam eine neue „Erfindung“ des lebenden Ozeans ist. Ferner: die Symmetriade produziert in ihrem Innenraum das, was man oft als „Sofortmaschinen“ bezeichnen hört, obwohl diese Gebilde überhaupt nicht an eine von Menschen konstruierte Maschine erinnern; es geht hier nur um die verhältnismäßig enge und dadurch gleichsam „mechanische“ Zweckbestimmtheit der Betätigung.

Sind die aus dem Abgrund hervorgesprudelten Geiser verfestigt oder auch zu dickwandigen, nach allen Richtungen verlaufenden Galerien und Gängen aufgebläht, und haben die „Häute“ ein System einander schneidender Ebenen, Überhänge, Zwischendecken geschaffen, dann rechtfertigt die Symmetriade ihren Namen dadurch, daß jeder Ausgestaltung der gewundenen Durchlässe, Züge und Rampen im Bereich des einen Pols die in allen Einzelheiten getreue Anordnung am Gegenpol entspricht.

Nach etwa zwanzig bis dreißig Minuten beginnt der Gigant langsam einzutauchen, manchmal neigt er sich vorher acht bis zwölf Grad aus der Lotrechten heraus. Es gibt größere und kleinere Symmetriaden, aber sogar die Zwerge erheben sich nach dem Eintauchen noch gut achthundert Meter über den Horizont und sind auf Entfernungen bis zu zwanzig Meilen zu sehen. Ins Innere gelangen kann man mit geringstem Risiko gleich nach Wiedereintritt des Gleichgewichts, wenn das Ganze aufhört, tiefer in den lebenden Ozean zu sinken, während zugleich die Rückkehr in die genaue Lotrechte erfolgt; die günstigste Einbohrungsstelle ist die Gegend unmittelbar unterhalb des Gipfels. Um die verhältnismäßig glatte „Polkappe“ zieht sich dort eine Zone, die von den saugrüsselartigen Ausmündungen der inneren Kammern und Kanäle wie ein Sieb durchlöchert ist. Diese Formation bildet — als Ganzes — die dreidimensionale Entwicklung irgendeiner Gleichung höherer Ordnung.

Bekanntlich kann man in der figürlichen Sprache der höheren Geometrie jede Gleichung ausdrücken und einen Körper aufbauen, der ihre Entsprechung bildet. So betrachtet, ist die Symmetriade eine Verwandte der Lobacevskijschen Kegel und der Riemannschen negativen Krümmungen, aber eine sehr entfernte Verwandte — auf Grund ihrer unvorstellbaren Verschlungenheit. Sie bildet die ein paar Kubikmeilen Raum einnehmende Entwicklung eines ganzen mathematischen Systems, wobei diese Entwicklung vierdimensional ist: denn auch durch die Zeit, durch zeitlich ablaufende Veränderungen sind wesentliche Koeffizienten der Gleichungen ausgedrückt.

Am nächsten lag selbstverständlich der Gedanke, wir hätten nicht mehr und nicht weniger als die „mathematische Maschine“ des lebenden Ozeans vor uns, das größenmäßig just für ihn geschaffene Modell von Berechnungen, die er zu einem uns nicht bekannten Zweck benötige. Aber dieser Hypothese Fermonts stimmt heute niemand mehr zu. Verlockend war sie gewiß, aber daß der lebende Ozean mittels solcher titanischer Eruptionen, deren jedes Teilchen den unaufhörlich sich selbst weiterkomplizierenden Formeln der großen Analysis unterworfen ist, die Probleme der Materie, des Kosmos, des Seins zergliedere, — diese Vorstellung war nicht zu halten. Im Inneren des Riesen sind allzuviele Phänomene anzutreffen, die mit diesem eigentlich einfachen oder, wie manche wollen, kindlich naiven Bild nicht vereinbar sind.

Es fehlte nicht an Versuchen, irgendein leichtfaßliches Modell der Symmetriade zu ersinnen, sie zu veranschaulichen; ziemlich eingebürgert hat sich die Illustration Awerians, der die Sache folgendermaßen darbot: Stellen wir uns ein irdisches uraltes Bauwerk aus der Glanzzeit Babylons vor; es sei aus lebender, reizempfänglicher und evolvierender Substanz hergestellt; seine Architekturkomposition durchläuft nun kontinuierlich die Reihen von Übergangsphasen, nimmt vor unseren Augen die Formen griechischer

Baukunst an, romanischer, dann werden die Säulen schlank wie Halme, das Gewölbe verliert sein Gewicht, verflüchtigt sich, spitzt sich zu, die Bögen gehen in steile Parabeln über, brechen sich endlich beim Hochstreben. Die so entstandene Gotik beginnt zu reifen und zu altern, fließt in die Spätformen hinüber; an die Stelle der bisherigen Strenge steilen Hochreckens, Aufschwingens, treten Eruptionen orgiastischer Üppigkeit, vor unseren Augen wuchert von Übermaß trächtiger Barock auf, und wenn wir diese Folge fortsetzen, indem wir unser wechselndes Gebilde die ganze Zeit wie die einzelnen Stadien einer lebendigen Existenz traktieren, dann gelangen wir endlich zur Architektur des Kosmodromzeitalters und nähern uns gleichzeitig — vielleicht — dem Verständnis, was eine Symmetriade ist.

