Teil Zwei. Abstieg

Abstieg, 1. Stunde 11 Der Abgrund

Über dem Abgrund war der Himmel bedrohlich schwarz geworden, und Serena spürte, wie der Wind plötzlich eisig wurde. Wenn das die Stille vor dem Sturm war, wollte sie den eigentlichen Ausbruch nicht erleben. Nebelschwaden stiegen aus der Tiefe. Den nächsten Schutz bot der P4-Fundort, eine Meile unter ihnen.

»Wollen Sie sich dem Ganzen wirklich aussetzen, Schwester?«

Über ihr glitt Yeats in seinem weißen Polaranzug die Eiswand herab. Unter dem blendenden Licht der Stirnlampe zeigte Yeats ein teuflisches Grinsen. Oben auf festem Boden hatte er ihr ausführlich die Risiken erklärt, die sie eingehe, wenn sie mit dem Einsatzteam herabkomme. Aber was blieb ihr denn anderes übrig? Mit dem Rest der Welt in der Basis abzuwarten, bis das Team wieder auftauchte, hätte bedeutet, weiterhin im Dunkeln zu tappen.

»Genau genommen bin ich Doktor Serghetti, General«, sagte sie und bohrte das Steigeisen an ihrem Plastikstiefel ins Eis. »Außerdem habe ich mit der Mutter Oberin den Everest bezwungen.«

»Hat sie Ihnen das Strumpfband verpasst?«

Yeats deutete auf Serenas Gurte. Sie sahen tatsächlich aus wie ein Hüftgürtel mit zwei roten Schlingen an den Oberschenkeln. Falls sie fiel, würde sich der Druck gleichmäßig auf den Unterkörper verteilen.

»Nein, nur das hier.« Serena brachte einen Eispickel zum Vorschein, hämmerte einen Haken in die Eiswand und befestigte daran mit einem Karabiner ein neues Seil. Sie wollte Yeats demonstrieren, dass sie für diese Herausforderung bestens gerüstet war. In Wirklichkeit fühlte sie sich allerdings nicht so sicher, wie sie tat. Ihr Herz schlug wie wild, und sie atmete schnell.

Sie hatte den berüchtigten Yeats erst auf der Eisstation Orion persönlich kennen gelernt. Davor kannte sie ihn nur aus Conrads Erzählungen. Sie traute ihm nicht. Wie es so schön bei Emerson heißt: »Du sprichst so laut, dass ich nicht verstehe, was du sagst.« Yeats war im Grunde seines Herzens ein Schuft, und seine Expedition war eine einzige Schandtat. Er konnte sich nur besser verstellen als Conrad, der erfrischend ehrlich und bisweilen sogar recht charmant mit seinen Schwächen umging. Ihr war jedenfalls klar, dass er nicht aus Herzensgüte ihrer Teilnahme zugestimmt hatte und schon gar nicht wegen ihrer Fähigkeiten als Sprachwissenschaftlerin.

»Was war es noch gleich, warum Sie Ihre Meinung geändert haben und mich mitzockeln lassen?«

»In erster Linie, weil ich bei der NASA die Erfahrung gemacht habe, dass Frauen immer eine angenehme Bereicherung in einer Astronautenmannschaft sind.«

Genauso eine sexistische Bemerkung hatte sie erwartet. »Na so was. Und ich hätte gedacht, es liegt daran, dass Frauen präziser und akribischer arbeiten und überhaupt eher zum Multitasking befähigt sind als Männer.«

»Wenn sie nicht gerade zu emotional reagieren oder zu aufgeregt sind«, antwortete Yeats und verschwand aus dem Sichtfeld, gerade als Conrad sich neben sie abgeseilt hatte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Serena seufzte und schüttelte den Kopf. »Dein Vater kann's einfach nicht lassen.«

»So ist er nun einmal«, sagte Conrad tonlos. »Wenn er erst mal auf was programmiert ist, macht er immer weiter, bis zum bitteren Ende.«

»Und lässt eine Blutspur hinter sich.«

»Wir sollten ihn also lieber nicht so weit vorlassen«, sagte Conrad und seilte sich weiter ab.

Serena folgte ihm. Im tropischen Klima hatte er sich als ausgezeichneter Bergsteiger erwiesen. Unter den Bedingungen im Eis konnte eine Selbstüberschätzung allerdings tödlich sein. Sie machte sich Sorgen um ihn. Und um seine Seele. Um ihre auch. Sie hatte schon einmal versucht, ihn zu retten, und nun plagte sie das Gefühl, sie beide verdammt zu haben.

Conrad war jetzt außer Reichweite. Sie ließ sich einige Meter ab und fand etwas Halt an einem Absatz. Das Eis war von einem herrlichen Blau und schien fast zu leuchten. »Wunderschön«, sagte sie.

»Serena, nicht stehen bleiben, lass dich weiter ab …« Conrad sprach äußerst hastig.

Serena seilte sich langsam weiter ab. Conrads Gesichtsausdruck beunruhigte sie. Hyperventilierte er etwa? Sie merkte jedenfalls, dass sie selbst unnatürlich schnell atmete. Ihr Herz schlug nun ebenfalls noch schneller, wenn auch gleichmäßig. Sie sank weiter.

Conrad winkte sie mit dem dicken Handschuh zu sich. »Hier runter. Und? Siehst du sie?«

Serena schaute angestrengt in den Nebel. Eine Lücke tat sich auf, und sie sah, wie das Licht sich auf so etwas wie einen Landeplatz verteilte. »Ja, schon.«

»Nein, ich meine, siehst du sie wirklich?«

Plötzlich erkannte Serena, dass der Landeplatz in Wirklichkeit die abgeflachte Spitze einer leuchtend weißen Pyramide war, die steil aus der Tiefe des Abgrunds emporragte. Sie musste ihre Augen vor der Leuchtkraft schützen.

»Die P4«, hörte sie sich leise sagen.

»Frag mich bloß nicht, wie die hierher gekommen ist.« Conrad setzte seine Sonnenbrille auf. »Es wird noch eine Weile dauern, bis ich eine Erklärung habe.«

Die feste Überzeugung in seiner Stimme schaffte Vertrauen. Seine Aufregung war echt, unverfälscht und ergreifend. Keine Spur von Angst, dachte Serena neidisch, einfach schlichte Neugier und schlichter Enthusiasmus. Sie hatte dieses Gefühl schon fast vergessen.

Nun setzte auch sie sich die Sonnenbrille auf. Die abgeflachte Spitze, noch weißer als Schnee, blendete sie. Deshalb hatte der Papst sie also geschickt. Zwar hatte sie etwas Spektakuläres erwartet, aber sie war nicht auf das vorbereitet gewesen, was sie jetzt sah, auf die Ausmaße des Bauwerks. Es war gigantisch.

Sie starrte die Pyramide voller Staunen an, da hörte sie auf einmal, wie ihr Seil quietschte.

»Das ist normal, wenn das Seil sich spannt«, sagte Conrad. »Hat nichts zu sagen. Weiter.«

Wieder hörte sie ein durchdringendes Quietschen, diesmal aber auch das Klicken von Metall. Der Eishaken, der ihr Seil hielt, löste sich, und sie glaubte schon, sie würde fallen.

»Hilfe!«, schrie sie, schlug den Eispickel in die Wand und hielt sich daran fest. »Conrad!«

Conrad antwortete nicht. Sie drehte sich um. Er war verschwunden.

Sie hörte einen Pfeifton, sah Conrads Umrisse in den Nebel verschwinden. Das Seil neben ihr spannte sich.

»Conrad!«, schrie sie wieder und starrte in den Dunst.

Dann sah sie einen Schatten, der auf sie zugeklettert kam. Es war Yeats.

»Sie hätten ihn erst ins Grab bringen sollen, wenn alles vorbei ist.« Er ließ die Augen über die Nebelschwaden in der Tiefe wandern und zog dann mit einem Finger am Seil. »Er hängt noch dran.«

Serena hörte ein Knacken und sah, wie sich der Eishaken, mit dem Conrads Seil befestigt war, löste. »Mein Gott! Conrad! Nicht loslassen!«

»Scheiße.« Yeats sah Serena an.

Instinktiv zog sie den Eispickel heraus und warf ihn Yeats zu, der den Arm schützend vor sich hielt. »Hier, fangen Sie!«, rief sie und tauchte auch schon in die Tiefe.

Sie stürzte durch den Nebel und raste auf das Licht zu, bis sich das Seil spannte. Mit einem Ruck wurde sie abgebremst. Es fühlte sich an, als hätte sie sich das Becken gebrochen. Aber die Gurte hatten sich bewährt.

Ihr verschlug es den Atem. Etwas quietschte in der Stille. Es war ihr winddichter Parka, der beim Hin-und-her-Schwingen am Nylonseil scheuerte.

»Conrad?«

»Hier drüben«, antwortete er. »Ich habe was entdeckt.«

Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kam, und mithilfe der Stirnlampe konnte sie sehen, dass er drei Meter von der Wand entfernt baumelte, wo nirgends ein Halt zu sehen war.

»Warte«, sagte sie und schwang zu ihm hinüber. Sie brauchte drei Anläufe, bevor sie ihn erreichte. Sie streckte ihre Hand aus, und er ergriff sie, hielt sie fest und zog Serena zu sich. Einen kurzen Augenblick lang klammerten sie sich aneinander und schwangen gemeinsam über dem Abgrund.

»Hör mit dem Bungeejumping auf, Conrad.« Sie bemühte sich, ihre Angst mit Sarkasmus zu überspielen.

»Schau mal!«, rief er.

Sie drehte sich im Dunkeln um. Ihre Stirnlampe tauchte die Wand in Licht. Da war etwas im Eis. Ihre Augen stellten sich auf die Beleuchtung ein. Ihr gegenüber war ein kleines Mädchen zu sehen, für immer im Eis gefangen.

»Jesus Maria«, flüsterte sie.

»Du hast mir doch mal gesagt, wir treffen uns erst wieder, wenn die Hölle zu Eis wird? Erinnerst du dich? Jetzt ist es so weit.«

Der Nebel zog nach oben, und das Licht beschien auf einmal die ganze Wand. Sogleich sah Serena hunderte von Menschen mit vor Angst erstarrten Gesichtern. Sie schienen alle gleichzeitig zu schreien. Serena hielt sich die Ohren zu. Sie war diejenige, die schrie.

Abstieg, 3. Stunde 12 Raumkapsel

Eine Stunde später waren sie in der warmen Raumkapsel auf der P4. Serena lag auf dem aufgeklappten Operationstisch. Conrad sah sie besorgt an. Sie blinzelte unter dem grellen Scheinwerferlicht. Man hatte ihr eine Sauerstoffmaske über das Gesicht gestülpt und am Oberkörper mehrere EKG-Elektroden angebracht. Das Haar war ihr aus dem Gesicht gestrichen worden. Zudem hatte man den Gürtel ihrer Hose gelockert.

Conrad deutete auf das beschlagene Bullauge, durch das die amerikanische Flagge zu sehen war, die Yeats auf der Spitze der Pyramide gehisst hatte.

»Konzentrier dich auf die Flagge, und atme tief durch«, sagte er und verabreichte ihr Sauerstoff.

Sie hatte keinen Parka und keinen Pullover mehr an, und nur mit Mühe konnte er es vermeiden, auf ihren vollen Busen zu starren, der sich unter ihrem Wollhemd auf und ab bewegte. Seit sie den Grund der Eisschlucht erreicht hatten, hyperventilierte sie. Anscheinend hatte ihr das offene Grab im Eis einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Conrad sah auf den EKG-Monitor. Langsam kehrte ihre Herzfrequenz wieder in den Normalbereich zurück.

»Besser?«, fragte er gleich darauf.

Sie sah ihn an, als wäre er völlig verrückt.

Conrad ließ den Blick durch das voll gestopfte Habitat schweifen, das unten in der Schlucht auf der flachen Spitze der Pyramide errichtet worden war. Die Kapsel war 16 Meter lang und vier Meter breit. Yeats drängte sich mit den drei Technikern um die Monitore. Lieutenant Lopez war auch dabei. Conrad hatte die Offiziere bereits in der Eisstation Orion gesehen. Die anderen beiden, zwei blonde Muskelprotze, die gut eineiige Zwillinge sein konnten, hörten auf die Namen Kreigel und Marcus. Das waren hier unten eindeutig die Handlanger von Yeats.

Conrad wandte sich seinem Vater zu. »Gibt es irgendeinen Grund, warum du die Leichen im Eis nicht erwähnt hast?«

»Ja, natürlich. Ich wollte eure Reaktion testen.«

Conrad blickte Yeats an und deutete auf Serena. »Und, zufrieden mit dem Resultat?«

»Hör schon auf zu jammern.« Yeats stand auf. Er hielt eine Spritze in der Hand und klopfte mit dem Finger leicht dagegen. Eine klare Flüssigkeit spritzte heraus. Serena wich aus.

Besorgt sah Conrad, wie Yeats Serenas Arm packte. »Was machst du da?«

»Ich gebe ihr ein Stärkungsmittel.« Bevor Conrad ihn daran hindern konnte, stach Yeats ihr die Kanüle in den Arm. »Es ist ein pflanzliches Präparat aus der Ginseng-Familie. Tiefseetaucher, Bergungsmannschaften und Kosmonauten nehmen es, um der Belastung unter Extrembedingungen standzuhalten. So ziemlich das einzig Brauchbare, was die Russen zu unserem Raumfahrtprogramm beigesteuert haben.«

Das Mittel schien zu wirken. Serena atmete jetzt gleichmäßiger. Aber ihre Augen waren voller Zorn. Sie gehörte eindeutig nicht zu den Frauen, die solche Fürsorge gewohnt waren.

»Ihr wird's bald besser gehen«, sagte Yeats. »Wenn du erlaubst, werde ich jetzt mal nach der Bohrmannschaft sehen, die deinen sagenhaften Schacht sucht.«

»Genauso sagenhaft wie die P4«, rief Conrad seinem Vater hinterher, während dieser die Luke öffnete und nach draußen ging. Frostige Polarluft schoss herein.

»Dich hat das Ganze ja offenbar nicht mitgenommen, Conrad«, sagte Serena frei heraus. Sie hatte die Sauerstoffmaske abgesetzt. »Es ist wahrscheinlich nicht das erste Mal, dass du zwölftausend Jahre alte Leichen im Eis siehst, was?«

Er blickte sie an und konnte seine Erregung kaum zurückhalten. Es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass sich seine Theorien bestätigten und der Beweis geliefert wurde, dass er nicht verrückt war.

»Die Leichen erklären, wie die Pyramide hierher kam.«

»Was heißt ›hierher kam‹?« Mühsam setzte sie sich auf. Etwas Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt. »Hat sie sich denn bewegt?«

Conrad kramte in seinem Rucksack herum und zog schließlich eine gefrorene Orange heraus. »Die habe ich aus der Wand geschlagen. Sie beweist, dass die Antarktis einst in einem gemäßigten Klima lag.«

Serena sah die Orange an. »Bis alles eines Tages gefror, sehe ich das richtig?«

Conrad nickte. »Das entspricht Hapgoods Theorie von der Verschiebung der Erdkruste.«

»Charles Hapgood?«

»Genau. Lebt schon seit Jahren nicht mehr. Du hast also von ihm gehört?«

»Ja, der war mal Universitätsprofessor. Aber seine Verschiebungstheorie kenne ich nicht.«

Conrad nutzte mit Wonne jede Gelegenheit, Mutter Erde etwas, was sie nicht wusste, groß und breit zu erklären. Er hielt die Orange hoch und dozierte: »Nehmen wir einmal an, das hier ist die Erde.«

»Okay.« Sie ließ sich auf sein Spielchen ein.

