Teil Eins. Entdeckung

Entdeckung minus 6 Minuten 1 Ost-Antarktis

Terrance Drake, Lieutenant Commander der in der Antarktis stationierten U. S. Naval Support Force, ging hinter einer Schneewehe auf und ab und wartete darauf, dass der eisige Sturm endlich nachließ. Er musste dringend pinkeln. Aber das zu tun hätte einen Verstoß gegen internationales Recht bedeutet.

Drake zitterte vor Kälte. Der eisige Polarwind peitschte wirbelnde Schneemassen über die kahle, verlassene Eiswüste, die sich ins Unendliche hinzuziehen schien. Pittoreske Schneewehen, Sastrugi genannt, ragten in die Dunkelheit empor. Die Silhouetten wirkten wie Krater einer bizarren Mondlandschaft. Die ›letzte Wildnis‹ der Erde war ein kaltes und unwirtliches Niemandsland, dachte er, eine Welt, die nie von Menschen bewohnt werden sollte.

Um sich warm zu halten, ging Drake forsch auf und ab. Er spürte, wie der Druck in der Blase stieg. Der Antarktisvertrag beinhaltete strenge Umweltschutzvorgaben, die man mit dem Satz: ›Nichts darf in die Umwelt gelangen‹ zusammenfassen konnte. Auf das Eis zu pinkeln gehörte auch dazu. Er war von den Naturfreaks der National Science Foundation daraufhingewiesen worden, dass sich eine derartige Stickstoffeinbringung für tausende von Jahren auf die Umwelt auswirken konnte. Man erwartete deshalb von ihm, dass er in die Beutel urinierte, die bei seinen Essensrationen anfielen. Leider nahm er auf seine Erkundungsgänge nie etwas zu essen mit.

Drake blickte über die Schulter auf mehrere schneebedeckte Fiberglashütten zurück, die sich in einiger Entfernung befanden. Offiziell bestand die Aufgabe des amerikanischen ›Forschungsteams‹ darin, die außergewöhnliche seismische Aktivität tief unter dem Packeis zu untersuchen. Drei Wochen zuvor hatten die Schwingungen eines solchen unterirdischen Bebens draußen vor der Küste der Ost-Antarktis einen Eisberg von der Größe Rhode Islands abgespalten. Wenn er sich bei der momentanen Meeresströmung von drei Meilen pro Tag fortbewegte, würde er in zehn Jahren wärmeres Wasser erreichen und dort schmelzen.

Zehn Jahre, dachte Drake. So weit fühlte er sich hier auch von allem entfernt. Alles Mögliche könnte passieren, aber niemand würde sein Rufen hören. Er verdrängte den Gedanken.

Als sich Drake für die Antarktis verpflichtete, oben in Port Hueneme, Kalifornien, hatte ihm der alte, einarmige Zivilistenkoch, der im Offizierskasino jenen geheimnisvollen Fleischfraß auf die Teller klatschte, empfohlen, die Biografien von Leuten wie Ernest Shackleton, James Cook, John Franklin und Robert Falcon Scott zu lesen – allesamt Forscher, die zu Zeiten von Königin Victoria und König Edward für den Ruhm Großbritanniens zum Südpol gezogen waren.

Der Koch sagte ihm, er solle seinen Job als einen Test für sein Durchhaltevermögen betrachten, als einen wahren Mannbarkeitsritus. Er sagte, eine Reise in die Antarktis sei wie eine Liebschaft – exotisch und berauschend –, und Drake werde sich dabei auf eine grundlegende, ja fast spirituelle Art verändern. Und gerade wenn ihn das feindliche Paradies verführt habe, werde er es wieder gegen seinen Willen verlassen müssen.

Einen Scheiß würde er.

Vom ersten Tag an konnte er es nicht erwarten, von diesem Eiswürfel wieder wegzukommen. Besonders, nachdem er bei seiner Ankunft von seinen Untergebenen erfahren hatte, dass der alte Mann in Port Hueneme seinen einen Arm ausgerechnet hier in der Antarktis verloren hatte. Er war ihm einfach abgefroren. In seiner Einheit waren alle auf den blöden Koch reingefallen.

Jetzt war es zu spät umzukehren. Selbst wenn er gewollt hätte, konnte er nicht nach Port Hueneme zurück. Die Navy hatte ihr dortiges Antarktis-Trainingslager, kurz nachdem er in dieser frostigen Hölle angekommen war, aufgelöst. Was den einarmigen Koch betraf, so verprasste der jetzt wahrscheinlich seine Rente am Strand und pfiff Mädchen in Bikinis hinterher.

Drake hingegen wachte inzwischen häufig mit stechenden Kopfschmerzen und trockenem Mund auf. Nacht für Nacht sog die wüstenähnliche Luft die Feuchtigkeit aus ihm heraus. Jeden Morgen wachte er wie nach einem wüsten Saufgelage mitsamt allen Nachwirkungen auf, allerdings ohne am Abend zuvor in den Genuss eines Rausches gekommen zu sein.

Drake steckte die dick behandschuhte Hand in die Hosentasche und tastete nach dem inzwischen gefrorenen Hasenfuß, den seine Verlobte Loretta ihm geschenkt hatte. Bald würde er am Rückspiegel des roten Ford-Mustang-Kabrios baumeln, das er mithilfe seines Urlaubsgeldes für die Flitterwochen kaufen wollte. Wenn man hier unten war, häufte sich das Geld nur so. Es gab einfach nichts, wo man es verprassen konnte. Die Forschungsstation McMurdo, wichtigster Außenposten der USA in der Antarktis, war 1.500 Meilen entfernt und bot ihren 200 Winterbewohnern lediglich ein vollautomatisches Gerät zur Stimmenauszählung, ein Café und zwei Bars, und das alles bei einem Männer-Frauen-Verhältnis von zehn zu eins. Richtige Zivilisation gab es erst 2.500 Meilen weit entfernt in ›Cheech‹-Christchurch, Neuseeland. Das könnte genauso gut auf dem Mars sein.

Mal ehrlich: Wer würde ihn schon in den Schnee pinkeln sehen?

Drake blieb stehen. Der Sturm hatte sich gelegt. Im Augenblick waren die Fallwinde gänzlich zur Ruhe gekommen. Es herrschte eine Ehrfurcht gebietende Stille. Die Winde konnten allerdings ganz plötzlich wieder einsetzen, um dann mit ohrenbetäubenden 300 Stundenkilometern dahinzufegen. Die antarktischen thules oder ›Toolies‹, die inneren Schneewüsten, waren nun einmal unberechenbar.

Das war jetzt die Gelegenheit.

Drake konnte es nicht mehr länger zurückhalten. Er machte den Reißverschluss seines Polaranzugs auf und erleichterte sich. Die beißende Kälte schlug wie ein Elektroschock zu. Die Temperatur drohte in der Nacht auf knapp -90°C zu sinken, auf einen Punkt, an dem nacktes Fleisch in weniger als dreißig Sekunden gefror.

Mit beschlagenem Atem zählte Drake leise von dreißig abwärts. Haargenau bei sieben machte er seine Hose wieder zu und schickte ein Stoßgebet gen Himmel.

Die drei Gürtelsterne des Orions funkelten über die öde Eisfläche. Die ›Weisen aus dem Morgenland‹, wie er sie nannte, waren die einzigen Zeugen seiner verwerflichen Tat. Wirklich weise Männer, dachte er lächelnd. Plötzlich spürte er unter sich ein leichtes Knacken im Eis, das aber sofort wieder abebbte. Ein weiteres Beben. Höchste Zeit, die Werte abzulesen.

Drake ging zu den weißen Kuppeln der Basis zurück. Die Stiefel knirschten im Schnee. Laut Vorschrift hätten die Hütten gelb, rot oder grün sein müssen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber gerade das wollte Uncle Sam vermeiden. Jedenfalls solange der Antarktisvertrag sowohl Militärpersonal als auch militärische Ausrüstung vom Friedenskontinent verbannte – außer sie dienten ›Forschungszwecken‹.

Drakes inoffizieller Befehl lautete, ein Team aus NASA-Wissenschaftlern tief ins Innere der Ost-Antarktis zu führen, die zwar aus der Luft, aber nie zu Boden kartografisch erfasst worden war. Sie sollten den Verlauf der Längengrade, insbesondere den des Oriongürtels, verfolgen. Nachdem sie im Epizentrum der jüngsten Beben angekommen waren und die Basis aufgebaut hatten, begann das NASA-Team sogleich mit der Echolotung und der Aufzeichnung seismischer Daten. Dann wurde gebohrt. Das ›Forschen‹ hatte irgendwie etwas mit der Topografie einer vorzeitlichen Landmasse etwa zwei Meilen unter dem Eis zu tun.

Drake konnte sich nicht vorstellen, was die NASA da unten zu finden hoffte. General Yeats hatte dahingehend nichts verlauten lassen. Auch konnte er es sich nicht erklären, warum das Team Waffen benötigte und regelmäßig Patrouillen durchführte. Die einzige vorstellbare Bedrohung für die Mission war ein Team der United Nations Antarctica Commission (UNACOM) in der Wostok-Station, einem verlassenen russischen Stützpunkt, der vor ein paar Wochen plötzlich wieder in Betrieb genommen worden war. Aber die Wostok-Station war fast 400 Meilen entfernt, zehn Stunden auf dem Landweg. Warum die NASA sich so für die UNACOM interessieren sollte, war Drake genauso ein Rätsel wie all das, was unter dem Eis lag.

Was sich da unten befand, musste mindestens 12.000 Jahre alt sein. Drake hatte irgendwo einmal gelesen, dass das Eis diese frostige Hölle schon seit so langer Zeit bedeckte. Jedenfalls musste es für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten von großer Bedeutung sein, sonst hätte Washington dieses geheimnisvolle Vorgehen angesichts des internationalen Tamtams, das eine Entdeckung dieser illegalen Expedition nach sich zöge, niemals riskiert.

Die Kommandozentrale war eine Kuppel aus vorgefertigtem Fiberglas, auf der sich mehrere Satellitenschüsseln und Antennen gen Himmel reckten. Als Drake zwischen den mehreren Dutzend Metallstangen, die um die Basis herum aufgestellt waren, darauf zuging, löste er laute Knackgeräusche aus. Die knochentrockene Luft der Antarktis machte aus einem Menschen einen mit Reibungselektrizität aufgeladenen Ball.

Als Drake die Kommandozentrale betrat, hieß ihn die Wärme, die von den Hightechradiatoren produziert wurde, willkommen. Kaum hatte er die Thermotür hinter sich geschlossen, winkte ihn der Funkoffizier zu sich.

Drake schüttelte den Schnee ab und stapfte zum Kontrollpult. Er entlud seine Hände an einem geerdeten Metallstreifen an den Pultkanten. Die Funken sprühten kurz auf, aber das war weniger schlimm, als wenn er versehentlich die Computer mit den ganzen Daten beeinträchtigt hätte. »Was gibt's?«

»Unsere Funkwellenmessungen haben vielleicht was aufgezeichnet.« Der Funkoffizier tippte an seinen Kopfhörer. »Für ein natürliches Phänomen ist es zu gleichmäßig.«

Drake runzelte die Stirn. »Schalten Sie die Lautsprecher ein.«

Der Funkoffizier knipste einen Schalter an. Ein gleichmäßiges rhythmisches Grollen erfüllte daraufhin den Raum. Drake zog die Parkakapuze zurück, und buschiges, hochstehendes dunkles Haar kam zum Vorschein. Er berührte das Pult mit dem Finger und spitzte die Ohren; es war eindeutig ein mechanisches Geräusch.

»Das sind die Jungs von der UNACOM«, sagte Drake. »Die sind auf dem Weg zu uns. Wahrscheinlich hören wir da ihre Hägglunds-Schneeraupen.« Drake stellte sich schon die bevorstehende Aufregung auf internationaler Ebene vor. Yeats würde völlig durchdrehen. »Wie weit weg, Lieutenant?«

»Eine Meile unter uns, Sir«, antwortete der Funkoffizier verwirrt.

»Unter uns?« Drake sah den Lieutenant an. Das Brummen wurde lauter.

Eine der Deckenlampen fing an, hin und her zu schwingen. Das Rumpeln brachte den Boden zum Beben, als nahte ein Güterzug.

»Das kommt nicht aus dem Lautsprecher«, brüllte Drake. »Lieutenant, nehmen Sie sofort Funkkontakt zu Washington auf!«

»Bin schon dabei, Sir.« Der Lieutenant hantierte an den Schaltern herum. »Es antwortet niemand.«

»Versuchen Sie es auf einer anderen Frequenz«, sagte Drake.

»Nichts.«

Von oben war ein Knacken zu hören. Drake konnte den herabfallenden Eisbrocken gerade noch ausweichen. »Und im UKW-Bereich?«

Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Funkstille.«

»Mist!« Drake eilte zum Regal mit den Waffen, nahm sich dort ein gegen die Kälte isoliertes Sturmgewehr M-16 heraus und bewegte sich damit in Richtung Tür. »Stellen Sie die Verbindung über Satellit her!«

Drake öffnete die Luke und rannte nach draußen. Das Rumpeln war ohrenbetäubend. Keuchend lief er mit langen Schritten über das Eis zum Rand des Camps und blieb dort stehen.

Drake hob das M-16 und suchte durch das Nachtsichtvisier den Horizont ab.

Nichts, nur eine unheimliche grüne Aura, die vom wirbelnden Polarnebel erhellt wurde. Er schaute weiter und rechnete damit, gleich die Umrisse von Hägglunds-Transportern der UNACOM auszumachen. Es klang, als wären hunderte davon im Anmarsch. Verdammt noch mal. Womöglich kamen die Russen mit ihren tonnenschweren Charkowtschanka-Ungetümen.

Dann bebte der Boden unter ihm. Er blickte nach unten, sah einen gezackten Schatten zwischen seinen Stiefeln hindurchschießen und machte einen Satz zurück. Der Riss im Eis wurde immer größer.

Er schulterte sein M-16 und rannte los, um möglichst vor dem Riss zur Kommandozentrale zu kommen. Überall gellten Rufe. In Panik geratene Soldaten waren wegen der Erschütterung aus ihren Fiberglas-Iglus gestürzt. Plötzlich gingen die Rufe im Heulen des Windes unter.

Wie in einem Windkanal raste die eisige Luft über sie hinweg. Der Fallwind warf Drake von den Beinen. Er rutschte aus und knallte aufs Eis. Mit dem Hinterkopf schlug er so heftig auf dem Boden auf, dass er sofort das Bewusstsein verlor.

Als Drake wieder zu sich kam, hatte sich der Wind gelegt. Eine Weile lag er einfach nur da, dann hob er den vor Schmerz hämmernden Kopf und lugte unter der schneebedeckten Parkakapuze hervor.

Die Kommandozentrale war verschwunden. Jetzt tat sich an deren Stelle ein schwarzer Abgrund auf, ein riesiger, ungefähr hundert Meter breiter, halbmondförmiger Spalt, der das gesamte Basislager verschluckt hatte. Er hoffte, dass die eisige Kälte ihn nur phantasieren ließ, jedenfalls hätte er schwören können, dass sich dieser Spalt fast eine Meile weit durch das Eis zog.

Langsam schleppte er sich zu der sichelförmigen Schlucht. Er musste unbedingt herausfinden, was passiert war, wer überlebt hatte und wer medizinische Hilfe brauchte. In der unheimlichen Stille hörte er, wie sein Polaranzug über das Eis schabte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er den Rand des Abgrunds erreichte.

Drake leuchtete mit der Taschenlampe in die Dunkelheit. Der Lichtkegel beschien die glasigen blauweißen Eiswände und arbeitete sich weiter nach unten vor.

Mein Gott, dachte er, das Loch ist mindestens eine Meile tief.

Dann sah er die Leichen und das, was von der Basis übrig geblieben war, ein paar hundert Meter tiefer auf einer Eisplatte. Wegen der weißen Thermoanzüge konnte man das Versorgungspersonal der Navy kaum von dem zerbrochenen Fiberglas und dem verbogenen Metall unterscheiden. Die Leichen der zivilen Wissenschaftler hingegen waren in ihren bunten Parkas gut auszumachen. Einer lag etwas abseits auf einer kleinen Eiskante. Sein Kopf, von einem Heiligenschein aus Blut umgeben, stand in einem unnatürlichen Winkel vom Rumpf ab.

In Drake begann sich alles zu drehen, während er in Augenschein nahm, was von seinem ersten Kommando übrig geblieben war. Er musste herausfinden, ob noch jemand atmete. Er musste nach irgendwelchen Geräten suchen und Hilfe holen. Er musste etwas unternehmen.

»Kann mich jemand hören?«, rief Drake. In der trockenen Luft überschlug sich seine Stimme.

Er lauschte und glaubte ein Schlagen zu hören. Schließlich stellte es sich heraus, dass das Geräusch von seinem Funkoffizier herrührte, dessen erfrorene Glieder über der zerstörten Ausrüstung hingen und wie Glas klirrten.

Er rief in den Wind. »Hört mich jemand?«

Keine Antwort, nur ein leises Pfeifen über dem Abgrund.

Drake sah näher hin und bemerkte irgendein Gebilde, das aus dem Eis hervorragte. Kein Fiberglas oder Metall oder sonst was aus dem Basiscamp. Es war etwas Festes, etwas, was zu leuchten schien.

Was ist denn das?, dachte er.

Eine entsetzliche Stille fiel über das Ödland. Schaudernd wurde ihm klar, dass er mutterseelenallein war.

Verzweifelt suchte er in den Trümmern nach einem Funktelefon. Wenn er wenigstens eine Nachricht senden konnte, wenn er nur Washington in Kenntnis setzen könnte. Die Versicherung, von den Stationen McMurdo oder Amundsen-Scott würde Hilfe herbeieilen, würde ihm die Kraft geben, einen Unterschlupf zu errichten, um die Nacht zu überleben.

Eine plötzliche Windbö heulte los. Drake spürte, wie der Boden unter ihm nachgab. Er schnappte nach Luft und tauchte mit dem Kopf voran in die Dunkelheit ein. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Rücken und hörte etwas abscheulich knacken. Er konnte die Beine nicht mehr bewegen. Beim Versuch, um Hilfe zu rufen, hörte er nur seinen pfeifenden Atem.

Über ihm standen in gleichgültiger Stille die drei Sterne des Orion am Himmel. Er bemerkte einen eigenartigen Geruch, beziehungsweise wie sich die Beschaffenheit der Luft verändert hatte. Drake spürte, wie sein Herz auf ungewohnte Art schlug, so als verlöre er die Gewalt über seinen Körper. Immerhin konnte er noch die Hände bewegen.

Mit den Fingern tastete er über das Eis und griff nach der Taschenlampe. Sie war noch nicht verloschen. Er suchte die Dunkelheit ab und hielt den Strahl auf die durchsichtige Wand. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich mit den Augen an das Licht gewöhnt hatte. Er konnte nicht genau erkennen, was es war. Es sah aus wie im Eis eingeschlossene Kohlestücke. Dann merkte er, dass es Augen waren: die Augen eines kleinen Mädchens, das ihn aus der Eiswand anstarrte.

Einen Augenblick lang starrte er zurück. Hinten in seiner Kehle bildete sich ein leises Stöhnen, als er schließlich den Kopf abwandte. Er war von hunderten tadellos erhaltenen Menschen umgeben, Menschen, die in die Zeit eingefroren waren und die Arme nun verzweifelt in die Ewigkeit streckten.

Drake öffnete den Mund, um zu schreien, aber da fing das Poltern wieder an, und eine glitzernde Lawine aus Eissplittern prasselte auf ihn herab.

Entdeckung plus 21 Tage 2 Nazca, Peru

Unter der glühenden peruanischen Sonne kletterte Conrad Yeats den Hang zum Gipfelplateau hoch, von wo aus er die Ebene von Nazca überschaute. Hunderte von Metern unter ihm erstreckte sich die endlose, leere Wüste. Er konnte den Kondor, den Affen und die Spinne erkennen, riesige Figuren, die in die ausgedörrte Ebene, die der Marsoberfläche ähnelte, gescharrt waren. Die berühmten Erdzeichnungen von Nazca, kilometerlang und tausende Jahre alt, waren so groß, dass man sie nur aus der Luft richtig erkennen konnte. Genauso wie jetzt die winzige Staubwolke, die in der Ferne den Panamerican Highway entlangwirbelte. Sie kam neben dem Kombi, den Conrad unten an der Straße abgestellt hatte, zum Stillstand. Conrad zog sein Fernglas heraus und richtete es nach unten. Bei seinem Wagen hatten zwei Militärjeeps gehalten, aus denen jetzt acht bewaffnete peruanische Soldaten sprangen, um sich das Fahrzeug genauer anzusehen.

Mist, dachte er, woher wissen die, dass ich hier bin?

Die Frau ihm gegenüber rückte ihren Rucksack zurecht und fragte mit breitem französischem Akzent: »Probleme, Conrad?«

Conrad blickte in ihre stechend blauen Augen, die von einem 24 Jahre alten Babygesicht umgeben waren. Mercedes, Tochter eines französischen Fernsehmoguls, produzierte für ihren Vater die Reihe ›Rätsel des Altertums‹ und half dabei, entsprechende Drehorte zu erkunden.

»Noch nicht.« Er steckte sein Fernglas weg. »Und für Sie immer noch Doktor Yeats.«

Die Frau schmollte. Ihr Pferdeschwanz wippte hinten aus der Diamondbacks-Baseballmütze wie der Schwanz eines gereizten Vollblüters, der Fliegen weg wedelte. »Doktor Conrad Yeats, der Welt größter Experte in Sachen megalithischer Architektur!« Sie sprach im gleichen Tonfall wie der zweitklassige Ansager ihrer Sendung. »Wegen seiner unorthodoxen, wenn auch brillanten Theorien über die Ursprünge der menschlichen Zivilisation von der Wissenschaft verstoßen.« Sie machte eine Pause. »Von allen Frauen dieser Welt angebetet.«

»Nur von den Verrückten«, sagte Yeats trocken.

Er stand mit nacktem Oberkörper da – stark und muskulös, der Körper gestählt und braun gebrannt von seinen Expeditionen zu den geografischen und politischen Krisenherden der Welt – und musterte den letzten Vorsprung unterhalb des Plateaus. Das dunkle Haar war um einiges zu lang, weshalb er es mit einem Lederband zurückgebunden hatte. Der 39 Jahre alte, schlanke Mann mit den markanten Zügen sah müde und hungrig aus, und das war er auch. Müde von der Reise durchs Leben, hungrig nach Antworten.

Es war seine Suche nach den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation – nach jener ›Urkultur‹, aus der die ersten bekannten Kulturen hervorgegangen sein mussten –, die ihn in die entlegensten Winkel der Erde verschlug. Seine fixe Idee, das hatte ihm einmal eine Nonne gesagt, sei eigentlich die Suche nach seinen leiblichen Eltern, die nach seiner Geburt verschwunden waren. Kann schon sein, dachte er, allerdings haben die alten Nazcaner mehr Spuren hinterlassen.

Elegant zog sich Yeats über den Felsvorsprung auf das flache Plateau hinauf. Er streckte die Hand nach unten, packte die staubige Hand von Mercedes und zog sie zu sich auf das Plateau. Sie ließ sich auf ihn plumpsen, bestimmt mit Absicht, und er fiel auf den Rücken. Ihr neckischer Blick verweilte kurz auf ihm, bevor sie über seine Schulter sah und die Luft anhielt.

Das Plateau war wie mit der Präzision eines Lasers gestaltet worden und wirkte wie eine riesige Piste im Himmel über der Wüste von Nazca. Der Blick von hier aus auf die bekannten Scharrbilder war atemberaubend.

Yeats stand auf und klopfte sich den Staub ab, während Mercedes die Aussicht genoss. Er hoffte, dass sie sich alles gut einprägte. Wenn er nämlich keine Möglichkeit fand, den Peruanern da unten zu entkommen, würde sie die Welt in Kürze nur noch zwischen Gitterstäben hindurch sehen.

»Sie müssen zugeben, Conrad, dieser Gipfel hier hätte gut eine Landebahn sein können.«

Yeats lächelte. Sie schien ihm irgendeine Reaktion entlocken zu wollen. Da die Erdzeichnungen nur aus großer Höhe zu erkennen waren, hatten ein paar seiner verrückten Archäologenkollegen die These aufgestellt, dass die alten Nazcaner Flugkörper besaßen und dass der Berg, auf dem Mercedes und er gerade standen, einstmals eine Landebahn für die Raumschiffe Außerirdischer gewesen sei. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn jetzt ein solches auftauchen würde, um ihn vor Mercedes und den Peruanern in Sicherheit zu bringen. Na ja, auf Mercedes war er momentan angewiesen. Die Fernsehsendung war seine letzte Möglichkeit, seine Forschungen zu finanzieren. Und Mercedes war nun einmal die einzige Verbindung zu dem Geld.

»Es wird Sie wohl nicht zufrieden stellen, wenn ich darauf hinweise, dass Außerirdische, die durch die Weiten des Alls reisen können, keine Start- und Landebahn brauchen dürften«, sagte Yeats.

»Nein.«

Yeats seufzte. Auch ohne vorgeschichtliche Astronauten, die auch noch seinen letzten Respekt vor der etablierten Wissenschaftsszene untergruben, war es schon schwer genug, bei seiner Suche nach den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation mit der verschütteten Zeit, mit fremden Regierungen und dusseligen Theorien fertig zu werden.