Aber dieser Vergleich wurde zwar ausgebaut und bereichert (man versuchte ihn im übrigen mit Hilfe eigens hergestellter Modelle und Filme visuell einzuprägen), aber er bleibt etwas bestenfalls Nichtssagendes, — schlimmerenfalls eine Ausflucht, wenn nicht einfach eine Lüge. Denn der Symmetriade ist nichts Irdisches ähnlich…

Der Mensch kann so wenige Sachen zugleich erfassen; wir sehen nur, was sich vor uns abspielt, hier und jetzt; die Vergegenwärtigung einer simultanen Vielheit von Prozessen, selbst wenn sie miteinander zusammenhängen, selbst wenn sie einander ergänzen, geht über menschliche Möglichkeiten hinaus. Wir erfahren dies sogar angesichts relativ einfacher Phänomene. Das Los eines Menschen kann viel bedeuten, das Los einiger Hunderte ist schwer zu erfassen, aber die Geschichte Tausender, die einer Million bedeutet im Grund genommen nichts. Die Symmetriade ist Million, nein, potenzierte Milliarde, die Unvorstellbarkeit an sich. Was nützt es, daß wir tief innen in einem ihrer Querschiffe stehen, das ein verzehnfachter Kroneckerscher Raum ist, und uns wie Ameisen an die Falten des atmenden Gewölbes klammern, daß wir den Aufschwung und das wechselweise Durchdringen gigantischer, im Licht unserer Flares grau opalisierender Ebenen sehen, die Weichheit und unfehlbare Vollkommenheit der Problemlösung, die doch nur ein Moment ist, — denn alles fließt hier, der Gehalt dieser Architekturkomposition ist die Bewegung, die gesammelte, zielbezogene Bewegung. Wir beobachten einen Krümel des Prozesses, das Beben einer einzigen Saite in einem Symphonieorchester von Super-Riesen, und nicht genug damit, wir wissen — aber wir wissen nur, ohne zu begreifen —, daß gleichzeitig über und unter uns, in gestreckten Abgründen, außerhalb der Grenzen unseres Blicks und unserer Vorstellungskraft Unmengen, Millionen simultaner Umgestaltungen vor sich gehen, wie Noten miteinander verbunden durch den mathematischen Kontrapunkt. Daher hat jemand von einer „geometrischen Symphonie“ gesprochen. Aber in diesem Fall sind wir ihre tauben Zuhörer.

Um hier irgend etwas wirklich zu sehen, müßte man weglaufen, in irgendeine ungeheure Ferne zurücktreten — aber in der Symmetriade ist ja alles Innenraum, Vermehrung, die Lawinen von Geburten auswirft, unaufhörliche Gestaltung, wobei die Gestaltung zugleich das Gestaltende ist; und keine Mimose reagiert so empfindlich auf Berührungen, wie ein Teil der Symmetriade, der eine Meile von unserem Standort entfernt liegt und durch hunderte Stockwerke von ihm getrennt ist, auf die Veränderungen, die unser Platz hier durchmacht. Jede Augenblickskonstruktion mit ihrer Schönheit, die sich jenseits der Grenzen des Blicks vollendet, ist hier Mitkonstrukteur und Dirigent aller anderen, die gleichzeitig geschehen; diese wiederum wirken modellierend an jener mit. Eine Symphonie — gut, aber eine, die sich selbst schafft und sich selbst abwürgt. Das Ende der Symmetriade ist gräßlich. Niemand, der es gesehen hat, erwehrte sich des Eindrucks, Zeuge einer Tragödie zu sein, wenn nicht gar eines Mordes. Nach etwa zwei, höchstens drei Stunden (dieses explosive Aufwuchern, diese Selbstvervielfachung und Selbstzeugung dauert nie länger) geht der lebende Ozean zum Angriff über. Das sieht so aus: die glatte Oberfläche runzelt sich, die schon zur Ruhe gekommene, mit verkrustetem