Conrad ließ ein Taschenmesser aufschnappen und ritzte damit die sieben Kontinente in die inzwischen etwas aufgetaute Schale. »Hapgoods Theorie besagt, dass die Eiszeit kein meteorologisches Phänomen ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer geologischen Katastrophe vor ungefähr zwölftausend Jahren.« Conrad drehte die Orange so, dass sich die Vereinigten Staaten innerhalb des Polarkreises befanden und die Antarktis näher am Äquator war. »So sah die Welt damals aus.«

Serena zog die Augenbrauen hoch. »Und was soll dann geschehen sein?«

»Die gesamte Erdoberfläche hat sich verlagert.« Conrad drehte die Orange, bis ihre Position der der heutigen Erde entsprach. »Die Antarktis wird von dem Polarkreis vereinnahmt, während Nordamerika sich daraus löst und eine gemäßigte Klimazone wird. In Nordamerika schmilzt das Eis, und in der Antarktis bildet es sich.«

Serena runzelte die Stirn. »Und wodurch wurde diese Umwälzung verursacht?«

»Das kann niemand so recht sagen. Aber Hapgoods Meinung nach rührte das von einem Ungleichgewicht des Eises an den beiden Polen her. Durch das anwachsende Eis wurden die Kappen so schwer, dass sie in Bewegung gerieten und schließlich die äußere Kruste der Kontinente in einem Stück in neue Positionen brachten.«

Serena musterte ihn. »Du bist also bereit, alles, was von deinem Ruf noch übrig ist, auf diese Erdkrustenverschiebung zu setzen?«

Conrad zuckte die Achseln. »Albert Einstein jedenfalls fand den Gedanken gut. Er glaubte, dass bedeutende Verlagerungen dieser Art wahrscheinlich schon häufiger und innerhalb kurzer Zeiträume stattgefunden haben. Das würde so merkwürdige Dinge wie im Polarkreis eingefrorene Mammute mit tropischer Vegetation im Magen erklären. Oder eben Dinge wie die Pyramide hier und die Leute, die im Eis der Antarktis begraben sind.«

Serena berührte Conrad sanft an der Schulter. »Wenn dir das hilft, der Welt einen Sinn zu geben, schön für dich.«

Conrad erstarrte. Er hatte geglaubt, sie wäre von dem Beweismaterial genauso erregt wie er, sie wäre sozusagen vom gleichen Schlag. Stattdessen stellte sie seine Schlussfolgerungen aber offenbar infrage. Mehr noch, sie griff ihn persönlich an. Er nahm es ihr übel, dass sie eine einleuchtende Hypothese von einem der größten Köpfe der Menschheitsgeschichte so leichthin abtat – selbst wenn sie eine Frau des Glaubens war.

»Hat der Vatikan vielleicht eine bessere Theorie?«

Serena nickte. »Ja, die Sintflut.«

»Alles ein und dasselbe«, sagte Conrad. »Beides fällt in die Kategorie: Gott, der verrückte Völkermörder.« Kaum waren die Worte gesprochen, bereute er sie auch schon.

»He, Moment mal. Passen Sie auf, was Sie sagen«, mischte sich eine Frau hinter ihnen ein.

Conrad drehte sich um und sah, wie Lopez ihn ärgerlich anblickte. Noch so eine Katholikin, dachte er.

Lopez wandte sich an Serena: »Soll ich ihm einen Tritt in den Hintern verpassen?«

Serena lächelte. »Danke, aber er kriegt so schon genug ab.«

»Na gut, aber das Angebot steht«, sagte Lopez und machte sich wieder an die Arbeit. Kreigel und Markus, die arischen Zwillinge, schienen enttäuscht zu sein. Conrad vermutete, dass sie Lutheraner waren, Agnostiker oder einfach nur gute deutsche Brut, die sich zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort als Musterknaben in Hitlers SS ausgezeichnet hätten.

Serena nahm ihren Parka und schlüpfte in die Ärmel. »Was willst du damit behaupten, Conrad?« Sie wollte den Reißverschluss hochziehen, aber die EKG-Drähte waren im Weg. »Dass Gott an allen Hungersnöten, Kriegen oder lüsternen Blicken schuld ist?«

Sie sah ihm direkt ins Gesicht. Ihre warmen, braunen Augen klagten ihn gleichzeitig an und vergaben ihm. Das Ganze machte ihn nervös. Vielleicht hatte er ihren Busen ja tatsächlich etwas zu lange betrachtet, dachte er. Er war ja auch nur ein Mensch. Und selbst wenn sie das nicht zugeben konnte, sie war auch einer.

»Ich habe genau gemerkt, wie du das Mädchen im Eis angesehen hast«, sagte Conrad sanft. »Als ob du dich selber betrachtet hättest. Der Fluch der Sintflut war wohl kaum als Strafe gedacht.«

»Der Regen fällt gleichermaßen auf die Gerechten und Ungerechten«, sagte sie abwesend. »In diesem Fall natürlich das Eis.«

Conrad merkte, dass sie mit den Gedanken schon längst woanders war. Ihre EKG-Werte wurden wieder unregelmäßiger.

Er deutete auf die Monitore. »Vielleicht sollten wir dich wieder nach oben bringen und jemand Kräftigeren holen.« Er deutete auf die Monitore und half ihr mit den EKG-Drähten. »Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«

Ärgerlich schob sie ihn mit der Schulter zur Seite und riss die EKG-Schnüre ab. »Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten.«

Conrad griff sich an den Kopf und starrte sie ungläubig an. »Widersprüchlicher geht's wohl nicht mehr, was?«

Sie zog den Reißverschluss ihres Parkas zu und sprang auf. »Wer ist hier widersprüchlich, hä?«

Conrad rührte sich nicht. Er merkte, wie Lopez ihn interessiert anstarrte. Kreigel und Markus auch. Die beiden Soldaten schienen geradezu erpicht darauf zu sein, dass die gute Nonne dem bösen Archäologen das Knie in die Eier rammte.

Die Luke öffnete sich, und zusammen mit eisiger Zugluft kehrte Yeats in die Kapsel zurück.

»Du hast Recht behalten«, sagte Conrad kühl zu seinem Vater. »Ihr geht es wieder gut.«

»Prima. Macht euch jetzt bereit. Wir steigen in die P4. Die Bohrmannschaft hat soeben den Schacht gefunden!«

Abstieg, 4. Stunde 13 Erste Kammer

Der Schacht war ungefähr zwei Meter breit und zwei Meter hoch, schätzte Serena und neigte sich in die Finsternis. Die Auslosung mittels einer Münze hatte Serena die Ehre verschafft, als Erste hineingehen zu dürfen, nachdem die Bohrmannschaft den umgerüsteten sechsrädrigen Marsrover mit einer Lötlampe und einer Kamera den Schacht hinuntergelassen hatte. Der fernbediente Roboter hatte Conrads Vermutung bestätigt: Der Schacht führte direkt in eine Kammer inmitten der P4.

Als Serena an dem Geländer stand, das die Amerikaner entlang der Nordseite der P4 errichtet hatten, und in die Schachtöffnung blickte, spürte sie heftiges Herzklopfen. Sie war immer noch von dem Anblick des kleinen Mädchens im Eis verstört, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass eine ganze Kultur auf einen Schlag vernichtet worden war. Wenn dem Kind nur nicht diese entsetzliche Angst in den Augen gestanden hätte!

Sie hatte immer Trost bei der Vorstellung gefunden, dass die Schöpfungsgeschichte nur ein Mythos und die Sintflut nur ein theologisches Bildnis war. Zugegeben, viele fossile Funde wiesen auf eine Weltkatastrophe natürlichen Ursprungs hin. Nun ja, sie hegte kaum Zweifel daran, dass es eine weltweite Überschwemmung gegeben hatte. Aber war diese wirklich die Strafe Gottes für die Schlechtigkeit der Menschen gewesen? Moses hatte das so interpretiert. Blöderweise fand sie andere Sichtweisen über die Welt – wie zum Beispiel die, dass zyklische Naturkatastrophen ganze Völker einfach willkürlich ausgelöscht hatten – noch beunruhigender, vor allem, weil sie ihrer aufrechten Entrüstung jeglichen Sinn nahmen.

Möglicherweise hatte es auch etwas mit ihrer Kindheit zu tun, wie der Heilige Vater gemeint hatte. Sie hatte sich als Kind wiedergesehen, als unschuldiges Opfer, eingeschlossen im Eis, in die Zeit eingefroren wie Teile ihrer Persönlichkeit auch. Vielleicht war es auch nur das Scheitern ihres Glaubens, der ihr keinen echten Trost mehr für das unerklärlich Böse und das ganze Elend dieser Welt geben konnte. Als ob der Teufel selbst einen Schutzengel hätte – Gott. Unter dieser Voraussetzung gab es keinen Unterschied mehr zwischen Satan und Gott, ein Gedanke, den Serena gar nicht erst aufkommen lassen wollte.

Conrad unterbrach ihre tiefgründigen Gedanken.

»Serena, wenn du willst, kann ich immer noch die Führung übernehmen.«

Sie blickte Conrad über die Schulter an und runzelte die Stirn. Jetzt, wo er den Zugang zur Pyramide gefunden hatte, tat er ziemlich großspurig. Seine Augen besagten, dass er auch dieses Mal, wie immer, Recht behalten hatte. Nicht nur was die P4 anging, sondern überhaupt, auch was sie betraf. Als könnte er sie im Laufe der Zeit wie irgendein archäologisches Rätsel entschlüsseln.

Wut stieg in ihr hoch. »Du kannst also auch vorzeitliche Inschriften aus dem Jenseits übersetzen?«

»Die Schrift ist nur eine von vielen Arten der Kommunikation, Schwester Serghetti, wie du nur allzu gut weißt«, erwiderte Conrad.

Sie hasste dieses akademische Geschwätz, wahrscheinlich weil sie oft selbst so redete. Vielleicht aber auch, weil es – wie ihr Gespräch in der Raumkapsel – die Vertrautheit leugnete, die sie während des Abstiegs ins Eis aufgebaut hatten.

»Außerdem«, fügte Conrad noch hinzu, »glaube ich nicht, dass wir auf Inschriften stoßen werden.«

»Und woher willst du das wissen?«

»Einfach so eine Ahnung.« Conrad strich mit der Hand über die glänzende weiße Oberfläche der Pyramide. »Schau dir die verzahnten Steine der Verkleidung an, die die ganze Konstruktion schützen.«

Falls es feine Furchen gab, konnte sie diese wegen des reflektierenden Lichtes nicht sehen. »Wie kommt es, dass die Pyramiden, die wir aus Ägypten kennen, nicht so glänzen?«

»Im Mittelalter wurde die Ummantelung abgerissen, um Moscheen daraus zu bauen«, erklärte Conrad. »Die Pyramiden wurden sozusagen zu billigen Steinbrüchen. Fühl mal.«

Serena ließ ihre behandschuhte Hand über die Oberfläche gleiten. Der Stein fühlte sich wie Glas an. »Eine Art Erz?«

Conrad lächelte. »Du hast es gleich gemerkt. Kein Wunder, dass die Echolotung die Pyramide nicht aufspüren konnte. Du hattest Recht, Yeats. Das Zeug ist glatter als ein Tarnkappenbomber.«

»Und härter als Diamant«, fügte Yeats aus dem Hintergrund ungeduldig hinzu. »Hat bei der Suche nach dem Schacht die ganzen Bohrmaschinen kaputtgemacht. Wir wissen noch nicht, was es ist. Können wir jetzt vielleicht mal weitergehen?«

»Oreichalkos«, sagte Conrad. Seine Stimme hallte von den Schachtwänden wider.

»Was sagst du da?«, fragte Serena.

»Platon erwähnte, dass die Bewohner von Atlantis Oreichalkos verwendeten. So heißt das rätselhafte Erz, das ›glänzende Metall‹«, sagte Conrad. »Ein reines Erz, ein fast übernatürliches ›Bergkupfer‹. Es funkelt wie Feuer und wurde für Wandverkleidungen verwendet – und für Inschriften. Ich gehe jede Wette ein, dass ein Großteil der Außenwand aus diesem Zeug besteht.«

Conrad schien die Weisheit gepachtet zu haben. »Du glaubst wohl, alles zu wissen, wie?«, sagte Serena.

»Das wird sich erweisen, wenn wir drin waren.«

»Und wenn die Erbauer für unbefugte Eindringlinge eine Falle gestellt haben?«, fragte sie.

»Die Erbauer haben bestimmt nie beabsichtigt, durch diesen Schacht von oben her hineinzukommen. Wenn überhaupt, dann sind die Fallen unten in der P4 und in den Gängen, die nach oben zu den wichtigen Kammern führen.«

Serena sah über Conrads Schulter hinweg Yeats an, der die Stirn entweder aus Besorgnis oder – was weitaus wahrscheinlicher war – aus Ungeduld runzelte. Lopez, Kreigel und Marcus, die neben ihm standen, blickten so steinern drein wie zuvor.

»Dann machen wir uns am besten mal auf den Weg«, sagte Serena und trat in den Schacht.

***

Wie sich bald herausstellte, sollte Conrad mit dem Oreichalkos Recht behalten. Kaum betrat man den Schacht, änderte sich bereits die Wandoberfläche und wurde rauer. Sie bestand aus einem dunkleren Gestein oder Metall. Serena kletterte tiefer in den Schacht und hielt das Seil dabei straff. Das Licht ihrer Stirnlampe drang nur etwa zwanzig Meter tief in die Dunkelheit.

»Wie geht's da unten?« Im Schacht klang Yeats' Stimme flach und blechern.

»Prima«, antwortete sie.

Aber sie fühlte sich gar nicht so. Die Luft war drückend und stickig. Die feuchten Wände schienen sich über ihr immer mehr zu schließen, je weiter sie den 38 Grad geneigten Schacht hinunterkroch. Sie spürte ein Kribbeln im Rücken, das langsam die Wirbelsäule hinaufstieg.

Zwanzig Minuten später tauchten sie aus dem Schacht in einen saalartigen rötlichen Raum, der bei aller Düsternis ungeheure Wärme und Kraft ausstrahlte. Er war völlig leer.

»Hier ist nichts, Conrad.« Ihre Stimme hallte wider. »Keine Inschriften. Nichts.«

»Sei dir da mal nicht so sicher.«

Sie drehte sich um und sah, wie Conrad sich an der Wand, aus der der Schacht kam, abseilte, gefolgt von Yeats und seinen drei Untergebenen.

Conrad suchte den Raum mit seinem Scheinwerfer ab. Boden, Decken und Wände bestanden aus riesigen Steinquadern, die wie Granit aussahen. Der Raum war größer als ein Fußballfeld; Serena schätzte die Höhe auf sechzig Meter. Trotzdem hatte sie das Gefühl, die Wände würden sie erdrücken.

»Das ist nun wirklich mal eine megalithische Architektur in Reinkultur«, bemerkte Conrad und ließ den Lichtstrahl über die Decke schweifen. »Allein die Transporttechnik für die großen Steinblöcke muss phänomenal gewesen sein.«

Was die Architektur angeht, da hat Conrad Recht, dachte Serena. Sie gab einiges über die Erbauer preis. Das war etwas, das sie auch an der Linguistik faszinierte. Sprache versuchte oft, eine bestimmte Bedeutung zu verstecken oder sie irgendwie zu manipulieren. Aber gerade dadurch enthüllte sie das Wesentliche der Zivilisation, die hinter dem betreffenden Artefakt steckte.

Hier waren allerdings keine Inschriften zu entdecken. Nichts. Selbst bei den unergiebigsten Ausgrabungen fand man normalerweise einen Gegenstand, der etwas über das jeweilige Volk aussagte. Eine Tonscherbe, eine Figur. Solche Funde waren mehr als Artefakte. Sie stammten von Menschen mit Gefühl und Verstand. Damals, als ihr Vater, der Priester, gestorben war und sie seine persönlichen Sachen durchsah, stieß sie dabei auf die belanglosesten Dinge, die ihr aber dennoch etwas über ihre eigene Vergangenheit mitteilten.

Hier fühlte sie diese Verbindung nicht. Nichts. Nur gähnende Leere und Kälte. Nicht einmal einen Sarkophag: einen Sarg, der – wenn ihre Erinnerung an die ägyptischen Pyramiden sie nicht im Stich ließ – in der westlichen Ecke dieser Kammer hätte stehen müssen. Ein Grab wäre immerhin für einen Menschen gebaut worden. Dieser Ort aber war kalt und abweisend.

»Ich sehe keine anderen Schächte. Du hast doch gesagt, wir finden noch einen. Aber hier gibt es nicht mal Türen. Wir kommen nicht weiter.«

»Hier.« Conrad leuchtete zur Südwand, wo sich ein weiterer Gang befand. Er sah genau so aus wie der, aus dem sie gerade gekommen waren.

»Der führt sowieso nur ins Packeis«, sagte Serena.

Conrad sah genauer hin und nickte. »In der Cheopspyramide soll der Südgang den toten Pharao zu seinen Binsenbooten geführt haben, mit denen er sein Königreich auf Erden durchfuhr. Durch den Nordschacht erreichte er die Sterne im himmlischen Königreich.«

»Schön und gut. Aber wo ist hier der Sarg mit dem toten Pharao?«

Conrad ging zur Mitte des Raums. Seine Schritte hallten umso lauter, je weiter er sich dorthin bewegte.

»Was hast du vor?«

»Wenn hier nichts zu finden ist, müssen wir eben den Raum selbst untersuchen.« Conrad ging weiter zur Westwand und schaute von dort aus nach Osten. Er zog einen Gegenstand aus der Tasche, der wie ein Stift aussah, und ließ dann einen dünnen Laserstrahl auf die Wände treffen. Danach las er das Ergebnis ab. »Diese Kammer bildet einen Quader, der genau doppelt so lang wie breit ist«, teilte er den anderen mit. »Und die Raumhöhe ist exakt halb so lang wie die Diagonale des Bodens.«

»Und was schließt du daraus?«

»Mit diesem perfekten Rechteck haben die Erbauer den goldenen Schnitt, Phi, dargestellt.«

»Phi?«, sagte Yeats.