Früher war er einmal ein bahnbrechender, postmoderner Archäologe gewesen. Seine dekonstruktivistische Theorie besagte, dass die historischen Stätten nicht annähernd so wichtig waren wie das, was sie über deren Erbauer aussagten. Dieser Standpunkt stand in krassem Gegensatz zu den selbstgerechten ›Erhaltungs-Tendenzen‹ in der Archäologie, die in Conrads Augen nur eine Umschreibung für ›Tourismus‹ und die Dollars waren, die jener einbrachte. In der Presse wurde er als Einzelgänger abgestempelt, eine Quelle erbitterter Eifersucht unter seinesgleichen und den Ländern in Nahost und Südamerika, die die größten archäologischen Schätze der Welt besaßen, ein Dorn im Auge.

Eines Tages hatte er dann in der Nähe von Luxor in Ägypten Dutzende israelitische Häuser aus dem 12. Jahrhundert vor Christus freigelegt, die den ersten konkreten Beweis für den in der Bibel beschriebenen Exodus lieferten. Die offizielle Haltung der ägyptischen Regierung besagte aber nun einmal, dass ihre historischen Vorfahren zur Erbauung der Pyramiden niemals hebräische Sklaven eingesetzt hatten. Darüber hinaus habe allein die ägyptische Regierung das Recht, neue Entdeckungen an die Presse weiterzuleiten. Yeats hingegen habe sie nicht über seine Funde informiert, bevor er mit der Presse redete, womit er gegen den Vertrag verstieß, den jeder Archäologe, der in Ägypten arbeiten wollte, zu unterschreiben hatte, bevor er mit Ausgrabungsarbeiten beginnen konnte. Der Leiter der obersten Behörde für Altertümer hatte ihn ›einen faulen, beschränkten Trottel‹ genannt und für immer aus Ägypten verbannt.

Plötzlich hatte sich das Blatt gewendet, und aus Conrad dem Bilderstürmer war Conrad der Erhalter geworden, der nun internationalen Schutz für seine ›Sklavenstadt‹ einforderte. Bis Ägypten schließlich Kamerateams an die Stätte vorließ, waren die bröckelnden Grundmauern der israelitischen Siedlung jedoch bereits von Bulldozern niedergewalzt worden, um Platz für eine Militäranlage zu schaffen. Es blieb nichts, was sich noch hätte erhalten lassen, übrig – nur eine Geschichte, der niemand glaubte, und ein angeschlagener Ruf.

Jetzt war er schlechter dran denn je. Seiner Reputation verlustig. Völlig blank. In den Klauen von Mercedes und ihrer verrückten Realityshow, die der Masse, statt ihr die neuesten archäologischen Erkenntnisse näher zu bringen, bloße Unterhaltung andrehte. Er konnte nicht mehr nach Ägypten zurück, und bald würde das auch für Peru und Bolivien und eine wachsende Zahl anderer Länder gelten. Nur die endliche Entdeckung der menschlichen Urkultur, so schwierig sich das auch gestalten mochte, konnte ihn vor den vorzeitlichen Astronauten und dem Fegefeuer billiger Dokumentarfilme und noch billigerer Nummern retten.

Mercedes sah besorgt drein. »Wir werden einen ganzen Tag damit vertun, die Crew für Ihren Auftritt hier hochzubringen«, sagte sie. Sie grübelte kurz, aber dann erhellte sich ihre Miene. »Viel besser wäre da doch eine Luftaufnahme aus der Cessna mit einem Kommentar aus dem Off.«

»Das ginge wohl etwas am Sinn der Sache vorbei, Mercedes«, sagte Yeats.

Sie sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das?«

»Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass wir ein heiliges Ritual vollziehen.« Er nahm ihre Hand. »Mit dem eine Offenbarung eintreten wird.«

Yeats ließ sich auf die Knie nieder und zog sie neben sich nach unten. Mercedes bekam vor Erwartung große Augen. »Machen Sie mir alles nach, und seien Sie für ein großes Geheimnis bereit!«

Mercedes lehnte sich an ihn.

»Stecken Sie Ihre Finger in den Boden.«

Langsam bohrten sie die Finger durch das heiße schwarze Vulkangeröll in den kühlen, feuchten gelben Lehm darunter.

»Steht das in Ihrem Drehbuch?«, sagte sie. »Fühlt sich gut an.«

»Reiben Sie einfach den Lehm zwischen den Fingern.«

Sie tat wie geheißen. Dann hielt sie sich einen kleinen Klumpen an die Nase und roch daran, als ob sie jederzeit mit einer kosmischen Erscheinung rechnete.

»Das wär's.«

Sie sah ihn verdutzt an.

»Begreifen Sie denn nicht?«, sagte er zu ihr. »Dieser Boden ist zu weich, als dass hier irgendwelche Flugzeuge landen könnten.« Er lächelte sie triumphierend an. »So viel zu Ihren Fantasievorstellungen von vorzeitlichen Astronauten.«

Er hätte sich denken können, dass sein einfacher wissenschaftlicher Test bei ihr nicht so gut ankommen würde. Vor Wut kniff sie die Augen zu stahlblauen Schlitzen zusammen. Eine solche Verwandlung hatte er schon einmal an ihr gesehen. Auf diese Weise hatte sie es auch beim Fernsehen so weit geschafft. Das Geld ihres Vaters war natürlich auch hilfreich gewesen.

»Sie sind wichtig für die Reihe, Conrad«, sagte sie. »Sie denken anders als andere. Und Sie haben ein wissenschaftliches Renommee. Zumindest hatten Sie das früher mal. Sie sind ein Astro-Archäologe des 21. Jahrhunderts oder was auch immer. Schmeißen Sie das nicht einfach hin. Ich will Sie weiter dabeihaben. Aber ich muss auch an die Einschaltquoten denken. Wenn Sie also nicht mitspielen, hole ich mir irgendeine dauergrinsende Berühmtheit, die ihren Part als Fernseh-Archäologe übernimmt.«

»Und das heißt?«

»Geben Sie den Irren, die unsere Sendung anschauen, das, was sie wollen.«

»Astronauten aus der Vorzeit?«

Ein heiteres Lächeln legte sich über ihr Babygesicht, und sie setzte eine einschmeichelnde, bewundernde Miene auf. Er stöhnte innerlich.

»Professor Yeats.« Sie strahlte ihn an, umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund.

Unfähig, sich aus ihren Armen zu befreien oder Luft zu holen, ließ er sich widerwillig auf den Kuss ein und spürte, wie ihr Körper auf seinen Selbsthass reagierte. Offensichtlich traf das, was der französische Dramatiker Molière über Schriftsteller gesagt hatte, auch auf Archäologen zu. Er war hier die Prostituierte. Ursprünglich hatte er es für sich selbst getan, dann für ein paar Freunde und die Universitäten. Verflucht noch mal, warum nicht auch Geld dafür nehmen?

Plötzlich kam Wind auf, und Mercedes' Pferdeschwanz schlug ihm ins Gesicht. Ein leuchtendes Objekt aus Metall kreiste in der Luft. Er hielt die Hand vor die Augen und erkannte die Umrisse eines Black-Hawk-Militärhubschraubers, an dessen Seiten Maschinengewehre angebracht waren.

Mercedes folgte seinem Blick und runzelte die Stirn. »Was bedeutet das?«

»Ärger.«

Yeats griff hinter Mercedes und zog eine 9 mm Glock Automatik aus ihrem Rucksack.

Sie machte große Augen. »Damit haben Sie mich durch den Zoll geschickt?«

»Nein, die hab ich erst neulich in Lima gekauft.« Er zog ein geladenes Magazin aus seiner Gürteltasche und schob es in den Griff. Dann steckte er die Pistole in den Gürtel. »Überlassen Sie das Reden mir.«

Mercedes nickte sprachlos.

Der Hubschrauber setzte zur Landung an. Der Wind, den die Rotoren erzeugten, wirbelte roten Staub auf. Nach der Landung ging die Tür auf, und sechs Soldaten der U. S. Special Forces in grünen Kampfanzügen sprangen heraus und sicherten das Gebiet. Gleich darauf stieg ein schlaksiger junger Offizier in einer blauen USAF-Fliegermontur die Metalltreppe herunter und ging auf Conrad zu.

»Doktor Yeats?«, sagte der Offizier.

Yeats musterte den Offizier, der ungefähr in seinem Alter zu sein schien. Irgendwo hatte er den schlanken, lässigen Mann schon einmal gesehen. Über die linke Hand hatte dieser einen schwarzen Lederhandschuh gestreift.

»Wen interessiert das?«

»Die NASA, Sir. Ich bin Lieutenant Colonel Lundstrom. Ich arbeite für General Yeats, Ihren Vater.«

Yeats erstarrte. »Was will er von mir?«

»Der General möchte Ihre Meinung zu einer Angelegenheit hören, die für die nationale Sicherheit von höchstem Interesse ist.«

»Glaube ich Ihnen sofort, Colonel, aber die Interessen des Landes und meine eigenen sind nicht ein und dasselbe.«

»Diesmal schon, Doktor Yeats. Meines Wissens sind Sie an der University of Arizona Persona non grata. Und falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Es klettert gerade ein schwer bewaffneter Schlägertrupp den Abhang hoch. Sie können also entweder mit mir kommen, oder aber ein paar Wochen in einer peruanischen Gefängniszelle verbringen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass die Alternative zu meinem Vater der Knast ist? Das muss ich mir wirklich erst noch überlegen.«

»Tun Sie das«, sagte Lundstrom. »Aber es könnte sein, dass Ihre kleine Freundin hier die Kaution für Sie möglicherweise nicht stellen kann, wenn sie herausfindet, dass Sie sie benutzt haben, einen gestohlenen ägyptischen Kunstgegenstand durch den Zoll zu schmuggeln. Damit Sie den dann an einen südamerikanischen Drogenbaron verscherbeln können.«

»Noch so eine Lüge aus Luxor. Wo soll ich denn angeblich besagtes Artefakt herhaben?«

»Die Ägypter behaupten, Sie hätten es während des Irakkriegs aus dem Nationalmuseum in Bagdad entwendet, nachdem die amerikanischen Truppen die Stadt erobert hatten. Die Ägypter haben die Iraker dazu gekriegt, das zu bestätigen. Zumindest wird diese Version den Peruanern, Bolivianern und allen anderen, die es interessiert, so erzählt.«

Yeats bemühte sich, seine Wut auf die Ägypter zu unterdrücken, während er sich überlegte, ob Mercedes ihn im Gefängnis womöglich tatsächlich vor die Hunde gehen lassen würde. Er kam zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich, bevor sie die Kaution stellte, die Wächter dazu brächte, ihm ein paar ordentliche Schläge zu verpassen.

»Hört sich alles nett an«, sagte Yeats zu Lundstrom. »Aber ich werde dennoch auf dieses tolle Angebot verzichten.« Er streckte Lundstrom die Hand hin, um sich von ihm zu verabschieden.

Der Lieutenant Colonel rührte sich nicht. »Übrigens noch was, Doktor Yeats«, sagte er. »Wir haben das, wonach Sie schon Ihr ganzes Leben lang suchen, gefunden.«

Yeats sah ihm in die Augen. »Meine leiblichen Eltern?«

»Nein, das Zweitbeste. Man wird Sie einweihen, sobald wir dort sind.«

»Letztes Mal bin ich fast draufgegangen, Colonel. Also, warum suchen Sie sich nicht einfach jemand anderes?«

»Haben wir längst versucht.« Lundstrom hielt inne, wie um Yeats spüren lassen zu wollen, dass er derzeit nirgendwo sonderlich gut angeschrieben war. »Aber Dr. Serghetti ist offensichtlich schon von anderer Stelle beauftragt worden, den Fall zu untersuchen.«

»Serena?«

Lundstrom nickte.

Mehrere Szenen rasten Conrad Yeats nun gleichzeitig durch den Kopf. Allesamt waren sie nicht sonderlich angenehm, aber doch überaus erregend. Allein schon ihr Name erweckte ihn zu neuem Leben. Der Gedanke, dass er und Serena und sein Vater und die verschiedenen Welten, in denen sie sich bewegten, erstmals zusammenfinden würden, warf für ihn die Frage auf, ob das Raum-Zeit-Kontinuum damit überhaupt fertig würde oder ob das Universum daran zerbräche.

»Sie lassen mir wahrscheinlich keine große Wahl, Colonel, stimmt's?«

»Wohl kaum. General Yeats erwartet Sie.«

»Geben Sie mir noch eine Minute.«

Yeats drehte sich um und ging zu Mercedes hinüber, die das Gespräch aus der Ferne misstrauisch beobachtet hatte, und gab ihr einen Kuss. »Tut mir Leid, meine Liebe. Ich muss leider gehen.«

»Gehen? Wohin denn?«

»Einen echt alten Astronauten besuchen.«

Wieder griff Yeats in ihren Rucksack und zog eine aus der 19. ägyptischen Dynastie stammende goldene Statuette von Ramses II. heraus, der während des vermeintlichen Exodus Pharao gewesen war. Er hatte sie in der Sklavenstadt gefunden, und sie war der einzige ihm verbliebene Beweis, dass er nicht verrückt war. Er reichte sie Mercedes.

»Also, Sie haben keine Ahnung, wo das Ding herkommt, falls die netten Herren, die gerade hier hochklettern, Sie auf dem Weg zurück nach Lima fragen sollten.«

Mercedes fiel die Kinnlade herunter, als Conrad und der amerikanische Offizier daraufhin ohne ein weiteres Wort in den Black Hawk kletterten. Die Tür ging zu, und der Militärhubschrauber flog auf und davon.

***

Conrad Yeats blickte auf das schwindende Plateau hinunter. Als er schließlich daran dachte, Mercedes noch einmal Lebewohl zu winken, war das peruanische Militär schon auf dem Plateau. Der Hubschrauber überflog den Berg.

Er wandte sich Lundstrom zu. »Also, was um alles in der Welt will mein Vater von mir?«

»Fragen Sie lieber, wo auf der Welt er etwas von Ihnen will«, sagte Lundstrom und warf ihm einen weißen Polaranzug zu. »Bitte schön.«

Entdeckung plus 22 Tage Aceh, Indonesien 3 Rom

Dr. Serena Serghetti flog in 60 Meter Höhe über die smaragdgrünen Reisfelder und hielt den Hubschrauber sorgsam im Gleichgewicht. Die Sonne brach durch die dunklen Wolken, aber Donner rumpelte noch über den üppig bewachsenen Berghang. Es sah nach Regen aus.

Sie näherte sich der Stadt Lhokseumawe in der krisengeschüttelten Region Indonesiens, die früher einmal Niederländisch-Ostindien geheißen hatte. In dieser Provinz gab es 20.000 Waisen, Opfer der Jahrzehnte währenden Kämpfe zwischen den Aceh-Separatisten und dem indonesischen Militär. Inzwischen hatten sich dort auch noch El-Kaida-Terroristen auf die Seite der Moslems geschlagen und damit eine Situation geschaffen, wie sie brenzliger nicht sein könnte. Serena musste etwas tun, um diesen vom Rest der Welt vergessenen Kindern zu helfen.

Sie blickte auf die Sumpfgebiete unter sich hinab und sah die Sonne auf dem Ölteppich glitzern. Die Ölquelle der Exxon-Mobil-Gruppe war ausgelaufen und hatte großflächig die Reisfelder, Obstplantagen und Garnelenzuchtanlagen verunreinigt. Dergleichen passierte öfter, aber diesmal sah es deutlich schlimmer aus als sonst. Die Katastrophe bedrohte die Existenz der Waisen und Witwen in den umliegenden Dörfern Blang Pu'uk, Nibong Baroh und Tanjung Krueng Pase. Sie würden mindestens sechs Monate, vielleicht sogar ein Jahr lang in eine andere Gegend umgesiedelt werden müssen. Ihre ganze Lebensgrundlage war zunichte gemacht worden.

Serena wollte gerade per Fernbedienung die Bordkamera auslösen, als sie im Kopfhörer eine Stimme mit starkem englischem Akzent hörte. »Willkommen auf Posten dreizehn, Schwester Serghetti.«

Sie blickte nach Steuerbord und sah dort auf gleicher Höhe einen mit Maschinengewehren bestückten indonesischen Militärhubschrauber. Die Stimme war wieder zu hören: »Sie werden jetzt auf dem Hubschrauberlandeplatz in der Anlage landen.«

Serena neigte den Helikopter nach rechts und ließ ihn Höhe gewinnen, aber sofort streiften sie vier Kugeln eines Warnschusses an der Seite. »Sofort landen«, befahl der Indonesier. »Sonst holen wir Sie runter.«

Den Steuerknüppel fest umklammernd, sank Serena auf den Landeplatz hinab. Kaum hatte sie die Maschine sanft aufgesetzt, wurde sie auch schon von Soldaten in Kampfanzügen umringt, die ihre M-16 im Anschlag hatten.

Sie stieg mit erhobenen Händen aus dem Helikopter und sah, dass es sich um Kopassus-Einheiten handelte, Spezialeinheiten der indonesischen Armee, die im nahe gelegenen Camp Rancong stationiert waren. Schauplatz vieler berüchtigter Folterungen, gehörte Camp Rancong einst PT Arun, einem indonesischen Ölriesen, der teilweise von Exxon Mobil, das den Posten 13 betrieb, gekauft worden war.

Die Reihe der Kopassus-Soldaten teilte sich, als ein Jeep angefahren kam. Er hielt an, und ein Offizier, den Schulterklappen nach zu schließen ein Oberst, stieg aus und kam gemächlich auf sie zu. Es war ein dünner, junger Mann in den Zwanzigern. Hinter ihm schlurfte ein aufgedunsener älterer Weißer in Zivil einher, von dem Serena wegen seiner zur Schau getragenen Lustlosigkeit annahm, dass es sich um den amerikanischen Marionetten-Geschäftsführer der Ölfirma handelte.

»Was soll das alles?«, fragte Serena.

»Die berühmt-berüchtigte Schwester Serghetti«, sagte der Oberst auf Englisch. »Sie sprechen die acehnesische Sprache wie eine Eingeborene, obwohl sie natürlich nicht so aussehen. Die Bilder in den Medien werden Ihrer Schönheit jedenfalls bei weitem nicht gerecht. Und Ihre fliegerischen Fähigkeiten werden darin überhaupt nicht erwähnt.«

»Man tut, was man kann, Oberst«, erwiderte sie trocken mit ihrem australischen Akzent.

»Das scheint ja eine ganze Menge zu sein. Und was können Sie am besten?«

»Ich werfe in Afrika und Asien für die Ärmsten der Armen Lebensmittel und Medikamente ab, weil die Regierungen meist so korrupt sind, dass die Hilfslieferungen der UN selten in den vorgesehenen Dörfern ankommen«, sagte sie. »Entweder verschwinden sie einfach, oder sie vergammeln auf dem Transport, weil die Straßen unbefahrbar sind.«

»Dann sind Sie hier falsch, Ma'am«, sagte der Amerikaner mit schleppendem texanischem Akzent. »Ich bin Lou Hackett, der Generaldirektor des Unternehmens. Sie sollten eigentlich den Katholiken in Osttimor gegen die Moslems helfen. In einer rein muslimischen Provinz wie Aceh haben Sie eigentlich nichts zu suchen.«

»Ich dokumentiere die Verletzung der Menschenrechte, Mr. Hackett«, sagte sie. »Gott liebt auch die Muslime und die Aceh-Separatisten. Und nicht weniger als amerikanische Geschäftsleute.«

»Verletzung der Menschenrechte? Nicht bei uns«, sagte Mr. Hackett. Er musterte interessiert ihren Hubschrauber, der gerade von einer Crew Kopassus-Techniker auseinander genommen wurde.

Serena sah ihm in die Augen. »Soll das heißen, Mr. Hackett, dass der Ölteppich da draußen, der in die Garnelenzucht sickert, nicht von Ihnen verursacht wurde?«

»Einen harmlosen kleinen Unfall kann man wohl kaum als eine Verletzung der Menschenrechte bezeichnen.«

Mit einem zerschlissenen alten Taschentuch wischte sich Mr. Hackett den Schweiß von der Stirn. Serena bemerkte das Logo darauf: das Siegel des Präsidenten der USA. Zweifelsohne eine Aufmerksamkeit für den willigen Wahlkämpfer.

»Dann hat Ihre Firma also auch die Militärbaracken hier auf Posten 13 gar nicht gebaut. Es heißt, hier wurden Opfer der Menschenrechtsverletzungen verhört«, fuhr sie fort und sah dabei den indonesischen Oberst an. »Haben Sie etwa nicht die Maschinen geliefert, mit denen das Militär am Sentang-Berg und am Tengkorak-Berg die Massengräber für die Opfer ausgehoben hat?«

Mr. Hackett sah sie an, als wäre ihre Anwesenheit das Problem und nicht etwa das ausgelaufene Öl. »Was wollen Sie eigentlich, Schwester Serghetti?«

Der indonesische Oberst antwortete an ihrer Stelle. »Sie will gegen Exxon Mobil und PT Arun dasselbe durchsetzen wie gegen das Denok-Kaffeekartell in Osttimor.«

»Sie meinen, die Macht des Kartells brechen, das vom indonesischen Militär kontrolliert wird, um die Leute ihre Waren zu Marktpreisen verkaufen zu lassen?«, sagte Serena. »Eigentlich keine schlechte Idee.«

Hackett schien jetzt endgültig der Kragen zu platzen. »Wenn die Leute in Osttimor Sklaven für Starbucks sein wollen, dann ist das deren Problem, Schwester. Sie haben das Militär aus dem Kaffeegeschäft gedrängt, dann erst hat es sich für meine Firma interessiert.«

»Ganz was anderes, Schwester Serghetti«, sagte der Oberst und gab ihr ein Blatt Papier. Es war ein Fax. »Reisen Sie ab!«

Sie sah sich das Fax zweimal an. Es war von Bischof Carlos in Jakarta, dem Träger des Friedensnobelpreises von 1996. Er teilte ihr darin mit, dass sie dringend in Rom gebraucht werde. »Der Papst will mich sehen?«

»Der Papst, der Pontifex, der Heilige Stuhl, wie auch immer Sie ihn nennen wollen«, sagte Mr. Hackett. »Ich persönlich bin Baptist. Seien Sie froh, dass Sie hier ungeschoren wegkommen.«

Sie wandte sich gerade rechtzeitig ihrem Hubschrauber zu, um zu sehen, wie mehrere Soldaten die abmontierten Kameras wegtrugen.

»Und die Leute aus Aceh?«, hielt sie Mr. Hackett vor, während der Oberst sie zu seinem Jeep schob. Offensichtlich sollte ihr Hubschrauber doch gänzlich beschlagnahmt werden. »Sie können nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert.«

»Mal sehen, was ich kann oder nicht kann, Schwester«, sagte Mr. Hackett und winkte ihr mit einem süffisanten Lächeln zu. »Was nicht in den Zeitungen steht, passiert nun einmal auch nicht.«

***

Vierundzwanzig Stunden später lehnte sich Serena im Fond einer schwarzen Limousine ohne Kennzeichen zurück. Der gute alte Benito lenkte den Wagen durch die aufgebrachten Demonstranten und die Kamera-Teams auf dem Petersplatz. Kaum zu glauben, dass wegen ihrer derart viel Aufhebens gemacht wurde. Aber die Demonstration wurde tatsächlich ihrethalben veranstaltet.

Obwohl sie erst 27 Jahre alt war, hatte sie sich bereits jede Menge Feinde in der Petroleum-, der Holz- und der Pharmaindustrie gemacht, bei all jenen, die Profit über Menschen, Tiere oder Umwelt stellten. Allerdings hatte ihr Engagement auch ein paar Leute, denen sie zu helfen gehofft hatte, arbeitslos gemacht. Na ja, der wütenden Menge dort nach zu urteilen, waren es vielleicht sogar mehr als nur ein paar.

In ihrem Stadtoutfit, einem Armani-Anzug – ihre Lieblingsmarke – und dazu lässige Chucks, sah sie nicht unbedingt wie eine einstige Karmeliterin aus. Aber genau das war auch beabsichtigt. Als ›Mutter Erde‹ machte sie Schlagzeilen, und mit dem Medieninteresse kam der Einfluss. Wie sonst sollten die Medien, die sich mehr für Äußerlichkeiten als für Inhalte interessierten, die Weltöffentlichkeit und schließlich Rom sie überhaupt ernst nehmen?

Mit Gott verhielt es sich da anders. Sie war sich nicht sicher, was Er von ihr hielt, und eigentlich wollte sie das auch nicht so genau wissen.

Serena blickte durch das regenverschmierte Fenster. Die Sicherheitskräfte des Vatikans drängten die Menge und die Paparazzi zurück. Dann, wie aus dem Nichts ein lautes Krachen, das sie zusammenzucken ließ. Einem der Demonstranten war es gelungen, sein Transparent auf die Scheibe zu schlagen: Mutter Erde, suchen Sie sich einen anderen Planeten!

»Die haben Sie vermisst, Signorina«, sagte der Fahrer in seinem besten Englisch.

»Die meinen es doch nur gut, Benito.«

Sie blickte voller Mitgefühl auf die Menschenmenge hinaus. Sie hätte Benito auf Italienisch, Französisch, Deutsch oder in einem Dutzend anderer Sprachen ansprechen können, aber sie wusste, dass Benito sein Englisch verbessern wollte.

»Sie haben Angst. Sie müssen ihre Familien ernähren. Sie brauchen einen Sündenbock für ihre Arbeitslosigkeit. Da komme ich ihnen gerade recht.«

»Typisch, Signorina, Sie segnen auch noch Ihre Feinde.«

»Feinde gibt es nicht, Benito. Nur Missverständnisse.«

»Sie sprechen wie eine wahre Heilige«, sagte er.