Schaum bedeckte Brandung beginnt zu sieden, von den Horizonten aus preschen konzentrische Wellenzüge heran, genau solche muskulöse Krater, wie sie die Geburt eines Mimoids begleiten, aber diesmal sind ihre Ausmaße unvergleichlich größer. Der unterseeische Teil der Symmetriade wird zusammengedrückt, langsam hebt sich der Koloß, als sollte er aus dem Bereich des Planeten fortgeschleudert werden; die obersten Schichten der Ozean-Masse beginnen aktiv zu werden, kriechen immer höher, die Seitenwände hinauf, überziehen sie, fester werdend, und verstopfen die Ausgänge, aber das alles ist nichts gegen das, was sich gleichzeitig tief innen abspielt. Zuerst stocken für kurze Zeit die formenschaffenden Prozesse — das Auseinanderhervortauchen aufeinanderfolgender Architekturkompositionen —, dann unterliegen sie heftiger Beschleunigung; die bis dahin flüssigen Bewegungen des Durchdringens und der Faltung, das Emporflügeln von Grundnetzen und Gewölben, bisher rhythmisch und so sicher, als sollten sie Jahrhunderte überdauern, — das alles beginnt sich zu überstürzen. Der Eindruck wird übermächtig, daß der Koloß angesichts der ihm drohenden Gefahr gewaltsam auf irgendein Vollbringen hindrängt. Doch je mehr die Geschwindigkeit der Verwandlungen steigt, desto offensichtlicher wird die gräßliche, ekelerregende Metamorphose des Baustoffes selbst und seiner Dynamik. Alle diese Bündelungen wunderbar geschmeidiger Ebenen erweichen sich, erschlaffen, schlottern, es beginnen Ausrutscher aufzutreten, unfertige Formen, fratzenhafte, verstümmelte; aus den unsichtbaren Tiefen dröhnt anwachsendes Brausen, Gebrüll: wie durch Atemzüge einer Agonie ausgestoßen, reibt sich die Luft an den zusammenschrumpfenden Engpässen, schnarcht und orgelt donnernd in den Durchlässen, erregt in den einstürzenden Zwischendecken ein Röcheln wie aus irgendwelchen monströsen, von Schleimstalaktiten überwucherten Kehlen, aus toten Stimmbändern, und augenblicklich wird es um den Zuschauer trotz aller heftigst entfesselten Bewegung — immerhin der Bewegung des Zerstörens — vollkommen tot. Nur mehr der Ozean, der aus dem Abgrund heult und ihn mit tausenden Schächten durchmißt, hält aufblähend das himmelhohe Bauwerk aufrecht; es beginnt hinunterzutreiben, zusammenzusinken wie eine von Flammen erfaßte Wabe, aber hier und dort wird noch letztes Flattern sichtbar, kraftlose, von allem übrigen abgetrennte Regungen, blind, immer schwächer, bis die unausgesetzt von außen attackierte, unterspülte Riesenmasse mit der Langsamkeit eines Berges einstürzt und im Strudel ebensolcher Schaumwellen verschwindet, wie sie ihre titanische Entstehung begleitet haben.

Und was bedeutet das alles? Ja, was bedeutet das?

Ich erinnere mich, als ich Gibarians Assistent war, besuchte einmal irgendein Schulausflug das Solarische Institut Aden, und sobald der seitliche Bibliotheksaal durchquert war, wurden die Jugendlichen in den Hauptraum geführt, dessen Großteil die Kassetten mit den Mikrofilmen ausfüllen. Auf ihnen sind kleine Teilstücke von Symmetriaden-Innenräumen festgehalten, und es gibt dort über neunzigtausend — nicht Aufnahmen, nein, ganze Spulen. Und ein pummeliges, bebrilltes, vielleicht fünfzehnjähriges Mädelchen mit energischem, verständigem Blick stellte damals plötzlich die Frage:

— Und wozu das Ganze…?

Und während des betretenen Schweigens, das daraufhin eintrat, blickte nur die Lehrerin streng zu ihrer aufsässigen Schülerin hin; von den geleitenden Solaristen (ich war unter ihnen) fand keiner eine Antwort. Denn die Symmetriaden sind unwiederholbar, und unwiederholbar sind im allgemeinen die Phänomene, die sich in ihnen abspielen. Manchmal hört die Luft in ihnen auf, Schall zu leiten. Manchmal wird der Brechungskoeffizient größer oder kleiner. Örtlich treten pulsierende, rhythmische Schwerkraftveränderungen auf, als hätte die Symmetriade ein schlagendes Gravitations-Herz. Bisweilen beginnen sich die Kreiselkompasse der Forscher wie verrückt aufzuführen, Schichten gesteigerter Ionisation entstehen und verschwinden, diese

Aufzählung ließe sich fortsetzen. Im übrigen, sollte das Geheimnis der Symmetriaden jemals gelöst werden, so bleiben noch die Asymmetriaden…