»Phi ist eine irrationale Zahl wie Pi, die man arithmetisch nicht erfassen kann«, erklärte Conrad. »Ihr Wert ist die Summe aus der Quadratwurzel aus fünf und eins geteilt durch zwei, gleich 1,61.803 auf fünf Stellen hinter dem Komma. Es gibt auch einen Zusammenhang zur Fibonacci-Folge – die Zahlenreihe, die mit 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 und so weiter beginnt.«

»In welcher jede Zahl sich aus der Summe der beiden vorausgegangenen ergibt«, vervollständigte Serena seinen kleinen Vortrag. »Worauf willst du hinaus?«

»Nur um das zu vervollständigen, das Verhältnis zweier Fibonacci-Zahlen strebt gegen Phi. Also, was ich sagen wollte: Die Erbauer haben nichts dem Zufall überlassen. Jeder Stein, jeder Winkel, jede Kammer wurde systematisch und mathematisch für einen höheren Zweck geplant.« Conrad sah ihr in die Augen, was bei ihr ein Kribbeln verursachte. »Und das hier ist nicht nur das älteste und größte Bauwerk unseres Planeten, es ist auch das perfekteste.«

Sie schluckte. »Das bedeutet?«

»Das bedeutet, dass es kein Werk von Menschenhand ist.«

Serena beobachtete ihn genau. Sie war sich sicher, dass er genau wusste, wovon er sprach. Seine herausragende Intelligenz beeindruckte sie. Selten traf sie auf einen Mann, der klüger als sie war. Nur war Conrad vielleicht intelligenter, als ihm gut tat. Wie die Genies, die im Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern benutzt worden waren, um die Atombombe zu bauen. Er war sich seiner zu sicher. Er liebäugelte offensichtlich damit, etwas in der P4 zu finden, mit dem er sich seinen Platz in der Geschichte sichern konnte.

Yeats würde das allerdings niemals zulassen. Sein kalter, versteinerter Gesichtsausdruck sagte ihr, dass Conrad für ihn sehr wohl wieder entbehrlich sein würde, sobald er seinen Zweck erfüllt hatte. Vielleicht nicht als Pflegesohn, aber sicherlich als Archäologe. Deshalb machte sie sich mehr Sorgen über das, was Conrad für sich behielt, als über das, was er sagte.

»Du kommst also zu dem Schluss, dass die P4 außerirdischen Ursprungs ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Die Leichen im Eis waren sehr wohl Menschen. Laut Yeats haben die Laborergebnisse der Autopsie das bestätigt.«

»Das heißt noch lange nicht, dass diese Leute die P4 auch gebaut haben«, sagte Conrad. »Dieses Ding hier war womöglich schon lange vorher da.«

Es störte sie, dass er von ›diesem Ding‹ sprach. Die P4 war kein einfaches Ding. Es war immerhin eine Pyramide. Ohne Inschriften war sie allerdings nicht in der Lage, diesem Bauwerk die ihm gebührende Bedeutung beizumessen beziehungsweise mit Conrad darüber diskutieren zu können. »Woher willst du das so genau wissen?«

»Hab Vertrauen.« Conrad durchquerte den Raum zu dem gegenüberliegenden Schacht. Dort angekommen, zog er ein handgroßes Gerät aus dem Gürtel.

»Was machst du da?«

»Ich setze meinen astronomischen Simulator in Gang.« Conrad drückte einen Knopf, und auf dem Display erschien eine Grafik. »Der Nordschacht, also der, durch den wir gekommen sind, besitzt einen Neigungswinkel von 38 Grad und 22 Minuten. Der Südschacht einen von 15 Grad und 30 Minuten.«

Serena ging zu ihm hinüber. »Da komm ich nicht mit.«

»Vergiss nicht, dass die Pyramide möglicherweise ein Meridian-Instrument zum Bestimmen der Sterne ist.« Conrad schaute auf das Display. »Die Schächte in der Königskammer der Cheopspyramide beispielsweise sind auf Orion und Sirius ausgerichtet. Ich vermute, dass die Schächte den hiesigen hier nachgebaut wurden. Wir brauchen die Schächte nur mit den verschiedenen Himmelskoordinaten zu vergleichen, wie sie im Verlauf der Zeit bestanden haben, und haben dann die exakte …« Conrad hielt abrupt inne. Er starrte auf das Display.

»Und weiter?«, sagte Serena.

»Warte.« Conrad runzelte die Stirn. »Da kann was nicht stimmen.«

»Was ist los?«

»Was gibt es, Conrad?«, fragte Yeats, der mit der Taschenlampe immer noch den Südschacht ableuchtete.

»Die Neigung des Schachtes zielt auf die Position bestimmter Sterne, wie sie in einer bestimmten Epoche bestanden hat«, sagte Conrad. »Dieser Schacht ist auf Alpha Canis Majoris im Sternbild des Großen Hundes ausgerichtet. Im Altertum nannte man ihn Sirius, den man mit der Göttin Isis, der Mutter der ägyptischen Könige, verband.«

»Der Gegenpol zum kosmischen Gott Osiris«, sagte Serena.

Conrads Augen leuchteten auf. »Dessen Sternbild, Orion, jetzt gerade im Osten aufgeht.«

»Das hast du mir doch alles schon in der Eisstation Orion erzählt.« Yeats sah Conrad ungeduldig über die Schulter.

»Du verstehst das nicht«, sagte Conrad. »Dieser Schacht ist genau in diesem Augenblick auf Alpha Canis Majoris gerichtet, jetzt beim Übergang ins Wassermannzeitalter und wie man ihn bei Sonnenaufgang zur Zeit der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche vom Südpol aus sehen kann.«

»Conrad, es ist September«, sagte Yeats trocken.

»Für uns aus dem Norden«, sagte Serena. »Hier auf der südlichen Hemisphäre ist jetzt Frühling.« Sie wandte sich an Conrad: »Was bedeutet das alles?«

»Nun, von einem Fixpunkt auf der Erde aus gesehen, ist der Sternenhimmel wie der Kilometerzähler eines Autos. Die Sternbilderbeschreiben alle 26.000 Jahre einen vollständigen Zyklus«, erklärte er. »Das heißt, dass die Pyramide entweder vor 26.000 Jahren gebaut wurde, während des letzten Wassermannzeitalters. Oder …«

»Oder was?«

»Oder sie wurde gebaut, um zu einer bestimmten Zeit in der Zukunft mit den Sternen übereinzustimmen.« Er sah ihr in die Augen, und wieder spürte sie jenes Kribbeln. »In diesem Augenblick, genau jetzt.«

Abstieg, 5. Stunde 14 Eisstation Orion

Oben in der Eisstation Orion lag O'Dell auf seiner Pritsche, hörte Chopin und wartete darauf, dass sich Yeats und seine Mannschaft meldeten, als plötzlich die Wände zu wackeln anfingen und die Sirene losheulte.

Nur allzu oft wurde die tägliche Monotonie in der Basis durch eine Simulation, eine Notübung, unterbrochen. Dann ging die Sirene los, und die Crew rannte auf ihre Posten in der Kommandozentrale, wo sich die Warnleuchten und die Diagnose-Computer befanden. Wenn SIM auf der Tafel aufleuchtete, war das für die Mannschaft das Zeichen dafür, dass es sich um keinen echten Alarm handelte.

Aber da O'Dell die SIMs immer selbst anordnete – und diese hatte er nun einmal nicht angeordnet –, war ihm sofort klar, dass das SIM-Licht nicht aufblitzen würde. Er spürte, wie sein Puls schneller schlug und das Adrenalin hochschoss. Er raste aus dem Offizierszimmer hinaus und lief zur Kommandokapsel. Die Crew hatte sich schon um den zentralen Monitor geschart.

»Die äußere Absperrung ist durchbrochen worden, Sir«, sagte der Dienst habende Lieutenant. »In Sektor vier.«

O'Dell blickte auf das vom Schneegestöber körnige Bild. Ein riesiges graues Objekt tauchte im Nebel auf. »Die Russen«, fluchte er, als er das Charkowtschanka-Kettenfahrzeug erkannte.

»Sektor drei durchbrochen«, rief ein anderer Offizier.

»Sektor zwei durchbrochen, Sir!«, sagte ein weiterer.

»Sektor eins!«

»Sektor drei!«

O'Dell sah es auf sämtlichen Bildschirmen: überall Charkowtschankas. Die Russen hatten die Eisstation umstellt. Er stand wie angewurzelt da. Langsam wurde ihm der Ernst der Situation bewusst. Jemand klopfte ihm auf die Schulter.

»Sir?«

O'Dell drehte sich um und sah den Funker vor sich. Er blinzelte. Die Lippen des Offiziers bewegten sich, aber O'Dell konnte nichts hören. »Was?«

»Ich habe gesagt, die Russen haben Kontakt aufgenommen, Sir. Wollen Sie antworten?«

O'Dell holte tief Luft. »Können wir General Yeats erreichen?«

»Seit die Gruppe in der P4 ist, haben wir den Kontakt mit ihr verloren.«

Bevor O'Dell antworten konnte, kam eine Stimme aus der Sprechanlage an der östlichen Luftschleuse. »Iwans am Tor!« O'Dell vernahm, wie die Russen mit Gegenständen, die sich wie die Kolben ihrer Kalaschnikows anhörten, an die Tür schlugen. Er stieß einen Seufzer aus und wandte sich wieder dem Funkoffizier zu. »Sagen Sie den Russen, dass sie an der Ostschleuse ein Empfangskomitee erwartet.«

»Ja, Sir.«

»Und in der Zwischenzeit werden wir hier, so gut es geht, Klarschiff machen.«

O'Dell marschierte aus der Kommandozentrale in das Gewirr der Styroporgänge mit den hellen Panzerglasscheiben links und rechts. Ein Blick hinaus auf die Ansammlung von zylinderförmigen Kapseln und Traglufthallen sagte ihm, dass es unmöglich war, die Arbeit seiner Mannschaft zu verstecken.

Er durchschritt eine Luftschleuse zu einer Kapsel, wo die Klänge von Mozarts Sinfonie immer lauter wurden. Er ging an einer Putzmannschaft vor dem Labor vorbei, in dem sich der Benben-Stein befand. Die Doppeltür mit der Aufschrift nur für personal war hinter einem Tarnfenster verschwunden, das praktischerweise auch noch beschlagen war. Er konnte nur hoffen, dass die Russen nicht so genau hinsahen. Aber wahrscheinlich war das zu viel verlangt. Genau wie seine Hoffnung, dass sie auf wundersame Weise die Dosimeter übersehen würden, die sich auf verschiedenen Schalttafeln befanden und die Strahlung des Atomreaktors auf der Basis maßen. Allein das würde ausreichen, um seiner Karriere ein für alle Mal ein Ende zu setzen, wurde O'Dell klar. Yeats würde ihn umbringen.

Zwei unbewaffnete Militärpolizisten der Navy warteten an der Luftschleuse auf ihn. O'Dell gab ihnen mit dem Kopf ein Zeichen, worauf sich die schwere Innentür langsam öffnete. Die eisige Luft raubte ihm den Atem. Zwei Männer – der eine korpulent und gedrungen, der andere groß und dünn – stapften herein. Der kleinere nahm die Kapuze ab, und O'Dell blickte auf das hässlichste rotgeschwollene Gesicht, das er jemals gesehen hatte.

»Ich bin Oberst Iwan Kowitsch«, sagte er triumphierend. Sein Englisch wies einen starken russischen Akzent auf. »Ich würde sagen, Sie befinden sich in großen Schwierigkeiten. Sehr großen Schwierigkeiten.«

Noch bevor O'Dell antworten konnte, dass die Eisstation Orion lediglich eine harmlose Forschungsstation sei, bekam Kowitsch einen heftigen Hustenanfall. Der schlaksige Begleiter klopfte seinem Vorgesetzten auf den Rücken, bis dieser ihn wegwinkte.

»Lies vor, Wlad«, befahl ihm Kowitsch und stellte ihn beiläufig vor: »Das ist Wladimir Lenin, Ururenkel von dem großen Lenin.«

O'Dell schaute interessiert zu, wie der junge Offizier einen verknüllten Zettel aus seinem Parka zog und ihn dann glatt strich. Offensichtlich war dieser Herr Lenin in den Rängen nicht ganz so weit aufgestiegen wie sein Vorfahre. In gebrochenem Englisch sagte er: »Sie haben verletzt Artikel eins internationalen Antarktisvertrag. Militär verboten. Vertrag gibt Recht für uns, Basis zu inspizieren.«

Der junge Lenin blickte zu Kowitsch. Als dieser nickte, steckte er das Papier wieder weg.

Kowitsch wandte sich an O'Dell. »Fragen?«

»Wie viele von euch kommen noch?«

»Genau so viele Russen wie ihr Amerikaner auf der Basis seid, einschließlich derer, die sich unten in der Schlucht befinden«, sagte Kowitsch.

»Was ist mit Oberst Zawas und seiner Mannschaft?«

»Ich hatte gehofft, Sie können uns das sagen. Wir haben nämlich nichts mehr von seiner Einsatzmannschaft gehört. Sie scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.«

15 Abstieg, 5. Stunde

In der Kammer war es mucksmäuschenstill. Yeats sah Conrad an und merkte an dessen Gesichtsausdruck, dass mit den Berechnungen etwas ganz schrecklich schief gelaufen war. Der Nonne war das wohl auch nicht entgangen.

»Besteht die Möglichkeit, dass du …«

»Irrtum ausgeschlossen«, sagte Conrad. »Der Südschacht, von dem wir wissen, dass er vor mindestens 12.000 Jahren errichtet wurde, ist so gebaut, dass er sich auf Sirius richtet, so wie der Stern exakt heute am Firmament steht. Entsprechend zeigt der Nordschacht auf Al Nitak, den mittleren Stern im Orion-Gürtel.«

Das konnte noch nicht alles sein, so viel war Yeats klar, aber Conrad schwieg, und Yeats wusste warum. Auch Serena beobachtete Conrad eingehend.

»Selbst wenn du mit den astronomischen Zuordnungen Recht hast, warum findet das Ganze ausgerechnet jetzt statt?«, wollte sie wissen. »Glaubst du, dass die P4 was mit den jüngsten Erdbeben zu tun hat?«

Zu Yeats' Erleichterung gab Conrad keine Antwort darauf.

»Wir sollten die Eisstation Orion verständigen, bevor wir weitermachen.« Yeats nahm sein Funkgerät und stellte die Frequenz ein. »Eisstation Orion, hier ist Team Phönix.«

Keine Antwort. Nur ein Zischen und Knacken.

»Eisstation Orion«, sagte Yeats noch einmal. »Versteht ihr mich?«

Wieder keine Antwort.

»Mist. Die Mauern stören wahrscheinlich.«

»Die Sonde hat vor dem Aufprall noch gesendet. Da haben die Mauern auch nicht gestört«, wandte Serena ein. »Vielleicht ist eure Basis ja verschwunden. Vielleicht hat der Schneesturm sie begraben.«

»Also wirklich, Schwester Serghetti«, sagte Yeats entrüstet.

»Doktor Serghetti«, verbesserte sie ihn.

»Hören Sie mal zu, Doktor Serghetti. Es handelt sich hier um einen Funkausfall, wahrscheinlich wegen des Polarsturms. Das ist alles. Bei dem Wetter warten wir lieber hier ab. In der Zwischenzeit machen wir ganz normal weiter. Lopez, Marcus, Kreigel!«

Die drei Offiziere meldeten sich. »Ja, Sir!«

»Errichtet in der Kammer einen Kommando- und Versorgungsposten. Das Habitat ist womöglich nicht stabil genug. Bringt alles Notwendige hier runter.« Yeats legte Conrad die Hand auf die Schulter. »In der Basis hast du von vier Schächten in der Pyramide gesprochen.«

»Ja, vermutlich sind die anderen beiden, wenn es sie überhaupt gibt, in einer tiefer gelegenen Kammer. Wenn wir sicher sein wollen, sollten wir uns auf die Suche machen.«

»Sicher worüber?«, fragte Serena.

»Das weiß ich erst, wenn wir da sind«, sagte Conrad knapp.

»Und wie sollen wir da hinkommen?«

»Durch die Tür.«

»Welche Tür?«, fragte Yeats.

»Die da.«

Yeats beobachtete, wie Conrad sich dem Schacht, aus dem sie gekommen waren, zuwandte und dann die Wand rechts davon mit seiner Taschenlampe ableuchtete. Zu Yeats' großem Erstaunen befand sich in der Ecke ein offener Durchgang.

»Der war vorher nicht da«, sagte Serena mit heiserer Stimme.