Sie hatten die Menge am Tor hinter sich zurückgelassen und fuhren nun die gewundene Auffahrt hinauf.

»Benito, wissen Sie eigentlich, warum mich der Heilige Vater zu einer Privataudienz in die Ewige Stadt zitiert hat?« Wie beiläufig strich sie ihre Hose glatt und versuchte, ihre steigende Nervosität zu verbergen.

»Bei Ihnen kann alles Mögliche dahinterstecken.« Benito lächelte in den Rückspiegel, wobei ein Goldzahn zum Vorschein kam. »Bei dem Ärger, den Sie machen.«

Leider ist das nur allzu wahr, dachte Serena. Als sie noch Nonne war, lag sie gewöhnlich mit ihren Vorgesetzten im Clinch. Sie war eine Außenseiterin innerhalb der eigenen Kirche gewesen. Immerhin stand der Papst üblicherweise auf ihrer Seite. Der Newsweek gegenüber hatte er einmal geäußert: »Schwester Serghetti tut genau das, was Gott auch täte, wenn Er die Fakten kennen würde.« Das war gute Werbung gewesen, aber ihr war auch bewusst, dass keine Instanz der öffentlichen Meinung sie innerhalb dieser Mauern beschützen konnte.

Serena Serghetti war einer illegalen Verbindung zwischen einem katholischen Priester und einer Haushälterin entsprungen. Ihre Kindheit in der Nähe von Sydney war von tiefer Scham überschattet gewesen. Sie wuchs mit gemeinem Getuschel auf und hasste ihren Vater, der seine Vaterschaft bis zum Schluss leugnete. Er endete als versoffener Betrüger. Sie brachte die Gerüchte zum Schweigen, indem sie mit zwölf Jahren Keuschheit gelobte, sich beim Erlernen von Sprachen auszeichnete und, was am schockierendsten von allem war, mit 16 Jahren in ein Kloster eintrat. Innerhalb weniger Jahre wurde sie eine Ikone gelebten Glaubens und ein wandelndes Mahnmal für die ökologischen Sünden der Menschheit.

Solange das andauerte, fast sieben Jahre lang, konnte sie sich nicht beklagen. Doch dann kehrte sie einige Monate nach einer persönlichen Krise in Südamerika nach Rom zurück, um geistlichen Rat zu suchen, und stellte fest, dass der Vatikan seine Wasserrechnungen nicht zahlen wollte und sich dabei auf seinen Status als unabhängiger Staat und auf die dubiosen Lateranverträge aus dem Jahre 1929 berief, denen zufolge Italien das Wasser für die 0,44 km² große Enklave kostenlos liefern musste, ohne dass darin die Frage der Abwassergebühren geklärt worden wäre. »Weder zahlen wir dem Kaiser, was des Kaisers ist, noch erweisen wir Gott die Ehre, die wir Ihm als Schöpfer dieser Welt schulden«, erklärte sie, als sie ihrem Gelübde öffentlich abschwor, um sich fortan in den Dienst der Umwelt zu stellen.

Schon damals tauften die Medien sie ›Mutter Erde‹. Seitdem nannten die Leute sie so oder eben Schwester Serghetti. Wahrscheinlich war sie die berühmteste Exnonne der Welt. Ähnlich wie Prinzessin Diana in den Jahren vor ihrem Tod, so gehörte auch Serena nicht mehr der ›königlichen‹ Familie der Kirche an, war aber irgendwie zur ›Königin der Herzen‹ geworden.

Die Schweizergardisten in ihren blau-rot-gelben Uniformen standen stramm, als die Limousine vor dem Amtspalast des Heiligen Vaters hielt. Noch bevor Benito Serena die Tür öffnen und ihr einen Schirm reichen konnte, eilte sie im Regen bereits leichtfüßig die Treppe hinauf. Ihre Turnschuhe platschten in den Pfützen, während sie das Gesicht gen Himmel reckte, um die Regentropfen zu genießen. Angesichts ihrer bisherigen Erfahrung mit dem Vatikan würde es wahrscheinlich eine Weile dauern, bis sie wieder frische Luft schnappen konnte. Als sie durch die offene Tür schritt, lächelte ihr eine der Wachen zu.

Innen war es warm und trocken. Der junge Jesuit, der sie erwartete, erkannte sie sofort. »Schwester Serghetti«, begrüßte er sie herzlich. »Bitte hier entlang.«

In den zahlreichen Büros, an denen sie vorbeikam, während sie dem Jesuiten durch ein Labyrinth von Amtskorridoren zu einem alten Aufzug folgte, herrschte rege Betriebsamkeit. Und das alles hat einmal mit einem armen jüdischen Zimmermann angefangen, dachte sie. Sie betraten den Aufzug, und die Tür schloss sich.

Ob sich Jesus in dieser Kirche genauso fremd gefühlt hätte wie sie?

Beim Anblick ihres Spiegelbilds in der Metalltür des Aufzugs runzelte sie die Stirn und strich sich die Jacke glatt. Welch eine Ironie, dass ihre Klamotten ihr so wichtig waren, wo sie doch wusste, dass die Wolle und die Seide mit dem Schweiß eines armen Kindes in einer Fabrik in Fernost gesponnen worden waren, um das weltweite Konsumbedürfnis zu befriedigen! Die Kleidung und das damit verbundene Image stand für alles, was sie hasste, aber sie benutzte es, um im Medienzeitalter, das sich stärker für das Aussehen als die guten Taten einer ehemaligen Nonne interessierte, Spenden zu sammeln und Bewusstsein zu schaffen. Das war nun einmal der Lauf der Welt.

Ob Jesus zu diesem Zweck wohl auch Armani getragen hätte?

Die Welt war schon ziemlich verrückt, und sie fragte sich nicht selten, ob Gott sie so geschaffen hatte oder einfach nur zugelassen hatte, dass sie sich auf derart abscheuliche Weise veränderte. Sie hätte es jedenfalls anders gemacht.

Das Büro, das sie aufsuchen sollte, befand sich im 4. Stock und gehörte dem Geheimdienstchef des Vatikans, einem gewissen Kardinal Tucci. Er sollte sie instruieren und dann zur Privataudienz mit dem Papst in die päpstliche Residenz begleiten. Der Kardinal war nirgends zu sehen, aber der Jesuit führte sie dennoch in das Büro hinein.

Das Arbeitszimmer war älter und eleganter eingerichtet, als man angesichts Tuccis Ruf erwartet hätte. Bilder aus dem Mittelalter und alte Landkarten zierten die Wände und nicht etwa moderne, zeitgenössische Kunst, die Tucci angeblich bevorzugte.

Der Mann, der in einem schwarzen Lederstuhl zwischen zwei Blaeu-Globen aus dem 17. Jahrhundert saß, sah auch irgendwie älter und eleganter aus. Die weißen Insignien mit dem goldenen Spitzenbesatz am Hals harmonierten perfekt mit dem weißen Haar. Er sah gut aus, ein durch und durch weltmännischer Mann des Glaubens. Seine Augen wirkten klar und intelligent, als er von den Akten, die er studierte, aufblickte.

»Schwester Serghetti«, stellte ihr jesuitischer Begleiter sie vor. »Seine Heiligkeit, der Papst.«

Der Papst musste ihr nicht erst vorgestellt werden.

»Heiliger Vater«, sagte sie, nachdem der Jesuit die Tür hinter ihr geschlossen hatte.

Der mächtige Mann kam ihr weder streng noch fromm vor. Vielmehr strahlte er die geschäftstüchtige Aura eines Top-Managers aus. Mit dem Unterschied allerdings, dass sein Unternehmen nicht an den Börsen von New York, London oder Tokio notiert wurde. Ebenso wenig wurde sein künftiges Wachstum in Einheiten wie Quartalen, Jahren oder gar Jahrzehnten prognostiziert. Das Unternehmen bestand bereits seit über 2.000 Jahren und maß den Erfolg mit dem Maßstab der Ewigkeit.

»Schwester Serghetti.« Die Stimme des Papstes vermittelte echte Zuneigung, als er sie bat, doch bitte Platz zu nehmen. »Es ist schon so lange her.«

Überrascht und misstrauisch ließ sie sich auf einen Lederstuhl sinken, während er ihre Akte überflog.

»Proteste in Sachen Ozon vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York«, las er mit ruhiger, aber klangvoller Stimme vor. »Weltweiter Boykott von Pharma-Unternehmen. Ihre Homepage hat mehr Besucher als meine.« Mit regen, leuchtenden Augen blickte er von der Akte auf. »Manchmal frage ich mich, ob die Besessenheit, mit der Sie die Erde vor den Menschen retten wollen, nicht dem tiefen inneren Bedürfnis entspringt, sich selbst zu erlösen.«

Sie rutschte auf dem Lederstuhl hin und her. Er war hart und unbequem. »Erlösung wovon, Heiliger Vater?«

»Sie wissen, dass ich Ihren Vater kannte.«

Das wusste sie.

»Ich war jener Bischof, den er damals um Rat fragte, als er von der Schwangerschaft Ihrer Mutter erfuhr«, sagte der Papst.

Das war Serena neu.

»Er wollte, dass Ihre Mutter eine Abtreibung vornahm.«

»Das wundert mich ganz und gar nicht.« Es fiel ihr schwer, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich gehe mal davon aus, Sie haben ihm davon abgeraten?«

»Ich sagte ihm, Gott könne selbst aus den widrigsten Umständen etwas Schönes machen.«

»Verstehe.«

Serena wusste nicht, ob der Papst nun von ihr erwartete, dass sie ihm als ihrem Lebensretter dankte, oder ob er nur einfach das Geschehene erzählte. Er beobachtete sie genau, soviel war ihr klar. Nicht wertend oder mitleidig. Er schien einfach nur neugierig zu sein.

»Ich wollte Sie schon immer etwas fragen, Serena«, fuhr der Papst fort, und Serena lehnte sich vor. »Wie können Sie Jesus in Anbetracht der Umstände Ihrer Geburt überhaupt lieben?«

»Wegen der Umstände seiner Geburt«, antwortete sie. »Wäre Jesus nicht der einzige und wahre Sohn Gottes, wäre er ein Bastard und seine Mutter eine Hure. Er hätte dem Hass sein Herz öffnen können. Stattdessen entschied er sich für die Liebe, und heute nennt ihn die Kirche Erlöser.«

Der Papst nickte. »Zumindest scheinen Sie einzusehen, dass dieser Job inzwischen vergeben ist.«

»Ja, Heiliger Vater«, antwortete sie. »Und Ihnen hat er auch einen ziemlich guten Job gegeben.«

Er lächelte. »Einen Job, so wurde mir gesagt, den Sie eines Tages auch gern hätten.«

Serena zuckte die Achseln. »Das wird überbewertet.«

»Das stimmt«, sagte der Papst und sah sie gespannt an. »Und für ehemalige Nonnen, die die Sünden ihrer Väter wiederholt haben, auch ziemlich unerreichbar.«

Plötzlich geriet ihre filmreife Fassade ins Bröckeln und sie fühlte sich wie nackt. Bei diesem Papst war eine Privataudienz eher eine Therapiesitzung als eine Inquisition. Von der gerechten Entrüstung, auf die sie sich stützen wollte, war nichts mehr übrig.

»Ich verstehe nicht so recht, was der Heilige Vater damit sagen will«, stotterte sie und fragte sich, was der Papst wohl alles wusste. In Beherzigung des Schicksals all derer, die ihn so oft unterschätzt hatten, hielt sie es für das Beste, gleich mit der Sprache rauszurücken, statt sich weiter zu blamieren. »Ja, diese Verlockung war einmal sehr groß, Heiliger Vater«, sagte sie. »Aber vergessen Sie nicht, dass ich keine Nonne mehr bin und damit auch nicht mehr durch meine Gelübde gebunden. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass ich bis zu meiner Hochzeit, die wohl nie stattfinden wird, keusch bleibe.«

»Aber warum haben Sie dann …«, begann der Papst.

»Nur weil wir unsere Liebe nicht körperlich ausgelebt haben, heißt das noch lange nicht, dass wir emotional nicht verbunden waren«, sagte Serena. »Jedenfalls haben mir meine Gefühle keinerlei Zweifel gelassen, dass ich in diesem Leben nicht eine Braut Christi sein kann, während es mich gleichzeitig mit Leidenschaft nach einem Mann verzehrt. Jedenfalls nicht, ohne solch ein Heuchler zu sein wie mein Vater. Wenn Sie also mit dieser Sache meine Glaubwürdigkeit untergraben wollen …«

»Unsinn«, sagte der Pontifex. »Doktor Yeats wurde lediglich in dem Geheimdienstbericht erwähnt. Mehr nicht.«

»Conrad?«, entfuhr es ihr erstaunt. Ausspioniert vom Vatikan?

»Ja«, sagte der Papst. »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie ihn in Ihrem früheren Leben als unsere vielversprechendste Sprachwissenschaftlerin in Bolivien kennen gelernt.«

Serena lehnte sich zurück. Vielleicht war ja nur ein Manuskript aufgetaucht, das es zu übersetzen galt. Vielleicht hatte der Heilige Vater bloß einen Job für sie. Sie atmete jetzt wieder ruhiger, erleichtert, dem Thema Keuschheit entronnen zu sein. Die Anspielung auf Conrad hatte sie allerdings neugierig gemacht.

»Ja, das stimmt. Ich habe damals in den Anden mit den Aimara-Indianern gearbeitet.«

»Keine falsche Bescheidenheit«, sagte der Papst. »Sie haben mithilfe der Aimara-Sprache eine Übersetzungssoftware für den Weltgipfel der Vereinten Nationen entwickelt. Und Sie haben das mit nichts weiter als Ihrem Laptop geschafft, obwohl Experten an einem Dutzend europäischer Universitäten trotz riesiger Computer daran gescheitert sind.«

»Ich war nicht die Erste«, sagte Serena. »Dem bolivianischen Mathematiker Ivan Buzman de Rojas war das schon in den Achtzigerjahren gelungen. Man kann die Sprache der Aimara als Zwischensprache benutzen, um Englisch simultan in mehrere andere Sprachen zu übersetzen.«

»In sechs andere Sprachen, wie bisher bekannt war«, sagte der Papst. »Sie haben offensichtlich eine noch breitere Anwendung erschlossen.«

»Die streng logische Struktur dieser Sprache ist das ganze Geheimnis meines Systems.« Ihr Selbstbewusstsein nahm wieder zu. »Aimara ist eine ideale Sprache für die Umwandlung in Computeralgorithmen. Die Satzstruktur kann mit einer Art algebraischer Kurzschrift, die von Computern verstanden wird, entschlüsselt werden.«

»Das ist alles sehr faszinierend«, sagte der Papst. »Im irdischen Leben kommt man wohl den leisen Worten Gottes sonst kaum näher. Warum haben Sie das aufgegeben?«

»Hin und wieder leiste ich noch einen Beitrag, Heiliger Vater.«

»Nun ja, Sie sind wirklich eine unabhängige Frau. Nicht nur, dass Sie Mutter Erde und eine offizielle Botschafterin des Guten Willens der Vereinten Nationen sind, nein, wie ich sehe, arbeiteten Sie auch an der Lexicon recentis Latinitatis.« Damit bezog er sich auf die moderne Aufmachung des vom Vatikan herausgegebenen Lateinwörterbuches, das von Traditionalisten konzipiert wurde, um die alte Sprache Virgils in das neue Millennium zu katapultieren.

»Ja, das stimmt, Heiliger Vater.«

»Wir müssen Ihnen also danken, dass Sie die lateinischen Begriffe für Disco und Covergirl geprägt haben – orbiumpho-nographicorum theca und exterioris paginae puella.«

»Nicht zu vergessen pilamalleus super glaciem.«

Der Papst hielt kurz inne, um im Kopf zu übersetzen. »Eishockey?«

»Sehr gut, Heiliger Vater.«

Der Papst konnte nicht umhin zu lächeln, bevor er sehr ernst wurde. »Und wie würden Sie jemanden wie Doktor Yeats nennen?«

»Sentina«, sagte sie schlagfertig. »Abschaum.«

Der Papst nickte traurig. »Ist dieser Mann der Grund dafür, dass Sie sich entschlossen haben, Ihre Begabung nicht weiter zu nutzen und stattdessen aus der Kirche auszutreten und davonzulaufen, um Mutter Erde zu werden?«

»Conrad hat mit meinem Entschluss, mich ganz dem Umweltschutz zu widmen, nichts zu tun.« Es klang nicht so überzeugend, wie sie es gern gewollt hätte.

Der Papst nickte. »Aber Sie haben ihn kennen gelernt, als Sie in Bolivien mit den Aimara-Indianern arbeiteten, kurz bevor Sie aus der Kirche austraten. Was wissen Sie über ihn?«

Sie überlegte. Sie könnte so viel über ihn erzählen. Aber sie würde sich auf das Wichtigste beschränken. »Er ist ein Dieb und ein Lügner und der großartigste und gleichzeitig gefährlichste Archäologe, den ich kenne.«

»Gefährlich?«

»Er hat keinen Respekt vor der Vergangenheit«, sagte sie. »Er glaubt, dass das Wissen, das man aus einer Entdeckung gewinnt, wichtiger ist als die Entdeckung selbst. In seiner Ungeduld, einen spektakulären neuen Fund zu machen, zerstört er oft ohne Rücksicht auf spätere Generationen scheinbar unwichtigere Teile einer Stätte.«

Der Papst nickte. »Das würde erklären, warum ihm die ägyptische oberste Behörde für Altertümer verboten hat, Luxor jemals wieder zu betreten.«

»Übrigens, der Leiter der Altertumsbehörde hat beim Kartenspiel einiges Geld an Conrad verloren, als sie beim Bau des Luxor-Casinos als Berater nach Las Vegas eingeladen wurden«, sagte Serena. »Wie mir gesagt wurde, hat er Conrad mit einer Statuette aus der 19. Dynastie ausgezahlt, und seitdem versucht Conrad, sie auf dem Schwarzmarkt abzustoßen. Soweit ich weiß, braucht er dringend Geld. Die Statuette würde die hiesige Sammlung ganz vorzüglich ergänzen, falls Sie Interesse daran haben.«

Zum Zeichen, dass er ihren trockenen Humor nicht sonderlich schätzte, runzelte der Papst die Stirn. »Und was war das für eine Sache in Bolivien, wo Doktor Yeats ein Jahr, nachdem Sie ihn kennen gelernt haben, hinter Gitter kam?«

Serena zuckte die Achseln. »Sagen wir mal, die Tochter eines Generalissimo erwies sich als noch interessanter als die Ruinen.«

»Höre ich da etwa Eifersucht heraus?«

Serena musste lachen. »Für einen solchen Frauenheld wird es immer andere Frauen geben. Die Schätze des Altertums hingegen gehören allen.«

»Ich habe jetzt ein ziemlich klares Bild von ihm. Aber darf ich Sie fragen, Schwester Serghetti, was Sie eigentlich an ihm gefunden haben?«

»Er ist der ehrlichste Mensch, den ich kenne.«

»Sagten Sie nicht, er sei ein Lügner?«

»Das gehört zu seiner Ehrlichkeit dazu. Was hat er überhaupt mit dem Grund meines Hierseins zu tun?«

»Eigentlich nichts, außer der Wirkung, die er auf Sie hatte«, sagte der Papst, aber Serena hatte das Gefühl, es könnte mehr dahinterstecken.

»Verzeihen Sie die Frage, Heiliger Vater. Inwiefern bin ich Euch wichtig? Ich bin keine katholische Nonne mehr, auch keine Sprachwissenschaftlerin des Vatikans oder sonst irgendein offizielles Mitglied der Kirche.«

»Ob wir Sie nun als Nonne oder als Laienspezialistin verpflichten, Serena, Sie werden immer Teil der Kirche sein und die Kirche immer Teil von Ihnen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht. Im Augenblick gilt unser Hauptinteresse der Frage, wie die Aimara zu ihrer Sprache gekommen sind. Sie ist so rein, dass einige Ihrer Kollegen vermuten, dass sie sich nicht wie andere Sprachen über einen langen Zeitraum entwickelt hat, sondern vielmehr von Grund auf neu konzipiert wurde.«

Sie nickte. »Eine geistige Leistung, die man von einfachen Bauern nicht unbedingt erwartet.«

»Genau«, sagte der Papst. »Sagen Sie, Schwester Serghetti, woher kommen die Aimara?«

»Der älteste Aimara-Mythos berichtet von merkwürdigen Ereignissen am Titicacasee nach der großen Flut«, erklärte sie. »Fremde Völker sollen auf dem See eine Stadt zu bauen versucht haben.«

»Tiahuanaco«, sagte der Papst, »mit dem großartigen Sonnentor.«

»Der Heilige Vater weiß gut Bescheid. Die verlassene Stadt soll ursprünglich von den Leuten aus Aztlán, dem untergegangenen Inselparadies der Azteken, bewohnt gewesen sein.«

»Ein verlorenes Paradies. Interessant.«

»Ein weit verbreiteter Mythos aus der Zeit vor der großen Flut, Heiliger Vater. Viele Mythen erzählen im Zusammenhang mit einer Sintflut von einem verlorenen Paradies. Da gibt es natürlich den Bericht des griechischen Philosophen Platon über Atlantis. Auch die Haida-Indianer und die Sumerer haben eine ähnliche Geschichte über ihre Anfänge.«

Der Papst nickte. »Man kann sich das kaum vorstellen. Zwei so unterschiedliche Kulturen wie die der Haida und die der Sumerer. Die einen am Pazifik, im regnerischen Nordwesten Amerikas, und die anderen in den öden Wüsten des Iraks.«

»Selbst die Tatsache, dass es bei zwei verschiedenen Kulturen einen gemeinsamen Mythos über ein und dasselbe Ereignis gibt, ist noch lange kein Beweis dafür, dass dieses Ereignis auch wirklich stattgefunden hat«, entgegnete sie, ganz trockene Wissenschaftlerin. »Fossilienfunde und geologische Erkenntnisse zeigen zwar, dass es eine große Flut, eine Eiszeit und so weiter gegeben hat; aber ob es nun auch einen Noah gegeben hat, der eine Arche baute, und ob er Asiat, Afrikaner oder quasi Europäer war, das ist alles reine Spekulation. Und es gibt sicherlich keinen Beweis für die Existenz eines verlorenen Paradieses.«

»Was schließen Sie dann aus diesen sich ähnelnden Geschichten?«

»Ich habe sie immer schon als Zeichen für die Universalität des menschlichen Geistes angesehen.«

»Für Sie ist die Schöpfungsgeschichte also nichts anderes als eine Metapher?«

Serena hatte beinahe schon vergessen, dass der Papst die Angewohnheit hatte, jedes Thema auf den Glauben zurückzuführen. Sie nickte bedächtig. »Vermutlich ja.«

»Sie sind sich da wohl nicht ganz sicher.«

»Doch. Ganz sicher.« Jetzt hatte sie es ausgesprochen. Er hatte sie dazu gebracht.

»Und die Kirche? Eine gute Idee, die nicht gut ausgegangen ist?«

»Die Kirche auf Erden ist wie alle menschlichen Einrichtungen korrupt«, sagte sie. »Aber sie hat uns auch Krankenhäuser, Waisenhäuser und Hoffnung für die Menschheit gebracht. Ohne sie versänke die Zivilisation im moralischen Abgrund.«

»Es freut mich, dass Sie das sagen.« In den Augen des Papstes lag Güte und in seiner Stimme ein Anflug von Unsicherheit, als er nun eine Bitte an sie richtete. »Schwester Serghetti, gehen Sie in sich und überlegen Sie sich, ob der Heilige Geist Ihr Herz nicht dazu bewegen könnte, eine heilige Mission zu übernehmen, die Ihrer Berufung als Mutter Erde wahrlich gerecht wird.«

Das Einzige, was der Heilige Geist ihr einflüsterte, war, dass hier etwas nicht stimmte. Sie hatte den Vatikan kritisiert und die Kirchengemeinde verlassen. Und jetzt bat sie der Papst, seine offizielle Gesandte zu werden. »Um was für eine Mission handelt es sich denn?«

»Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie in beobachtender und beratender Funktion offiziell für die Einhaltung des internationalen Antarktisvertrages zuständig.«

»Ich berate das Komitee für den Umweltschutz«, sagte Serena. »Aber ich vertrete darin Australien, Heiliger Vater, nicht die Kirche.«

Der Papst nickte und klopfte mit den Fingern auf die Armlehne. »Kennen Sie die jüngsten Berichte über seismische Aktivitäten in der Antarktis?«

»Selbstverständlich, Heiliger Vater. Ein Gletscher von der Größe Delawares wurde nach dem jüngsten Beben vergangenen Monat abgespalten. Und davor war schon einer von der Größe Rhode Islands abgebrochen. Das könnte sich bald zu einer Fläche von der Ausdehnung der gesamten amerikanischen Ostküste summieren.«

»Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen jetzt verrate, dass unser Nachrichtendienst eine geheime und illegale amerikanische Militärexpedition in der Antarktis entdeckt hat? In einem Gebiet, das von Ihrem Land, Australien, beansprucht wird.«

»Ich würde sagen, dass die Amerikaner das Madrid-Protokoll von 1991 verletzen, in dem die Antarktis zu einer Friedenszone erklärt wurde, die ausschließlich wissenschaftlichen Forschungszwecken vorbehalten ist. Militäraktionen jeglicher Art sind auf diesem Kontinent verboten.« Serena beugte sich vor. »Woher wissen Sie das alles?«

»Vor kurzem sind drei amerikanische Spionagesatelliten aus ihrer ursprünglichen Umlaufbahn verschwunden«, erklärte er ihr.