Sie entstehen ähnlich, nur ist ihr Ende anders, und man kann nichts in ihnen sehen, als ein Zucken, Erglühen, Flimmern; wir wissen nur, daß sie der Sitz schwindelnd schneller Prozesse an der Grenze der physikalisch möglichen Geschwindigkeiten sind, auch nennt man sie „enorm vergrößerte Quantenphänomene“. Ihre mathematische Ähnlichkeit mit gewissen Atommodellen ist jedoch so unbeständig und flüchtig, daß manche darin ein untergeordnetes oder schlechtweg zufälliges Merkmal sehen. Die Asymmetriaden leben unvergleichlich kürzer als die Symmetriaden, kaum zehn, fünfzehn Minuten, und enden wohl noch gräßlicher, denn hinter dem Wirbelsturm drein, der sie mit harter, brüllender Luft füllt und sprengt, schwillt mit verteufelter Schnelligkeit in ihnen die Flüssigkeit an, brodelt unter der Haut schmutzigen Schaums und ersäuft alles, glucksend und scheußlich; dann folgt eine Explosion, wie der Ausbruch eines Schlammvulkans, und wirft in zausiger Säule die Trümmer hoch, so daß sie noch lang nachher aufgeweicht auf die unruhige Ozeanoberfläche niederregnen. Einige, vom Wind vertragen, wie Späne verdorrt, gelblich, platt und dadurch irgendwelchen hautigen Knochen oder Knorpeln ähnlich, finden sich auf den Wellen treibend an die hundert Kilometer weit vom Explosionsherd entfernt.

Eine besondere Gruppe stellen die Gebilde dar, die sich für kürzere oder längere Zeit ganz vom lebenden Ozean abtrennen; sie lassen sich weit seltener und schwerer beobachten als die anderen. Ihre erstmals aufgefundenen Trümmer identifizierte man, völlig falsch, wie sich viel spätererwies, als Leichen in den Ozeantiefen hausender Lebewesen. Manchmal scheinen sie wie seltsame vielflügelige Vögel vor den ihnen nachjagenden Trichterrüsseln der Schneller zu flüchten, aber dieser der Erde entnommene Begriff wird abermals zu einer Mauer, die sich nicht durchstoßen läßt. Bisweilen, aber das ist sehr selten, kann man auf den Felsküsten der Inseln eigentümliche Pinguine sichten, etwas wie in Schwärmen liegende Robben, wie sie in der Sonne ruhen oder träge zum Meer hinabkriechen, um mit ihm in eins zu verschmelzen.

Und so hat man sich immer im Kreis irdischer, menschlicher Begriffe bewegt; nun, und der erste Kontakt…

Die Expeditionen legten im Inneren von Symmetriaden hunderte Kilometer zurück und brachten Registriergeräte und selbsttätige Filmkameras an; die Fernsehaugen künstlicher Satelliten registrierten das Knospen der Mimoide und Längichte, ihr Reifen und Sterben. Die Bibliotheken füllten sich, die Archive wuchsen, der Preis, der dafür zu bezahlen war, wurde oftmals hoch. In den Kataklysmen sind siebenhundertachtzehn Menschen umgekommen, die sich aus den bereits zum Untergang verurteilten Kolossen nicht rechtzeitig zurückgezogen haben, allein hundertsechs in einer einzigen Katastrophe, die berühmt ist, da auch Giese selbst als siebzigjähriger Greis in ihr den Tod fand, als das üblicherweise den Asymmetriaden vorbehaltene Ende unerwartet ein Gebilde traf, das eine klar ausgeprägte Symmetriade war. Der Ausbruch von schlammigem Papp verschlang binnen Sekunden samt Maschinen und Apparaten neunundsiebzig mit gepanzerten Schutzanzügen bekleidete Menschen und riß mit seinen Absprengsein siebenundzwanzig weitere hinab, die die über dem untersuchten Gebilde kreisenden Flugzeuge und Hubschrauber lenkten. Diese Stelle am Schnittpunkt des zweiundvierzigsten Breitegrades mit dem neunundachtzigsten Längengrad ist auf den Karten als „Eruption der Hundertsechs“ verzeichnet. Aber dieser Punkt existiert nur auf den Karten, denn die Oberfläche des Ozeans unterscheidet sich dort in nichts von allen seinen übrigen Gebieten.

Damals wurden zum ersten Mal in der Geschichte der solarischen Forschungen Stimmen laut, die den Einsatz thermonuklearer Schläge forderten. Das sollte in Wahrheit etwas noch Grausameres sein als Rache: es ging um die Zerstörung dessen, was wir nicht begreifen können. Der Vize der Reservegruppe Gieses, Tsanken, der nur dank einem Irrtum davongekommen war (der Relais-Automat hatte den Ort falsch angezeigt, wo die anderen die Symmetriade untersuchten, so daß Tsanken mit seiner Maschine über dem Ozean umherirrte und buchstäblich ein paar Minuten nach der Explosion eintraf; im Anfliegen sah er von ihr noch den schwarzen Pilz), drohte zu dem Zeitpunkt, als jene Entscheidung erwogen wurde, er werde die Station samt sich selbst und den achtzehn dort noch Verbliebenen in die Luft sprengen. Wenn auch offiziell nie zugegeben worden ist, daß dieses Selbstmord-Ultimatum das Abstimmungsergebnis beeinflußt habe, läßt sich doch annehmen, daß es so war.