»Doch«, erwiderte Conrad. »Er war die ganze Zeit da.«

Wieder einmal musste Yeats Conrads' Gefühl für Raum und Maß anerkennen. Es würde ihn nicht wundern, wenn Conrad schon einen Plan vom Inneren der Pyramide im Kopf hatte.

»Und ich sage dir, er war noch nicht da«, beharrte Serena.

»Und ich behaupte, dass du ihn übersehen hast«, sagte Conrad. »Beruhige dich, okay?«

»Na schön.« Sie machte einen Schritt auf den Durchgang zu. »Worauf warten wir dann noch?«

Yeats hielt sie am Arm zurück. »Sie warten hier, während Conrad und ich die beiden anderen Schächte suchen.«

In Serenas Augen sah Yeats Wut aufblitzen. Sie hatte offensichtlich ein Problem damit, Befehle erteilt zu kriegen. Kein Wunder, dass sie den Vatikan ständig nervte. Sie drückte gegen seinen Arm auf den Durchgang zu, aber Conrad hielt sie an der Schulter fest und zog sie zurück.

»Nur mit der Ruhe, Serena. Sobald wir die anderen Schächte gefunden haben, holen wir dich.«

Das werden wir ja sehen, dachte Yeats. Er sagte jedoch: »Natürlich holen wir Sie. Sobald wir was finden.«

»Versprochen«, fügte Conrad mit ernster Miene hinzu.

Yeats passte das gar nicht. Conrad hatte einfach nicht das Recht, irgendwelche Versprechungen zu machen.

Yeats konnte aus Serenas Gesichtsausdruck ganz klar schließen, dass sie Conrad keine Sekunde lang glaubte. »Also gut«, sagte sie, »dann geht mal los.«

Yeats gab Marcus und Kreigel mit dem Kopf ein Zeichen, worauf sich die beiden am Durchgang postierten. Yeats folgte Conrad aus der Kammer in den niedrigen viereckigen Tunnel, der weiter nach unten führte.

***

Während sie im Dunkeln weitergingen, ärgerte sich Yeats über seine Fehlentscheidung, Mutter Erde im Team mitmachen zu lassen. Nicht, weil etwas mit ihr nicht stimmte, sondern weil in ihrer Gegenwart offensichtlich mit Conrad was nicht stimmte.

Etwas Abstand, so hoffte Yeats, würde den Kopf des Jungen wieder klar machen.

Diese Strategie machte sich schon ein paar Minuten später bezahlt, als sie eine feste, waagerechte Plattform erreichten. Sie sah wie ein Altar aus. Conrad blieb stehen.

»Was ist das?«, wollte Yeats wissen.

»Die Plattform befindet sich genau auf der Ost-West-Achse der Pyramide«, erklärte Conrad. »Sie markiert den Übergangspunkt zwischen der Nord- und der Südhälfte des Gebäudes.«

»Und?« Yeats wollte gerade noch einen Schritt nach vorn machen, aber da packte Conrad ihn am Arm. Der Griff war stärker, als Yeats vermutet hätte.

»Sieh mal.« Conrad richtete seine Taschenlampe in die Dunkelheit und erleuchtete einen riesigen Tunnel, der in die Erdmitte hinabführte. In der Mitte des glänzenden Bodens war eine etwa zwölf Meter breite und sechs Meter tiefe Wasserrinne eingelassen. Sie spiegelte die Konstruktion der gewölbten Decke, die am höchsten Punkt hundert Meter hoch war. »Mein Gott!« Yeats trat von der Kante zurück. »Du kennst dich hier verdammt gut aus, Junge. Bist du dir sicher, dass du nicht schon mal hier warst?«

»Nur in meinen Träumen.«

»Sieht mir eher wie ein Albtraum aus«, sagte Yeats, als er über die Kante schielte. »Wo führt das hin?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.« Conrad löste das Seil von seinem Rucksack. »Die Neigung beträgt ungefähr 26 Grad, und der Untergrund ist sehr glitschig. Wir müssen uns anseilen. Bleib dicht an der Mauer, damit du nicht in den Kanal rutschst.«

Nach ungefähr dreihundert Metern Abstieg verlor Yeats jegliches Orientierungsvermögen. Solch ein Schwindelgefühl beschlich ihn manchmal auch in der Eisstation Orion. Er wusste dann nicht mehr, was oben oder unten war, ob es abwärts oder hinaufging. Yeats rieb sich die Augen, die vom kalten, salzigen Schweiß schmerzten, und ging weiter den großen Gang hinab.

»Du hast Serena doch nicht nur als Beobachterin mitgenommen, oder etwa doch?«, sagte Conrad auf einmal.

Yeats spürte, dass Conrad die Nonne vermisste. Du meine Güte, dachte er, wir haben sie doch gerade erst zurückgelassen. »Um Gottes willen, nein!«, sagte Yeats. »Ich will herauskriegen, was sie alles weiß. Was auf jeden Fall mehr sein dürfte, als sie zugibt.«

»Warum bist du so misstrauisch?«

»Das gehört zu meinem Job.«

»Irgendwie finde ich, dass Serena nicht allein bleiben sollte.«

»Drei gute Offiziere bewachen sie.«

»Ich finde, wir hätten sie mitnehmen können.«

»Auf keinen Fall. Und jetzt kannst du mir auch verraten, was du in Gegenwart der guten Schwester nicht sagen konntest. Zum Beispiel das, was du wirklich denkst.«

Conrad lockerte den Griff ums Seil, und Yeats stellte fest, dass jetzt die Schwerkraft Conrad weiter in den Tunnel gleiten ließ. Yeats folgte unmittelbar hinter ihm.

»Wahrscheinlich ist da gar nichts dahinter«, sagte Conrad. »Reiner Zufall.«

»So was gibt's hier nicht«, antwortete Yeats. »Also, schieß los.«

»Schau dich mal um.« Conrad deutete mit der Hand in den gewaltigen schimmernden Gang. »Hier und in der ganzen Pyramide gibt es keinerlei Inschriften, keine religiösen Zeichen oder sonstige Symbole.«

»Und?«

»Das heißt, dass es sich nicht um eine Grabstätte handelt. Sie ist noch nicht mal ein Rätsel für Eingeweihte, das man auf irgendeine Weise zu lösen hat, wie ich das vorhin angedeutet habe.«

»Was zum Teufel ist es dann?«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, als wären wir in einer großen Maschine.«

Yeats verspürte tief in den Eingeweiden einen verstörenden Ruck. Die Neuigkeit kam wie eine Prophezeiung, einerseits halbwegs erwartet, andererseits beunruhigend. »Maschine?«

»Eine Maschine, die einem ganz bestimmten Zweck dienen soll.«

Ein bedrückendes Gefühl lag in der Luft. Yeats räusperte sich. »Welchem denn?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht hat die Erbauer eine Katastrophe eingeholt, bevor sie die Maschine starten konnten.«

»Gut möglich.«

»Vielleicht hat diese Maschine das Unheil aber auch erst herbeigeführt.«

Yeats nickte bedächtig mit dem Kopf, während er das Gesagte auf sich wirken ließ. Er hatte es irgendwie schon die ganze Zeit gespürt. Er wollte Conrad mehr darüber erzählen. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick dazu. Conrad würde es hoffentlich auch allein herausfinden.

***

Als sie den großen Gang hinunterstiegen, bereute Conrad es immer mehr, Serena in der oberen Kammer zurückgelassen zu haben. Nicht nur weil er wollte, dass sie sich selbst ein Bild davon machte, wie Recht er mit der P4 hatte. Ihre Augen hatten ihm gezeigt, wie ausgeschlossen sie sich fühlte. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut und hatte nun ein schlechtes Gewissen, dass er Yeats gegenüber nicht zu ihr gehalten hatte. Aber er wollte auch nicht seine Chance verspielen, als Erster die unteren Teile zu erforschen und die Führung zum größten archäologischen Fund der Menschheitsgeschichte zu übernehmen.

Als sie das Ende des Gangs erreichten, begann Conrads geistiges Bild vom Inneren der Pyramide jedoch etwas zu wanken. Er stand vor einer Gabelung, von der zwei kleinere Tunnel abzweigten. Es hätten drei sein sollen.

Hinter sich hörte er Yeats schwer atmen. »Und?«, fragte Yeats ungeduldig. »Wo lang jetzt?«

Conrad sah sich die beiden ›kleineren‹ Tunnel genau an. Beide waren mehr als zehn Meter hoch. Der eine führte die Neigung von 26 Grad fort. Der andere fiel um 90 Grad in einen senkrechten Schacht ab. Beides gefiel ihm nicht.

Instinktiv drehte sich Conrad um und suchte nach einem dritten Tunnel, der unter dem Gang zurückführen musste. Er fand nichts.

»Was machst du da?«, fragte Yeats.

Conrad klopfte die kalte Mauer ab und schwieg. Er war sich sicher, dass die zentrale Kammer, die er suchte, auf dieser Ebene war. Und wenn die Cheopspyramide in Gise wirklich eine Nachbildung der P4 war, dann müsste der Korridor, der in die Hauptkammer führte, dort am Ende des großen Gangs sein.

War er aber nicht.

Vielleicht war es voreilig anzunehmen, dass die alten Ägypter ihr Wissen unmittelbar von den Atlantis-Bewohnern hatten. Selbst wenn seine Ausgangshypothese richtig war, bedeutete das noch lange nicht, dass die Ägypter die Kenntnisse oder die Mittel hatten, eine genaue Kopie der P4 zu erstellen.

»Die Kammer muss auf dieser Ebene sein«, sagte er. »Aber wir kommen nur von unten her rein.«

»In Ordnung«, sagte Yeats. »Welchen Tunnel nehmen wir also?«

»Theoretisch müssten beide Gänge zur Grabkammer führen«, sagte Conrad zögernd.

»Solange das nicht unsere Grabkammern sind, ist mir alles recht.«

»Du verstehst das nicht. Die Grabkammer in der Pyramide dient als eine Art kosmisches Ankleidezimmer, wo der König tanzen und die Vollendung seines Lebens feiern kann. Oben auf der Pyramide ist der Phönix- oder Benben-Stein, der die Wiedergeburt symbolisiert. Zu dem Ganzen gehört auch eine Himmelfahrt.«

»Verstehe«, sagte Yeats. »Und irgendwo dazwischen wird dieser Hokuspokus veranstaltet.«

»In der Hauptkammer. Aller Wahrscheinlichkeit nach finden wir dort Texte oder irgendwelche Vorrichtungen, die die Bedeutung der P4 entschlüsseln.« Conrad sah sich weiter um. »Da der Zugang nicht hier ist, gibt es vermutlich in der Grabkammer einen Anhaltspunkt.«

»Welcher Tunnel führt denn nun zu der Grabkammer?«

Yeats sah grübelnd vor sich hin. In Wirklichkeit musste er sich immer noch daran gewöhnen, die Pyramide von oben her zu erkunden, wo er doch sonst alles im Leben immer von unten nach oben angegangen war.

Conrad blickte den ersten Tunnel hinab. Am naheliegendsten wäre es, weiter der Neigung des Gangs, durch den sie gekommen waren, zu folgen. Er vermutete aber, dass dieser Tunnel zum Haupteingang der P4 führte. Wahrscheinlich war er irgendwo versperrt, um zu verhindern, dass jemand direkt von außen in die P4 hereinkam.

»Entscheide dich endlich, mein Junge.«

»Die zweite Tür. Wir nehmen den senkrechten Schacht.«

»Okay.« Yeats beugte sich über den Schacht und ließ ein Seil hinab.

***

Eine halbe Stunde später tauchte Conrad am unteren Ende des senkrecht verlaufenden Schachts auf und ließ sich daraufhin in einen tiefer gelegenen Nord-Süd-Korridor ab. Dieser war ebenfalls mehr als zehn Meter hoch. Yeats war gerade hinter ihm aufgekommen, da fing Conrads Uhr zu piepen an.

»Hast du vielleicht eine Verabredung?«, fragte Yeats ironisch.

»Wir sind jetzt ganz unten in der P4.« Conrad zog den Handschuh zurück und blickte auf das elektronisch beleuchtete blaue Zifferblatt seiner Multisensoren-Uhr. Zusätzlich zu einem eingebauten Digitalkompass, einem Barometer, einem Thermometer und einem GPS-System besaß sie auch einen Höhenmesser. »Wir sind schon fast eineinviertel Meilen abgestiegen. Ich habe die Uhr auf die Zielhöhe gestellt.«

Yeats zog seinen eigenen Höhenmesser hervor. »Deine Uhr weicht über eine Viertelmeile ab. Wir sind kaum eine Meile tiefer.«

Conrad blickte skeptisch auf seinen Höhenmesser. Sein Vater ließ ihm nichts durchgehen. Keinen Zentimeter. Schon gar nicht eine Viertelmeile. Was Yeats betraf, konnte das hier genauso gut die Landung des ersten Menschen auf dem Mars sein, wurde sich Conrad bewusst, und die NASA verzieh nun einmal nicht den geringsten Fehler. Conrad überlegte und kam zu dem Schluss, dass Yeats Recht hatte. Die P4 war eindeutig wichtiger für die Menschheit als der Mars. Auf jeden Fall aber näher. Eindeutig.

»Also, wo lang jetzt«, drängte ihn Yeats. »Nach Norden oder nach Süden?«

Conrad löste sich vom Seil und wandte sich instinktiv nach Norden. »Da entlang.«

Vierhundert Meter weiter nördlich neigte sich der Untergrund plötzlich, und die Raumhöhe verdoppelte sich. Fünfzig Meter vor ihnen war der Eingang, den Conrad suchte. Er spürte, wie ihm die Erregung zu Kopf stieg.

»Das ist er«, sagte er.

Sie betraten einen deutlich größeren Raum. Der Strahl ihrer Stirnlampen löste sich im Nichts auf, und der Boden unter ihnen fiel leicht ab. Fröstelnd nahm Conrad wahr, dass dieser Hohlraum um einiges größer war als die obere Kammer, in der sie sich befunden hatten, bevor sie den großen Gang hinabgestiegen waren. Dennoch fühlte sich die Leere außerhalb der Reichweite ihrer Lampen irgendwie erdrückend an. Sie bewegten sich auf absolutem Neuland. Er spürte die Spannung im Bauch.

»Ich werfe jetzt eine Leuchtbombe – in dreißig Sekunden geht sie los«, sagte Yeats. »Drei, zwei, eins.«

Conrad hörte, wie Yeats den Stab in die Dunkelheit warf. Er zählte leise mit, während er seine Digitalkamera herauszog, um im Bild festzuhalten, was sie gleich sehen würden. Ein paar Sekunden später war die ganze Kammer in Licht getaucht.

Conrad schirmte seine Augen ab und schwenkte die Kamera auf etwas, das flüchtig betrachtet einem Steinkrater glich. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er, dass sie sich tatsächlich am Rand eines etwa 70 Meter tiefen Kraters befanden, dessen Durchmesser fast eine Meile maß.

Die Flamme zischte und ging aus. Conrad und Yeats waren wieder in völliger Finsternis.

»Zeig mal, was du aufgenommen hast.«

»Sofort.«

Conrad spielte die Bildfolge auf dem flachen Display der Kamera ab. Im Dunkeln leuchteten die Bilder hell auf.

»Stopp«, sagte Yeats.

Conrad schaltete auf Standbild. Irgendetwas war da mitten im Krater zu sehen. Ein Kreis oder ein Rad.

»Kannst du es heranzoomen?«

»Etwas schon.«

Conrad zitterten die Hände vor Aufregung, während er das Bild vergrößerte, bis es das Display ganz ausfüllte. Es war immer noch zu unscharf, um etwas klar erkennen zu können.

»Gehen wir weiter«, sagte er.

Conrad und Yeats gingen gemeinsam auf die Mitte zu. Sie mussten aufpassen, dass sie auf dem schrägen Boden nicht das Gleichgewicht verloren. Conrad spürte sein Herz heftig schlagen. Eine derartige Kammer hatte er weder bei den Ägyptern noch bei den Aimaras erforscht. Er kannte nichts, was der hiesigen Dimension annähernd glich.

Nach einer halben Meile befahl Yeats, stehen zu bleiben.

Conrad richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden. Zehn Meter vor ihnen konnte er etwas erkennen. Auf einer ovalen Kartusche, die mitten in den glänzenden Steinboden eingelassen war, leuchteten vier Ringe wie prachtvolle Siegel.