Sie kniff die Augen zusammen. Wie lange war der Vatikan wohl schon dabei, fremde Spionagesatelliten aufzuspüren? »Vielleicht wurden sie ausrangiert oder absichtlich zerstört«, sagte sie.

»Ausrangierte US-Satelliten bleiben normalerweise in der Umlaufbahn«, sagte der Papst genauso selbstverständlich, als sprächen sie über die Auslegung des Neuen Testaments. »Außerdem hätte die Sache mehr Wellen geschlagen als das zweite Vatikanische Konzil, wenn bekannt geworden wäre, dass ein Satellit, geschweige denn drei, ausgefallen ist. Aber selbst von amerikanischen Kongressbeobachtern war nichts zu hören.«

»Leider übersteigt das meine Sachkenntnis, Heiliger Vater«, sagte Serena. »Was ist da Ihrer Meinung nach passiert?«

»Die Satelliten wurden auf Umlaufbahnen gebracht, in denen sie sich langsamer als andere Spionagekameras im All bewegten. Auf diese Weise steht ihnen mehr Zeit zur Verfügung, ihre Ziele zu fotografieren.«

»Ziele?«

»Normalerweise werden militärische Angriffe kurz vor dem Überflug des Spionagesatelliten durchgeführt, sodass der Schaden aufgezeichnet werden kann, bevor der Feind Zeit findet, alles zu vertuschen. Aber nach den jüngsten seismischen Aktivitäten in der Antarktis hat kein uns bekannter Satellit die ursprünglichen Gebiete überflogen. Das bedeutet, dass einer oder mehrere der vermissten Satelliten offenbar Beobachtungsaufgaben übernommen haben.«

»Wollen Sie damit sagen, dass das US-Militär womöglich selbst diese seismischen Druckwellen verursacht?«, sagte sie.

»Genau das sollen Sie herausfinden.«

Serena lehnte sich zurück. Der Papst hatte keine Veranlassung, sie zu belügen. Aber da steckte mit Sicherheit noch mehr dahinter. Warum sonst sollte der Heilige Stuhl ein solches Interesse an einem verlassenen Kontinent haben, auf dem mehr Pinguine als Katholiken wohnten?

»Wollt Ihr mir vielleicht noch etwas sagen?«, fragte sie. »Hat das alles etwas mit Doktor Yeats zu tun?«

Der Papst nickte. »Es sieht so aus, als ob er an der amerikanischen Expedition in der Antarktis teilnimmt.«

Also hatte es doch etwas mit Conrad zu tun! Allerdings in einem völlig unerwarteten Zusammenhang. »Was könnte der amerikanischen Armee ein Archäologe nützen?«

Der Papst schwieg, und Serena begriff augenblicklich, dass der Vatikan sie als Sprachwissenschaftlerin, nicht als Umweltbeauftragte benötigte. Das alles bedeutete, dass die Amerikaner in der Antarktis etwas gefunden hatten. Etwas, was die Sachkenntnis von Archäologen und Sprachwissenschaftlern erforderte. Etwas, was den Vatikan eindeutig erschüttert hatte. Der Papst hatte sich nur deshalb an sie gewandt, weil er keine andere Wahl hatte. Offensichtlich standen die Amerikaner wegen dieser Angelegenheit nicht mit ihm in Kontakt. Was vielleicht nicht geschadet hätte, dachte sie.

»Sie möchten mir etwas zeigen, stimmt's, Heiliger Vater?«

»Ja.« Mit knotigen Händen rollte der Papst die Kopie einer mittelalterlichen Karte auf seinem Schreibtisch aus. Sie stammte aus dem Jahr 1513. »Diese Karte wurde 1929 im Herrscherpalast des ehemaligen Konstantinopel entdeckt. Sie gehörte einem türkischen Admiral.«

»Admiral Piri Reis«, sagte sie. »Es ist die Piri-Reis-Karte.«

»Ach, Sie kennen sie?« Der Papst wiegte den Kopf. »Dann kennen Sie das hier sicherlich auch.«

Er reichte ihr einen alten Bericht der U.S. Air Force vom 6. Juli 1960, Deckname PROJECT BLUE BOOK.

»Das ist mir nicht bekannt«, sagte sie und griff interessiert nach dem dünnen Ordner. »Seit wann hat der Vatikan Zugang zu geheimen Dokumenten des amerikanischen Militärs?«

»Zu diesem Bericht hier? Das ist wohl kaum eine Verschlusssache. Der Nachtrag hier schon eher.«

Sie blätterte die Seiten durch, die vom Chef der kartografischen Abteilung der Air Force Base in Westover, Massachusetts, verfasst worden waren. Die Luftwaffenoffiziere schlussfolgerten, dass die auf der Piri-Reis-Karte eingezeichneten Teile der Antarktis genau die Kronprinzessin-Martha-Küste und die Palmer-Halbinsel darstellten.

Ihr Blick blieb auf der letzten Seite ruhen, wo ein gewisser Lieutenant Colonel Harold Z. Ohlmeyer vom 8. Aufklärungsgeschwader Folgendes geschrieben hatte:

Die geografischen Details auf dem unteren Teil der Karte stimmen außergewöhnlich genau mit dem seismischen Profil der Eisschicht überein, das die schwedisch-britisch-norwegische Antarktisexpedition im Jahr 1949 erstellt hat. Das weist darauf hin, dass die Küstenlinie kartografisch erfasst worden war, bevor sie von einer Eisschicht bedeckt wurde. Das Eis in dieser Region ist jetzt etwa eine Meile dick. Es ist uns nicht bekannt, wie sich die Daten dieser Karte mit dem vermutlichen Stand des geografischen Wissens im Jahre 1513 vereinbaren lassen.

Es folgte ein von Colonel Griffin Yeats in kraftvoller Handschrift verfasster Nachtrag des Pentagons aus dem Jahr 1970. Serena wusste, dass es sich dabei um Conrads Vater handelte. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf. In der Notiz stand:

Alle zukünftigen die Piri-Reis-Karte und das SONCHIS-PROJEKT betreffende Berichte müssen der hiesigen Stelle vorgelegt und dementsprechend unter Verschluss gehalten werden.

»Sonchis«, sagte sie und klappte den Ordner wieder zu.

»Hat das irgendeine Bedeutung?«

»Es gab einmal einen ägyptischen Priester namens Sonchis, der Solon, wie von Platon überliefert, einen ausführlichen Bericht über Atlantis gegeben haben soll.«

»Auf der Karte von Admiral Reis steht, dass sie auf Karten noch früheren Ursprungs zurückgeht, nämlich aus der Zeit Alexanders des Großen.«

»Was genau meinen Sie damit, Heiliger Vater?«

»Nur eine hochentwickelte, weltweit agierende Seefahrerkultur, die vor mehr als zehntausend Jahren existiert haben müsste, hätte diese ursprünglichen Karten herstellen können.«

Serena kniff die Augen zusammen. »Ihr glaubt, dass die Antarktis nichts anderes als Atlantis ist?«

»Und ihr Geheimnis ist zwei Meilen unter dem Eis begraben«, sagte er. »Hier haben wir es nicht einfach nur mit einer erloschenen Zivilisation aus der Vorzeit zu tun, sondern mit der verlorenen Urkultur, die Ihr Freund, Doktor Yeats, sucht. Eine Kultur, die über wissenschaftliche Kenntnisse verfügt, die wir erst noch begreifen müssen.«

»Sollte sich das alles bewahrheiten, wird das vieles infrage stellen«, sagte Serena. »Unter anderem auch die kirchliche Auslegung der Schöpfungsgeschichte.«

»Oder aber es wird sie bestätigen«, sagte der Papst, der dabei aber nicht sehr hoffnungsvoll klang. »Sollte das der Fall sein, wird es für uns alle unangenehme Folgen haben.«

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Heiliger Vater.«

»Gott hat mir über das Ende der Welt eine Prophezeiung gemacht«, sagte er. »Aber ich habe sie der Kirche noch nicht enthüllt, weil sie zu entsetzlich ist.«

Serena saß auf der Stuhlkante. Von ihren grundsätzlichen Bedenken einmal abgesehen, schien der Papst eindeutig im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und bei klarem Verstand zu sein. »Was haben Sie gesehen, Heiliger Vater?«

»Eine wunderschöne, ins Eis gefrorene Rose«, sagte der Papst. »Dann bekam das Eis Risse, und aus den Rissen loderte Feuer, und die Söhne Gottes führten einen Krieg gegen die Kirche und die ganze Menschheit. Zu guter Letzt schmolz das Eis, und Tränen liefen über die Blütenblätter der Rose.«

Serena musste an das sechste Kapitel der Genesis denken, in dem es heißt, dass in grauer Vorzeit die ›Söhne Gottes‹ die Menschenfrauen schwängerten. Ihre Abkömmlinge richteten so viel Unheil an, dass Gott sie und die ganze Menschheit in der Sintflut vernichtete, außer Noah und dessen Familie. Aber Serena wusste auch, dass apokalyptische Visionen, ob sie nun aus der Bibel oder aus dem Mund portugiesischer Hirtenmädchen stammten, die Zukunft nicht in äußerster Klarheit und Schärfe beschrieben. Vielmehr fassten sie allgemeine Zukunftsvisionen zusammen und stellten sie vor einen zeitlosen Standardhintergrund von Symbolen, die der Deutung bedurften.

»Der Heilige Vater glaubt also, dass diese Vision, der Mythos von Atlantis und die gegenwärtige amerikanische Operation in der Antarktis in engstem Zusammenhang stehen?«

»Ja.«

Sie versuchte ihre Zweifel zu kaschieren, aber jedes Element für sich genommen spottete jeder Wahrscheinlichkeit. »Verstehe.«

»Nein, Sie verstehen gar nichts«, sagte der Papst. »Schauen Sie sich das hier genauer an.« Er hielt eine Pergamentrolle in der Hand. »Das hier ist eine der ursprünglichen Karten, die Admiral Reis vermutlich benutzte. Die Karte schlechthin.«

Serena nahm sie dem Papst vorsichtig ab. Kaum hielt sie die Karte selbst in der Hand, spürte sie, wie eine erwartungsvolle Spannung von ihr Besitz ergriff.

»Hier steht zwar Sonchis' Name drauf«, sagte der Papst. »Aber der Rest des Schriftstücks ist aus der vorminoischen Zeit.«

»Geben Sie mir ein paar Wochen Zeit …«

»Ich hatte gehofft, Sie könnten es auf dem Weg in die Antarktis entschlüsseln«, sagte der Papst. »Ich lasse gerade einen Privatjet auftanken.«

»Für mich? Aber Sie haben es doch selbst gesagt, Heiliger Vater. Die Stadt liegt, wenn sie denn wirklich existiert, zwei Meilen unter dem Eis. Genauso gut könnte sie auf dem Mars sein.«

»Die Amerikaner haben sie entdeckt«, sagte der Papst fest. »Jetzt müssen Sie nur noch die Amerikaner finden. Bevor es zu spät ist.«

Der Papst legte eine Hand auf den Globus und die andere auf die Himmelskugel zu seiner Linken.

»Derartige Globen wurden 1648 von Joan Blaen, dem Sohn des großen holländischen Kartografen Willem Blaeu, gemalt. Sie bildeten damals die ›moderne Welt‹ ab. Leider wurden Himmel und Erde völlig falsch dargestellt. Schauen Sie, Kalifornien ist eine Insel.«

Sie blickte auf die Erdkugel mit ihren Ungeheuern im Meer. »Die Arbeit Blaeus ist mir wohl bekannt, Heiliger Vater.«

»Alles, was man damals für wahr und richtig hielt, hat sich als falsch erwiesen«, antwortete er. »Eine Warnung, dass die Welt, so wie wir sie heute sehen, in ein paar Jahrhunderten wahrscheinlich genauso falsch aussehen wird. Oder schon in ein paar Tagen.«

»In ein paar Tagen?«, sagte Serena. »Ihre Prophezeiung könnte in ein paar Tagen in Erfüllung gehen, aber Sie haben die Kirche nicht darüber in Kenntnis gesetzt?«

»Die geistlichen, politischen und militärischen Konsequenzen wären beängstigend, Schwester Serghetti«, sagte der Papst. Er sprach sie weiter wie eine Nonne an, wie ein Mitglied der Gemeinschaft, nicht wie eine Außenstehende. »Überlegen Sie doch nur, was geschähe, wenn auf der Welt moralische Anarchie herrschte, weil die Menschheit die jüdisch-christliche Tradition fallen gelassen hätte.«

»Darüber habe ich sehr wohl nachgedacht, Heiliger Vater. Dieser Tag ist für den Rest der Menschheit außerhalb Roms schon lange gekommen.«

Der Papst blieb einen beklemmenden Augenblick lang stumm. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Haben Sie sich nie gefragt, warum Sie ursprünglich einer so sicheren und verlässlichen Ersatzfamilie wie der Kirche beigetreten sind?«

Serena schwieg. Dieser Frage war sie bisher immer ausgewichen. Um die Wahrheit zu sagen, sie glaubte trotz ihrer offenen Meinungsverschiedenheit mit der Kirche, dass diese eine Hoffnung für die Menschheit darstellte, die einzige Institution, die verhindern konnte, dass die Welt moralisch aus den Fugen geriet.

»Vielleicht fiel es Ihnen als Nonne leichter, mit Gott in Einklang zu sein. Vielleicht suchten Sie nach der unbedingten, über jeden Zweifel erhabenen Gewissheit, dass Er sie annimmt.«

Der Papst kam der Wahrheit so nahe, dass es Serena fast nicht mehr im Zimmer aushielt. Sie wollte weglaufen und sich verstecken.

»Nicht durch meine guten Taten, Heiliger Vater, sondern einzig durch Gottes Gnade und Christi Sühnetod am Kreuz wird meine Seele gerettet.«

»Genau das meine ich doch«, sagte der Papst. »Was wollen Sie dem noch hinzufügen?«

Die Leere in Serenas Innerem war wie ein dumpfer Schmerz. Sie konnte die Frage des Papstes nicht beantworten, wollte aber etwas sagen, egal was. »Mich in die Antarktis zu verbannen, um die Amerikaner zu entlarven, wird mich auch nicht …«

»… endlich Ihrer Berufung als Mutter Erde würdig erweisen?« Der Papst sah sie an wie ein Vater seine Tochter. »Schwester Serghetti, ich möchte, dass Sie in die ›letzte Wildnis‹ der Natur gehen, um Gott zu finden – weit weg von dem allen hier.« Er deutete auf die Bücher und Karten und Kunstwerke. »Nur Sie und der Schöpfer des Universums. Und Doktor Yeats.«

Entdeckung plus 23 Tage, 6 Stunden 4 Eisstation Orion

Die Kommandozentrale der Eisstation Orion war eine Kapsel mit niedriger Decke, die voll gestopft mit Konsolen und Mitgliedern der Crew war, die im Dunkeln auf ihre flimmernden Monitore schauten. Für Generalmajor Griffin Yeats war sie ein Triumph der Air-Force-Logistik. Sie war in weniger als drei Wochen auf dem wohl unbekanntesten Terrain des Planeten Erde errichtet worden.

»Noch dreißig Sekunden, General Yeats«, sagte Colonel O'Dell, Yeats' stiernackiger Erster Offizier aus dem Dunkel über seiner beleuchteten Konsole.

Auf dem großen Bildschirm war die Antarktis abgebildet. Aus dem All sah der eisbedeckte Kontinent unwirklich blau aus: eine große Insel, umgeben von den Weltozeanen und einem äußeren Ring aus Landmassen, der Nabel der Welt.

Ungläubig starrte Yeats auf den Bildschirm. Genau dieses Bild der südlichen Hemisphäre hatte er schon einmal aus dem Fenster einer Apollo-Kapsel gesehen. Das war schon eine Ewigkeit her, aber dennoch, manche Dinge veränderten sich eben nie. Ihn ergriff ein Gefühl von Ehrfurcht.

»Satellit in fünfzehn Sekunden in Position, Sir«, sagte O'Dell.

Einen Augenblick lang war das Videobild unscharf. Dann sprang eine riesige Sturmwolke ins Bild. Yeats sah etwas, das wie Spinnenbeine aussah und im Uhrzeigersinn um die Antarktis wirbelte. Es waren zwölf solcher Beine oder ›Perlenschnüre‹ – Tiefdruckfronten, typisch für diese Region.

»Ein Wahnsinnssturm«, sagte Yeats. »Geben Sie mir die Brille.«

»Sieht so aus, Sir, als hätten wir vier verschiedene Sturmfronten, die sich zu einem Tief zusammenbrauen«, berichtete O'Dell. »Fast viertausend Meilen breit. Groß genug, um die gesamten Vereinigten Staaten abzudecken.«

Yeats nickte. »Die Landebahn muss noch mal geräumt werden.«

Es wurde still im Raum, nur das leise Summen und Fiepen der Computer und Monitore war zu hören. Yeats merkte, wie ihn seine Offiziere anstarrten.

O'Dell räusperte sich. »Sir, wir sollten 696 warnen.«

»Nichts da. Ich will Funkstille.«

»Aber Sir, Ihr … Doktor Yeats ist an Bord.«

»In diesem Flugzeug sind vierzig Leute, Colonel. Und Lieutenant Colonel Lundstrom ist ein ausgezeichneter Pilot. Keine Funkverbindung. Rufen Sie mich, sobald sie landen.«

»Jawohl, Sir!« O'Dell salutierte, und Yeats verließ die Kommandozentrale.

***

In General Yeats' Quartier rahmte ein bis zum Boden reichendes Fenster die gähnende Eisschlucht draußen ein und bot ihm einen Logenplatz mit Blick auf die Ausgrabungen. Aus der Tiefe wogten Säulen bläulicher Kristallschwaden hoch. Dort lag all das, wonach er und Conrad immer gesucht hatten.

Yeats goss sich einen Jack Daniel's ein und setzte sich an den Schreibtisch. Er hatte rasende Schmerzen und hätte am liebsten geheult wie die Fallwinde draußen. Aber er konnte es sich nicht leisten, dass ihn O'Dell und die anderen nicht in Bestform sahen.

Er legte den rechten Stiefel auf den Tisch und zog die Hosenbeine hoch, sodass ein vernarbter und verkrüppelter Unterschenkel zum Vorschein kam, sein Abschiedsgeschenk von seinem ersten Auftrag in dieser Eishölle vor mehr als dreißig Jahren. Ein paar Zentimeter unter dem Knie spürte er den pochenden Schmerz. Die Kälte hier unten spielte ihm teuflische Streiche.

Aber egal. Es war gut, wieder ein Kommando innezuhaben, dachte er, als er sein schemenhaftes Spiegelbild im gepanzerten Plexiglasfenster erblickte. Selbst jetzt, mit über sechzig Jahren, machte er als Befehlshaber noch eine gute Figur. Die meisten Milchgesichter in der Station hatten keine Ahnung, wer er damals gewesen war. Beziehungsweise wer er hätte sein sollen.

Griffin Yeats hätte der erste Mensch auf dem Mars sein sollen.

Der Gemini- und Apollo-Veteran war 1968 für diesen Job ausgewählt worden. Der Mars-Shuttle – ursprünglich 1953 vom Raumfahrtpionier Wernher von Braun entwickelt und später von NASA-Konstrukteuren verbessert – hätte am 12. November 1981 die amerikanische Raumstation Freedom verlassen, am 9. August 1982 den roten Planeten erreichen und ein Jahr später wieder zur Erde zurückkehren sollen.

Wenn auf die Politik nur genauso Verlass wäre wie auf die Umlaufbahnen der Planeten.

1969 hatte der Vietnamkrieg den Bundesetat erheblich geschwächt, und die Mondlandung hatte vorübergehend den amerikanischen Hunger nach der Erkundung des Alls gestillt. Der Kongress war gegen die Marsmission, und auch Präsident Nixon lehnte sie und das sonstige Raumfahrtprogramm ab. Nur die Spaceshuttles bekamen grünes Licht. Diese katastrophale Entscheidung warf das Marsprojekt um Jahrzehnte zurück, hinterließ ein aufgemotztes Spaceshuttle ohne wirklichen Verwendungszweck und rangierte eine führungslose NASA in Washington auf das politische Abstellgleis.

Außerdem machte diese Entscheidung Yeats' Träume vom Ruhm zunichte.

Das Summen der Gegensprechanlage riss Yeats aus seinen Gedanken. Es war O'Dell, der sich aus der Kommandozentrale meldete. »Sir, wir haben sie auf dem Radar. Noch zwanzig Minuten bis zur Landung.«

»Wie weit sind wir mit der Landebahn?«

»Wird gerade geräumt, Sir, aber der Sturm …«

»Keine Ausreden, Colonel. Bin gleich da. Bis dahin sind Sie auf dem neusten Stand.«

Yeats nahm noch einen Schluck Whiskey und starrte nach draußen. Damals, als Nixon die Marsmission aussetzte, war Yeats hier in der Antarktis gewesen, vierzig Tage lang in einem speziell konstruierten Lebensraum eingesperrt, der exakt die erste Marslandung simulieren sollte. Sie waren ein Team von vier Leuten gewesen, ausgestattet mit zwei Marslandefähren, einem Atomkraftwerk und einem Geländefahrzeug, mit dem sie das umliegende Gebiet erkundeten.

In der Antarktis war es genauso kalt wie auf dem Mars und fast ebenso windig. Die Schneestürme hatten dieselbe Kraft wie die Sandstürme auf dem Mars. Vor allem aber war der Kontinent sozusagen fast so entlegen wie der rote Planet. In dieser extremen Abgeschiedenheit würde sich der wahre Charakter der Crew-Mitglieder zeigen.

Für Yeats hatte die damalige Erfahrung sein Leben auf ungeahnte Weise für immer verändert. Vier Menschen hatten diese Mission angetreten. Nur einer kam hinkend, aber lebendig wieder zurück. Aber mit welcher Perspektive? Um als verknöchertes Relikt eines alten Weltraumprogramms durch die Untergeschosse des Pentagons zu geistern? Um ein Waisenkind aufzuziehen? Um als Folge davon seine Frau und Töchter zu verlieren? Ihm war alles genommen worden.

Jetzt holte er es sich zurück.

Entdeckung 5 plus 23 Tage

Im Frachtraum des C-141 Starlifter war es eiskalt, als Conrad aus dem Schlaf gerissen wurde. Müde und verärgert rieb er sich die Augen. Er saß zusammen mit zwei Dutzend Soldaten der Special Forces angeschnallt da. Die Soldaten trugen Polaranzüge und waren mit isolierten M-16 ausgestattet.

Noch ein Rütteln. Sie waren die meiste Zeit durch einen klaren Himmel und über endloses Weiß hinweggeflogen. Jetzt aber schwebten sie in einer trüben Suppe, und die Turbulenzen wurden von Sekunde zu Sekunde heftiger. Die riesigen Frachtcontainer im Rumpf verschoben sich und zerrten bei jedem Ruck quietschend an ihren Halterungen.

Conrad blickte auf sein mit mehreren Sensoren ausgestattetes GPS-Gerät, das sich eines Netzwerks von 27 Satelliten bediente, um jede Position auf der Welt mit maximal 30 Metern Abweichung angeben zu können. Die letzten 16 Stunden, die er in verschiedenen Militärflugzeugen zugebracht hatte, mussten die Lithium-Batterie aufgebraucht haben, jedenfalls blieb die Anzeige für die Breiten- und Längengrade leer. Der eingebaute Kompass hingegen drehte sich heftig – NO, SO, SW, NW. Vermutlich näherten sie sich einem Pol, höchstwahrscheinlich dem Südpol.

Er wandte sich dem Soldaten zu, der mit steinerner Miene neben ihm saß, und brüllte gegen das Heulen der Strahltriebwerke an: »Ich dachte, das Militär wäre aus der Antarktis verbannt.«

Der Soldat prüfte sein M-16, starrte geradeaus und antwortete: »Welches Militär?«

Conrad stöhnte auf. Mit genau diesen Lügen hatte er sich als Sohn von Griffin Yeats, einem ausgemusterten NASA-Astronauten, dem es irgendwie gelungen war, durch die dunklen Korridore der Macht im Pentagon zum Air-Force-General aufzusteigen, schon sein Leben lang herumschlagen müssen. Vater Yeats war der festen Auffassung, dass die Wahrheit nur auf einer strikten ›Nur das Allernötigste‹-Basis preisgegeben werden sollte, angefangen mit den Umständen von Conrads Geburt.

Laut Yeats' offizieller Version der Geschehnisse war Conrad angeblich das Produkt eines One-Night-Stands eines gewissen Captain Rick Conrad und einer anonymen Stripperin in Daytona Beach. Als Captain Conrad während eines Ausbildungslehrgangs in der Antarktis starb, setzte die Frau ihr uneheliches Kind vor dem Eingang des Krankenreviers in Cape Canaveral aus. Kurz darauf starb sie an einer Überdosis Drogen. Um das blitzsaubere Image ihrer Astronauten vor unschönen Kratzern zu bewahren, verzichtete die NASA auf den üblichen Behördenkram und gestattete Captain Conrads Vorgesetztem und bestem Freund, Major Griffin Yeats, den Jungen zu adoptieren.