Aber die Besuche so starker Expeditionsgruppen auf diesem Planeten gehören schon der Vergangenheit an. Die Station selbst (deren Bau von Satelliten aus beaufsichtigt wurde, eine großangelegte technische Leistung, worauf die Erde hätte stolz sein können, nur daß eben der Ozean binnen Sekunden millionenmal größere Konstruktionen aus sich selbst herausholt) ist in Gestalt eines Diskus von zweihundert Meter Durchmesser aufgebaut, im Zentrum hat sie vier Stockwerke, am Außenrand zwei. Durch Gravitationsregler mit vernichtungsenergetischem Antrieb wird sie fünfhundert bis fünfzehnhundert Meter über dem Ozean schwebend erhalten; sie ist nicht nur mit allen Einrichtungen versehen, die auf den Stationen und Großsatelloiden anderer Planeten üblich sind, sondern überdies mit eigenen Radaranzeigegeräten, die bei der ersten Veränderung der Ozeanglätte zusätzliche Antriebskraft in Gang setzen können, so daß der stählerne Diskus in die Stratosphäre entschwebt, sobald sich erste Vorboten der Geburt einer neuen Lebendbildung zeigen.

Nun war die Station eigentlich verödet. Seit aus Gründen, die ich noch immer nicht kannte, die Automaten in die Tiefmagazine gesperrt worden waren, konnte man die Korridore im Kreis herum durchwandern, ohne jemandem zu begegnen, wie in einem blindlings dahintreibenden Wrack, dessen Maschinen das Aussterben der Besatzung überdauert haben.

Als ich den neunten Band von Gieses Monographie ins Fach zurückstellte, da schien mir der unter der molligen Schaumstoffschicht verborgene Stahl unter den Füßen zu erzittern. Ich hielt reglos inne, aber das Beben wiederholte sich nicht mehr.

Die Bibliothek war vom Rest des Bauwerks bestens isoliert, Schwingungen konnten nur eine Ursache haben. Eine Rakete war aus der Station gestartet. Dieser Gedanke führte mich zur Wirklichkeit zurück. Ich war noch nicht recht entschieden, ob ich fliegen sollte, wie sich Sartorius dies wünschte. Wenn ich mich so verhielt, als ob ich seine Pläne vollauf guthieße, konnte ich die Krise höchstens hinauszögern; ich war fast sicher, daß es zum Zusammenstoß kommen müsse, denn ich hatte beschlossen, mein Möglichstes zu tun, um Harey zu retten. Die Frage war bloß, ob Sartorius eine Erfolgschance hatte. Seine Überlegenheit über mich war enorm, als Physiker kannte er das Problem zehnmal besser als ich, und ich konnte paradoxerweise nur auf die Perfektion der Lösungen setzen, womit der Ozean uns aufwartete. Die nächste Stunde lang brütete ich über den Mikrofilmen und suchte irgend etwas Verständliches aus dem Meer von verteufelter Mathematik herauszufischen, die der Physik der Neutrino-Prozesse als Sprache diente. Anfangs erschien mir das hoffnungslos, zumal es an unheimlich schwierigen Neutrinofeld-Theorien gleich fünf gab — ein klares Zeichen dafür, daß keine davon vollkommen war. Und doch gelang es mir zuletzt, etwas Aussichtsreiches zu finden. Eben schrieb ich mir die Formeln ab, da ertönte ein Klopfen.

Ich trat schnell zur Tür und öffnete, den Spalt mit dem Leib deckend. Snauts schweißglänzendes Gesicht guckte herein. Der Korridor hinter ihm war leer.

— Ach, du bist das — sagte ich und schwenkte die Tür weiter auf.

— Komm herein.

— Ja, ich bin das — entgegnete er. Seine Stimme war heiser, er hatte Säcke unter den geröteten Augen, an elastischen Trägern hatte er eine glänzende Strahlenschutzschürze aus Gummi vorgebunden, darunter schauten die beschmutzten Röhren dieser Hose hervor, die er immer trug. Sein Blick überflog den runden, gleichmäßig erhellten Saal und erstarrte, als er auf Harey traf, die weit hinten neben ihrem Lehnsessel stand. Wir wechselten blitzschnelle Blicke, ich zwinkerte, Snaut verneigte sich daraufhin leicht, und ich legte mir einen Konversationston zurecht und sagte:

— Das ist Doktor Snaut, Harey. Snaut, das… das ist meine Frau.