Yeats pfiff leise. »Da haben wir ja endlich die Inschriften für Mutter Erde.«

»Nicht unbedingt.« Conrad atmete schwer. Ein Teil in ihm wollte zurücklaufen und sie holen. Ein anderer Teil weigerte sich zuzugeben, dass er das nicht allein entziffern konnte. »Eine Ikone oder ein Symbol.«

»Dann kannst du also auch sagen, was das bedeutet?«

»Dafür krieg ich ja die dicke Kohle.«

Conrad ging in die Raummitte. In der ovalen Kartusche war eine Hieroglyphe eingeritzt, die er schon einmal gesehen hatte. Sie stellte einen Gott oder König dar, der in einer Art mechanischer Vorrichtung saß. Er sah wie ein bärtiger Weißhäutiger aus und trug eine kunstvolle Verzierung auf dem Kopf, eine Atef-Krone. Und er hielt so etwas Ähnliches wie ein Zepter in der Hand. Es sah wie ein kleiner Obelisk aus.

»Diese Figur kommt mir irgendwie bekannt vor«, hörte Conrad sich sagen. »Aber ich komm nicht drauf.«

Conrad betrachtete weiterhin die Kartusche. Das eingravierte Bild glich den symbolischen Darstellungen der Götter Huiracocha in den Anden und Quetzalcoatl in Zentralamerika. Aber dieses fremdartige Symbol erweckte in ihm etwas Urzeitliches, Angsteinflößendes. Plötzlich wusste er auch, warum.

»Diese Pyramide ist Osiris geweiht.« Conrads Stimme zitterte.

»Na und?«, sagte Yeats. »Die meisten Pyramiden sind doch einem Gott gewidmet.«

»Du begreifst nicht«, sagte Conrad aufgeregt. »Dieses Siegel deutet darauf hin, dass die P4 vom König der Ewigkeit, dem Herrn der Urzeit beziehungsweise dem Schöpfer der Welt gebaut wurde.«

»Urzeit?«

»Ja, die Zeit der Entstehung der Welt, von der ich dir in der Eisstation Orion erzählt habe, also die Zeit, als die Menschheit aus der Ur-Finsternis entstand und von den Göttern die Gaben der Zivilisation erhielt. Alte ägyptische Texte sagen, dass diese Gaben und Techniken durch ›Vermittler‹ eingeführt wurden. Das waren weniger bedeutende Gottheiten, Urshu genannt, das heißt ›Wächter‹.«

Yeats dachte nach. »Du glaubst also, dass diese Urshu die Bewohner von Atlantis waren und die P4 erbaut haben?«

»Schon möglich«, sagte Conrad. »Serena wird da sicherlich ihre eigenen Schlüsse ziehen. Aber wir haben hier zweifelsohne den Ursprung der Welt gefunden.« Triumph lag in seiner Stimme. »Die menschliche Urkultur.«

»Die Urzeit.«

»Die Urzeit«, wiederholte Conrad und sprach die Worte in seinem besten Altägyptisch: »Zep Tepi.«

Kaum waren die Wörter aus seinem Mund gekommen, wirbelten sie mit zentrifugaler Kraft aus der Mitte des Kraterbodens durch die Kammer. Der Untergrund bebte.

Plötzlich sprang die Kartusche auf. Conrad wich stolpernd zurück, weil aus dem Boden ein Feuerstrahl nach oben in einen runden Deckenschacht schoss.

»Puh!«, rief er, stolperte und fiel auf den Hintern. Er rutschte auf das Feuerloch zu.

Yeats griff ihn am Arm und hielt ihn fest. »Immer mit der Ruhe.«

Auf einmal verschwand das Feuer wieder, und das Beben hörte auf. Ein kraterförmiger Schacht blieb an der Stelle zurück, wo die Kartusche aufgesprungen war.

Yeats zog Conrad auf die Beine. »Wo um alles in der Welt führt der jetzt hin?«

Conrad beugte sich über das Feuerloch und blickte hinein. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er den Blick auf einen glühenden Gang werfen, der in das Erdinnere zu führen schien. Aber die Restwärme des Feuerschwalls brannte auf seiner Stirn, und er zog den Kopf schnell wieder zurück.

Conrad berührte behutsam die Stirn, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich noch da war. »So wie das aussah, kann es sich nur um die Hölle handeln.«

16 Abstieg, 6. Stunde

Es war der Wodka.

Es musste am Wodka liegen, fluchte Oberst Iwan Kowitsch, als er das erste Mal die Pyramide in der Eisschlucht erblickte. Entweder das oder die Amerikaner oben auf der Eisstation hatten ein Halluzinogen in sein Getränk geschüttet.

Auf jeden Fall war es Teil einer amerikanischen Verschwörung, um die Russen irre zu machen. Es hatte schon mit der imperialistisch-kapitalistischen Finanzierung der russischen Revolution von 1917 begonnen. Mit der Einsetzung Stalins und der Errichtung der Gulags war diese Verschwörung erst richtig in Fahrt gekommen. Und dann das Abschlachten von 20 Millionen im Zweiten Weltkrieg. Sie fand ihren Höhepunkt in der erniedrigenden Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 und dem Bau goldener amerikanischer Hamburger-Tempel in Moskau.

Jetzt, wo die Vereinigten Staaten die unbestrittene Supermacht auf der Welt waren, war Kowitsch davon überzeugt, dass die Amerikaner die Russen nur noch zu ihrem grausamen Vergnügen am Leben erhielten, nämlich um ihnen mit Big Macs Nährstoffe vorzuenthalten und ihre Seelen mit TV-Shows wie Baywatch auszuhungern.

Aus dieser Hölle war Kowitsch in die karge, unverfälschte Schönheit der Antarktis geflüchtet, nur um in der Gestalt der Eisstation Orion auf eine wahre Luxusherberge im Schnee zu stoßen. Mit Computern auf dem neuesten Stand der Technik, Nobelschlafquartieren, Toiletten mit Spülung und einem Arsenal an Lebensmittelvorräten; fehlten eigentlich nur noch der Swimmingpool samt Wellnessbereich.

Der Pförtner des Hotels Orion, Colonel O'Dell, war während der Inspektion einigermaßen zuvorkommend gewesen. Aber der Amerikaner war dann doch noch ziemlich nervös geworden, als die russischen Messgeräte radioaktive Strahlung aufspürten und Kowitsch daraufhin vorschlug, den gähnenden Abgrund im Eis neben der Basis zu inspizieren.

Kowitsch war der festen Überzeugung, dass er drauf und dran war, eine Atomtestanlage dieser Schurken zu entdecken. Allein schon deswegen, weil Russland selbst am anderen Ende des Planeten, in der Arktis, eine solche besaß.

Erst als sie unten in der Schlucht angekommen waren und die Spitze der Pyramide sahen, erkannte Kowitsch, dass die Amerikaner mit ihm und seinen 20 russischen Kameraden hatten Schlitten fahren wollen. Wie würde er jemals den Schrecken in den Gesichtern seiner Leute vergessen können, als diese hunderte von Menschen in den Eiswänden dieses Grabes erblickten?

Wahrlich, ihr Offizier hatte sie in die Hölle geführt!

Das leuchtend weiße Äußere der Pyramide wurde nicht einmal aus der Nähe von ihrem Ultraschall erfasst. Es war eindeutig: Die Amerikaner hatten ein streng geheimes unzerstörbares Tarnmaterial entwickelt, das ihre Flotte und ihre Luftwaffe unsichtbar und unbesiegbar machte.

Und als ob es damit nicht genug war, spulte sich in Kowitschs Kopf immer wieder die gleiche Botschaft ab. »Warte, das ist noch nicht alles!«, wiederholte die Stimme wie ein schrecklicher amerikanischer Werbespot. »Noch nicht alles, noch nicht alles!« Als besonderen ›Höllen-Bonus‹ hatten die Amerikaner so etwas wie ein Freizeitmobil auf der Pyramidenspitze geparkt. Und dann war da noch ein Loch, das sie zum Weitergehen lockte.

Hier in diesem ›Habitat‹ hatte Kowitsch sich von den beiden amerikanischen Begleitern und von fünf seiner Leute getrennt. Er war mit der übrigen Mannschaft in den zwei Meter hohen Schacht vorgedrungen. Erst nach einer guten halben Stunde erreichten sie das andere Ende.

Sie gelangten in etwas, das einem massiven Backofen aus Stein glich, der etwa die Größe eines Olympiastadions besaß. Und in dieser Kammer befanden sich vier amerikanische Soldaten – zwei Männer und zwei Frauen –, die wortlos ihre Waffen abgaben.

Irgendwie schien es aus diesem Grab keinen Weg hinaus zu geben. Als schließlich die Versuche scheiterten, Wlad und den Rest der Mannschaft oben in der Eisstation Orion per Funk zu erreichen, schwante Kowitsch bereits das Schlimmste.

Er war an der Nase herumgeführt worden, stellte er fest. Das hier war eine Falle. Sie waren in das Massengrab gelockt worden und sollten da sterben. Bis es so weit war, würden die Amerikaner ihren langsamen Abstieg in den Wahnsinn mit versteckten Kameras filmen, um das Video dann neuen Rekruten als Anschauungsmaterial vorzuführen.

Schließlich fand einer seiner Leute doch noch einen Durchgang.

Kowitsch ließ ein paar Soldaten zurück, die die Amerikaner bewachen sollten, und ging mit den anderen dann den niedrigen viereckigen Tunnel hinab, bis sie zu einer Plattform kamen, von der aus man einen riesigen Gang sah, der ein Tunnel der Moskauer U-Bahn hätte sein können. Er war mindestens einhundert Meter hoch, schätzte er. In Boden und Decke und die glänzenden Mauern waren zwölf Meter breite und sechs Meter tiefe Rinnen eingelassen.

»Sehen Sie mal, Oberst!«, rief ein Soldat und deutete in den Abgrund. »Da geht's weiter!«

Kowitsch blickte über den Rand und konnte seinen Augen nicht trauen. In einem der Kanäle sah er zwei Seile, die ihn geradezu aufforderten, weiter hinabzusteigen.

In seinem aufgewühlten Inneren stieg eine Ahnung hoch, die durch die umherwirbelnden Bilder von Fastfood, Bikinis, Ginsu-Messern und Selbstverwirklichungsseminaren drang. Diese Ahnung teilte ihm unmissverständlich mit, dass er und seine Leute hier ihr Leben lassen würden; dass sie es nie wieder zurück zur Oberfläche schafften.

Mit fröstelnder Klarheit fällte Kowitsch die letzte strategische Entscheidung seines Lebens: Wenn sie aus diesem Grab nicht mehr herauskamen, dann sollten es die Amerikaner auch nicht mehr können.

17 Abstieg, 7. Stunde

Im unterirdischen Höllenkessel der P4 hielt Conrad gerade eine kalte Feldflasche an seine verbrühte Stirn, als aus dem Schacht ein mattes Glühen über den Kraterboden kroch. Die Brandwunde schmerzte zwar weiterhin, aber dennoch nahm er die Flasche weg. Einzelne Haare der versengten Augenbraue hafteten am Kondenswasser.

»Die Situation heizt sich ganz schön auf«, bemerkte Yeats. »Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen, bevor wir von einem weiteren Feuerausbruch verbrutzelt werden. Mit den Frostbeulen an der Hand und den Verbrennungen im Gesicht hast du schon genug Schläge einstecken müssen.«

»Wir sollten wenigstens noch die Temperatur messen. Du hast doch einen Hitzesensor dabei, oder?«

Yeats zog einen kleinen Ball aus dem Rucksack. »Die Hülle ist aus demselben Material, das die NASA für die Außenverkleidung des Spaceshuttles verwendet«, sagte Yeats. »Achtung!«

Er warf den Ball in den Schacht. Kurz darauf erschienen die Zahlen auf seinem Handcomputer. Conrad sah sie sich an.

»Der hitzebeständige Sensor ist nach vier Meilen verglüht. Davor hat er eine Temperatur von gut 5.000 Grad Celsius gemessen.«

»Allmächtiger! Genauso heiß wie die Sonnenoberfläche.«

»Oder wie der flüssige Erdkern«, sagte Conrad. »Ich glaube, das hier ist ein geothermischer Spalt.«

»Ein geothermischer Spalt?« Yeats kniff die Augen zusammen. »So was wie die Dinger im Meer?«

Conrad nickte. »Einer meiner Professoren von früher hat eine solche heiße Stelle mal in Ecuador entdeckt, ungefähr fünfhundert Meilen vor der Küste in einer Tiefe von dreihundert Metern. Auf dem Meeresboden gibt es kaum Leben, weil es dunkel ist und die Temperatur um den Gefrierpunkt liegt. Aber dort, wo sich Risse in der Erdkruste befinden, entweicht die Hitze aus dem Erdkern und wärmt das Wasser. Deshalb können bestimmte Arten von Meerestieren – Felskrabben, Muscheln, aber auch bis zu drei Meter lange Würmer – dort überleben.«

Conrad sah sich um. Bei dieser geothermischen Kammer musste es sich um so etwas Ähnliches handeln. Blieb nur noch die Frage, ob die Erbauer von Atlantis die P4 über einem bereits existierenden Riss in der Erdkruste errichtet hatten, um die Wärme auszunutzen, oder ob sie über eine derart fortgeschrittene Technik verfügten, dass sie den Erdkern anzapfen konnten und dadurch quasi einen unbegrenzten Energievorrat hatten.

»So wie Platon das schildert, wurde Atlantis durch einen gewaltigen Vulkanausbruch zerstört«, sagte Yeats. »Vielleicht war das hier die Ursache.«

»Vielleicht ist es aber auch die legendäre Energiequelle von Atlantis«, meinte Conrad. »Die Bewohner von Atlantis nutzten angeblich die Kraft der Sonne. Die meisten Wissenschaftler nahmen daher automatisch an, dass damit die Sonnenenergie gemeint war. Aber diese geothermischen Risse zapfen den Erdkern an – der so heiß ist wie die Oberfläche der Sonne. Bei der Energiequelle von Atlantis könnte es sich also auch im übertragenen Sinn um die Kraft der Sonne handeln.«

»Schon möglich«, meinte Yeats.

Conrad merkte, dass Yeats an etwas anderes dachte, etwas, das mit dem archäologischen und technologischen Wert der P4 wahrscheinlich nichts zu tun hatte. »Hast du eine andere Theorie?«

Yeats nickte. »Eigentlich sagst du, dass die P4 im Wesentlichen eine riesige geothermische Maschine ist, die Wärme aus dem Erdkern ableiten kann, um das Eis der Antarktis zu schmelzen.«

Conrad wurde plötzlich ganz still. Er hatte diese katastrophale Konsequenz noch nicht bedacht. Für ihn waren solche Gedanken die Domäne von Unheil verkündenden Umweltaktivisten wie Serena. Er dachte wieder an die Leichen im Eis über der P4 und an Hapgoods Theorie der Erdkrustenverschiebung. Langsam stieg Angst in ihm hoch. Er hatte die Möglichkeit nicht bedacht, dass ein Naturereignis in der Größenordnung einer weltweiten Oberflächenverschiebung der Erde durch gezielte Planung ausgelöst werden konnte. Das wäre das Ende einer 41.000 Jahre alten Erdgeschichte. Yeats hingegen schien diesem Szenario schon ernsthafte Gedanken gewidmet zu haben. Conrad musste zugeben, dass unter der P4 mit Sicherheit genug Wärme aufgestaut war, um so viel Eis zum Schmelzen zu bringen, dass der steigende Meeresspiegel ganze Städte an den Küsten aller Kontinente auslöschen würde.

»Ja, diese Maschine könnte die Antarktis erwärmen«, sagte Conrad langsam. »Aber zu welchem Zweck?«

»Vielleicht um den Kontinent oder den Planeten für die Menschen bewohnbarer zu machen?«, fuhr Yeats fort. »Ist aber auch egal. Wichtig ist jetzt, dass es hier irgendwo einen Kontrollraum geben muss. Und den müssen wir finden. Bevor uns jemand zuvorkommt.«

»Genau.« Conrad fragte sich, warum es ihn überraschte, dass Yeats genauso praktisch veranlagt war wie er. »Dabei müsste es sich um die Hauptkammer handeln, also die mit den zwei verdeckten Himmelsschächten.«

»Dann nichts wie raus hier«, sagte Yeats. »Machen wir uns auf die Suche, bevor das Ding hier noch mal losgeht – und zwar richtig.«

Sie stiegen wieder zu dem Gang hoch. Conrad hatte Angst, dass er soeben etwas getan hatte, was er bisher nie zugelassen hatte, nämlich die Unversehrtheit eines Fundes zu gewährleisten. Schlimmer noch: Vielleicht hatte er sogar sich und andere zerstört. Er konnte fast das Flüstern hören, das ihn seine ganze Karriere hinweg verfolgt hatte und ihn jetzt den Tunnel hochtrieb: Grabräuber … Schänder unberührter Ausgrabungen … Conrad der Zerstörer. Sie mussten jetzt unbedingt zu Serena zurückkehren und dann die geheime Kammer in der P4 finden, um sicherzustellen, dass dieses kosmische Ventil abgesperrt wurde.