Als er älter wurde, begann Conrad jedoch die Richtigkeit der Geschichte anzuzweifeln. Genau wie seine Stiefmutter Denise. Sie hatte von Anfang an geargwöhnt, dass Yeats der leibliche Vater Conrads war und Captain Conrads Tod nur als willkommenen Vorwand benutzt hatte, um die Geburt eines unehelichen Sohnes zu vertuschen. Kein Wunder, dass sie sich, als Conrad acht war, scheiden ließ und mit ihren Töchtern, damals neun und elf Jahre alt und Conrads einzige Vertrauten, wegzog.

Nachdem er schließlich jahrelang von einem Stützpunkt zum anderen und von einem Elend ins nächste gezogen war, wurde Conrad aufmüpfig. Er wurde mehrere Male aus der Schule geschmissen und begann sich mit Yeats heftigst auseinander zu setzen. Yeats leugnete nicht nur alles, sondern weigerte sich auch, seine Beziehungen in der Regierung spielen zu lassen, um Conrads leibliche Eltern ausfindig zu machen. Das allein war für Conrad Grund genug, diesen Mann zu hassen.

Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass General Yeats sich nicht darum scherte, was Conrad oder sonst jemand von ihm hielt. Trotz seiner gescheiterten Karriere als Astronaut wurde Yeats ständig befördert, bis er schließlich seinen Generalsstern und gleichzeitig die Leitung des geheimnisvollen Verteidigungsprojekts des Pentagons – Defence Advanced Research Projects Agency oder kurz: DARPA – zugeteilt bekam. Dank der finanziellen Unterstützung der Reagan-Regierung in den Achtzigerjahren erfanden Yeats und sein aus militärischen Außenseitern bestehendes Team ›unter anderem‹ das Internet, das GPS-System, die Computermaus und das Tarnkappen-Flugzeug.

Der jetzige Auftrag, dessen war sich Conrad sicher, fiel in die Kategorie ›unter anderem‹. Aber worum ging es dabei genau? Conrad hatte schon lange vermutet, dass unter dem Eis der Antarktis eine sagenhafte Entdeckung zu machen war. Schließlich war die östliche Antarktis ein uralter Kontinent, auf dem sogar einmal tropisches Klima geherrscht hatte. Offensichtlich hatte Yeats etwas entdeckt und brauchte ihn jetzt. Vielleicht war es aber auch nur der jämmerliche Versuch einer Vater-Sohn-Versöhnung.

Zwei kräftige Triebwerksschübe holten Conrad zurück in den eisigen Flugzeugrumpf des C-141. Ohne zu fragen löste er den Gurt und stolperte in Richtung Cockpit, wobei er sich, so gut es ging, an den einzelnen Spanten des Rumpfs festhielt.

Das gläserne Cockpit sah täuschend hell und luftig aus. Durch die Scheibe sah Conrad nichts als Weiß. Lundstrom saß auf dem Pilotensitz und schnauzte den Kopiloten und den Navigator an. Die Triebwerke heulten derart laut, dass Conrad nichts verstehen konnte.

»Kann ich vielleicht erst mal diese phänomenale Entdeckung sehen, bevor ihr mich umbringt?«, brüllte er.

Lundstrom drehte sich um und sah ihn über die Schulter an. Er wirkte sichtlich verärgert. »Setzen Sie sich wieder, Doktor Yeats. Wir haben alles unter Kontrolle.«

Die Besorgnis in den Augen des Piloten war jedoch unübersehbar. Plötzlich wusste Conrad auch, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Noch vor vier Jahren, erinnerte er sich, war Lundstrom Kommandant eines Spaceshuttles gewesen. Sein Lederhandschuh versteckte eine Hand, die vor seinem abgebrochenen dritten Einsatz bei einer Explosion auf der Abschussrampe zusammen mit einem Drittel seines Körpers schwer verbrannt und entstellt worden war.

»Also wirklich, Lundstrom«, sagte Conrad, »im Spaceshuttle war es garantiert nicht so turbulent.«

Lundstrom schwieg und konzentrierte sich auf die Steuerung.

Conrad überflog das Wetterradar und sah die vier Wirbelstürme, die sich zu einem Tief zusammenbrauten.

»Fliegen wir direkt da rein?«

»Wir rutschen hinter der einen und vor der anderen Tieffront durch, bevor sie zusammentreffen«, sagte Lundstrom. »Von McMurdo aus hat man uns verständigt, dass die Rückenwinde der ersten Front hundert Knoten nicht überschreiten. Dann fliegen wir vor die andere Tieffront, wo uns der Rückenwind mit ungefähr hundertzwanzig Knoten aufs Eis hinunterschiebt.«

»Ohne auseinander zu brechen?« Conrad wusste, dass es sich bei McMurdo um den größten amerikanischen Stützpunkt auf dem Kontinent handelte. Er befand sich auf dem Ross-Schelfeis. »McMurdo hat doch eine große Landebahn. Warum landen wir nicht dort und versuchen es morgen noch einmal? Warum so eilig?«

»Bald werden wir keine günstige Gelegenheit zum Landen mehr haben.« Lundstrom klopfte auf den Radarschirm. »Morgen haben sich die beiden Fronten zu einem üblen Sturmtief zusammengefunden. Gehen Sie jetzt wieder auf Ihren Platz.«

Conrad setzte sich hinter den Navigator. »Bin ich schon.«

Lundstrom blickte zu seinem Kopiloten hinüber. Conrad konnte ihr Spiegelbild in der Cockpitverglasung sehen. Anscheinend waren sie sich einig, dass er genauso gut auch dort sitzen konnte.

»Dank Ihrer Akte sind wir vorgewarnt, dass Sie Ärger machen könnten«, sagte Lundstrom. »Wie der Vater, so der Sohn.«

»Er ist nicht mein richtiger Vater und ich bin nicht sein richtiger Sohn.« Das hoffte er zumindest in diesem Augenblick. Wie die meisten Amerikaner, so vermutete auch er, dass irgendwo in Washington irgendwelche Unterlagen über ihn existierten. Lundstrom hatte es ja gerade eben bestätigt. »Oder stand das etwa nicht in meiner Akte?«

»Das und ein paar psychiatrische Gutachten«, sagte Lundstrom, der es offenbar genoss, Conrad hinzuhalten. »Albträume vom Ende der Welt. Schocktherapie. Keine Erinnerung an die Zeit, bevor Sie fünf waren. Sie waren als Kind ziemlich verkorkst.«

»Sie hatten vermutlich nicht das Vergnügen, beim Stillen mit LSD verseuchte Milch bekommen zu haben«, sagte Conrad. »Und hatten wahrscheinlich mit sechs noch keine ausgewachsenen Traumata. Oder haben Sie etwa auch irgendwelche kleinen Air-Force-Bälger vermöbelt, weil die sich über Sie lustig gemacht haben?«

Lundstrom war mit den Kontrollfunktionen beschäftigt und schwieg einen Augenblick. Aber Conrads Interesse war geweckt. »Was steht denn sonst noch in meiner Akte?«

»Nur dieser Scheiß, den Sie sich beim Golfkrieg in den Neunzigerjahren geleistet haben.«

Damals war Conrad noch auf der Hochschule gewesen. »Alte Geschichte.«

»Genau«, sagte Lundstrom. »Irgendwas mit sowjetischen MiGs und dem Zikkurat in Ur.«

Conrad nickte. Vor viertausend Jahren war Ur die Hauptstadt der Sumerer im Lande Abrahams gewesen. Jetzt lag sie unter dem Sand des heutigen Iraks begraben. »So ungefähr.«

»Was genau?« Lundstrom schien nun seinerseits neugierig zu werden. Anscheinend stand doch nicht alles in Conrads Akte.

»Die Iraker hatten die fiese Angewohnheit, ihre Militäranlagen in der Nähe von archäologischen Stätten zu errichten, gewissermaßen als Schutzschild«, sagte Conrad. »Als dann die US-Satelliten zwei sowjetische MiG-21 in der Nähe der alten Zikkurat in Ur entdeckten, hat das Pentagon daraus den Schluss gezogen, dass die Iraker dort ihre Kampfjets stationierten, um einen Bombenangriff zu verhindern.«

Lundstrom nickte. »Daran kann ich mich erinnern.«

»Außerdem wurde vermutet, dass sich Hussein höchstpersönlich in der Tempelanlage verschanzt hat«, fuhr Conrad fort. »Deshalb habe ich die notwendigen Informationen für das Zielgebiet geliefert, damit man eine Maverick-Rakete darauf abfeuern konnte.«

»Eine Maverick? Das waren doch diese Luft-Boden-Raketen zum Bunkersprengen. Erzählen Sie keinen Scheiß.«

»Nur eine Maverick konnte die Pyramide von innen heraus so sprengen, dass die Explosion wie eine irakische Panne aussah.«

»Dann lassen Sie einfach ein derart bedeutendes Kulturgut vom Erdboden verschwinden, nur um einen drittklassigen Despoten zu töten?« Lundstrom war sichtlich schockiert. »Sie sind mir vielleicht ein Archäologe!«

»Jedenfalls einer, den ihr Leute dringend zu brauchen scheint«, sagte Conrad. »Also, sagen Sie mir jetzt endlich …«

Plötzlich wurde die Crew von einem dröhnenden Heulen aufgeschreckt. Lundstrom griff nach dem Steuerknüppel. Der Kopilot kontrollierte die Instrumente.

»Seitenwinde von 250 Knoten auf 80 Grad gedreht.«

»Veränderte Windrichtung.« Lundstrom stellte die Steuerung neu ein. »Mist, das ist hart. Sieht so aus, als wären wir mitten in einen Jetstream geraten.«

Conrad klammerte sich am Sitz fest, während das Flugzeug durch heftige Turbulenzen flog. Der Kreiselkompass drehte sich wie wild.

»Der Kreisel spielt verrückt«, rief der Navigator.

»Suchen Sie einen Fixpunkt am Himmel«, brüllte Lundstrom.

Der Navigator drehte sich zu dem Libellensextanten über ihm und versuchte ihre gegenwärtige Position mithilfe der Gestirne zu bestimmen. Aber er schüttelte den Kopf. »Die Suppe ist zu dick, um richtige Werte zu bekommen.«

»Schon mal was von GPS gehört?«, schrie Conrad gegen den Lärm an.

»Bringt nichts bei einem EMP.«

Elektromagnetischer Puls?, dachte Conrad. Derartige Störfelder, die von nuklearen Explosionen ausgelöst wurden, besaßen enorme Feldstärken, die moderne elektronische Kommunikationssysteme nachhaltig stören und beschädigen konnten. Das erklärte auch, warum sie mit einer derart alten Kiste flogen. Was zum Teufel trieb Yeats da unten im Eis?

»Wie wär's mit einem Doppler-Navigationssystem?«

»Nein.«

»Hören Sie mal zu, Lundstrom. Wir müssen dem Tower in McMurdo SOS funken. Wie weit sind wir noch davon entfernt?«

»Sie haben immer noch nicht verstanden, Conrad«, sagte Lundstrom. »Wir landen nicht auf McMurdo. Wir landen woanders.«

»Das Problem ist nur, dass wir nicht bis dahin kommen, Lundstrom. Wir müssen Kurs auf McMurdo nehmen.«

»Zu spät«, sagte Lundstrom. »Wir haben den ›point of safe return‹ schon überschritten. Für die Rückkehr reicht der Treibstoff nicht.«

»Wir sitzen mit Yeats und eurem traurigen Haufen aus Washington ganz schön in der Tinte.«

Der Navigator brüllte: »Heftiger Gegenwind – 100 Knoten. Unsere Geschwindigkeit über Grund sinkt rapide – 150 Knoten!«

Die vier Triebwerke kämpften mühsam gegen den Wind an. Conrad konnte die Heftigkeit des Luftwiderstands anhand der Vibrationen des Flugzeugs ermessen. Die Erschütterung stieg ihm mit ungezügelter Kraft spiralenförmig die Beine hoch, und seine Eingeweide schienen sich aufzulösen. Für einen Toten fühlte er sich allerdings noch ziemlich lebendig, und das wollte er auch bleiben.

»Wenn das so weitergeht, fliegen wir bald rückwärts«, murrte er.

»Gegenwind 175 Knoten«, rief der Navigator. »200! 225!«

Lundstrom überlegte sich anscheinend eine neue Strategie. »Triebwerke eins und vier abstellen.«

»Verstanden«, sagte der Bordingenieur und stellte zwei Triebwerke ab.

»Geschwindigkeit über Grund sinkt weiter.« Der Navigator klang ziemlich verzweifelt. »Treibstoff fast verbraucht.«

»Wie wär's mit einer Notlandung auf dem Eis?«, schlug Conrad vor.

»Wär möglich«, sagte Lundstrom. »Aber unser Vogel hat Räder, keine Kufen.«

»Machen Sie eine Bauchlandung!«, schrie Conrad.

»Geht nicht«, sagte Lundstrom. »In dieser Brühe da unten schlittern wir wahrscheinlich in einen Eisberg.«

Eine kräftige Windbö schlug seitlich so heftig gegen das Flugzeug, dass Conrad befürchtete, es würde sich rückwärts überschlagen und aufs Eis trudeln. Lundstrom schaffte es irgendwie, die Maschine oben zu halten.

»Sie müssen was unternehmen«, rief Conrad. »Werfen Sie die Ladung ab!«

»Eher würde General Yeats uns abwerfen.«

»Dann müssen wir SOS funken.«

»Geht nicht. Absolutes Funkloch. Das Funkgerät bringt nichts.«

Conrad konnte es nicht glauben. »Quatsch. Das hier ist eine Geheimmission. Da gibt's verdammt noch mal kein Funkloch. Yeats will nur alles geheim halten.« Er rutschte hinter das Funkgerät und machte Anstalten, sich den Kopfhörer aufzusetzen, was bei dem Ruckeln nicht so einfach war.

»Was machen Sie da?«, wollte Lundstrom wissen.

Conrad streifte den Kopfhörer über. »Hilfe anfordern.«

Er hörte ein Klicken, das aber nicht aus dem Kopfhörer kam. Es war eine Waffe, die entsichert wurde. Er drehte sich um und sah, wie Lundstrom mit einer 9 mm Glock Automatik auf ihn zielte. Es war Conrads Waffe, jene, die man ihm in Peru abgenommen hatte. »Bewegen Sie Ihren Arsch wieder auf Ihren Sitz, Doktor Conrad.«

»Ich bin auf meinem Platz.« Conrad schaltete das Funkgerät an. Leises knisterndes Summen. »Sie können mich jetzt nicht umbringen. Sie brauchen mich, Lundstrom. Gott weiß, warum. Legen Sie also meine Pistole weg. Sie ist schon mal aus Versehen losgegangen. Wenn es weiter so ruckelt, verfehlen Sie womöglich meinen Kopf und schießen ein Loch in die Scheibe.«

Lundstrom sah auf den tobenden Himmel hinaus. »Sie können mich mal.«

Conrad war sich der Pistole hinter ihm deutlich bewusst, während er sich über das Mikrofon beugte und die Frequenz einstellte. »Unsere Flugzeugkennung und unsere Frequenz?«

Lundstrom zögerte. Ein heftiger Ruck schleuderte ihn fast aus dem Sitz. Die Turbulenzen rüttelten am Cockpit. Lundstrom senkte die Waffe. »Sechs-neun-sechs«, rief er und griff hinüber, um selbst die Frequenz einzustellen.

Conrad knipste das Mikrofon an. »Hier sechs-neun-sechs. Das ist ein Notruf.«

Keine Antwort.

»Hier sechs-neun-sechs«, wiederholte er. »Das ist ein Notruf.«

Wieder keine Antwort.

»Sehen Sie!«, rief der Navigator. »Die Eisstation Orion.«

»Eisstation Orion?« Conrad war verdutzt.

Der Nebel lichtete sich kurz und gab den Blick auf die Eiswüste frei. So weit das Auge reichte, sah Conrad ein Bergpanorama aus dem Eis ragen. An den Seiten der gezackten Gipfel kleckste Schnee wie Schlagsahne in ein riesiges Tal, das durch einen halbmondförmigen schwarzen Spalt im Eis gekennzeichnet war. In der Wölbung der Sichel lag eine Ansiedlung mit Kuppeln, Schuppen und Türmen. Conrad sah alles vorbeihuschen, bevor sie wieder vom Nebel verhüllt wurden.

»Da wollen wir hin?«, fragte Conrad.

Lundstrom nickte. »Hoffentlich finden wir die Piste.«

»Die Piste?«, sagte Conrad. Eine neuerliche Turbulenz mit Blitz und Donner schleuderte ihn fast aus dem Sitz. Hätte er sich nicht angeschnallt, wäre sein Kopf jetzt Teil des Instrumentenbretts gewesen.

»Genau, die Landebahn«, sagte Lundstrom. »Aus dem Eis gebaggert.«

»Landen wir etwa in diesem Schneegestöber?« Conrad blickte aus dem Cockpit auf die wirbelnden Schneemassen. Leuchtsignale und Landebahnlichter konnten bei dem gegenwärtigen Whiteout nichts ausrichten. Bei dem diffusen Licht waren weder Schatten noch ein Horizont zu erkennen. Beim Überfliegen der einförmigen weißen Oberfläche war es unmöglich, die Höhe oder Entfernungen einzuschätzen. Selbst Vögel legten bei solchen Verhältnissen nicht selten einen Crash hin. »Ihr seid völlig verrückt. Ihr leidet doch unter einer Borderline-Störung.«

Das Funkgerät knackte.

»Sechs-neun-sechs. Hier ist der Tower.« Es war eine barsche, sonore Stimme. »Wiederhole. Tower ruft sechs-neun-sechs.«

»Hier sechs-neun-sechs«, sagte Lundstrom und nahm das Mikrofon. »Tower, sprechen Sie.«

Der Fluglotse am anderen Ende sagte: »Seitenwinde auf 15 Grad mit Böen bis 40 Knoten. Sicht absolut null.«

Conrad war klar, dass Lundstrom jetzt am Überlegen war, und wog ab, ob er die Sache jetzt einfach an sich reißen oder lieber in den Frachtraum gehen sollte, um dort um ein Wunder zu beten.

»Sir, der Wind dreht sich. Sturmböen mit 60 Knoten«, brüllte der Navigator.

Conrad riss das Mikrofon wieder an sich. »Mit dieser Blechkiste auf dem Eisblock zu landen ist reinster Selbstmord. Das wissen Sie ganz genau.«

»Die Such- und Rettungsmannschaften stehen bereit«, sagte der Fluglotse. »Over.«

Conrad starrte in den Nebel hinaus, während Lundstrom den Landeanflug vorbereitete. Bei diesem Schneetreiben war die Sicht gleich null. Plötzlich brach der Vorhang wieder auf, und direkt vor ihnen tauchte eine Reihe schwarzer Ölfässer auf. Die Piste selbst war mit Leuchttafeln gekennzeichnet.

»Wir fliegen zu tief«, sagte Conrad.

»Landeanflug beginnen«, befahl Lundstrom.

Der Kopilot drosselte behutsam den Motor und bemühte sich, die Triebwerke synchron zu halten.

Das Funkgerät knackte. Der Fluglotse gab die Anweisung: »Beginnen Sie den Landeanflug, wenn ich ›jetzt‹ sage.«

»Roger.«

»Sie befinden sich genau im Anflugwinkel.«

»Roger«, sagte Lundstrom. Die Maschine sackte mit einem Schütteln ab, das einem durch Mark und Bein ging. Conrad zog die Sitzgurte fester und hielt die Luft an.

»Sie fliegen zu tief«, warnte der Lotse. »Drosseln Sie die Sinkgeschwindigkeit, und steuern Sie zwei Grad nach backbord!«

»Roger.« Lundstrom zog behutsam an der Steuerung, und Conrad merkte, wie die C-141 sich wieder fing.

»Sie befinden sich wieder im Anflugwinkel«, sagte der Lotse. »Sie kommen genau auf die Bahn. Noch zwei Meilen bis zum Aufsetzen …«

Vor der Windschutzscheibe konnte Conrad nichts als eine weiße Wand erkennen.

»… noch eine Meile …«

»… eine halbe Meile …«

»… eine Viertelmeile …«

»… aufsetzen …«

Conrad und Lundstrom sahen sich an. Sie waren noch in der Luft.

»Tower?«, sagte Lundstrom.

Eine Ewigkeit war nichts zu hören. Dann ein knirschendes Krachen. Die Soldaten stürzten wie Dominosteine aufeinander und hingen dann wie schwerelos in ihren Gurten. Die Halteseile im Rumpf rissen, und die Fracht rutschte nach vorn.

Conrad hörte ein Krachen, drehte sich um und sah, wie mehrere Metallcontainer durch das Flugzeug in Richtung Cockpit flogen. Er duckte sich. Etwas zischte dicht an ihm vorbei und traf Lundstrom am Kopf, sodass dieser mit dem Gesicht auf das Instrumentenbrett schlug.

Gerade als das Packeis durch die Cockpitverglasung krachte und alles im Dunkeln zusammenbrach, griff Conrad nach dem Steuerknüppel.

Entdeckung 6 plus 23 Tage, 7 Stunden

Das Piepen der Funksignale brachte Conrad schließlich wieder zu Bewusstsein. Er blinzelte in das Schneegestöber. Langsam wurde das Bild scharf. Durch den zerstörten Rumpf sah er Teile des Frachtguts verstreut auf der Eisdecke liegen.

Er blickte zu Lundstrom hinüber. In den Augen des Piloten lag eiskaltes Grauen, in seinem aufgerissenen Mund ein erstarrter Schrei. Dann sah Conrad das Stück Metall aus dem Schädel des Mannes ragen. Lundstrom hatte den Aufprall nicht überlebt.

Conrad schluckte und schnappte nach Luft. Die Antarktisluft drang in die Lunge und schien dort zu gefrieren. Er war wie benebelt, ihm war schwindlig. Das sieht nicht gut aus, sagte er sich, überhaupt nicht gut. Seine Körpertemperatur sank. Bald würde der Kältetod eintreten. Er würde das Bewusstsein verlieren, und sein Herz würde aufhören zu schlagen. Es sei denn, er unternahm etwas.

Er tastete nach dem Sicherheitsgurt, aber seine Finger ließen sich nicht bewegen. Die rechte Hand war am Sitz festgefroren. Die Fingerkuppen wiesen weiße Frostbeulen auf. Die Blutgefäße hatten sich verengt, und das Gewebe starb langsam ab.

Conrad ließ seinen Blick durch das Cockpit schweifen und bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Mit der tauben linken Hand, die von einem Handschuh geschützt wurde, griff er nach der Thermosflasche hinter Lundstroms Leiche. Er hantierte daran herum, bis der Verschluss aufsprang. Dann goss er sich den heißen Kaffee über die rechte Hand. Er löste die dampfende Hand vom Sitz und betrachtete die verbrannte Handfläche, die blutig und voller Blasen war. Er war von der Kälte so betäubt, dass er keinen Schmerz empfand.

Er schleppte sich zum Kopiloten und horchte an dessen Mund. Er atmete, aber nur noch kaum. Beim Navigator dasselbe. Hinten stöhnten Soldaten.

Conrad griff nach dem Sendegerät. »Hier sechs-neun-sechs«, sprach er hastig ins Mikrofon. »Das ist ein Notruf. Wir fordern Hilfe.«

Keine Antwort. Er regulierte die Frequenz.

»Sechs-neun-sechs hier, ihr Scheißkerle«, rief er.

Welche Frequenz er auch einstellte, er kam nicht durch. Nach einigen Minuten ergebnislosem Zischen war die Leitung schließlich ganz tot.

Ihm wurde klar, dass niemand mehr seinen Hilferuf empfangen würde.

Auf der vergeblichen Suche nach einem Ersatzgerät arbeitete er sich durch die Trümmer des Cockpits. Irgendwo mussten sie doch ein Funkfeuer haben oder auch ein satellitengestütztes Notfunksystem. Es sei denn, Lundstrom und seine Mannschaft wollten in so einem Fall gar nicht gefunden werden.

Das Einzige, was er entdeckte, und zwar in seinem Gepäck, war ein Leuchtstab. Als ob der ihm jetzt etwas nutzte.

Welch erbärmliche Art zu sterben, dachte er, als er den Leuchtstab ansah. Da überlebt man nun einen Flugzeugabsturz, nur um ›Eis am Stiel‹ zu werden. Mein Gott, wie er die Kälte hasste. Schon als kleines Kind hatte er sie gehasst, und im Schnee zu sterben war das Allerletzte, was er wollte. Für ihn würde das bedeuten, sich nicht so weit von zu Hause entfernt zu haben, wie er sich immer erhofft hatte. Und er würde sich niemals mit seinem Vater versöhnen können.

Ironie des Schicksals?, dachte er, während er die Temperatur auf seiner Multisensoren-Uhr ablas. Das Digitalthermometer zeigte minus acht Grad Celsius an. Er stutzte, sah genauer hin und merkte, dass er eine Ziffer übersehen hatte. Es waren minus 88 Grad.

Conrad sank zu den anderen auf den Boden und spürte, wie seine Augenlider schwer wurden. Er versuchte mit aller Kraft, wach zu bleiben, aber vergebens. Er drohte in Ohnmacht zu fallen.

Plötzlich erzitterte der Boden, und er glaubte ein Bellen zu hören. Er öffnete die Augen, schleppte sich zu seinem Rucksack und schaffte es, ihn sich über die Schulter zu hängen. Dann tastete er mit langsamen Handbewegungen nach seinem Leuchtstab und ließ sich durch ein Loch im Rumpf aufs Eis fallen.

Der Aufschlag weckte ihn aus seinem Tran.

Conrad kam schwankend wieder auf die Beine und blickte über die Eiswüste. Nichts war zu sehen. Außer dass es jetzt noch heftiger schneite. Auf einmal tauchte ein riesiges Zugfahrzeug aus dem Nebel auf.