— Ich bin… ein sehr wenig sichtbares Mitglied der Belegschaft, und daher… — die Pause wurde gefährlich lang — … hatte ich noch nicht die Gelegenheit, Sie kennenzulernen… — Harey lächelte und reichte ihm die Hand, er drückte sie, einigermaßen verdutzt, wie mir schien, blinzelte ein paarmal, und dann stand er und schaute, bis ich ihn am Arm faßte.

— Sie entschuldigen mich — sagte er nun zu ihr. — Ich wollte etwas mit dir besprechen, Kelvin…

— Selbstverständlich — entgegnete ich mit einer Art von weltmännischer Lässigkeit; das alles klang mir nach einer miesen Komödie, aber dagegen war nichts zu wollen. — Harey, Liebling, laß dich nicht stören. Ich habe mit dem Doktor zu reden, über unsere langweiligen Arbeiten…

Und schon führte ich ihn am Arm zu den kleinen Polsterstühlen auf der entgegengesetzten Seite des Saals. Harey setzte sich in den Lehnsessel, auf dem vorher ich gesessen hatte, aber sie verrückte ihn dabei so, daß sie uns sehen konnte, wenn sie vom Buch aufschaute.

— Was gibt es bei dir? — fragte ich leise.

— Frisch geschieden — antwortete Snaut ebenso flüsternd, nur mit stärkerem Zischen. Möglich, daß ich losgelacht hätte, wenn mir irgendwann jemand diese Geschichte erzählt hätte, und auch diesen Anfang des Gesprächs, aber in der Station war mein Humor einfach amputiert. — Ich habe seit gestern ein paar Jahre durchgemacht, Kelvin — setzte Snaut fort. — Ein paar ausgiebige Jahre. Und du?

— Nichts… — antwortete ich nach einer Weile, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte. Ich mochte ihn gern, aber ich fühlte, daß ich jetzt vor ihm auf der Hut sein mußte, oder vielmehr vordem, was ihn zu mir führte.

— Nichts? — wiederholte er im gleichen Ton wie ich. — Sieh mal an, also gar so…?

— Wovon redest du? — ich tat, als verstünde ich nichts. Er kniff die blutunterlaufenen Augen ein; vorgeneigt, so daß ich seinen warmen Atem im Gesicht spürte, flüsterte er:

— Wir stecken fest, Kelvin. Mit Sartorius kann ich mich nicht mehr verbinden, ich weiß nur, was ich dir geschrieben habe, das sagte er mir noch nach unserer reizenden kleinen Konferenz…

— Er hat das Visofon abgestellt? — fragte ich.

— Nein. Bei ihm gibt es einen Kurzschluß. Es scheint, daß er den absichtlich gebaut hat, oder… — er machte eine Bewegung mit der Faust, als zerschlüge er etwas. Ich schaute ihn wortlos an. Sein linker Mundwinkel verzog sich zu einem unangenehmen Lächeln.

— Kelvin, ich bin gekommen, weil… — Snaut sprach nicht aus.

— Was hast du vor?

— Du meinst diesen Brief…? — entgegnete ich langsam. — Ich kann das tun, ich sehe keinen Grund zur Weigerung, eben deshalb sitze ich hier, ich wollte mich orientieren…

— Nein — unterbrach er. — Etwas anderes.

— Nein…? — ich stellte mich verblüfft. -Also, schieß los.

— Sartorius — murmelte er nach einer Weile. — Er glaubt, daß er einen Weg gefunden hat, weißt du…

Er ließ kein Auge von mir. Ich saß ruhig und bemühte mich, einen gleichgültigen Gesichtsausdruck anzunehmen.

— Zunächst ist da diese Geschichte mit dem Röntgen. Das, was Gibarian und er gemacht haben, du erinnerst dich. Da ist eine gewisse Abwandlung möglich…

— Was für eine?

— Sie haben einfach ein Bündel Strahlen in den Ozean gesendet und nur die Intensität nach allerlei Mustern moduliert.

— Ja, ich weiß. Das hat schon Nilin gemacht. Und auch sonst eine Menge Leute.

— Ja, aber die haben weiche Strahlung angewendet. Diesmal war es harte, sie feuerten in den Ozean, was sie nur hatten, die volle Leistung.

— Das kann unangenehme Konsequenzen haben — bemerkte ich. — Verstoß gegen die Konvention der Vier und gegen die der UNO.

— Kelvin… verstell dich nicht. Das hat doch jetzt nichts zu bedeuten. Gibarian ist tot.

— Aha, Sartorius will alles auf ihn schieben?

