Teil Drei. Tagesanbruch

Tagesanbruch 22 minus 15 Stunden

Der Whiskey brannte in seiner Kehle. Conrad, der sich in der Sternenkammer der P4 befand, musste husten. Er sah Serena an, die neben ihm saß. Sie hatte das nasse Haar nach hinten gestrichen und sah blass aus.

»Jack Daniel's?«, fragte er heiser.

»Habe ich in Yeats' Rucksack gefunden.« Sie berührte sein Gesicht. Die Berührung schien seine Lebensgeister zu wecken. »Du bist ganz heiß.«

»Ist überhaupt ziemlich heiß hier.« Conrad stöhnte auf. Unter schrecklichen Schmerzen oben am Kopf setzte er sich auf. »Wo ist der Obelisk?«

»Weiß ich nicht«, sagte Serena.

»Er war vorhin noch hier.« Hastig suchte Conrad die Sternenkammer ab. Der leere Altar stand mitten auf der Kartusche. Ihm wurde schwindlig, weil ihm der Albtraum wieder ins Gedächtnis kam: der Boden, der sich geöffnet hatte. »Wo ist Yeats?«

»Im Bodenschacht verschwunden.«

Der Schacht unter dem Altar hatte sich eindeutig wieder geschlossen. Er ist tot, dachte Conrad. Er merkte, wie er zitterte und sein Herz schneller schlug.

»Das mit deinem Vater tut mir Leid.«

Er sah Serena in die Augen. Sie meinte es ernst, dachte er. Aber es lag auch etwas Sonderbares in ihrem Blick. Etwas war anders. Es war nicht unbedingt Angst, eher Distanz. Sie hatte hoffentlich nicht Yeats' bizarre Enthüllung über seine Herkunft ernst genommen. Das war eindeutig eine psychologische Masche gewesen.

»Du glaubst doch nicht etwa …«

»Wer immer du auch sein magst, Conrad, du stehst jedenfalls nicht auf der Liste der Auserkorenen, nicht auf der Gottes, nicht auf der von den Atlantiserbauern und auch nicht auf meiner«, sagte sie. »Du wirst genauso wie andere für deine Sünden büßen. Diesmal sieht es allerdings so aus, als ob du uns alle schnurstracks mit in die Hölle nimmst. Das und nichts anderes glaube ich.«

Conrad starrte sie fassungslos an. »Du hörst wohl nie auf, was? Du musst wohl immer das letzte Wort haben.«

»Genau.«

Conrad bemerkte auf einmal, dass auf dem Boden etwas leuchtete. Er wollte es berühren. War das etwa Sonnenlicht? Er blickte zur Decke und blinzelte. Die zwei verborgenen Schächte, die er dort zuvor schon vermutet hatte, waren jetzt weit geöffnet. Sonnenstrahlen zwängten sich durch den Südschacht und trafen genau dort, wo der Obelisk gestanden hatte, auf den Boden.

Ob die Eisschlucht oben in sich zusammengestürzt ist?, fragte er sich beunruhigt. Was war mit der Eisstation Orion? Ein schrecklicher Gedanke schoss ihm ins Bewusstsein: Hatten die geothermischen Winde der P4 das Eis zum Schmelzen gebracht oder womöglich sogar die Erdkruste verschoben? Er wischte den Gedanken sofort beiseite. Wäre wirklich eine solche Katastrophe geschehen, wären Serena und er schon längst tot.

Conrad reckte den Hals zu den Schächten hin, die sich nun in der Krümmung der Süd- und der Nordwand befanden. Er könnte einen der Schächte hochklettern, nur so gelangte man nach draußen. Aber die Schächte schienen steil zu sein. Sie führten mindestens 300 Meter hoch, Gott weiß wohin.

»Ich muss mir das draußen ansehen«, sagte er zu Serena.

Sie nickte bedächtig, als ob sie, schon lange bevor er aus der Ohnmacht erwacht war, zum gleichen Schluss gekommen wäre. »Um den Schacht hochzuklettern, wirst du die hier brauchen.«

Sie hielt ihm an Händen und Knien zu befestigende Saugnäpfe hin.

»Wo hast du die denn her?«

»Alles aus dem Rucksack deines Vaters. Er schien für jede Situation gerüstet zu sein.«

»Für jede wohl doch nicht«, sagte Conrad und blickte zum Altar hinüber, unter dem sein Vater im Schacht verschwunden war.

Conrad stand auf, nahm die Kletterhilfen und ging quer durch den Raum zum Südschacht. Er sah direkt in die Sonne und musste blinzeln. »Sieht so aus, als ob sich der Polarsturm verzogen hätte.«

»Ja, scheint so zu sein.« Serena klang nicht sehr überzeugt. Sie wollte es vielleicht auch gar nicht wissen.