Als sie die Gabelung im großen Gang erreichten, zeigte Conrad sich keineswegs erstaunt, dass jetzt drei statt zwei Tunnel vorzufinden waren.

»Sag mir jetzt bloß nicht, dass du den vorher schon gesehen hast.«

»Nein, der war eindeutig nicht da«, sagte Conrad. »Möglicherweise haben wir von der unteren Kammer aus den Durchgang geöffnet.«

Conrad blickte zur oberen Kammer hinauf und sah mehrere Gestalten, die sich nach unten abseilten.

Yeats hatte sie auch bemerkt und packte Conrad am Arm. »Zurück«, flüsterte er. »Das ist ein Befehl.«

Sie knipsten ihre Stirnlampen aus und zogen sich in den neuen Tunnel zurück, wo sie zu beiden Seiten des Eingangs in Deckung gingen. Conrad presste sich mit dem Rücken fest an die Wand und blickte zu Yeats hinüber. Das matte Glühen unten aus dem Gang tauchte die Umrisse seines Vaters in den Schatten.

»Team Phönix, melden!« Yeats sprach in sein Funkgerät, aber es kam immer noch keine Antwort. »Team Phönix, melden!« Wieder nichts. »Verdammter Mist.«

Conrad nahm sein Nachtsichtglas heraus und lugte damit um die Ecke. Zwei Gestalten landeten gerade unten im Gang. Ihre durch die Nachtsichtbrillen grünen Augen bewegten sich im Dunkeln auf und ab. Conrad wich zurück und sah seinen Vater an.

»Wer ist das?«, flüsterte er.

»Weiß nicht. Gehören aber auf keinen Fall zu meinen Leuten. Los, weiter.«

Sie machten sich durch den langen dunklen Verbindungstunnel auf den Weg. Der Korridor war zehn Meter hoch, wirkte aber nach den gewaltigen Ausmaßen des großen Gangs, in dem sie noch kurz zuvor gewesen waren, viel kleiner. Nach ungefähr 400 Metern in Richtung Süden bog der Gang scharf in einen größeren Tunnel mit einer doppelt so hohen Decke ein.

»Hier entlang.« Yeats richtete die Lampe auf den Boden.

Ungefähr 100 Meter vor ihnen musste sich entweder ein Durchgang oder das Ende des Tunnels befinden. Noch war das schwer zu sagen. Aber dann spürte Conrad einen Luftzug. Er sah nach oben und entdeckte einen Schacht in der Decke. Im Boden befand sich im selben Winkel noch ein weiterer solcher Schacht.

»Das könnte einer der beiden zusätzlichen Sternschächte zur Geheimkammer sein«, sagte Conrad. »Ich glaube, er kreuzt diesen Korridor. Ich lasse am besten mal ein Seil runter, um ganz sicher zu sein.«

»Ich gehe diesen Gang noch ein Stück weiter«, sagte Yeats. »Mal sehen, was ich da finde. Ich komme dann zurück. Vielleicht hast du bis dahin auch was rausgefunden.«

Conrad beobachtete Yeats, wie dieser verschwand. Dann ließ er das Seil den Schacht hinunter. Er schielte gerade vorsichtig über den Rand, da hörte er auf einmal ein Stiefelscharren hinter sich. Blitzartig drehte er sich um und blickte in ein Paar grüne Augen, die im Durchgang leuchteten.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

Die Gestalt mit der Nachtsichtbrille hob eine Kalaschnikow hoch. »Dein schlimmster Feind«, sagte sein Gegenüber mit starkem russischem Akzent und fingerte an seinem Funkgerät herum. »Hier spricht Leonid. Oberst Kowitsch, bitte melden. Ich habe einen Amerikaner gefangen genommen.«

»Das könnte dir so passen.« Conrad schlug Leonid die Kalaschnikow mit dem Fuß aus der Hand und hob dann schnell das abgebrochene Laservisier auf. Leonid zückte eine Pistole, aber da richtete Conrad auch schon mit dem Laser einen roten Punkt auf die Stirn des Russen. Hoffentlich merkte dieser Leonid im Dunkeln nicht, dass das Gewehr nicht mehr dran war. »Runter damit, sofort.«

Der Russe ließ die Pistole fallen, und Conrad atmete erleichtert auf.

»Gut so.«

Aus dem rechten Ärmel des Russen glitt ein Jagdmesser mit Horngriff. Es klickte, als er mit dem Daumen den Verschluss löste. Sein Arm schoss hoch, und die Klinge streifte Conrad an der Gurgel.

Als Conrad das Klicken gehört hatte, war er auch schon auf den Angriff gefasst gewesen. Er blockte den Arm ab, griff mit beiden Händen nach dem Handgelenk des Russen und drehte es, bis dieser vor Schmerz aufschrie und das Messer fallen ließ. Conrad bog den Arm des Mannes auf dessen Rücken und hielt ihn fest. Es musste scheußlich wehtun. Der Russe schrie auf, weil bereits einige Muskelfasern rissen. Conrad stieß ihn mit dem Kopf voran gegen die Wand und warf ihn dann den Schacht hinunter.

Conrad blickte ihm in der Dunkelheit hinterher, als er Schritte hörte. Er schnappte sich die Kalaschnikow, schaute hoch und sah Yeats auf sich zurennen.

»Sackgasse«, sagte Yeats. »Aber was zum Teufel ist hier passiert?«

Conrad wollte es gerade erzählen, da spürte er einen Ruck am Fußgelenk. Er sah nach unten und merkte – eine Sekunde zu spät –, dass sein Nylonseil fest um seinen Stiefel geschlungen war. Der Russe war dabei, Conrad mit in die Tiefe zu ziehen.

»Halt das fest!« Conrad warf Yeats das andere Ende des Seils zu, bevor er in den Schacht abtauchte. »Bloß nicht loslassen!«

Conrad stürzte durch die Dunkelheit und versuchte verzweifelt, das Seil an seinem Geschirr zu befestigen. Er fiel durch die verschiedenen Ebenen, ohne dass ein Ende abzusehen war. Er spannte die Muskeln an und versuchte, sich irgendwo festzuklammern.

Das um sein Bein geschlungene Seil gab nach, während sich das Seil an seinem Geschirr spannte. Schließlich landete er in einem großen Raum. Das Seil zog sich fest, und er blieb in der Luft hängen, wo er hilflos hin und her baumelte.

»Dad!«, brüllte er. »Hörst du mich?«

Zuerst kam nichts, dann war eine schwache Antwort zu hören.

Conrad fingerte eine Taschenlampe aus seiner Gürteltasche und machte sie an. Den Schock über das, was er sah, musste er erst einmal verarbeiten.

Er schwang wie ein Pendel in einer prachtvollen Kammer, die die Form einer Kuppelhalle aufwies. Seine Finger kribbelten vom Adrenalin, als er die Decke mit dem Lichtstrahl abtastete. Das Gewölbe befand sich ungefähr 70 Meter über ihm. Auf den zusammenlaufenden Wänden waren zahlreiche Sternbilder zu sehen. Das Ganze wirkte wie eine Art kosmisches Observatorium.

Er senkte den Lichtstrahl. Ein altarähnliches Gebilde mit einem etwa 60 Zentimeter großen Obelisken ragte aus der Mitte des Steinbodens. Darauf lag aufgespießt der Russe.

»Dad!«, schrie Conrad. »Ich habe die Kammer gefunden!«

18 Abstieg, 8. Stunde

Conrad löste sich vom Seil und fiel auf den Boden der Halle. Er sah zu dem in Stein gehauenen Sternenhimmel auf, der sich über die Kuppel erstreckte. Er konnte keinen anderen Eingang in die Kammer entdecken. Es gab nur den Schacht über ihm. Es war ein unberührter Fund, sein Fund. Er war der erste Mensch, der seit mehr als 12.000 Jahren einen Fuß in diese Kammer setzte. Wenn er sich nicht irrte, war er der erste Mensch überhaupt, der das tat.

Außer natürlich dem Russen, der auf den Obelisken gespießt mitten im Raum lag. Conrad brauchte all seine Kraft, um die Leiche vom Obelisken zu hieven und aus dem Weg zu räumen. Conrad wischte sich das Blut von den Händen und ging langsam um den Altar mit dem Obelisken herum. Er wollte die Zeit nutzen, bis Yeats seinen Weg in die Kammer fand. In prickelnder Erwartung richtete er seine Taschenlampe auf die vier Ringe, die auf dem Altar leuchteten. Dann führte er den Strahl nach oben, bis der Obelisk in Licht getaucht war.

Er sah wie ein klassischer Obelisk aus. Zehn Mal so hoch wie breit. Bis auf den runden Sockel hätte es sich um ein Modell im Maßstab eins zu sechzig des Obelisken in Washington handeln können. Auf allen Seiten befanden sich spezielle Inschriften, bisher die einzigen in der ganzen Pyramide.

Um sie zu entziffern, würde er schließlich doch Serenas Hilfe in Anspruch nehmen müssen, stellte er fest. Er zog seine Digitalkamera heraus und machte Bilder. Inzwischen hatte er nämlich auf einer der vier Seiten des Obelisken eine Reihe von sechs Ringen bemerkt. Auf einer anderen eine Abfolge von vier Sternbildern: Skorpion, Schütze, Steinbock und Wassermann.

Am wichtigsten erschien es ihm, dass der Obelisk genauso aussah wie das Zepter des Osiris im königlichen Siegel, das er im Boden der geothermischen Kammer entdeckt hatte.

Historisch gesehen, bedeutete das Königszepter Ehrfurcht gebietende Macht, genau die Macht, die sein Vater, der General, suchte und von der dieser befürchtete, dass jemand sie ihm nehmen könnte.

Das ist das Zepter des Osiris. Das ist der Schlüssel zur P4, ging es Conrad durch den Kopf, zum geothermischen Spalt und zu allem anderen. Er beugte sich gerade vor, um den Obelisken zu berühren, da öffnete sich auf einmal mit einem Krachen eine verborgene Tür – genau genommen handelte es sich um mehrere Türen. Im Boden taten sich vier große Granitplatten auf.

Conrad trat zurück, als sich die letzte Tür aufschob. In dem Korridor, der zum großen Gang zu führen schien, sah er eine einzelne Gestalt stehen.

»Conrad.«

Noch bevor Serena die Kammer betrat, wusste er, dass sie es war. Hinter ihr tauchte ein kräftiger Russe auf, der eine Kalaschnikow mit leuchtendem Laservisier im Anschlag hielt.

»Sie sind vermutlich Doktor Yeats«, sagte der Mann mit starkem russischem Akzent. »Ich bin Oberst Kowitsch. Wo ist Leonid?«

Kowitsch stieß Serena zu ihm hin, und Conrad fing sie in den Armen auf.

»Gott sei Dank ist dir nichts passiert«, flüsterte er und zog sie näher an sich heran.

Ihr geschäftsmäßiger Gesichtsausdruck ließ ihn jedoch erstarren. Nun erst erblickte sie den Obelisken. Sie sah auch den Toten auf dem Boden liegen und erkannte – zu Conrads Schrecken – sogleich den Zusammenhang mit dem Blut, das er an den Händen hatte.

»Heureka! Du hast es also gefunden«, sagte sie. »Hoffentlich war es den Preis wert.«

»Ich kann dir alles erklären.«

»Sie haben Leonid umgebracht«, sagte Kowitsch.

»Er hat versucht, mich umzubringen«, sagte Conrad. »Kurz bevor er unangeseilt den Schacht hinunterfiel. In Sachen Ausrüstung scheinen Ihre Soldaten ja nicht gerade Weltspitze zu sein, falls Ihnen das selbst noch nicht aufgefallen sein sollte.«

In diesem Augenblick war hinter dem Russen eine barsche Stimme zu vernehmen: »Sag das ruhig noch mal.«

Conrad sah Yeats, der eine Kalaschnikow auf Kowitsch gerichtet hielt, in den Raum marschieren.

»Dieser Scheißkerl hat schon zweimal Probleme gemacht. Jetzt lass deine Knarre fallen, Kowitsch.«

Kowitsch runzelte die Stirn und legte seine Kalaschnikow neben den toten Leonid auf den Boden.

»Ich bitte Sie, General Yeats«, sagte Kowitsch ruhig. »Wir sind schließlich Soldaten.«

Yeats ging zu ihm hin und rammte ihm blitzschnell das Knie in den Unterleib.

Der Russe wand sich vor Schmerzen. »Setz dich auf den Boden«, befahl Yeats. »Im Schneidersitz! Und mach keinen Scheiß, sonst geht's dir wie deinem Genossen hier.«

Kowitsch starrte das riesige Loch in Leonids Brust an und ließ sich dann mit dem Rücken an der Wand zu Boden gleiten. Yeats schlug dem Russen mit dem Gewehrkolben auf den Schädel. Conrad hörte es krachen: Kowitsch stöhnte vor Schmerz auf und brach auf dem Boden zusammen.

»Der wird schon nicht krepieren«, sagte Yeats. »Aber da kriechen noch Dutzende bewaffneter Iwans rum. Wir haben also keine Zeit zu verlieren. Was hast du rausgekriegt?«

»Der Obelisk ist der Schlüssel zur Pyramide«, sagte Conrad.

Yeats besah sich die Inschriften an den Seiten. »Wissen Sie, was die zu bedeuten haben, Doktor Serghetti?«

»Da steht, dass Osiris die Pyramide gebaut hat«, sagte Serena.

Conrad war überrascht, wie mühelos sie die Inschrift übersetzen konnte. »Der Obelisk ist sein Zepter. Es gehört zum Heiligtum der Ursonne.«

»Und was ist das?«, wollte Yeats wissen.

»Das ist der Ort der Urzeit, von dem ich in der Eisstation schon erzählt habe«, sagte Conrad aufgeregt. Er erkannte jetzt die Zusammenhänge, weil die Osiris-Figur, die er in der geothermischen Kammer gesehen hatte, auf einer Art Sitz oder Thron gesessen hatte. Der Thron des Osiris befand sich offensichtlich in diesem Heiligtum der Ursonne – zusammen mit dem Geheimnis der Urzeit selbst.

»Dann nehmen wir also das Zepter des Osiris und stellen es wieder da hin, wo es hingehört, also in das so genannte Heiligtum der Ursonne«, sagte Yeats.

»Das halte ich für keine gute Idee, General.« Serena deutete auf die Zeichnungen auf der Südseite des Obelisken, die eine Reihe von sechs Ringen enthielten. »Die Inschriften unter den sechs Ringen besagen, dass die Maschine, die von der Pyramide gesteuert wird, von Osiris in Bewegung gesetzt wurde, um die Menschheit unter Kontrolle zu halten – eine Art kosmischer Reset-Mechanismus, mit dem man noch vor dem Ende unserer Zeit sechs Mal reinen Tisch machen kann.«

»Kontrolle über die Menschheit?«, sagte Yeats. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass die Bewohner von Atlantis die Pyramide bauten, um uns an einem zu großen Fortschritt zu hindern«, sagte Serena. »Das ist so ähnlich wie mit dem Turm zu Babel in der Schöpfungsgeschichte. Dahinter steckt die Vorstellung, dass technischer Fortschritt ohne moralisches Fortschreiten bedeutungslos ist. Die Menschheit wird also ständig auf ihren Wert und ihre Gesinnung geprüft.«

»Sechs Mal? Du hast gesagt, dass die Menschheit sechs Mal die Chance kriegt, von vorn anzufangen, bevor sie zu Grunde geht? Woher willst du das wissen?«

»Die sechs Sonnen, Conrad.« Sie las die Inschriften in den Ringen. »Die Ursonne, die Erste Sonne, wurde durch Wasser zerstört. Die Zweite Sonne endete, als die Erdkugel aus der Achse geriet und alles mit Eis bedeckt wurde. Die Dritte Sonne wurde als Strafe für menschliches Fehlverhalten zerstört, und zwar mit einem alles verzehrenden Feuer. Diese Pyramide wurde am Anfang der Vierten Sonne erbaut, die in einer weltweiten Sintflut endete.«

»Dann sind wir die Kinder der Fünften Sonne, genau wie es die Mythen der Mayas und Azteken besagen?«, fragte Conrad. »Soll das also heißen, dass wir dazu verdammt sind, die Sünden unserer Vorväter zu wiederholen?«

»Nicht ich, dein wertvoller Obelisk sagt das. Und was die Sünden unserer Vorväter angeht: Orientiert man sich am letzten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte, dann haben wir sie schon massenweise wiederholt.«

Conrad dachte nach. Sie hatte nicht Unrecht. Schließlich fragte er: »Und wann genau endet die Fünfte Sonne? Wann beginnt die Sechste Sonne?«

»In dem Augenblick, in dem du das Zepter des Osiris aus dem Sockel nimmst.«

»Im Ernst?«

»Im Ernst.«

»Sie lügt«, sagte Yeats.