Es sah wie einer dieser großen schwedischen Hägglunds aus. Die beiden Kabinen aus Fiberglas waren miteinander verbunden. Das Fahrzeug bewegte sich auf Gummibändern, die breite Waffelspuren im Schnee hinterließen.

Conrad brach den Leuchtstab und wedelte mit ihm in der Luft. Seine Arme fühlten sich schwer an, und er spürte nicht, dass er den Stab in der Faust hielt.

Der Hägglunds kam durch den Schnee gepflügt und blieb vor ihm stehen. Bei der vorderen Kabine öffnete sich eine Tür. Ein weißer Husky sprang heraus und lief an Conrad vorbei zu dem Wrack. Conrad hörte ein Klirren. Eine große Gestalt mit weißen Stiefeln tauchte aus dem Hägglunds auf und stieg die Sprossen der kleinen Leiter herab auf das Packeis.

An der hoch aufragenden Gestalt und den knappen, sparsamen Bewegungen erkannte Conrad, dass es sein Vater war. In dem weißen Polaranzug, die Schutzbrille gegen den blendenden Schnee mit Kohle beschmiert, ging Yeats steif und mit großen Schritten, die im tiefen Schnee knirschten, auf ihn zu.

»Was zum Teufel machst du da?«, fragte er und nahm ihm den Leuchtstab aus der Hand, ließ ihn in den Schnee fallen und zermalmte ihn mit dem Stiefel. »Du hast schon genug Aufsehen erregt.«

In Conrads Innerem sprudelte plötzlich unbändige Wut hoch. Wut auf Yeats und auf sich selbst, weil er es zugelassen hatte, dass sein Vater über die Zeit hinweg die Hand nach ihm ausgestreckt hatte, um ihn nun wieder in seine Eishölle hineinzuziehen.

»Lundstrom ist tot und die Hälfte deiner Mannschaft auch«, fauchte Conrad und deutete mit seiner erfrorenen Hand auf das Flugzeug.

Yeats blickte über die Schulter auf das Wrack und sprach gleich darauf in sein Funkgerät. »Such- und Bergungstrupp«, brüllte er. »Möglichst viel von der Fracht bergen, bevor der Sturm uns lebendig begräbt.«

Conrad schaute auf das Wrack mit den toten und halb toten Männern, das unter dem gnadenlosen Schnee bald in Vergessenheit geraten würde. Der Husky kam mit einer Armbanduhr im Maul herbeigetrottet. Seine Schnauze war mit gefrorenem Blut verschmiert. Conrad spürte ihn an seinem Bein vorbeistreifen und sah dann, wie er zu dem Hägglunds lief.

»Nimrod!«, rief Yeats dem Hund hinterher, aber der Husky kratzte schon an der Tür des Führerhauses.

»Nimrod ist der Einzige hier, der einigermaßen Verstand hat.« Conrad ging neben Yeats auf den Hägglunds zu. »Ich muss jetzt wohl hier in der Antarktis bleiben. Da kann ich genauso gut ins Warme gehen.«

Als er das Führerhaus erreichte und nach dem Türgriff langte, versperrte ihm Yeats jedoch den Weg.

»Mein Junge, du hast meinen Funksperrebefehl gebrochen.« Yeats stand wie eine Statue mitten im Schneegestöber. »Du hast die Basis hochgehen lassen.«

»Mach dir nicht in die Hosen, Dad.« Mit einem Ruck machte Conrad die vereiste Kabinentür auf und ließ Nimrod vor sich in das warme Führerhaus springen. »Bei dieser Kälte fällt dir sonst vielleicht noch was ab.«

***

Conrad inspizierte seinen Verband, während er Yeats einen kälteisolierten Gang hinunter ins Innere der geheimnisvollen Eisstation Orion folgte. Auf der Krankenstation hatte ein Arzt die Hand notdürftig verbunden. Jetzt, wo sie auftaute, tat sie fürchterlich weh.

Aus versteckten Lautsprechern rieselte klassische Musik. Von dem tobenden Sturm trennten sie nur die dünnen Styroporwände. Zwanzig Zentimeter und die leisen Klänge der Sinfonie Nr. 25 in g-Moll.

»Mozart«, sagte Yeats. »Mit irgendwelchen Scheißexperimenten wurde bewiesen, dass klassische Musik das Herz-Kreislauf-System positiv beeinflusst. In zehn Jahren wird es Blues oder Rap sein oder was diese Idioten sonst antörnt.«

Sie passierten eine Luftschleuse zu einem weiteren Modul, und Conrad verspürte ein seltsames Schwindelgefühl. Die obere Hälfte der Kapsel sah genau wie die untere aus. Die Decke war voll mit Kontrolltafeln, Stromkreisunterbrechern, Temperaturanzeigen und Übertragungsgeräten. Die Uhren auf den Kontrolltafeln waren wie Yeats' Armbanduhr auf die Zeitzone von Houston eingestellt.

Nun erst fiel Conrad so richtig auf, dass überall NASA-Abzeichen zu sehen waren, und ihm wurde plötzlich klar, dass die Eisstation Orion ursprünglich nicht für den Einsatz auf der Erde bestimmt gewesen war. Sie war wahrscheinlich als Raumstation in der Erdumlaufbahn oder auf den Polarkappen des Mars gedacht gewesen, wo man das Eis für die lebensnotwendige Wasserversorgung anzapfen konnte.

»Was zum Teufel ist das hier?«, fragte Conrad.

»Willkommen in der unzugänglichsten menschlichen Ansiedlung unseres Planeten, mein Sohn.«

Sie bogen um eine Ecke, wo Conrad seinem Vater einen weiteren langen Gang hinunterfolgte. Neben der Musik konnte Conrad ein leises Summen hören. Hin und wieder schien ein Beben durch die ganze Basis zu gehen, als ob gerade ein Zug vorbeiratterte.

»Wir haben hier eine Kommandozentrale, ein Biodom, ein mobiles Service-Zentrum, ein astrophysikalisches Labor, ein Observatorium und Module für Verfahrenstechnik, Fernerkennung und medizinische Forschung«, sagte Yeats.

»Du hast den Bohrturm vergessen«, sagte Conrad. »Da kommt wohl das Rumpeln her.«

Yeats tat so, als hätte er ihm nicht zugehört, und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Zur Arrestzelle geht's hier lang.«

Die ganze Station ist eine einzige Arrestzelle, dachte Conrad, während er den Tunnel hinunter zu einer Luftschleuse blickte. »Wozu das denn? Hier kann doch eh keiner abhauen.«

»Die harten Bedingungen hier haben schon so manchen zum Durchdrehen gebracht«, sagte Yeats.

Conrad sah seinen Vater an. »Genau das ist wohl mit dir passiert.«

Yeats blieb stehen und drehte sich vor einer Tür, auf der Nur für Personal stand, nach allen Seiten um. Als ob jemand da wäre, der unbefugterweise die Sicherheitsmaßnahmen durchbrechen könnte.

»Folge mir durch diese Tür, mein Junge«, sagte Yeats mit der Hand auf der Entriegelung. »Dann rastest du womöglich selbst aus.«

***

In dem höhlenartigen Labor stand eine etwa drei Meter hohe Pyramide auf einer etwas erhöhten Plattform. Es war ein massives Steingebilde, das fast rötlich glühte und an den Seiten mit vier Rillen versehen war. Sie begannen auf halber Höhe der Schräge und liefen in Richtung Spitze aufeinander zu.

Conrad stieß einen leisen Pfiff aus.

»Kurz nach dem letzten großen Beben vor ein paar Wochen haben die Satelliten des Pentagons eine dunkle Anomalie unter dem Eis aufgezeichnet«, sagte Yeats. »Wir haben sofort eine Untersuchungsmannschaft hingeschickt, aber die konnte nichts finden. Die Anomalie konnte mittels Ultraschall nicht erfasst werden, so wie es aussah. Dann begannen wir zu bohren. Eine Meile unter der Eisdecke sind wir dann auf dieses Steingebilde gestoßen. Es ist eindeutig nicht natürlichen Ursprungs.«

Stimmt, dachte Conrad mit zunehmender Erregung, während er den Stein genauer betrachtete. Der offizielle Standpunkt des amerikanischen Außenministeriums war, dass vor dem 19. Jahrhundert kein Mensch die Antarktis betreten hatte. Dieser Stein war aber mindestens so alt wie das Eis, das ihn bedeckt hatte – 12.000 Jahre. Er wies höchstwahrscheinlich auf die Hinterlassenschaften einer Kultur hin, die doppelt so alt wie die der Sumerer war, der ältesten uns bekannten Zivilisation auf der Erde.

Conrad streifte mit der Hand über die glatte Oberfläche des Steingebildes und legte einen Finger in eine der merkwürdigen Rillen. Das könnte der entscheidende Fund sein, dachte er und zitterte beinahe. Der erste Beweis der ›Urzivilisation‹, den er bereits sein Leben lang suchte.

»Und wo ist der Rest?«, fragte er.

Yeats schien zu zögern. »Der Rest von was?«

»Der Pyramide«, sagte Conrad. »Das hier ist ein Benben-Stein.«

»Benben?«

Jetzt stellte sich Yeats sichtlich dumm. Er wollte wohl unbedingt wissen, ob seine Anstrengungen, Conrad hierher zu kriegen, die Mühe wert gewesen waren. Conrad war bereit, sein Wissen auszuspucken, aber er würde sich nicht einfach so abspeisen lassen.

»Ein altes ägyptisches Symbol für den Bennu-Vogel – den Phönix«, sagte Conrad. »Er steht für die Wiedergeburt und die Unsterblichkeit. Der Benben ist der Schlussstein einer Pyramide, auch Pyramidion genannt.«

»Du hast ihn also schon einmal gesehen?«

»Nein«, sagte Conrad. »Die Steine fehlen bei allen großen Pyramiden. Wir kennen sie in erster Linie aus alten Texten. Diese Steine waren Nachbildungen jenes ursprünglichen, lange schon verloren gegangenen Benben-Steins, der angeblich vom Himmel gefallen war.«

»Wie ein Meteorit«, sagte Yeats und starrte den Stein an.

Conrad nickte. »Und ein Benben dieser Größe bedeutet, dass die Pyramide darunter riesig sein muss.«

»Eine Meile hoch und fast zwei Meilen breit.«

Conrad sah Yeats ungläubig an. »Das ist mehr als zehnmal so groß wie die große Pyramide von Gise.«

»Genau elf Komma eins mal so groß«, sagte Yeats. Sein Vater hatte sich also mit der Sache vertraut gemacht. »Größer als das Pentagon. Ihre Oberfläche ist glatter als ein Tarnkappenbomber, was vielleicht erklärt, warum die Echolotung sie nicht erfasst hat. Diese Rillen auf dem Schlussstein sind die einzigen charakteristischen Erkennungsmerkmale der P4. Natürlich abgesehen von der Größe selbst.«

Conrad berührte den Benben-Stein noch einmal. Er konnte es einfach nicht fassen, dass auf der Erde eine frühe Zivilisation auf noch höher entwickeltem Stand existiert hatte, als er sich das bislang vorstellen konnte.

»P4«, murmelte Conrad vor sich hin. So hat man sie also benannt. Kurzform für die ›Pyramide mit den vier Rillen‹. Wie einleuchtend. »Und sie ist mindestens 12.000 Jahre alt.«

»Wenn die P4 so alt ist wie dieser Benben-Stein, dann ist sie mindestens sechs Milliarden Jahre alt, mein Sohn.«

»Sechs Milliarden?«, wiederholte Conrad. »Das ist unmöglich. Die Erde gibt es ja selbst erst seit viereinhalb Milliarden Jahren. Willst du etwa behaupten, dass die P4 älter als unser Planet sein könnte?«

»Genau das«, sagte Yeats. »Und sie ist direkt unter uns.«

Entdeckung 7 plus 24 Tage, 15 Stunden

Unter dem Summen der beiden Ventilatoren, die Luft in das Abteil bliesen, konnte Yeats noch leise die Mozartklänge hören. Er beobachtete Conrad, der die Daten der P4 auf seinem Laptop analysierte.

Conrad, der einen Becher heißen Kaffee mit der verbundenen Hand umfasste, schüttelte den Kopf. »Bei dir ändert sich wohl nie was, Dad.«

»Was meinst du damit?«, fragte Yeats barsch.

»Als ich noch klein war, hast du mir nie beigebracht, wie man einen Drachen zum Fliegen bringt oder wie man beim Baseball den Ball wirft«, sagte Conrad. »Nein, so was musste ich mir selbst beibringen. Du hast immer gesagt: ›Junge, was hältst du von dem Entwurf des Waffensystems hier?‹ oder ›Willst du nicht zuschauen, wenn mein neuer Aufklärungssatellit in den Weltraum geschossen wird?‹ Und immer wenn ich dich auf diesem Scheißplaneten treffe, sieht alles gleich aus. Immer irgendeine Militärbasis. Immer dunkel. Immer kalt. Immer Schnee.«

Yeats blickte durch das Aussichtsfenster nach draußen in den tobenden Sturm. Der Whiteout war so schlimm, dass er nicht einmal die Eisschlucht erkennen konnte. Die Überreste der C-141 waren schon längst unter dem Schnee begraben. Er war erleichtert, dass Conrad den Absturz überlebt hatte, und freute sich, ihn bei sich zu haben. Es war allerdings eindeutig, dass Conrad anders empfand, und das verletzte ihn.

»Wahrscheinlich bring ich das so mit mir.« Yeats schenkte sich zum dritten Mal einen Schluck Whiskey ein und deutete mit dem Kopf auf die Laptop-Daten. »Die Radiokarbondatierung scheint jedenfalls überzeugend zu sein.«

»Jedenfalls für den Benben-Stein«, sagte Conrad gerade, als noch eine dieser Erschütterungen, die sich wie das Rattern eines Zugs anfühlten, den Raum ergriff.

»Das sind unsere.« Yeats bezog sich auf die Bohrer, die unten in der Schlucht das Eis auf der Spitze der P4 wegräumten. »Du wirst das richtige Beben schon noch mitkriegen.«

»Und du glaubst, dass die P4 die Beben auslöst?«

»Mein Junge, du bist doch das Genie. Verrat du es mir.«

Conrad nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. »Verdammt, was haben die denn da verwendet? Ölschmiere?«

»Wasser. Die Station wird mit geschmolzenem Schnee versorgt. Der Sojafraß ist noch schlimmer.«

Conrad schob den Kaffee weg. »Nur weil der Benben-Stein angeblich sechs Milliarden Jahre alt ist, heißt das noch lange nicht, dass die übrige Pyramide genauso alt ist oder dass Außerirdische sie gebaut haben.«

»Wer redet denn von Außerirdischen?« Yeats gab sich sichtlich Mühe, seine ausdruckslose Miene beizubehalten, aber Conrad war mit seinen Gedanken schon weiter.

»Seit Entstehung der Erde haben immer wieder Meteoriten den Planeten bombardiert – wie der viereinhalb Milliarden alte Steinbrocken vom Mars, der vor ein paar Jahren hier in der Antarktis gefunden wurde«, sagte Conrad. »Es können Menschen gewesen sein, die so einen Meteoriten nach Milliarden Jahren gefunden haben, um ihn dann zu einem Benben-Stein zu bearbeiten.«

Yeats schüttete seinen Jack Daniel's hinunter. »Wie du meinst.«

»Also irgendjemand hat die P4 gebaut. Und zwar lange bevor die Antarktis mit Eis bedeckt war und lange bevor eine uns bekannte menschliche Zivilisation existierte. Wer auch immer die Erbauer der P4 gewesen sein mögen, ihre Kultur war auf jeden Fall hoch entwickelt, möglicherweise sogar weiter fortgeschritten als die ganze zivilisierte Welt heute.«

Yeats nickte. »Das bedeutet, dass derjenige, der Zugang zu ihrer Technologie findet, theoretisch die Machtverhältnisse auf der Welt ändern könnte.«

»Fühlst du dich etwa immer noch von ungleichen Machtverhältnissen verfolgt? Kein Wunder, dass du mit deiner Militärpräsenz in der Antarktis bereitwillig Menschenleben aufs Spiel setzt und internationales Recht brichst.«

Yeats zögerte. »Wir sprechen hier von Atlantis.«

»Atlantis? Glaubst du, dass da unten eine Stadt liegt?«

Yeats nickte. »Soweit wir wissen, ist die P4 sozusagen nur die Spitze des Eisbergs.«

»Atlantis ist nur ein Name, ein Mythos«, sagte Conrad. »Vielleicht beruht der Mythos ja auf dem, was du entdeckt zu haben glaubst. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht handelt es sich um die vor langer, langer Zeit untergegangene Urkultur. Oder auch nicht. Ein völliges Freilegen der P4 würde jahrzehntelange Forschungsarbeit bedeuten.«

Typisch Conrad, dachte Yeats. Es reichte ihm nicht, die größte Entdeckung seit der Entdeckung der Neuen Welt zu machen. Nein, Conrad wollte sich ganz sicher sein, weil er sonst befürchtete, ein zweiter Kolumbus zu werden, der nur entdeckte, was schon längst existierte.

»Wir haben nicht so lange Zeit, mein Junge«, sagte Yeats. »Uns bleiben nur Tage. Ich habe eine deiner Fernsehsendungen gesehen, wo du klipp und klar gesagt hast, dass Atlantis in der Antarktis zu finden ist.«

Yeats gab in seinen Computer etwas ein, worauf ein Werbevideo von ›Rätsel des Altertums‹ erschien. Conrad grinste verlegen.

»Atlantis«, dröhnte der Bariton eines Sprechers. »Die Stadt des Altertums von legendärem Reichtum und militärischer Macht, im 4. Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Philosophen Platon in seinen Dialogen beschrieben. Eine ganze Zivilisation, an einem einzigen Tag vom Meer verschluckt. Die Überlebenden suchten überall auf der Welt Zuflucht und bauten die Pyramiden in Ägypten, die Tempelanlagen in Südamerika und andere Stätten ungeklärten Ursprungs. Erforschen Sie das Unerklärliche mit dem Astro-Archäologen Doktor Conrad Yeats.«

Yeats stellte das Video ab. »Nun?«

»Ich wollte damit nur sagen, dass die Antarktis der einzige Ort auf der Erde ist, der buchstäblich der Beschreibung Platons von Atlantis entspricht«, erklärte Conrad. »Ich habe niemals behauptet, dass ich an den Wahrheitsgehalt von Platons Bericht glaube. Du weißt ja, Dad, in der Wissenschaft muss man an die Öffentlichkeit gehen oder man verschwindet von der Bildfläche, und nur die verrücktesten Ideen erregen Aufmerksamkeit.«

Yeats runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass Platon lügt?«

Conrad zuckte die Achseln. »Platon war ganz einfach ein Idealist, der sich sehnsüchtig ein perfektes Paradies erträumt hat.«

Yeats war von Conrads schnodderiger Antwort enttäuscht und kniff die Augen zusammen. »Du hast wohl keine Ideale?«

»Jeder Archäologe hat seinen eigenen Lieblingsplatz für Atlantis. Für die meisten ist es die Insel Santorini im Mittelmeer, die im Meer versank, nachdem dort ein Vulkan ausgebrochen war. Das geschah 900 Jahre, bevor Platon seinen Bericht von Atlantis niederschrieb. Andere bevorzugen den Nordatlantik oder Troja in der Türkei, eine Stadt, die selbst lange als Mythos galt, bis man vor gar nicht so langer Zeit dort Ruinen entdeckte. Andere wiederum behaupten, Atlantis sei in Wirklichkeit eine untergegangene Aimara-Stadt im Titicacasee. Oder warum nicht gleich Los Angeles?«

»Aber keine davon ähnelt der hoch technisierten Zivilisation, die laut Platon vor fast 12.000 Jahren zerstört worden ist.«

»Stimmt.«

»Folglich könnte das, was wir hier haben, Atlantis sein.«

»Könnte sein.« Conrad zuckte die Achseln. »Hör mal, ich will ja nur sagen, dass du, wenn du dir einen beliebigen Punkt auf der Weltkarte suchst, garantiert irgendwessen Lieblingsort für Atlantis geliefert kriegst«, sagte Conrad. »Oder du suchst dir, wie der Produzent meiner Fernsehsendung, auf Himmelskarten einen Punkt im Sonnensystem. Es gibt da unendlich viele Möglichkeiten. Ich kann erst Schlussfolgerungen ziehen, wenn ich mir die P4 von innen angesehen habe.«

»Ob du das überhaupt darfst, kann ich dir jetzt noch nicht versprechen, mein Junge. Hier handelt es sich immerhin um eine Militäraktion. Entweder du spuckst deine Theorie über die P4 einfach so aus, oder du hältst den Mund.«

»In Ordnung. Dann löse ich jetzt meine Flugmeilen ein und fliege nach Hause.«

»Einen Scheiß wirst du tun, Conrad.« Yeats schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du bleibst hier. Und wenn du in die P4 reinwillst, dann sag mir jetzt endlich was Neues dazu.«

Conrad stand auf und ging zum Fenster. Yeats befürchtete kurz, dass sein Sohn, aufgebracht wie er war, sich einen Metallstuhl schnappen und das Panzerglas damit einschlagen könnte. Aber Conrad starrte nur nach draußen in den heulenden Wind. Dieser Mann hatte es gelernt, seinen Zorn zu beherrschen, den Zorn, der ihn als Junge beinahe verzehrt hatte.

»Also gut«, sagte Conrad schließlich, ohne sich umzudrehen. »Ich vermute mal, dass die P4 das Original ist, nach dem die große Pyramide bei Gise gebaut wurde. Mit anderen Worten, die P4 ist das echte Ding und die von Cheops gebaute Pyramide nur eine untergeordnete Nachbildung aus Lehm.«

»Du vermutest das?«, wiederholte Yeats. »Junge, ich kann doch nicht auf Verdacht loslegen.«

»Da ist schon mehr dran. Deine Daten zeigen, dass die Grundfläche auf die Himmelsrichtungen ausgerichtet ist – Nord, Süd, Ost und West. Sie hat einen Neigungswinkel von 51° 51' – genau wie die große Pyramide. Aufgrund dessen, was ich aus eigener Anschauung über die Pyramide weiß, kann ich schon ein paar fundierte Aussagen über die P4 machen.«

»Was zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass die P4 wahrscheinlich eine Darstellung der südlichen Erdhemisphäre ist.«

»Wohingegen die Cheopspyramide eine Darstellung der nördlichen Erdhemisphäre ist«, sagte Yeats. »Na und?«

Conrad ging zum Schreibtisch und betätigte ein paar Tasten auf seinem Laptop. »Die Hemisphäre wird auf eine glatte Oberfläche projiziert, so wie man das macht, wenn man Landkarten erstellt.« Er drehte seinen Laptop um, sodass Yeats die Grafik auf dem Bildschirm sehen konnte. Sie sah wie ein deutsches Kreuz aus. »Das ist die Pyramide im Aufriss. Die Spitze stellt den Südpol dar und die Ränder den Äquator.«

»Weiter.«

»Aus diesem Grunde steht der Umfang im Verhältnis 2 pi zur Höhe«, erklärte Conrad. »Die P4 stellt somit die südliche Hemisphäre im Verhältnis 1 : 43.200 dar.«

»Worauf bezieht sich dieses Verhältnis?«, wollte Yeats wissen.

»Auf die Sternbilder. Die Menschen des Altertums verbanden mit den verschiedenen Konstellationen bestimmte Bedeutungen. Wenn ich erst einmal das Gegenstück der Pyramide am Himmel bestimmt habe, wissen wir mehr über ihre Funktion.«

»Wieso Funktion? Sie ist doch eine Grabstätte, oder?«

»Die Pyramiden selbst waren nie als Grabstätten geplant, obwohl sie in einigen Fällen dazu dienten«, sagte Conrad. »Ihr übergeordneter Sinn hatte mit dem Streben der Könige nach ewigem Leben zu tun. Um es zu erreichen, musste der jeweilige König eine Offenbarung erleben, die das Geheimnis der ›Urzeit‹ enthüllte.«

»Urzeit?« Yeats sah ihn verständnislos an. »Was willst du damit sagen?«

»Das Geheimnis der Schöpfung. Die Entstehung des Universums, die Menschheitsgeschichte und unsere Zukunft.«

»Unsere Zukunft? Wie konnten die Erbauer der P4 was darüber wissen?«

»Die Menschen des Altertums glaubten, dass sich der kosmische Kalender etwa alle 26.000 Jahre neu stellt«, erklärte Conrad. »Jede Zeitepoche endet in einer Umwälzung, die eine neue Schöpfung oder ein neues Zeitalter hervorbringt. Natürlich wollen die Überlebenden solcher weltvernichtenden Ereignisse zukünftige Generationen warnen.«

»Das Geheimnis geht also bis zur Schöpfungsgeschichte zurück?«

»Noch weiter. Den Mythen der Azteken und der Maya zufolge hat es bereits fünf Sonnen oder Schöpfungen gegeben. Angeblich leben wir gerade in der ›Fünften Sonne‹.«

»Was geschah mit der vierten?«

»Also, die Menschen des Altertums sagen, dass sie von der Sintflut zerstört wurde. Aufgrund der vier Ringe, die wir auf dem Benben-Stein gefunden haben, vermute ich, dass die P4 ganz am Anfang der Vierten Sonne erbaut wurde, kurz nach der Zerstörung der Dritten Sonne und genau zu der Zeit, zu der Gott, wie die Bibel in der Genesis berichtet, Himmel und Erde schuf.«

»Aber du hast doch gesagt, dass die P4 noch älter ist.«

»Weil ich damit rechne, im Inneren der Pyramide Aufschluss über die vorhergegangenen drei Sonnen zu finden«, sagte Conrad. »Vielleicht enthält sie ja sogar das Geheimnis der ›Urzeit‹ selbst, das noch älter als unser Universum ist.«

Yeats ging auf und ab und konnte seine Erregung kaum verbergen. Sein blödes Bein tat mörderisch weh, aber das war ihm egal. »Bist du dir dessen sicher?«

»Das kann ich erst genau sagen, wenn ich drin war.« Conrads Miene verdüsterte sich. »Aber man kann jetzt schon annehmen, dass die P4, egal was sonst noch da drin ist, ein Vermächtnis an Wissen birgt, das mindestens dem heutigen Stand entspricht.«

»Deshalb müssen wir unbedingt rein«, sagte Yeats. »Bald werden wir nämlich Gesellschaft haben.«

»Habt ihr denn schon den Eingang gefunden?«

»Ein Bohrteam arbeitet gerade von einer Plattform aus, die wir oben auf der P4 errichtet haben. Die Spitze der Pyramide ragt wie die Spitze eines Eisbergs etwa fünfzehn Meter aus dem Boden hervor. Die Mannschaft hat an der Ostwand ein Loch in die Tiefe gebohrt. Den Computermodellen nach zu urteilen, finden wir dort den Eingang. Wir sind auf halbem Weg.«

»Ihr bohrt an der falschen Stelle«, sagte Conrad.