»Wenn die Rettungsmannschaften nach uns suchen, müssen wir uns mit einem Signal bemerkbar machen«, sagte er und befestigte die Kletterhilfen mit den Saugnäpfen. »Ich muss den Schacht hochklettern. Ich nehme ein Seil mit, falls es der einzige Weg nach draußen ist und du nachkommen musst. In der Zwischenzeit versuchst du mit Yeats' Funkgerät die Eisstation zu erreichen und sagst denen, was passiert ist.«

Er merkte, wie sie in seinen Augen nach Hinweisen suchte.

»Was genau ist denn passiert, Conrad?«, fragte sie.

Hätte sie es zugelassen, hätte er sie in die Arme genommen und ihr gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Obwohl sie beide wussten, dass dem nicht so war. »Ich werde es herausfinden«, versicherte er ihr. »Ehrenwort.«

***

Die Lichtquelle wurde größer, je weiter Conrad sich dem Ende des Schachts näherte. Der Schacht war steiler gewesen, als er vermutet hatte, und die Saugnäpfe, die er für den Halt allerdings brauchte, hatten den Aufstieg verlangsamt. Er war außer Atem. Der Wind pfiff, als er sich am äußeren Rand des Schachts festhielt und sich zum Tageslicht hochzog.

Das grelle Licht ließ ihn blinzeln. Seine Augen mussten sich erst an die Helligkeit gewöhnen. Er konnte nicht fassen, was er dann sah, und blinzelte wieder.

Unter ihm lagen die Ruinen einer alten Stadt. Tempel, Zikkurats und zerbrochene Obelisken lagen verstreut mitten in einer Anlage, die einmal ein tropisches Paradies gewesen sein musste. Er nahm eine Reihe von Wasserläufen wahr, die in konzentrischen Kreisen um die Pyramide herum angelegt waren. Hier war wohl das Stadtzentrum gewesen, folgerte er. Es war ein hoch entwickeltes Raster einer Stadt aus einer anderen Welt, die 12.000 Jahre unter einer zwei Meilen dicken Eisschicht versteckt gelegen hatte.

Bis heute.

Conrad hielt sich die Hand über die Augen. Um die Pyramide herum, unter dem Eis, erstreckte sich sechs Meilen weit eine tropische Insel im Eismeer. In einiger Entfernung konnte er die schneebedeckten Gipfel der Berge jenseits der Antarktis sehen.

Die Luft war klar und frisch, und er hörte das entfernte Rauschen von Wasserfällen. Angesichts der Erhabenheit der Stätte waren seine Befürchtungen, seine Zweifel und sein kleinlicher Ehrgeiz wie weggefegt. Und als er seine Blicke über die neue Welt schweifen ließ, fragte er sich plötzlich, was wohl aus der alten geworden war.

Tagesanbruch minus 15 Stunden 23 U.S.S. Constellation

Admiral Warren durchschritt platschend das Hangardeck der U.S.S. Constellation und begutachtete den Schaden. Der Flugzeugträger war zwar nicht gekentert, aber er hatte so viel Wasser abbekommen, dass die Titanic damit zweimal gesunken wäre. Aber der alte Kasten schwamm noch und tuckerte mit Notstrom dahin.

Die ersten Meldungen von der US-Erdbebenwarte in Golden, Colorado, und von einem japanischen Erdbebenzentrum machten ein Beben in der Ost-Antarktis – 11,1 auf der Richter-Skala – für die Flutwelle verantwortlich. Aber Warren konnte von McMurdo oder Amundsen-Scott keine Bestätigung bekommen. Sämtliche Verbindungen zu den amerikanischen Stationen waren wegen des Zusammenbruchs des EMP-Systems unterbrochen.

Das alles schienen die Meldungen aus Moskau und Peking zu bestätigen, die besagten, dass es sich bei dem ›seismischen Zwischenfall‹ in der Antarktis in Wirklichkeit um eine geheime, von den Vereinigten Staaten ausgelöste Atomexplosion handelte – eine eklatante Verletzung des internationalen Antarktisvertrags.

Der elektromagnetische Puls hatte auch die Satelliten funktionsuntüchtig gemacht. Warren wurde mitgeteilt, dass er mindestens sechzehn Stunden warten müsse – wenn er nicht selbst einen Erkundungsflug über das Epizentrum machen könne –, bis die US-Luftwaffe an Ort und Stelle sei, um entweder festzustellen, dass die Anschuldigungen falsch waren, oder um Yeats' Schurkerei zu decken.