»Nein, das tue ich nicht.« Serena blickte Yeats ernst an. »Hier steht: ›Nur derjenige, der sich würdig erweist, zur rechten Zeit und am rechten Ort vor den Leuchtenden zu stehen, kann das Zepter des Osiris entfernen, ohne Himmel und Erde auseinander zu reißen.‹ Jeder andere also, der dem nicht würdig ist, wird unvorstellbare Konsequenzen auslösen.«

»Vor den Leuchtenden? Wer soll das denn sein?«, sagte Yeats.

»Sterne«, sagte Conrad. »Die Leuchtenden sind die Sterne. Die Erbauer konnten die Sterne deuten, die einen bestimmten Augenblick im Raum-Zeit-Kontinuum vorhersagen – einen ›ehrwürdigen‹ Augenblick, wie es heißt. Nennen wir ihn mal die ›Befreiungsklausel‹ der Menschheit, das Geheimnis, das den Fluch der Vorväter ein für alle Mal bricht.«

»Das würde dir so passen, Conrad«, sagte Serena. »Die Antwort steht in den Sternen, und du deutest sie so, wie du willst.«

»Wie die drei Weisen aus dem Morgenland bei Christi Geburt?«

Serena biss nicht an. »Das ist was völlig anderes.«

Conrad setzte ihr weiter zu. »Oder wie das Fischsymbol der frühen Christen, das zufällig mit dem Zeitalter der Fische zusammenfiel und das, wieder reiner Zufall, gerade aufhört, um vom neuen Zeitalter des Wassermanns abgelöst zu werden.«

»Was willst du damit sagen, Conrad?«

»Ich will damit sagen, dass das Glaubenszeitalter vorbei ist und dass diese Tatsache dich und deine Freunde im Vatikan höchst beunruhigt.«

»Du irrst dich, Conrad.«

»Die Sterne geben mir Recht.«

Yeats deutete auf eine Seite des Obelisken. »Meinst du Sterne wie diese vier Konstellationen auf dem Zepter?«

»Nein, wie die da oben.« Conrad zeigte auf die Gravierungen in der Kuppel. »Die Kammer hier ist eine Art Himmelsuhr. Seht her.«

Er berührte den Obelisken und hörte, wie Serena nach Luft schnappte, während er ihn wie einen Joystick hin und her schob. Ein dumpfes Rumpeln war zu vernehmen, und gleichzeitig fing das Gewölbe an, sich zu bewegen.

»Wenn wir den Sternenhimmel auf eine bestimmte Zeit einstellen wollen, fangen wir mit dem kosmischen ›großen Zeiger‹ beziehungsweise dem entsprechenden Zeichen des Tierkreises an«, erklärte er. »Wir sind am Anfang des Wassermannzeitalters, deshalb steht dieses Sternbild im Osten.«

Während er sprach, drehte sich die Kuppel wieder in die Ausgangsstellung.

»Der ›kleine Zeiger‹ der Uhr bezeichnet die Position, also südliche oder nördliche Hemisphäre.«

Conrad bewegte den Obelisken, und eine völlig neue Sternenkonstellation erschien. Er drehte die Kuppel jedoch weiter, bis oben wieder hörbar das ursprüngliche Schema einrastete.

»Zu einer dritten, genaueren Einstellung werden die verschiedenen Tagundnachtgleichen des Jahres herangezogen.«

Conrad nahm die letzte Einstellung vor und beendete seine Vorführung dann damit, dass er alles wieder auf den Ausgangspunkt zurückbrachte. Das Rumpeln verebbte.

»Der Obelisk und der Altar, um den herum wir jetzt stehen, stellen also die Erde in einer festen Position dar. Die Konstellationen in der Kuppel sind der Himmel. Beide sind auf einen zeitlichen Fixpunkt eingestellt.«

Serena, die von dem, was sie offensichtlich als seinen ›rücksichtsloser‹ Umgang mit einem Kunstwerk bewertete, anscheinend noch ganz durcheinander war, fragte: »Und wie sind die Sterne in dieser Kammer momentan ausgerichtet?«

»Sie stehen zum Obelisken genau so wie der Himmel über der Antarktis zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, sagte er so überzeugt, als ob keinerlei Zweifel darüber bestünde.

»Das ist vermutlich der bedeutendste Moment in der Menschheitsgeschichte: der große Entdecker Conrad Yeats.«

Conrad lächelte. »Endlich sind wir uns mal einig.«

Serena blickte ihn verächtlich an. »Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dass du vielleicht der größte Dummkopf aller Zeiten bist und dass wir uns im unwürdigsten Augenblick seit Menschheitsgedenken befinden, wenn du den Obelisken jetzt entfernst?«

Natürlich hatte er selbst auch schon darüber nachgedacht. Serena ging ihm allmählich auf die Nerven.

»Denk doch mal nach, Serena«, sagte er. »Wenn das, was du sagst, stimmt, dann waren sich die Erbauer der P4 darüber im Klaren, dass nur eine fortgeschrittene Kultur mit technischem Wissen die Pyramide überhaupt finden könnte, ganz zu schweigen vom Eindringen. Unser Fortschritt macht uns dessen würdig. Deshalb muss der jetzige Augenblick einfach der bedeutendste Zeitpunkt sein. Und dieser Obelisk ist der Schlüssel zu den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation.«

»Vielleicht ist er auch nur ein Trojanisches Pferd. Vielleicht ist der Obelisk wie der große Zeiger einer Uhr, der Sicherungsstift in einer Handgranate. Entfernt man das eine oder das andere, so sind die Tage gezählt, Conrad.«

»Du hast ja nur Angst, dass die Kirche ihren Platz als Gebieterin über die Schöpfung verliert«, sagte er. Es reichte ihm jetzt mit ihrer Hysterie. »Aber vielleicht sollten wir die Unwissenheit und die Angst jetzt aufgeben, um den Weg für ein neues Zeitalter der Erleuchtung zu ebnen.«

Conrad sah Yeats an, der auf den Obelisken deutete.

»Nimm das verfluchte Zepter, mein Sohn. Wenn nicht, tun es die bewaffneten Russen, die vor der Tür stehen. Und Gott allein weiß, wer von der UNACOM noch alles oben auf dem Eis ist.«

Conrad blickte Serena an und ging dann auf das Zepter des Osiris zu. Er konnte Serenas Angst geradezu spüren, als er die Hand auf den Obelisken legte. Er fühlte sich glatt an, so als ob die Inschriften unter der Oberfläche versiegelt wären.

»Du träumst, wenn du dir einbildest, dass dein Vater dich mit dem Zepter einfach so aus der P4 marschieren lässt«, sagte Serena.

Conrad zögerte. Er spürte etwas Unheimliches in sich hochsteigen, etwas, für das er keine Erklärung hatte. Er griff nach dem Obelisken und fühlte, wie feine Schwingungen von diesem ausgingen. Er zog die Hand wieder zurück.

»In Gottes Namen, worauf wartest du noch?«, sagte Yeats.

Conrad war verunsichert. Es war die Gelegenheit, eine, die es nur einmal in einem Jahrtausend gab. Mit dieser aufsehenerregenden Entdeckung würde er seine Spuren in den Sand der Zeit schreiben und die Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen. Er hatte die einzigartige Möglichkeit, unsterblich zu werden.

»Hör auf mich, Conrad. Übereile nichts«, drängte ihn Serena. »Du löst damit womöglich etwas aus, das du nicht mehr rückgängig machen kannst.«

»Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden, Schwester«, mischte sich Yeats ein. »Irgendjemand wird den Obelisken auf jeden Fall entfernen, und da ist es besser, wenn Conrad derjenige ist. Er ist der Einzige, der das kann. Wenn jemand dessen würdig ist, so ist es Conrad.«

»Da liegen Sie meiner Meinung nach völlig falsch«, sagte Serena. »Nur weil er Ihr Sohn ist, heißt das noch lange nicht …«

»Conrad ist nicht mein Sohn.«

Conrad zuckte zusammen. Serena auch. Selbst der Russe hielt die Luft an. Ein drückendes Schweigen breitete sich im Raum aus.

»Mag sein, aber Sie sind sein Ziehvater«, sagte Serena ruhig. Ihr war bewusst, dass Conrad sehr empfindlich auf dieses Thema reagierte.

»Nicht mal das.« Yeats nahm seinen Rucksack ab und kramte darin herum.

Conrad starrte seinen Vater an und fragte sich, welche Enthüllung dieser jetzt wohl vorbringen würde. Warum ausgerechnet jetzt?, dachte Conrad. Warum um alles in der Welt gerade hier?

»Das ist dein Vater.« Yeats hob die Digitalkamera hoch.

»Du hast ein Bild von ihm?« Conrad sah auf das Display. Es war das Foto des Osiris-Siegels, das er in der geothermischen Kammer aufgenommen hatte.

»Das ist dein Vater«, wiederholte Yeats.

Conrad starrte auf die Gestalt des bärtigen Mannes auf dem Thron. In seinem Innersten spürte er ein Kribbeln, das ihn von einer ihm bislang unbekannten Stelle aus durchströmte.

»Was hast du gesagt?«

»Ich habe dich vor mehr als fünfunddreißig Jahren in einer Kapsel im Eis gefunden«, sagte Yeats in einem bitteren Ton, der Conrad durch Mark und Bein ging. »Damals bist du höchstens vier Jahre alt gewesen.«

Conrad schwieg. Dann hörte er Serena kichern.

»Du meine Güte, General Yeats«, sagte sie. »Für wie blöd halten Sie uns eigentlich?«

Aber Yeats verzog keine Miene. Conrad hatte diesen Blick in den Augen seines Vaters noch nie gesehen.

»Mein Sohn, dir braucht niemand zu erzählen, was die Wahrheit ist. Du weißt es selbst.«

In Conrads Kopf raste alles durcheinander. Yeats musste einfach lügen. Schließlich hatte Conrad einen DNS-Test machen lassen, um die Vaterschaft zu bestimmen. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass er kein rotblütiger Amerikaner war. Andererseits – mal abgesehen von der absoluten Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung, – brachte das endlich Klarheit über seine ersten Lebensjahre.

»Wenn das eine Lüge ist, bist du ein widerlicher Scheißkerl«, sagte Conrad zu Yeats. »Aber wenn es wahr ist, war mein ganzes Leben eine Lüge, und ich habe dir nur als Wissenschaftsobjekt was bedeutet. So oder so bin ich verflucht.«

»Dann rette dich jetzt, Conrad«, sagte Yeats. »Als Vater Staat die Mars-Mission strich und mir alle meine Träume nahm, war ich so alt wie du jetzt. Ich hatte damals keine Wahl. Du aber hast sie. Mach es anders als ich, sonst bereust du dein ganzes Leben lang, dass du die Chance nicht ergriffen hast.«

Der üble Trick funktionierte. Als Conrad nun Yeats anstarrte, sah er in diesem seine Zukunft vor sich, eine aufgrund der nicht genutzten Gelegenheit verpatzte Zukunft. Der Anblick ließ ihn schaudern.

Serena spürte, dass sie die Schlacht verloren hatte. »Bitte, Conrad«, sagte sie leise.

»Es tut mir Leid, Serena«, sagte Conrad, während er den Obelisken bewegte. Das Gewölbe der Halle drehte sich, und die Sternbilder änderten sich. Mit einem dumpfen Rumpeln rotierte auch der Boden.

»Wir brauchen mehr Zeit, um alles richtig zu begreifen«, schrie Serena nun und machte einen Satz auf ihn zu. »Du kannst nicht einfach für die ganze Welt entscheiden. Warte doch.«

Yeats hielt ihr abrupt den Lauf seiner Glock ins Gesicht. »So wie Eisenhower 1945 an der Elbe Halt machte, statt die Russen aus Berlin zurückzudrängen?«, fragte er. »Oder wie Nixon, der die Mars-Mission 1969 den Bach runtergehen ließ? Da bin ich anderer Meinung. Damals hätte man Entscheidungskraft gebraucht, genau wie jetzt. Ich bleibe nicht auf halbem Weg stehen.«

Conrad blickte zu Serena, die sich aus Yeats' Griff zu befreien versuchte. »Tu's nicht, Conrad. Ich schwöre …«

»Schwör lieber nicht, Serena«, sagte er. »Sonst brichst du noch dein Gelübde.«

Er griff mit beiden Händen nach dem Obelisken, überzeugt, dass er eine so einmalige Chance einfach wahrnehmen musste. Wenn er diesen Augenblick nicht nutzte, würde sein Leben fortan nichts mehr wert sein.

»Bitte, Conrad.«

Der Obelisk ließ sich ganz einfach aus dem Altar lösen. Conrad hob ihn hoch und lächelte Serena triumphierend zu.

»Siehst du«, sagte er erleichtert. »Das war doch alles gar nicht so …«

Das Ende des Satzes wurde durch einen ohrenbetäubenden Lärm abgeschnitten.

»O mein Gott«, hauchte Serena, während das Donnern über ihr immer stärker wurde.

Die gewölbten Wände der Halle drehten sich in atemberaubender Geschwindigkeit wie eine kosmische Spirale kurz vor dem Zerbrechen. Dann hörte das Kreisen plötzlich auf. Die Sternbilder kamen zum Stillstand, und eine explosionsartige Druckwelle erschütterte die Pyramide.

Abstieg, 9. Stunde 19 Eisstation Orion

Oben in der Eisstation Orion spielte O'Dell mit Wladimir Lenin und zwei anderen Russen gerade Poker, da fing der Wodka in ihren Plastiktassen zu zittern an. Die Sirenen heulten auf.

O'Dell sah den verblüfften Wladimir an. Diesmal konnten es nicht die Russen sein. Er raste aus dem Bereitschaftsraum hinaus. Wladimir folgte ihm.

Als O'Dell in die Kommandozentrale gerannt kam, stand bereits eine Gruppe Amerikaner und Russen dicht gedrängt um den Hauptmonitor herum. Auf dem Display blinkte das Wort sonnenereignis.

»Da kann was nicht stimmen«, sagte O'Dell, als er zu den Leuten trat, die mit betroffener Miene dastanden.

Einer der Lieutenants holte das Kontrollsystem CELSS, das Controlled Environmental Life Support System, auf den Bildschirm, das im Weltraum wie in der Antarktis lebensnotwendig war. Der Lieutenant lokalisierte den Sensor, der diese anormale Anzeige ausgelöst hatte.

»Die Messungen kommen von unten, Sir«, sagte er. Weil die Erschütterungen stärker wurden, musste er sich am Kontrollpult festhalten. »Die einzig mögliche Erklärung, die mir einfällt, ist das SP-100.«

Unwillkürlich warf O'Dell seinem russischen Kollegen einen nervösen Blick zu. Gott sei Dank verstand dieser nicht, was der Lieutenant gesagt hatte, handelte es sich bei dem SP-100 doch um das kompakte Atomkraftwerk der Eisstation Orion, ein 100-Kilowatt-System, das ein paar hundert Meter entfernt unter einer Schneedüne verborgen war.

»Mein Gott.« O'Dell holte tief Luft. »Was sagen die Messdaten?«

»In die äußeren Offiziersgebäude ist eine Strahlung von 270 rem eingedrungen, Sir. Hier in der Kommandozentrale sind es 65 rem, wobei unsere Leute 15 rem aufnehmen. Wir sind immer noch unter dem Grenzwert.«

Es war eher das Beben, das O'Dell und die Russen beunruhigte.

»Und jetzt?«

»Wir haben keine andere Wahl mehr, Sir«, sagte der Lieutenant. »Wir müssen uns in die Hundehütte zurückziehen.«

Die ›Hundehütte‹ war ein mobiles Schutzmodul unter der Kommandozentrale und den Versorgungsspeichern, das durch die Lufthülle der Kommandozentrale vor den SP-100-Protonen geschützt war.

»Sorgen Sie dafür, dass möglichst die ganze Mannschaft hineinkommt«, befahl O'Dell.

Die amerikanischen Soldaten führten den Befehl sofort aus und verließen die Kommandozentrale in Reih und Glied. Die Russen hingegen rasten angesichts der nun leeren Zentrale in entgegengesetzter Richtung zu den äußeren Luftschleusen, um zu ihren Charkowtschankas zu gelangen.

»Warten!«, rief O'Dell und rannte hinterher.

Aber sie hatten schon die Türen des inneren und äußeren Bereichs aufgebrochen, und als er die Luftschleuse erreichte, waren sie weg. Eisiger Wind schlug ihm ins Gesicht. Er schnappte sich einen Polaranzug, Schutzbrille und Handschuhe aus dem nächsten Lagerraum und rannte raus.

Die Russen starteten gerade ihre Charkowtschankas. O'Dell lief auf die bereitstehenden Hägglunds-Transporter zu und griff nach der erstbesten Kabinentür.