— Weiß ich nicht. Ich habe mit ihm nicht darüber gesprochen. Das ist unwichtig. Sartorius meint, da ja immer nur dann ein „Gast“ auftaucht, wenn du erwachst, holt der Ozean offensichtlich die Produktionsvorlage aus uns heraus, während wir schlafen. Erfindet, daß unser wichtigster Zustand gerade der Schlaf sei. Deshalb geht er so vor. Also will ihm Sartorius unser Wachdasein senden, die Gedanken aus dem Wachen, verstehst du?

— Wie denn? Per Post?

— Deine Witze kannst du dir auf den Hut stecken. Dieses Strahlenbündel soll durch die Gehirnströme eines von uns moduliert werden.

Plötzlich ging mir ein Licht auf.

— Aha — sagte ich. — Dieser „eine“ bin ich. Stimmt's?

— Ja. Er hat an dich gedacht.

— Herzlichen Dank.

— Was sagst du dazu?

Ich schwieg. Ohne etwas zu sagen, richtete Snaut langsam die Augen auf Harey, die in die Lektüre vertieft war, und dann wieder auf mein Gesicht. Ich spürte, wie ich erbleichte. Ich hatte das nicht in der Gewalt.

— Also…? -sagte er.

Ich zuckte die Achseln.

— Diese Röntgenpredigt über die Großartigkeit des Menschen halte ich für läppisch. Und du auch. Oder vielleicht nicht?

— Ja?

— Ja.

— Sehr gut — sagte er und lächelte, als hätte ich ihm einen Wunsch erfüllt. — Also du bist gegen diese Sartoriusgeschichte?

Ich begriff noch nicht, wie das gekommen war, aber ich las ihm aus den Augen ab, daß er mich dorthin gebracht hatte, wo er mich haben wollte. Ich schwieg; was hätte ich jetzt sagen können?

— Ausgezeichnet — sagte er. — Denn es gibt noch ein zweites Projekt. Die Roche-Apparatur umzubauen.

— Annihilator…?

— Ja. Sartorius hat schon die Vorberechnungen durchgeführt, das ist realisierbar. Und wird nicht einmal große Stärken erfordern. Der Apparat wird Tag und Nacht laufen, oder auf unbestimmte Zeit, und ein Anti-Feld erzeugen.

— Wart, wart doch! Wie stellst du dir das vor?

— Sehr einfach. Das wird ein Anti-Feld für Neutrinos. Die gewöhnliche Materie bleibt unverändert. Der Vernichtung unterliegen nur… Neutrino-Gefüge. Verstehst du?

Er lächelte befriedigt. Ich saß mit halb offenem Mund da. Snaut hörte langsam zu lächeln auf. Er runzelte die Stirn, sah mich forschend an und wartete.

— Das erste, das Projekt „Gedanke“ verwerfen wir also. Wie? Und das zweite? Sartorius sitzt schon dahinter. Nennen wir es „Freiheit“.

Ich schloß einen Moment die Augen. Plötzlich entschied ich mich. Snaut war kein Physiker. Sartorius hatte das Visofon ausgeschaltet oder zerstört. Sehr gut.

— Ich möchte es lieber „Schlächterei“ nennen… — sagte ich langsam.

— Du warst selbst schon Schlächter. Oder vielleicht nicht? Nun aber wird das etwas ganz anderes sein. Keine „Gäste“, keine F-Gebilde, nichts. Schon in dem Moment, wo die Materialisierung erscheint, tritt der Zerfall ein.

— Das ist ein Mißverständnis — entgegnete ich, wiegte den Kopf und lächelte, einigermaßen natürlich, wie ich hoffte. — Das sind keine moralischen Skrupel, sondern Selbsterhaltungsinstinkte. Ich will nicht sterben, Snaut.

— Wie…?

Snaut war verblüfft. Er sah mich argwöhnisch an. Ich zog den zerknitterten Zettel mit den Formeln aus der Tasche.

— Auch ich habe daran gedacht. Wundert dich das? Schließlich habe ich als erster die Neutrino-Hypothese aufgebracht, oder vielleicht nicht? Schau her. Ein Anti-Feld läßt sich erregen. Für gewöhnliche Materie ist es unschädlich. Das stimmt. Aber im Moment der Destabilisierung, wenn das Neutrino-Gefüge zerfällt, wird als Überschuß die Energie seiner Bindungen frei. Wenn wir pro Kilogramm Ruhmasse zehn zur achten erg annehmen, erhalten wir je F-Gebilde fünf bis sieben Mal zehn zur achten. Weißt du, was das bedeutet? Das entspricht einer kleineren Uranladung, die innerhalb der Station explodieren würde.