Yeats holte tief Luft. »Also gut, wo sollten wir deiner Meinung nach bohren?«

»An der nördlichen oder an der südlichen Wand. Obwohl, bei der P4 eher doch an der Nordwand. Nach weniger als einer halben Meile wird die Bohrmannschaft höchstwahrscheinlich auf den Eingang zu einem Schacht stoßen, der uns dann direkt ins Innere der P4 führt.«

»Was heißt hier höchstwahrscheinlich? Soll ich etwa meine Leute abziehen, um deinem Gefühl zu folgen?«

»Also, wenn die P4 wirklich die Vorlage der Cheopspyramide ist, dann werden wir vermutlich zwei Schächte finden, die von der Mitte der Pyramide nach außen jeweils zur Süd- und zur Nordwand führen. Wenn sich die Ähnlichkeit weiterhin bestätigt, können wir durch diese Schächte in der Hälfte der Zeit ins Innere der P4 vordringen.«

»Und wozu genau sind diese Schächte gut? Wenn es sie überhaupt gibt.«

»Ich habe da so eine Vermutung«, sagte Conrad. »Aber um sicher zu sein, muss ich erst in die P4 rein.«

»Natürlich«, sagte Yeats mürrisch.

»Ich dachte, der Eintrittspreis für die P4 bestand darin, dir etwas zu erzählen, was du nicht schon weißt«, sagte Conrad, als die Sprechanlage summte. »Das habe ich hiermit getan.«

»Das hat alles keine Bedeutung, wenn wir den angeblichen Schacht nicht finden.«

»Wir werden ihn finden«, sagte Conrad. Die Sprechanlage summte wieder.

Ärgerlich stellte Yeats den Bildschirm an. Es war O'Dell aus der Kommandozentrale.

»Was ist los?«

»Eine der Patrouillen ist gerade zurückgekehrt«, sagte O'Dell. »Sieht so aus, als ob Doktor Yeats' kleiner Notruf Aufmerksamkeit erregt hat. Wir haben nämlich Besuch.«

Entdeckung 8 plus 24 Tage, 16 Stunden

Die Luftschleuse ging auf, und die eisige Polarluft wehte Schnee herein. Der Schneewolke entstieg eine himmlische Gestalt in einem grünen Goretex-Parka. Noch bevor die pelzbesetzte Kapuze herunterfiel und die Schutzbrille abgenommen wurde, wusste Conrad, wer es war.

»Serena«, sagte er.

Jeder Mensch trug sein eigenes Atlantis in sich, einen Teil seiner Vergangenheit, der verschüttet und für immer verloren war. Serena Serghetti war sein Atlantis, und jetzt war sie plötzlich wieder aufgetaucht.

Einen Augenblick lang sagte Serena nichts, lächelte ihn nur an und sah sich um. Nimrod trottete zu ihr hin und leckte ihre Wollhandschuhe. Der Husky ließ es sich bereitwillig gefallen, dass sie ihn am Ohr kraulte.

Conrad blickte zu Yeats, der schweigend neben ihm stand, und zu den beiden bewaffneten Militärpolizisten hinter Serena. Alle warteten darauf, dass jemand das Schweigen brach.

Schließlich wandte Serena das Wort an Conrad. Zum ersten Mal seit fünf Jahren. »Hast du eine Genehmigung für den Hund?«, fragte sie und streichelte Nimrod.

Conrad sah sie ungläubig an. Vielleicht war er ja zu sehr im Augenblick gefangen, um sie richtig verstanden zu haben. »Für den Hund?«

Serena nickte. »Seit 1993 dürfen Huskys nicht mehr in die Antarktis. Übrigens auch sonst keine Lebewesen. Das schließt dich, Conrad, und deine Freunde hier mit ein.«

Yeats stand mit offenem Mund da. »Ihr beiden kennt euch?«

»Erkennst du sie nicht?«, sagte Conrad. »Das ist Serena Serghetti alias Mutter Erde, ehemalige Spitzen-Sprachwissenschaftlerin des Vatikans und derzeit offizielle Umweltnervensäge.«

»Und du bist ein Blödmann«, sagte Serena heiter und streckte Yeats die Hand hin. »General Yeats, Sie scheinen ja vor Energie nur so zu strotzen. Ganz anders, als Conrad Sie beschrieben hat.«

Conrad sah Yeats an, der die spitze Bemerkung nicht weiter zu beachten schien. »Des Vatikans?«

»Eigentlich bin ich als Abgeordnete der australischen Gesellschaft zur Erhaltung der Antarktis hier und als Ratgeberin des Umweltkomitees der United Nations Antarctica Commission. Laut Artikel vier des Antarktisvertrags, den auch die Vereinigten Staaten unterzeichnet haben, gehört das hiesige Gebiet zu Australien. Die Vertragsmitglieder haben alle Expeditionen zu melden, die in der Antarktis stattfinden. Das gilt auch für Basislager und Militärpersonal samt Ausrüstung. Sie haben Ihre Unternehmungen auf unserem Gebiet nicht bekannt gegeben, General Yeats.«

Conrads Kopf brummte. Er versuchte, ihr rätselhaftes Erscheinen in dieser Eishölle zu begreifen, ganz zu schweigen von dem grotesken Wortwechsel mit seinem Vater über die obskuren Einzelheiten internationalen Rechts.

Yeats räusperte sich. »Artikel vier erkennt zwar an, dass einige Staaten Besitzansprüche erheben, erwähnt aber ausdrücklich, dass diese Besitzansprüche von anderen Staaten nicht anerkannt werden müssen«, sagte Yeats ruhig. »Mit anderen Worten, statt sieben könnten auch siebzig Staaten ihre Besitzansprüche anmelden, Schwester Serghetti, die Vereinigten Staaten würden deren Rechtmäßigkeit dennoch nicht anerkennen.«

»Das mag so sein«, antwortete Serena. »Aber was den Artikel eins betrifft, da gibt es keinerlei Unklarheiten. Er verbannt klipp und klar jegliche Militäraktion. Pech für Sie.«

»Es sei denn, derartige Aktionen erfüllen einen wissenschaftlichen Zweck.«

»Und welcher Zweck wäre das?«

Conrad merkte, dass sie sich mit dieser Frage an ihn wandte. Und er antwortete das Erstbeste, was ihm durch den Kopf ging. »Wir stellen eine Bergungsaktion auf die Beine.«

Er beobachtete ihre Reaktion, während sie sich umsah und die Türen der Kommandozentrale am Ende des Gangs sowie die Soldaten mit ihren vor der Polarkälte geschützten M-16 musterte.

»Meinst du etwa die Bergung der verunglückten C-141? Ich habe die Trümmer gesehen, als ich auf eurer Piste gelandet bin.«

Conrad blickte Yeats an, der beeindruckt zu sein schien. Sie war nicht nur Mutter Erde, sie war auch eine fliegende Nonne. Kein Wunder, dass ihm die Kinnlade runterfiel. »Haben Sie das Flugzeug gelandet?«

»Mit dem Einschnitt, der so breit wie der Colorado River ist, kann man die Basis ja auch kaum verfehlen. Haben Sie diesen Spalt verursacht?«

»Der war schon da«, sagte Yeats wie zur Rechtfertigung.

»Dann stört es Sie bestimmt nicht, wenn ich mich mal umsehe«, sagte Serena. »Der Antarktisvertrag ermöglicht den Zugang zu allen Stützpunkten und deren Inspektion. Betrachten Sie uns also einfach als offizielle Inspektoren.«

Sie trat zur Seite, und hinter ihr sah Conrad vier gut gebaute junge Männer mit dunklen, tiefliegenden Augen. Sie waren mit einer schweren Video- und Tonausrüstung beladen.

»Wer ist das denn?«, sagte Conrad.

»Mein Kamerateam. Ich gehe mal davon aus, dass wir bei der Inspektion filmen dürfen.«

»Natürlich«, sagte Yeats und gab den Militärpolizisten ein Zeichen, den Männern ihre Ausrüstung abzunehmen. »Sie können alles von der Arrestzelle aus inspizieren.«

***

Mithilfe der Monitore in der Kommandozentrale beobachtete Conrad Serena und ihre Crew in ihren Zellen. Die beiden Männer saßen wie gefangene Füchse bewegungslos auf dem Boden. Serena hingegen lag ausgestreckt auf der Pritsche. Wie Schneewittchen.

»Du kannst Mutter Erde nicht einfach einsperren«, sagte er zu Yeats. »So was erfährt die ganze Welt.«

Yeats richtete den Blick stumm auf die anderen Monitore. Sie zeigten verschiedene undeutliche Bilder der P4 und der Bohrplattform an deren flacher Spitze, von der aus eine Mannschaft an der Nordseite der Pyramide in die Tiefe bohrte, so wie Conrad es angewiesen hatte.

»Junge, bete mal lieber, dass deine Vermutung mit dem Schacht sich als richtig erweist. Sonst werde ich dich vielleicht auch noch in den Bau schicken müssen. Und ehrlich gesagt, um dich wird sich die Welt einen Scheiß scheren.«

Conrad wollte etwas erwidern, aber da kam gerade Colonel O'Dell mit einer Akte herein. Conrad bemerkte den missbilligenden Blick des Mannes, der wahrscheinlich daher rührte, dass Conrad der einzige Zivilist in der Basis war, der sich frei bewegen durfte. O'Dell hätte ihn wohl am liebsten zu den anderen in die Zelle gesperrt.

»Hier ist der Bericht der NSA über Schwester Serghetti, Sir.«

»Danke, Colonel.«

Conrad sah zu, wie Yeats den Bericht überflog. »Die NSA unterhält Akten über Nonnen?«

»Nur über Nonnen, die ein universales Übersetzungssystem auf der Basis der Aimara-Sprache entwickelt haben«, sagte Yeats. »Die NSA versucht schon die ganze Zeit, an Schwester Serghettis System ranzukommen. Die Aimara-Sprache ist so makellos, dass die NSA vermutet, sie habe sich nicht wie andere Sprachen erst langsam entwickelt, sondern sei direkt auf dem Reißbrett entworfen worden.«

»Können Sie das genauer erklären, Doktor Yeats?«, platzte es aus O'Dell heraus.

Yeats sah O'Dell scharf an, aber Conrad zuckte nicht mit der Wimper.

»Der älteste Mythos der Aimara besagt, dass nach der großen Flut Eindringlinge versucht haben, in der Nähe des Titicacasees eine Stadt zu bauen. Die Überreste sind uns als Tiahuanaco, die Stadt mit dem großen Sonnentor, bekannt. Aber die Erbauer verließen sie und verschwanden spurlos.«

»Und woher sollen diese Erbauer gekommen sein?«, fragte ihn Yeats mit ernster Miene.

»Der Legende nach kamen sie von einer verlorenen Paradiesinsel namens ›Aztlán‹, der aztekischen Version von Atlantis.« Conrad blickte seinen Vater an. »Also, was sagst du dazu?«

Yeats klappte den Ordner zu. »Die gute Schwester kennt vielleicht die Sprache der P4-Erbauer.«

***

Serena hatte die Antarktis immer als ein Symbol für Frieden und Harmonie betrachtet, als ein Modell dafür, wie die Menschen miteinander und mit anderen Lebewesen auf dem Planeten zusammenleben könnten. Solche Illusionen hatte sie sich auch über die Beziehung mit Conrad gemacht. Aber jetzt, wo sie sich in ihrer Arrestzelle in der Eisstation Orion umsah, war ihr Traum dahingeschmolzen. Es blieben kalte Wände, ein winziges Waschbecken und ein Klo.

Wahrscheinlich gab es irgendwo eine versteckte Kamera, und zweifellos würden General Yeats und dieses Ekel Conrad jede ihrer Bewegungen beobachten. Aber in ihren Kopf konnten sie nicht hineinsehen. Sie saß also auf ihrer Pritsche und tat so, als ob sie mit ihren Gedanken allein wäre.

Als Australierin fühlte sie sich mit der Antarktis mehr verbunden als mit den Amerikanern. Als kleines Mädchen hatte sie in dem Wissen, dass auf der anderen Seite der große weiße Kontinent lag, oft über das Meer geschaut. Australien war von allen Staaten dieser Welt der Antarktis am nächsten und beanspruchte 42 Prozent von deren Oberfläche, darunter die Antarktis und eben auch das Gebiet, auf dem die Amerikaner nun dieses geheime Lager errichtet hatten.

Ihre ganze Erfahrung mit der Antarktis – die hauptsächlich aus der Rettung seltener Seehund- und Walarten bestand – beschränkte sich auf die spektakuläre Landschaft an den Randzonen des Kontinents. Die Tierwelt dort war wunderbar und das Polarlicht überwältigend. Ihre Mission in die inneren Schneewüsten hatte hingegen bewiesen, dass die Antarktis tatsächlich ein unbewohnter Kontinent war. Selbst hier, in der Wärme der amerikanischen Basis, konnte sie die Ödnis spüren.

Sie glaubte auch die Knackgeräusche aus den Verbindungsgängen zu hören. Stationen, die auf dem Eis gebaut waren, sanken normalerweise durch ihr Eigengewicht ab, weil die Wärme, die sie erzeugten, das Eis zum Schmelzen brachte. Die hiesige Basis, wahrscheinlich schon mehrere Tage alt, war gerade dabei abzusinken.

Sie dachte an ihre Gefangennahme auf dem geheimen Landeplatz im Eis zurück und daran, wie sie zur Eisstation Orion abgeführt worden war. Das Hägglunds-Gefährt, das sie ins Lager brachte, war unterwegs an einem Kraftwerk vorbeigekommen. Es lag eingeschneit hundert Meter von den Wohnquartieren entfernt hinter einer schützenden Schneedüne. Zu entlegen, um bei dieser Kälte mit Dieselmotoren betrieben zu werden, dachte sie. Es war wahrscheinlich ein kleines Atomkraftwerk. Vermutlich ein 100-Kilowatt-System.

Sie war erst einmal wütend. Wie können sich die Amerikaner erdreisten, Atommaterial auf den Kontinent zu bringen! 90 Prozent der gesamten Eismasse befand sich hier. Ein Schmelzen konnte eine weltweite Katastrophe auslösen. Allein das war schon Grund genug, die Amerikaner bei der UNO anzuschwärzen.

Aber mittlerweile war ihr Zorn auf die Amerikaner, die jegliches internationales Recht verletzt hatten, in Faszination übergegangen. Auch wenn sie sich Conrad und General Yeats gegenüber so reserviert gegeben hatte, hatte ihr Treffen in der Luftschleuse in Wirklichkeit Erregung in ihr ausgelöst. Und dann war da natürlich auch noch Conrad. Ihr Auftrag hier beinhaltete eindeutig mehr als nur, die Unberührtheit der Antarktis vor den Amerikanern zu schützen.

Ihr war bewusst, dass hier etwas Bedeutungsvolles gefunden worden war, genau wie der Papst gesagt hatte. Etwas, was die Geschichte – vor allem die christlich-jüdische Religionsgeschichte – auf den Kopf stellen konnte. Trotzdem fühlte sie sich in Hochstimmung. Von allen Kandidaten, die der Heilige Vater stellvertretend hätte aussuchen können, um dieses historische Ereignis zu erleben, hatte er sie ausgewählt.

Sie hörte, wie die Tür mit einem Summgeräusch geöffnet wurde, und drehte sich um.

***

Serena saß auf der Pritschenkante und trank öligen Tee aus einer Styroportasse, als der Militärpolizist die Zellentür öffnete und Conrad hereinließ. Conrad bemerkte den silbernen Braut-Jesu-Ring am linken Ringfinger, der ihre geistige Verbundenheit mit dem einzigen Sohn Gottes symbolisierte. Zu seinem Bedauern handelte es sich dabei um Jesus und nicht um so einen üblen Schuft wie ihn. Er fragte sich, warum sie den Ring noch trug. Wahrscheinlich um seinesgleichen in Schach zu halten.

»Conrad.« Serena setzte ein Lächeln auf. »Ich hab mir schon gedacht, dass sie dich schicken. Du hast immer schon originelle Ideen gehabt, wenn es um ein heimliches Stelldichein ging.«

Conrad besah sich ihren schwarzen Wollpulli und das schwarze Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Unter dem Pulli trug sie wahrscheinlich Funktionsunterwäsche. Was dann unter der war, musste Conrad sich nicht weiter vorstellen.

»Was ist daran so originell?« Er berührte ihr Gesicht. »Dir ist immer noch kalt.«

»Mir geht's gut. Aber was hast du denn da gemacht?«

Er sah seine verbundene Hand an. »Das bringt der Beruf so mit sich. Reiner Zufall.«

»Wie du auch General Yeats nur zufällig über den Weg gelaufen bist? Ich hätte es eher für möglich gehalten, dass wir beide beruflich miteinander zu tun haben als du und dein Vater.«

»Und was ist mit deinen Supermännern nebenan in der …«

»Zelle?« Sie musste lächeln. »Hast du etwa Angst vor Konkurrenz, Conrad?«, fragte sie. »Brauchst du nicht. Wenn ich die einzige Frau auf der Welt wäre und du der einzige Mann, würde ich wieder Nonne werden.«

Conrad sah in ihre hellbraunen Augen. Seit fünf Jahren war es das erste Mal, dass sie sich allein gegenüberstanden, und Conrad fand, dass sie schöner aussah als je zuvor. Er hingegen fühlte sich alt und verbraucht. »Warum bist du hier, Serena?«

»Die Frage könnte ich auch dir stellen, Conrad.«

Er brannte darauf, ihr von den Ruinen unter dem Eis zu erzählen, ihr zu sagen, dass sich seine Theorien bewahrheiten sollten. Aber er tat es nicht. Schließlich hatten sie sich ja noch nicht einmal ansatzweise mit den Ruinen des eigenen Lebens auseinander gesetzt.

»Dir geht es hier nicht nur um die Umwelt«, sagte Conrad. »Du warst überhaupt nicht erstaunt, mich zu sehen, als du durch die Luftschleuse gekommen bist.«

»Du hast Recht, Conrad«, sagte sie leise und berührte ihn mit der warmen Hand im Gesicht. »Ich habe dich vermisst und wollte dich unbedingt sehen.«

Conrad zuckte zurück. »Du bist richtig gemein. Und das weißt du ganz genau.«

»Und du etwa nicht?«

Es fing zu rumpeln an. Serena setzte sich auf ihrer Pritsche zurück und sah auf die Uhr. Sie misst die Abstände zwischen den Erschütterungen, dachte Conrad. Plötzlich sagte sie: »Wann wolltest du der Welt von deiner Entdeckung berichten?«

Conrad schluckte. »Welcher Entdeckung?«

»Der Pyramide unter dem Eis.«

Conrad sah sie ungläubig an, sagte aber nichts. Es hatte keinen Sinn, sich gegen die Tatsache zu sperren, dass sie genauso viel wie er, wenn nicht sogar mehr, von dieser Expedition wusste.

»Was hat der liebe Gott dir sonst noch erzählt?«

»Ich würde mal sagen, ihr bohrt gerade Erkundungstunnel um die Pyramide herum. Und ich wette, dass dein Cowboy-Vater wahrscheinlich schon einen Zugang gefunden hat.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Nun ging es nicht mehr um ihren üblichen Machtkampf. Jetzt waren sie gemeinsam der Wahrheit auf der Spur. Conrad war froh, dass sie hier war, obwohl es ihn gleichzeitig ärgerte. Er sorgte sich um ihre Sicherheit, fühlte sich aber auch durch ihre Gegenwart bedroht, weil sie ihm vielleicht im Weg stehen würde.

»Serena«, sagte er leise. »Das hier ist keine Ölplattform, an die du dich ketten kannst, um gegen die Förderung von fossilen Brennstoffen zu protestieren. Bei dieser Expedition sind schon einige Soldaten umgekommen, und es ist fast ein Wunder, dass wir beide noch miteinander sprechen können.«

Ein bekümmerter Blick überschattete Serenas Gesicht. Sie verfolgte ihre eigenen Gedanken. »Ich kann mich schon um mich selbst kümmern, Conrad«, sagte sie. »Um dich mache ich mir Sorgen.«

»Um mich?«

»Dein Vater hat dir nicht alles gesagt.«

»Das ist nichts Neues.« Conrad zuckte die Achseln. »Etwas aus ihm herauszuquetschen ist ungefähr genauso schwierig, wie Nierensteine rauszuholen. Meinetwegen verheimlicht er also irgendwas. Du aber auch, Serena. Eine ganze Menge. Weder die Vereinigten Staaten noch der Vatikan sind in der Lage, etwas dieser Größenordnung geheim zu halten.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Conrad, ich weiß, dass du nicht völlig naiv bist. Folglich verleugnest du da was«, sagte sie. »Wie hat dein Vater dich bloß hierher gelockt? Hat er dir für diesen Jahrtausendfund väterliche Anerkennung versprochen? Unterstützt er dich jetzt vielleicht, deine leiblichen Eltern zu finden?«

»Schon möglich.«

»Glaub mir, Conrad.« Ihre Augen verrieten den Schmerz der eigenen Erfahrung. »Es gibt Antworten, die man lieber nicht kennen sollte.«

»Fass dir an die eigene Nase, Schwester.«

»Conrad, hier geht es nicht um dich oder um mich. Es geht um die Welt an sich und um das Wohl aller. Du musst auch an die anderen Menschen denken.«

»Genau daran denke ich. Es geht hier um eine noch nie da gewesene Entwicklung in der Geschichte der Menschheit. Und ich will, dass die Welt daran teilhat.«

»Nein, du willst vor allem den berühmten Doktor Conrad Yeats raushängen. Zum Teufel mit dem Rest der Welt. Warum sollte es dich auch interessieren? Schließlich sind die Erkenntnisse über die Erde wichtiger als der Planet selbst oder die Menschen darauf. Ist das nicht deine Devise? Du hast dich keine Spur verändert.«

»Wenn du damit unsere Beziehung meinst, da hast du von Anfang an gewusst, woran du warst, du Prinzessin auf der Erbse. Du wolltest einfach keine Verantwortung übernehmen.«

»Damals war ich rein wie Neuschnee, Conrad. Aber du hast auf mich gepinkelt. Genau so, wie du diesen Planeten anpinkeln wirst.«

»Moment mal. Schließlich ist ja nichts zwischen uns gelaufen.«

»Sag ich ja. Aber du hast auch nichts unternommen, um diese Gerüchte zu entkräften.«

»Dafür kann ich nichts.«

»Ach wirklich? Du bist nur ein Handlanger der Vereinigten Staaten, bereit, alle deine Grundsätze von internationaler Zusammenarbeit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit zu verraten, nur um deine egoistische Neugier zu befriedigen.«

»Ich will die Welt nicht verändern«, sagte er. »Ich will sie nur verstehen. Und das hier ist so ziemlich der beste Treffer, um herauszufinden, wer wir sind und wo wir herkommen. Bei dir klingt es so nach verbotener Frucht: Wenn wir davon essen, werden wir alle verflucht sein.«

»Vielleicht sind wir das ja bereits jetzt schon, Conrad. Und hat dich nicht gerade das an mir gereizt? Ich war die verbotene Frucht. Genau wie jetzt die Ruinen unter dem Eis.«

»So erreichst du nichts, Schwester. Ich bin jedenfalls fest entschlossen.«

Serena nickte. »Wenn das so ist, kannst du mich genauso gut auch mitnehmen.«

Conrad sah sie ungläubig an. Er war hier, weil er die führende Kapazität für megalithische Architektur war und gleichzeitig der Sohn des Generals, der die Expedition leitete. Serena hatte keinen Fürsprecher. »Du machst wohl Witze.«

»Nehmen wir mal an, ihr findet da unten irgendwelche Inschriften«, sagte sie einfach. »Wer wird sie entziffern? Du vielleicht?«

Es war ihm nicht einmal gelungen, wichtige Informationen aus ihr herauszuziehen, dachte Conrad entmutigt, während sie es geschafft hatte, ihr Gespräch auf diesen Punkt zu bringen. Alles lief genau, wie Yeats es vorausgesagt hatte. Und irgendwie schien sich Serena dessen bewusst zu sein.