Glauben die vielleicht, sie könnten einfach so abhauen?, dachte er. Er wollte mit einem der Hägglunds hinterher, um sie zurückzuhalten. Es würde ihm jetzt gerade noch fehlen, dass Yeats oder Kowitsch oder die Vereinten Nationen ihn für den Tod weiterer Russen verantwortlich machten.

Er wollte gerade in den Hägglunds klettern, da verspürte er einen Ruck. Er sah auf den Boden. Im Eis schoss ein Riss an seinen Füßen vorbei. Etwas Spitzes klammerte sich an seinen Handschuh, und er erstarrte vor Entsetzen. Es war Nimrod, Yeats' Hund, der ihn wie wild geworden wegzuzerren versuchte.

»Verschwinde!«, brüllte er und öffnete die Tür, aber Nimrod sprang vor ihm in die Kabine.

O'Dell hörte noch weitere donnernde Explosionen, dann sah er die Basis wie einen Eisberg abbrechen. Es krachte, und zu seinem Schrecken riss das Eis unter ihm wie ein Spinnennetz auf.

Das Eis schmolz!

Er sprang ins Führerhaus. Kaum hatte er die Tür geschlossen, machte der Hägglunds einen Ruck vor und zurück. Überall waren jetzt Risse im Eis zu sehen. Das ist jetzt das Ende, dachte er, als die Fiberglas-Kabine in das strudelnde Eiswasser fiel und weggespült wurde. Er merkte, wie der Transporter sich auf und ab bewegte. Ihm blieb vor Freude fast die Luft weg. »Das verdammte Ding schwimmt!«, rief er Nimrod zu, der wie verrückt über die Sitze sprang.

Die russischen Charkowtschankas jedoch verschwanden wie Steine in den sprudelnden Wassermassen.

Verzweifelt machte O'Dell die Scheibenwischer an. Als die Wasserfluten kurz weggewischt wurden, erblickte er eine aufgewühlte Landschaft. Die Eisstation Orion war verschwunden. Im Himmel hatte sich eine pilzförmige Wolke gebildet. In Panik dachte er erst, der Reaktor wäre in die Luft gegangen, aber der SP-100 hatte nicht die Kapazität, eine derartige Zerstörung auszulösen.

Eine Druckwelle warf ihn mit dem Kopf auf den Boden, direkt unter das Armaturenbrett. Er hörte, wie sein Schädel auf etwas Spitzes krachte, als die Kabine wild herumwirbelte. Nimrod bellte unaufhörlich.

20 Abstieg, 9. Stunde

Das Donnern in der Kammer mit dem Obelisken wurde so laut, dass Serena das eigene Wort kaum verstand. Sie brüllte Conrad an, der wie angewurzelt mit dem Zepter des Osiris in der Hand dastand.

»Stell es zurück!«, rief sie.

Conrad ging gerade auf den Altar zu, da öffnete sich der Boden unter ihm plötzlich, und eine lodernde Feuersäule schoss hoch, die Oberst Kowitsch sofort in einen glühenden Klumpen verwandelte.

Conrad sprang von dem klaffenden Loch zurück. Der Altar verschwand in einem rot glühenden Schacht. Ganze Fetzen des Russen flogen als Staubwolke durch die Luft. Der Obelisk fiel auf den Boden.

Serena beugte sich, um ihn aufzuheben, griff aber zu weit nach vorn und hing plötzlich gefährlich über der Kante. Furchtbare Sekunden lang schwebte sie über dem Höllengrund und spürte, wie die sengende Hitze auf ihren Wangen brannte. Schließlich zog Conrad sie mit einem Ruck vom Rand zurück.

Für einen kurzen Augenblick lag sie geborgen in seinen Armen und blickte dankbar in seine besorgten Augen. Noch bevor sie richtig Luft holen konnte, erschütterte jedoch ein Beben die Kammer und riss ihnen den Boden unter den Füßen weg. Der Obelisk glitt über den Boden.

»Das Zepter!«, rief sie.

Yeats stürzte los, um es zu retten. Weil die Erschütterungen stärker wurden, knickte ihm aber das rechte Bein ein, und er stürzte rückwärts in den Schacht, der sich im Boden aufgetan hatte. In letzter Sekunde gelang es ihm, sich an der Kante festzuhalten. Serena sah die Finger über den Rand ragen. Er klammerte sich mit aller Kraft am Steinboden fest.

Conrad hob den Obelisken auf und ergriff Serenas Hand. »Versuch ihn zu halten!«

Fest an Conrad gekettet, lugte sie über den Rand und sah, wie Yeats über dem Höllengrund schwebte.

Ihr war klar, dass sie nicht die Kraft hatte, ihn hochzuziehen, aber sie rief Conrad zu: »Vielleicht kann ich ihn mit einem Ruck etwas hochziehen, damit er es dann alleine schafft herauszuklettern.«

Sie streckte die Hand aus, da bebte es erneut. Leonids Leiche glitt in den Schacht und schlug gegen Yeats. Seine Finger verschwanden vom Schachtrand, und Conrad stieß einen Schrei aus.

»Dad!«, brüllte er.

Conrad schob Serena zur Seite und sah nun selbst in den Schacht. Wie gelähmt stand er da und versuchte zu begreifen, dass sein Vater nun wirklich weg war.

Serenas Blick streifte durch die Kammer. Alles um sie herum bebte. Irgendwie wollte sie hier nicht raus. Aber sie wollte auch nicht bleiben, um dann jämmerlich zu verglühen. Sie legte Conrad eine Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sollten jetzt nicht zu lange um die trauern, denen wir in Kürze folgen werden.«

Das reichte, um Conrad aus seinen Gedanken zu reißen.

»Die Kammer wird sich in ein paar Minuten in einen Schmelzofen verwandeln«, sagte er, hob Yeats' Rucksack auf und warf ihn sich über die Schulter. »Zurück zum großen Gang!«

Sie rannten zum Außengang. Das Rumpeln war da weniger laut, wie Serena bemerkte, als sie den langen Tunnel hinter Conrad herlief. Als sie im großen Gang ankamen, blieb Conrad stehen und sah nach oben.

»Jetzt wäre es an der Zeit für ein kleines Stoßgebet«, sagte er.

»Wieso?«

»Ich glaube, die P4 lässt heiße Dämpfe durch die Schächte ab. Das Eis draußen müsste daraufhin schmelzen. Und das Wasser wird dann durch das Gangsystem hier geschleust.«

Jetzt blickte auch sie blinzelnd den Gang hoch. In einiger Entfernung wirbelte oben ein Schatten. Sie spürte die ersten Wasserspritzer auf der Wange. Sie wusste, was jetzt kommen würde.

»O mein Gott!«, schrie sie, als das Wasser auf einmal in riesigen Kaskaden den Gang herabstürzte. »Wir müssen irgendwo Deckung finden!«

Sie zerrte ihn zur Kammer zurück.

»Warte noch«, sagte er. »Jetzt würden wir darin verschmoren.«

Das Wasser im Tunnel stand schon kniehoch. Auf halbem Weg zurück in die Kammer reichte es ihnen bereits bis zur Hüfte. Sekundenschnell schwoll das Wasser zu einem reißenden Sturzbach an und spülte sie mit.

Serena wollte sich an Conrad festhalten, bekam ihn aber nicht mehr zu fassen. Sie geriet in Panik und schlug verzweifelt um sich, schluckte Wasser und rang nach Luft. Sie würden ertrinken. Sie würden weggespült werden und ertrinken. Gott hatte ihr bestimmt einen anderen Tod zugedacht, ging es ihr durch den Kopf. Aber dann erinnerte sie sich an das Mädchen im Eis und wurde sich bewusst, dass sie auf der Welt schon zu viele Schreckensmienen gesehen hatte, um sich noch sicher zu sein, was Gott wirklich mit ihr vorhatte. Sie wusste nur, dass sie leben wollte und auch wollte, dass Conrad am Leben blieb.

»Gott steh uns bei«, betete sie.

Ein Schatten legte sich über sie, und als sie aufblickte, sah sie Conrad im Tunnel am Eingang zur Sternenkammer stehen, wo ihm das strudelnde Wasser bis zu den Knien ging. In einer Hand hielt er den Obelisken.

»Halt dich daran fest«, brüllte er gegen das rauschende Wasser an.

Sie griff hoch, umklammerte den Obelisken und ließ sich von Conrad hochziehen. Sie spürte ein Ziehen am Fußgelenk und sah ein blutverschmiertes Gesicht aus dem Wasser auftauchen.

Es schrie ihr etwas Unverständliches zu, und sie versuchte, das Zerren abzuschütteln. Aber es zog fester an ihrem Bein. Plötzlich erkannte sie das entstellte Gesicht von einem von Kowitschs Leuten aus der oberen Kammer.

»Zieh fester!«, schrie sie Conrad zu.

Als sie über den Rand war, drehte sie sich um und wollte dem Russen helfen. Kaum hatten die verbrannten Beine des Soldaten die Kante erreicht, hörte sie Conrad rufen.

»Beeil dich!«

Sie sah noch, wie sich ein Teil des Zugangs zur Sternenkammer hinter Conrad schloss. Eine gewaltige Granitplatte hatte sich von der Decke gelöst. Conrad duckte sich mit dem Obelisken in der Hand in die Kammer hinein, die sich in der Zwischenzeit offensichtlich abgekühlt hatte, und winkte sie zu sich.

Serena schleppte den Russen gerade durch den Eingang, da erschütterte ein gewaltiges Krachen den Tunnel. Sie blickte zurück und sah, wie sich die Fallsteintür hinter ihnen schloss und das Wasser abschnitt. Sie blieb stehen, schnappte nach Luft und hörte Conrad ihren Namen rufen. Er deutete zur Decke. Drei weitere Türplatten, größer als die zuvor, lösten sich. Die zweite direkt über ihr.

Sie taumelte vorwärts. Ihr voll gesogener Parka zog sie wie Beton nach unten. Sie schleppte den Russen, der sich jetzt nicht mehr bewegte, mühsam weiter.

»Serena!«, rief Conrad.

Die dritte Tür fiel herunter.

Auf allen vieren zerrte sie den Russen über den Boden. Conrad umklammerte ihre Füße wie Eisenfesseln und zog. Die Knie rutschten ihr weg, und sie landete flach auf dem Bauch.

»Lass ihn los«, rief Conrad.

»Nein!« Serena umklammerte die kalten Hände des Russen, während Conrad sie hereinzog.

Der Russe war schon halb durch, da schnitt ihn die steinerne Falltür in zwei Teile.

Plötzlich merkte Serena, dass sie nur noch die Hälfte des Russen festhielt. Dennoch fiel es ihr schwer loszulassen, zu akzeptieren, dass sie ihn nicht mehr retten konnte.

Mit einem knirschenden Geräusch fiel die vierte und letzte Tür. Sie versuchte angestrengt, sich aus dem kalten Griff des nun beinlosen Körpers zu lösen. Schließlich öffnete sich die Hand, und in letzter Sekunde zog sie jemand hinein, kurz bevor die Granittür mit einem dumpfen Knall niederging.

Serena drehte sich zu Conrad um, um ihm zu danken. Er lag der Länge nach auf dem Boden. Seine Haare waren voller Blut. Beim Ziehen musste er wohl mit dem Hinterkopf gegen die Falltür geschlagen sein.

»Conrad!«, rief sie. »Conrad!«

Sie kroch zu seinem bewegungslosen Körper. Er lag ganz ruhig da. Die Kammer bebte nun so stark, dass sie seinen Puls nicht fühlen konnte. Der Obelisk lag neben seinem Rucksack – vielmehr neben Yeats' Rucksack –, und sie hob ihn auf.

Wieder ein Beben. Sie suchte an der wackelnden Wand Halt, bis diese glühend heiß wurde. Sie löste sich von der Wand, stolperte zitternd weiter und gab sich alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

Sie war jetzt auf sich allein gestellt. Sie fiel mit dem Obelisken im Arm auf die Knie und betete zu Gott, dass das Beben aufhören möge. Sie versuchte krampfhaft, nicht an das Mädchen im Eis zu denken. Ein Krachen erfüllte den Raum, und als sie aufsah, schien sich die Kammer um 180 Grad zu drehen.

Abstieg, 9. Stunde 21 U.S.S. Constellation

Als der gewaltige Gletscher ins Wasser stürzte, dröhnte es wie bei einer Bombenexplosion. Admiral Warren wurde umgeworfen, und das Glas des Ruderhauses der U.S.S. Constellation zersprang.

Sekunden später donnerte es erneut, und Warren hörte, wie die riesigen Wellen über den Bug krachten. Glasstücke lagen überall auf dem Flugzeugdeck verstreut, wo 76 Kampfjets an ihren Ketten zerrten.

»Admiral?«

Warren drehte sich um. Es war der Funker.

»Eine Blitzmeldung.« Der untergeordnete Offizier reichte ihm das Klemmbrett und hielt eine rote Taschenlampe über die Meldung, sodass Warren sie lesen konnte.

»Du meine Güte«, sagte Warren. »Die geologischen Überwachungssensoren von McMurdo haben gerade ein Beben der Stärke elf registriert.«

»Admiral!«, rief ein Lieutenant.

Warren blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sich eine schlammgrüne Wand aufbäumte, auf den Bug herabschoss, das Flugzeugdeck überspülte, die Kampfjets wie Spielzeugflieger umherschleuderte und in die Insel donnerte, in der er sich gerade befand. Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ sein Trommelfell platzen. Die Wassermassen zerstörten die Kommandobrücke. Verzweifelt hielt er nach etwas Ausschau, woran er sich festhalten konnte.

Die ganze Abteilung lief mit Wasser voll. Warren klammerte sich an eine Stange des Kontrollpultes und drückte den Rücken fest an die Wand, um sich Halt zu verschaffen. Bei ruhiger See ragte der über 80.000 Tonnen verdrängende Flugzeugträger 70 Meter aus dem Wasser. Aber diese Wogen hoben das Schiff wie eine leere kubanische Zigarrenschachtel.

Warren hustete Wasser aus und rief seinen Leuten zu: »Drehen und auf die Wellen zuhalten, sonst kentern wir!«

Er lauschte angestrengt, um das »Aye, Sir!« vom Steuermann zu vernehmen, aber es ging im Krachen der Wassermassen unter.

Als die Welle brach, sah er über die Brücke und sichtete zwei auf dem Wasser treibende Körper. Die anderen waren ins Meer geschwemmt worden. Er rannte die Treppe zum Ruderhaus runter und hielt sich dabei an der Reling fest. Das Ruderhaus war leer.

Er blickte zur Küste und sah, wie sich die graue Masse wieder auftürmte, eine Welle so hoch wie ein Kliff. Er griff nach der Kette, die eigentlich für eines seiner 27 Tonnen schweren Flugzeuge reserviert war, hievte sie sich auf die breiten Schultern und lief damit zum Flugzeugdeck.

Menschen und Flugzeuge schleuderten über das schräg liegende Deck. Eine weitere Welle schien den Flugzeugträger in den Himmel zu heben. Die Kette fest umklammernd, flog Warren durch die Luft. Das Wasser krachte auf das Deck und zwang ihn zu Boden, aber er hatte die rettende Reling fest im Blick. Wenn er den Abstand zwischen den Wellen nutzte, um das Geländer zu erreichen, konnte er sich möglicherweise dort anketten.

Die nächste Woge zerstörte den JSF-Kampfjet mit dem doppelten Seitenleitwerk vor ihm. Warren duckte sich, um nicht von dem abgebrochenen Flügel durchschnitten zu werden. Mit wackeligen Beinen zwang er sich, zunächst stehen zu bleiben, und raste dann zwischen zwei Wellen durch das spritzende Wasser auf die Reling zu.

Irgendwie wollte er sich am liebsten fallen lassen, sodass er nicht mehr kämpfen musste, sondern einfach sterben konnte, aber er hielt sich auf den Beinen, bis er an der Reling anlangte. Er griff mit beiden Händen nach der schweren Kette, die er auf den Schultern mitgeschleppt hatte, und machte sich damit an der Reling fest, bevor die nächste Welle herankrachte.

Der Wind und der Gischt fegten über das Deck. In Todesangst klammerte Warren sich an die Reling. Die Welle brach über dem Bug, und in dem Augenblick, als Warren mit voller Wucht hochgeschleudert wurde, rastete die Kette ein. Sie hielt.

Eine Weile stand er so da und war sich sicher, dass sein Arm abreißen und er selbst wie die restlichen Flugzeuge weggespült würde. Aber mit Gottes Hilfe, schwor er sich, würde er diese verheerende Flut überleben, sei es auch nur, um es Yeats heimzuzahlen. Dann, ganz langsam, neigte sich das Schiff, und er hörte das Knirschen der massiven Eisenträger. In der gewaltigen Woge war das ganze Schiff kurz davor zu kentern.

»Yeats, du verdammter Mistkerl!«

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