— Was du nicht sagst! Aber… aber Sartorius muß das in Rechnung gezogen haben…

— Nicht unbedingt — widersprach ich mit boshaftem Lächeln. — Siehst du, die Sache ist die, daß Sartorius zur Schule Frazers und Cajollas gehört. Ihrer Meinung nach wird im Augenblick des Zerfalls die gesamte Energie der Bindungen in Gestalt von Lichtstrahlung freigesetzt. Das wäre einfach ein starker Blitz, vielleicht nicht ganz ungefährlich, aber nicht zerstörend. Es bestehen aber auch andere Hypothesen, andere Theorien des Neutrinofeldes. Laut Cayatt, laut Avalov, laut Siona ist das Emissionsspektrum wesentlich breiter, und das Maximum fällt auf harte Gammastrahlung. Das ist brav, daß Sartorius seinen Meistern und ihrer Theorie glaubt, aber es gibt auch andere, Snaut. Und weißt du, was ich dir sage? — fuhr ich fort, denn ich sah, daß meine Worte Eindruck auf ihn machten. — Es heißt auch den Ozean in Rechnung ziehen. Wenn er getan hat, was er getan hat, dann hat er bestimmt die optimale Methode angewendet. Anders gesagt: seine Aktion scheint mir ein Argument zugunsten dieser zweiten Schule zu sein, und gegen Sartorius.

— Gib mir dieses Papier, Kelvin…

Ich reichte es ihm. Er neigte den Kopf und bemühte sich, mein Gekritzel zu entziffern.

— Was ist das? — Snaut wies mit dem Finger hin. Ich nahm den Zettel wieder.

— Das? Der Tensor der Transmutation des Feldes. -Gib mir das…

— Wozu? — fragte ich. Ich wußte Snauts Antwort im voraus.

— Ich muß das Sartorius zeigen.

— Wie du willst — entgegnete ich gleichgültig. — Ich kann dir das geben. Bloß, siehst du, das hat niemand experimentell geprüft, wir haben ja solche Gefüge noch nicht gekannt. Er glaubt an Frazer, und ich habe das nach Siona berechnet. Sartorius wird dir sagen, daß ich kein Physiker bin, und Siona auch nicht, jedenfalls nicht nach seinem Dafürhalten. Aber das ist ein Thema für eine Diskussion. Ich wünsche keine Diskussion, bei der ich im Endeffekt hochgehen kann, um Sartorius1 Ehre zu mehren. Dich kann ich überzeugen, ihn nicht. Und ich werde es nicht versuchen.

— Was willst du also tun…? Er arbeitet daran — sagte Snaut mit farbloser Stimme. Er saß gebückt, alle seine Lebhaftigkeit war wieder verschwunden. Ich wußte nicht, ob er mir traute, aber mir war schon alles eins.

— Was ein Mensch tut, den jemand zu töten sucht — antwortete ich leise.

— Ich versuche ihn zu erreichen. Vielleicht denkt er an irgendwelche Absicherungen — murmelte Snaut. Er blickte zu mir auf:

— Hör zu, und wenn du doch…? Dieses erste Projekt. Wie? Sartorius wird zustimmen. Gewiß. Das ist… jedenfalls… etwas wie eine Chance…

— Glaubst du an die Sache?

— Nein — entgegnete er sofort. — Aber… was kann das schaden?

Ich wollte nicht allzu schnell zustimmen, gerade darauf kam es mir an. Er wurde zu meinem Verbündeten bei der Verzögerungstaktik.

— Ich werde es mir überlegen — sagte ich.

— Also, dann gehe ich — murmelte er im Aufstehen. Als er sich aus dem Lehnsessel erhob, knackten ihm alle Knochen. — Also läßt du dir ein EEG machen? — fragte er und rieb mit den Fingern die Oberfläche seiner Schürze, als wollte er einen unsichtbaren Fleck von dort wegwischen.

— Gut — sagte ich. Ohne auf Harey zu achten (sie sah diesen

Auftritt schweigend mit an, das Buch auf den Knien), ging Snaut zur Tür. Als sie sich hinter ihm geschlossen hatte, stand ich auf. Ich entfaltete den Zettel, den ich in der Hand hielt. Die Formeln waren seriös. Ich hatte sie nicht gefälscht. Bloß weiß ich nicht, ob sich Siona zu meiner Weiterentwicklung bekannt hätte. Wohl kaum. Ich zuckte zusammen. Harey hatte sich mir von rückwärts genähert und meinen Oberarm berührt.

— Kris!

— Was denn, Liebling?

— Wer war das?

— Ich sagte dir ja, Doktor Snaut.

— Was ist das für ein Mensch?

— Ich kenne ihn nicht näher. Warum fragst du?

— Er hat mich so angeschaut…

— Sicher hast du ihm gefallen.

— Nein — sie schüttelte den Kopf. — Das war nicht diese Art von Blick. Er hat mich angeschaut, wie… wie wenn…

Sie schauderte, blickte zu mir auf und schlug gleich wieder die Augen nieder.

— Gehn wir woanders hin…

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