»Zugegeben, ich bin kein Sprachwissenschaftler, aber ab und zu habe ich doch das eine oder andere aufgeschnappt.«

»So wie man eine Geschlechtskrankheit aufschnappt?«, schoss sie zurück. »Nein, Conrad, du weißt ganz genau, dass du nur hier bist, weil sie dachten, mich nicht dafür gewinnen zu können.«

Was Conrad am meisten ärgerte, war die absolute Bescheidenheit, mit der sie das sagte. Nicht als Angeberei, sondern wie eine einleuchtende Erklärung. Dann merkte Conrad, dass ihre Worte an die Überwachungskamera an der Decke gerichtet waren. Sie hatte die ganze Zeit über mit Yeats gesprochen.

»Du bist unglaublich, weißt du das? Absolut unglaublich.«

Sie lächelte ihn mit einem warmen Lächeln an, das Eis hätte zum Schmelzen bringen können. »Hättest du mich lieber anders?«

Entdeckung plus 24 Tage, 16 Stunden 9 U.S.S. Constellation, Südlicher Ozean

»Dieser verdammte Yeats«, fluchte Admiral Hank Warren.

Von der Brücke des Flugzeugträgers aus beobachtete Warren, der klein und kräftig gebaut war, mit dem Fernglas die schwarzen Umrisse der Trägerkampfgruppe U.S.S. Constellation. Sie lagen zwanzig Meilen vor der Küste der Ost-Antarktis. Warrens Auftrag bestand darin, bis auf weiteres zu verhindern, dass die Kampfgruppe entdeckt wurde.

Zu diesem Zweck waren alle Radare und Satellitengeräte abgeschaltet worden. Nur Nahfunkgeräte waren genehmigt. Auf Deck waren Soldaten mit speziellen Fern- und Nachtsichtgläsern postiert, die den Horizont nach feindlichen Schiffen und U-Boot-Periskopen absuchen sollten.

Die Kampfeinheit sollte sich also in Küstennähe aufhalten, ohne die eigene Position zu verraten, um dann einen etwaigen Feind ohne Vorwarnung angreifen zu können. Dafür war ein atomar betriebener Flugzeugträger genau richtig. Aber wer zum Teufel sollten eigentlich die Feinde sein? Er und seine Kampfeinheit froren sich den Arsch ab, um ihre Entdeckung zu verhindern, und die einzigen Feinde, denen sie Angst einjagten, waren die Pinguine.

In der Zwischenzeit hatte ein nicht gekennzeichnetes Flugzeug über die Militärfrequenz der U. S. Navy einen Notruf gesendet, um gleich darauf vom Radar zu verschwinden. Wenn die Constellation den Notruf empfangen hatte, dann hatten ihn auch andere empfangen.

Warren wusste nur, dass das alles irgendwie mit diesem verrückten Scheißkerl Griffin Yeats zu tun hatte. Bei dem Gedanken beschlich ihn Unbehagen.

Vor langer Zeit hatte Warren einmal eine Weile in der Versorgungseinheit der U. S. Navy in der Antarktis gedient. Damals, 1969, hatte seine Rettungsmannschaft Yeats gefunden, nachdem dieser 43 Tage lang völlig benommen durch die Schneewüste marschiert war. Er war der einzige Überlebende eines Trainingseinsatzes für eine Marslandung, die dann aber nie stattgefunden hatte. Dieser Irre hatte damals darauf bestanden, drei NASA-Versorgungscontainer mitzuschleppen, obwohl die Navy eigene hatte. Um die drei zurückgelassenen Leichen kümmerte er sich überhaupt nicht. Erst später erfuhr Warrens Mannschaft, dass die Container, die Yeats mitschleppte, radioaktiv strahlten. Aber so war Yeats nun einmal. Er interessierte sich nicht im Geringsten für die Verwüstung, die er im Leben anderer anrichtete, wenn diese seine Pläne kreuzten. Als Warren eine Beschwerde einreichte, erhielt er als Antwort nur diesen Scheiß von wegen ›Verschlusssache‹ und ›wichtige Angelegenheit‹.

Jetzt, mehr als dreißig Jahre später und in der Zwischenzeit mit dem Rang eines Admirals versehen, tappte Warren, was Yeats betraf, weiter im Dunkeln. Das frustrierte ihn ohne Ende. Seine Leute hatten gerade einen Kurzwellen-Notruf aufgefangen. Anscheinend von einem Flugzeug mit Geheimauftrag, das sich 696 nannte und offensichtlich beim Landeanflug auf eine Phantompiste zerschellt war. Dieses Debakel trug durch und durch Yeats' Handschrift, und Warren würde sich persönlich darum kümmern, dass dieser Mann, genau wie er es verdiente, frühzeitig in Pension geschickt wurde.

»Ich habe da schon was, Sir«, meldete sich der Leiter der Sonderabteilung.

»Was gibt's?« Warren hatte für die Morgenwache das Kommando auf der Brücke.

»Die Beobachtungsposten melden ein Schiff, Position zwei-null-sechs. In weniger als tausend Meter Entfernung.«

»Was?«, brüllte der Admiral. »Verflucht. Wie konnten wir das übersehen?«

Warren hob sein Fernglas und drehte sich nach Südwest. Da war es. Ein Schiff, mv arctic sunrise stand auf dem Bug. Ein Greenpeace-Schiff. An Bord stand ein Typ mit einer Videokamera, die er auf die Constellation richtete.

»Steuermann, raus aus dem Sichtfeld!«

»Zu spät, Sir«, sagte ein Funker. »Die haben uns schon im Visier.«

Der Funker deutete auf einen Fernsehbildschirm.

»CNN berichtet live von der Arctic Sunrise.« Der Reporter sprach vom Bug des Greenpeace-Schiffs. »Hinter mir sehen Sie die U.S.S. Constellation, eines der größten Kriegsschiffe überhaupt. Der Flugzeugträger kreuzt vor der Antarktis-Küste. Der Auftrag ist streng geheim. Aber schauen wir uns erst einmal die Videoaufnahmen von den riesigen Rissen im Schelfeis an. Vermutlich steht der Zusammenbruch der Eisdecke unmittelbar bevor.«

Ein ungepflegter College-Typ von der Sorte, die spätestens nach einer Woche aus der Marineakademie fliegen würde, erschien auf dem Bildschirm und sagte: »Wissenschaftler sehen in dem schnellen Auseinanderbrechen dieses und anderen Schelfeises in der Antarktis ein Zeichen dafür, dass die gefährliche Erderwärmung fortschreitet.«

Auf dem Bildschirm erschien ein Teil des Eisbergs, der ein paar Wochen zuvor von der Küste abgebrochen war. Der Reporter bemerkte in seinem Kommentar, dass der gewaltige Eisbrocken 2.000 Quadratkilometer umfasste. 60 Meter hohe Eiswände ragten aus dem Wasser, und schätzungsweise 300 Meter lagen noch unter Wasser.

»Wenn man bedenkt, dass die Vereinigten Staaten geheimer Atomtests in der inneren Schneewüste der Antarktis beschuldigt werden, hat das Phänomen der globalen Erderwärmung jetzt an Brisanz gewonnen.«

Der CNN-Bericht endete mit einer langen Einstellung, die die bedrohliche Seitenansicht der Constellation in der Morgendämmerung am Horizont zeigte.

»Mist«, sagte Warren. MSNBC und die anderen Nachrichtensender würden bestimmt mit ähnlichen Nachrichten nachziehen. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. »Zum Teufel mit Griffin Yeats.«

Entdeckung 10 plus 24 Tage, 16 Stunden

Serena saß auf ihrer Pritsche und lauschte dem Summen der beiden Ventilatoren, die Luft und weiß Gott was sonst noch in die eisige Zelle bliesen. Ihr war kalt. Bilder, die sie zu verdrängen gelernt hatte, waren nach der Begegnung mit Conrad wieder aufgetaucht. Jetzt, wo sie sich mit den Armen ihren Körper umschlang, um sich warm zu halten, kam die Erinnerung an ihr letztes Zusammensein wieder hoch.

Es war im März gewesen, sechs Monate nachdem sie sich zum ersten Mal auf einem Symposium der mittelamerikanischen Archäologen in La Paz, der Hauptstadt Boliviens, getroffen hatten. Damals war sie noch Nonne gewesen. Sie sahen sich fast täglich und arbeiteten Seite an Seite an einem Forschungsprojekt in der untergegangenen Stadt Tiahuanaco hoch oben in den Anden.

Conrad Yeats war intelligent, attraktiv, geistreich und sensibel. Er besaß mehr Geistigkeit als ihre Kollegen aus Rom, und was sie am meisten an ihm mochte, war die Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Beruf ausübte. Einige fanden seine unorthodoxen Theorien über die Urkultur bedrohlich, aber sie fand sie aufregend, weil sich vieles mit ihren eigenen Studien in Sachen Mythologie deckte. Conrad und sie kamen trotz unterschiedlicher Ansätze zu der gleichen Schlussfolgerung; er betrachtete alles aus Sicht der Archäologie und sie aus der Sicht der Sprachwissenschaft.

Am letzten Abend des Feldstudienprogramms lud er sie ein, an einer ›Offenbarung‹ auf dem Titicacasee teilzuhaben, zwölf Meilen von Tiahuanaco entfernt.

Ein merkwürdiger Ort des Abschieds, dachte sie, als sie am Ufer entlangging. Es herrschte ein reges Treiben von Einheimischen und Touristen, die bei Sonnenuntergang in den Tavernen Bier tranken.

Wie eine Erscheinung aus Tiahuanaco tauchte auf einmal ein gut aussehender, braun gebrannter Conrad in einem eleganten Boot aus Schilfrohr auf. Das Boot kam von der Insel Suriqui. Es war vier Meter lang, aus Papyrusrohr geflochten, mit einem breiten Mittelschiff und schmalen hohen Enden. Die Schilfbündel waren mit festen Schnüren zusammengebunden.

»Kommt Ihnen dieses Boot bekannt vor?«, fragte er, als er sie aufforderte, an Bord zu kommen. »Zur Zeit der Pyramiden segelten die Pharaonen in denselben Papyrus-Booten den Nil hinunter.«

»Und vermutlich, Doktor Yeats, können Sie auch erklären, warum die erstaunlich ähnliche Machart an zwei derart unterschiedlichen Orten auftaucht?«, fragte sie und ging damit auf sein Spielchen ein.

Das gehörte zu den vielen Geheimnissen des Titicacasees, erklärte er ihr in bester Fremdenführermanier und lud sie ein, mit auf den See zu fahren, um seine ›Offenbarung‹ zu erleben.

Sie lächelte. Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was das für eine Offenbarung war. »Auf dem See gibt es nichts, was Sie mir nicht auch hier zeigen könnten.«

»So weit würde ich nicht gehen«, sagte er.

Sie hätte nicht mitkommen sollen. Nonnen reisten grundsätzlich nur zu zweit und befanden sich bei geschlossener Tür nie allein mit einem Mann im Zimmer. Nicht aus Angst oder Paranoia, sondern des Rufes wegen. Keinerlei unanständiges Verhalten durfte die Sache Christi besudeln.

Aber wie immer setzte Conrad seine ganze Überredungskunst ein. Schließlich konnte sie ihm nicht widerstehen.

Er paddelte mit langen, kräftigen Schlägen. Sie glitten über die silberne Oberfläche dahin. Mit 3.812 Metern über dem Meeresspiegel war der Titicacasee der am höchsten gelegene See der Welt. Und so empfand sie es auch. Serena hatte das Gefühl, sie könnte den Himmel berühren.

»Das Merkwürdige an dem See ist, dass er über zweihundert Kilometer vom Pazifik entfernt liegt und doch eine Vielfalt an Meerestieren aufweist: Seepferdchen, Schalentiere und auch Meerespflanzen«, dozierte Conrad augenzwinkernd.

»Sie glauben also, dass es sich um Meereswasser handelt, das von der Sintflut übrig geblieben ist?«

Conrad zuckte die Achseln. »Als das Wasser zurückging, staute sich hier in den Anden ein Teil davon auf.«

»Das erklärt vermutlich auch die Hafenanlagen von Tiahuanaco.«

Conrad lächelte. »Genau. Warum sonst sollten die Überreste der zwölf Meilen entfernten Stadt Hafenanlagen aufweisen?«

»Es sein denn, die Stadt war früher einmal selbst ein Hafen, nämlich wenn der See nach Süden hin 12 Meilen länger und 35 Meter höher war«, schloss Serena. »Was bedeuten würde, dass hier vor der großen Flut eine Kultur geblüht hat und Tiahuanaco somit mindestens 15.000 Jahre alt ist.«

»Stellen Sie sich das mal vor!«

Sie konnte es sich genau vorstellen. Sie wollte es jedenfalls. Eine Welt vor Anbruch unserer Geschichtsschreibung. Wie mochte sie ausgesehen haben? Hatten sich die Leute sehr von den Menschen heute unterschieden? Bestimmt hatte es Frauen wie sie gegeben und Männer wie Conrad, dachte sie. Er hatte seine skeptische Miene abgelegt und war richtig offen geworden. Ganz anders als bei seinem Auftreten bei den Wissenschaftlern.

Die Nachtluft war kühl, und Serena hatte sich vorn ins Boot gekauert. Conrad paddelte langsam dahin. In der Dämmerung war der Himmel von einem herrlichen Türkisblau. Der gläserne See streckte sich bis in die Ewigkeit.

Die meiste Zeit glitten sie schweigend am Schilf entlang. Nur das leise Plätschern des Paddels beim Eintauchen klang wie ein Metronom aus der Vorzeit. Auf einmal zog Conrad das Paddel mitten auf dem glitzernden See ein und ließ das Boot unter dem Sternenhimmel treiben.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Nichts.« Er zog einen Picknick-Korb und Wein hervor. »Absolut nichts.«

»Conrad, wir sollten jetzt zurückfahren. Die Schwestern werden sich Sorgen machen.«

»Sollen sie doch.«

Er setzte sich neben sie, gab ihr einen Kuss und drückte sie sanft nach hinten, bis sie im Boot lag. Er streichelte ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. Ein Schauer überkam sie.

»Conrad, bitte.«

Sie sahen sich in die Augen, und sie musste an seine schmerzvolle Kindheit denken, an seine Familienverhältnisse. Wenn es jemals einen Mann geben sollte, dem sie sich hingab, eine Situation in ihrem Leben, einen Ort auf diesem Planeten, dann war der Augenblick jetzt gekommen, dachte sie.

»Morgen gehe ich nach Arizona zurück und du nach Rom«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir werden die letzte Nacht in Bolivien in Erinnerung behalten, die Nacht, die niemals stattgefunden hat.«

»Und niemals stattfinden wird«, sagte sie und stieß ihn über Bord. Mit Genugtuung hörte sie das Platschen.

***

Auch Conrad dachte in seiner Kabine an die Nacht damals mit Serena im Boot, während er seine Ausrüstung für den bevorstehenden Abstieg in die P4 packte. Er hatte vor ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut immer Ehrfurcht empfunden. Und ihre Schönheit suchte ihresgleichen. Dennoch ging sie so selbstverständlich damit um, als wäre es ihr egal, ob sie siebzehn oder siebzig war. Sie war charmant und zurückhaltend, ja sogar witzig. In jener Nacht hatten ihn ihre strahlenden Augen unter dem dunklen Haar verzaubert und sein Herz erwärmt.

Sie hatte ihm gestanden, seine Klarheit und Zielstrebigkeit immer bewundert zu haben. Er wäre sich immer treu geblieben, sagte sie, anders als sie, die immer etwas vortäuschte. Er hatte sich damals gefragt, welch dunkles Geheimnis sie ihm wohl mitteilen wollte, und stellte dann fest, dass es gar keines gab. Ihre einzige Sünde bestand darin, ein ungewolltes Kind gewesen zu sein.

Einen flüchtigen Augenblick lang war er ihr damals sehr nahe gekommen. Da hatte er ihre religiöse Todessehnsucht verstanden und ihren Drang, eine Märtyrerin, eine Heilige, eine bedeutende Frau zu sein. Ihr wohltätiges Handeln war ihr Weg, Beziehungen zu vermeiden. Sie fürchtete, ›ertappt‹ zu werden und so ihren Ansprüchen – und den Erwartungen Gottes – nicht gerecht zu werden. Gefühlen wie ›nicht gebraucht zu werden‹, ›wertlos‹ zu sein, der ›Irrtum‹, überhaupt auf der Welt zu sein, versuchte sie mit aller Kraft zu entkommen. Aber sie hatte keine Angst davor, dass er sie zurückweisen könnte. Sie wusste, dass er sie liebte.

Und da hatte er gemerkt, dass auch sie ihn innig liebte.

Damals hatte er das Gefühl, dass seine lebenslange Suche nun beendet war, dass er den Gottestempel gefunden hatte. Die Tatsache, dass er in ihr heiliges Geheimnis eingebrochen war und sich nahm, was ihm nicht gehörte, machte diese Erfahrung nur noch aufregender und gefährlicher, aber auch befriedigender, so als würde er ein Kunstwerk aus vergangener Zeit rauben.

Als sie ihn dann aber aus dem Boot in das eiskalte Wasser des Titicacasees stieß, wusste er, dass es vorbei war. Sie lachte nicht, als er wieder an Bord kletterte. Es war kein Spaß gewesen. Die Angst war in ihre Augen zurückgekehrt.

Da merkte Conrad, dass sie es war, die ihm etwas geraubt hatte. »Was hat das zu bedeuten?«, hatte er gefragt.

»Ich will nach Tiahuanaco zurück«, sagte sie. »Bevor mich jemand beim Frühstück vermisst.«

»Trau dich doch! Genießen wir die Zeit, die uns noch bleibt.«

»Sie enttäuschen mich, Doktor Yeats.« Sie reichte ihm das Paddel. »Ich hätte Sie nicht für jemand gehalten, der sich über Nonnen hermacht.«

Conrad, nicht gerade ein Mann mit geringem Selbstwertgefühl, war enttäuscht, dass sie seine Annäherungsversuche verschmäht hatte. Schlimmer noch, sie leugnete quasi, selbst auch einen Anteil daran gehabt zu haben. »Und ich hätte nicht gedacht, dass Sie eine Nonne sind, die sich darum schert, was andere denken.«

»Das tue ich auch nicht«, hatte sie erwidert.

Natürlich hatte sie Recht. So viel war klar. Aber Conrad spürte, dass sie in Wirklichkeit Angst vor ihren Gefühlen hatte, Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Wenn man Serena Serghetti ausschließlich als Nonne sehen wollte, dann war sie eindeutig eine, die dafür sorgte, dass sie nie die Kontrolle verlor.

Sie waren nicht in Frieden auseinander gegangen. Sie verhielt sich, als hätte sie einen großen Fehler begangen. Als ob sie mit der gemeinsamen Nacht ihre ganze Zukunft aufs Spiel gesetzt hätte. In Wirklichkeit bereute sie jedoch keine Sekunde. Zumindest kam Conrad schließlich zu diesem Schluss. Sie fürchtete nur eine intimere Beziehung. Als hätte sie etwas zu verbergen. Auf einmal verstand er es: Dieses Etwas war sie selbst. Sie war von sich enttäuscht und fühlte sich deshalb seiner unwürdig.

Er wusste, dass sie sich täuschte, und er schwor, ihr zu beweisen, dass sie auch ohne den Titel ›Schwester‹ etwas wert war, so wie er den Preis für ihren Verzicht wert war. Aber davon wollte sie nichts wissen.

Der letzte gemeinsame Augenblick war, als er am Ufer versuchte, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Sie rannte davon, um ein Taxi zu rufen. Er winkte, aber sie blickte sich nicht mehr um. Eine Woche später versuchte er, sie in Rom anzurufen. Nach Monaten vergeblichen Bemühens erschien er sogar unangesagt auf einer ihrer Konferenzen. Inzwischen war sie berühmt geworden, warf sich voll und ganz auf ihre Arbeit, sodass er sich fragte, ob sie das ungeliebte Kind in sich nun vergessen wollte – oder ihn.

Jedenfalls stellte er bald fest, dass eine Privataudienz bei ›Mutter Erde‹ genauso wahrscheinlich war, wie seine heißgeliebte Urkultur zu finden.

Was sich inzwischen natürlich geändert hatte.

***

Diese Nonne hat was drauf, dachte Yeats, als er sich in der Kommandozentrale noch mal das Gespräch zwischen Serghetti und Conrad auf Video ansah. Das musste man ihr lassen. Der Papst wusste genau, was er tat, indem er sie schickte.

»Woher weiß sie das alles, Sir?«, fragte O'Dell, der neben ihm stand.

»Das ist die Frage«, sagte Yeats. »Ich glaub nicht, dass der Vatikan will, dass sie was rauslässt. Aber soviel ich weiß, stimmt alles, was sie sagt. Vielleicht haben wir bei unserem Vorhaben ja sogar Verwendung für sie.«

»Und Ihr Sohn, Sir?«

Yeats sah O'Dell an. »Was soll mit ihm sein?«

»Ich habe den Bericht des Verteidigungsministeriums gelesen.« O'Dell sah besorgt aus. »Ihr Sohn ist seit dem Kindergarten in Therapie. Verheerende Albträume und Visionen vom Ende der Welt. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Sir, aber er scheint geisteskrank zu sein.«

»Er hatte eine traumatische Kindheit«, sagte Yeats. Er hoffte, dass O'Dell damit dieses Kapitel abschloss. »Und haben wir das nicht alle gehabt? Außerdem hat das Verteidigungsministerium nicht seine komplette Akte. Glauben Sie mir. Ich hab sie nämlich selbst geschrieben.«

Yeats wollte sich gerade wieder dem Monitor zuwenden, als Lieutenant Lopez, eine der Nachrichtenoffiziere, an ihn herantrat. Außer Schwester Serghetti war die junge Lopez die einzige Frau auf der Eisstation Orion.

»General Yeats, schauen Sie sich das mal an«, sagte sie.

Yeats folgte ihr zu dem großen Bildschirm, wo er die U.S.S. Constellation sah. Und zwar in einem TV-Bericht, unten rechts war das CNN-Logo zu sehen.

»Warren«, fluchte Yeats leise. Er starrte auf das waghalsige Greenpeace-Schiff, das neben der riesigen Constellation auf dem Bildschirm zu sehen war. Verflucht sei dieses Würstchen von Seemann!

»Wie haben die das bloß rausgekriegt, Sir?«, wollte O'Dell wissen.

»Na raten Sie mal, Colonel.« Yeats deutete auf den kleinen Monitor, auf dem Schwester Serghetti in ihrer Zelle zu sehen war. »Sie spielt auf Zeit und wartet, bis die Kavallerie eintrifft. Es wird nicht mehr lang dauern, dann klopfen die Waffeninspekteure der UN an die Tür.«

Das bedeutete, das Einsatzteam müsste bis dahin wieder aus der P4 draußen sein, schloss Yeats, und fing im Geiste an zu rechnen. In der P4 müssten alle Spuren verwischt und die wichtigsten technischen Daten entfernt sein, bevor die internationalen Einheiten das Gelände erreichten.

»Es kommt noch schlimmer«, sagte Lopez. »McMurdo meldet, dass die Station Wostok unseren Funkverkehr mit Flug 696 abgefangen hat. Es ist bereits ein UNACOM-Team losgeschickt worden.«

Yeats stöhnte. »Ich hab es gewusst. Wer leitet das Team?«

»Ein ägyptischer Luftwaffenoffizier«, sagte sie und gab ihm die Meldung. »Oberst Ali Zawas.«

»Zawas?« Yeats blickte auf das Foto. Es zeigte einen gut aussehenden Mann in Uniform mit dunklen, nachdenklich dreinblickenden Augen und gewelltem schwarzem Haar. »Verfluchter Mist.«

»Er ist doch nicht etwa verwandt mit …«, sagte O'Dell.

»Er ist der Neffe vom Generalsekretär«, sagte Yeats. »Er war auf der United States Air Force Academy. Im ersten Golfkrieg flog er auf der Seite der Alliierten und hat zwei irakische Flugzeuge für uns runtergeholt. Verdammt guter Offizier und ein echter Gentleman.« Yeats gab Lopez die Meldung zurück. »Von wem kriegt er Unterstützung, Lieutenant?«

»Also, in Wostok sind das die Russen unter dem Kommando von Iwan Kowitsch. Und die Australier haben ihre Hilfe von der Station Mawson aus angeboten.« Sie hielt inne. »Wie unsere amerikanischen Wissenschaftler von Amundsen-Scott im Übrigen auch. Die hatten wir bisher raushalten können.«

»Mist!«, knurrte Yeats. »In ein paar Stunden wird die ganze Welt hier versammelt sein.«

»Nicht bei dem Sturm, der bald wieder loslegt, Sir«, sagte O'Dell. »Was voraussichtlich in sechs Stunden der Fall sein wird. Laut Wettervorhersage wird er uns ziemlich übel treffen. Könnte uns alle vielleicht drei Wochen lang festnageln.«

Yeats sah aus dem Fenster. Der Himmel war schwarz. Der Schneesturm prasselte wie Gewehrkugeln an das Glas. »Der Sturm könnte die Australier aufhalten, aber Zawas und das UNACOM-Team werden einfach nur etwas länger brauchen.« Yeats wandte sich an O'Dell. »Sie sorgen dafür, dass diese Barbaren hier oben bleiben, während ich den Einsatz in die P4 runter leite.«

»Und wie soll ich erklären, dass wir Mutter Erde gegen ihren Willen festhalten?«

»Brauchen Sie nicht«, sagte Yeats. »Ich nehme sie mit. Wir haben keine Sekunde zu verlieren.«

Загрузка...