Yeats, du verdammter Mistkerl, brummelte Warren vor sich hin, während er die schwimmenden Teile einer zerbrochenen Tragfläche umrundete. Sah aus wie von einer F/A-18 Hornet. Der Rest lag übel zugerichtet zusammen mit den Überbleibseln einer S-3B Viking herum.

Warren schüttelte den Kopf. Sechsundzwanzig Verletzte, davon drei in kritischem Zustand, und neun Vermisste. Und das allein auf der Constellation. Die Nachrichten meldeten, dass ein Drittel von Male, der Hauptstadt der Malediven, unter Wasser stand. Selbst ein geringes Ansteigen des Meeresspiegels könnte jetzt den ganzen Inselstaat auslöschen – alle etwa 1.200 Inseln. Die gesamte Bevölkerung von 340.000 Einwohnern war in Gefahr.

Die einzig positive Nachricht, die Warren nach Washington melden konnte, war, dass seine Mannschaft die Greenpeace-Aktivisten von deren Schiff, das in der Zwischenzeit gesunken war, hatte retten können. Diese Unruhestifter halfen jetzt immerhin bei der Versorgung der Verletzten und machten zudem einen verdammt guten Kaffee, den besten, den Warren jemals getrunken hatte.

Er war gerade bei seiner vierten Tasse, als einer seiner Funkoffiziere durch das Wasser zu ihm kam.

»EAM kommt über Milstar, Sir.«

Warren sah, wie eine Socke an ihm vorbeischwamm. Das Milstar-System gewährleistete die Nachrichtenverbindung des Präsidenten zu den höheren Militärbefehlshabern. Das 17 Milliarden Dollar teure Milstar-Satelliten-System, das Military Commanders' Voice Conference Network, war errichtet worden, um den Befehlshabern die Fernkonferenz darüber zu ermöglichen, ob eine Rakete Nordamerika bedrohte und, wenn das der Fall war, welche geeigneten Maßnahmen ergriffen werden sollten.

»Oberste Dringlichkeitsstufe, Sir.«

»Bin schon da.«

Warren nahm einen letzten Schluck Kaffee, als er den mit Radar ausgestatteten Black-Hawk-Hubschrauber in der Ecke erblickte, an dem einige Leute seiner Wartungsmannschaft auf seinen Befehl hin arbeiteten. Dann zerdrückte er die Styropor-Kaffeetasse und warf sie auf den Hangarboden. Sie wurde sofort weggespült.

In den Räumen des Krisenstabs der Constellation war das Wasser nur knöchelhoch. Warren watete hinein. McBride, dienstältester Offizier, saß schon am Konferenztisch. Zu Warrens' Bestürzung saß neben McBride der ungepflegte Greenpeace-Freak von der Arctic Sunrise, der in der CNN-Sendung dabei gewesen war. Er fummelte an einem bonbonfarbenen Laptop herum, der wie ein Spielzeug aussah.

Warren runzelte die Stirn. »Was macht diese Zivilperson hier, McBride?«

»Das ist Thornton Larson, Doktor der Geophysik vom Massachusetts Institute of Technology«, sagte McBride. »Er hat die Milstar-Berichte runtergeladen und will Ihnen was zeigen.«

»Hätten das nicht auch Ihre Offiziere gekonnt, McBride?«

»Sir, die Daten sind dermaßen außerhalb der Norm, dass wir eine zweite Meinung einholen wollten. Dr. Larson hat da außerordentliche Fähigkeiten.«

Warren setzte sich und beobachtete den zerzausten Larson. Dieser Klugscheißer weiß noch nicht mal, was Rasierklingen sind, dachte er, und McBride erörtert mit ihm Sicherheitsfragen, die der nationalen Geheimhaltung unterliegen. »Schießen Sie los, Larson.«

»Ich konnte das letzte Bild retten, bevor der EMP die Eingeweide des Satelliten verbrutzelt hat«, sagte Larson aufgeregt. »Ich hab es gefiltert. Schauen Sie mal.«

Warren blickte auf den großen Bildschirm an der Wand. Ein blau getöntes Bild der Antarktis kam zum Vorschein, das Warren nur allzu bekannt vorkam. Aber in der Mitte, beziehungsweise knapp neben dem Zentrum der Ost-Antarktis, befand sich ein bräunlich gelber Fleck.

»He, Mann, ist das nicht Klasse?« Larson war voller Bewunderung für sein Werk.

»Mein Gott, hoffentlich ist das irgendein Sturm und nicht Ground Zero«, sagte Warren.

»Beides zusammen kommt nicht ansatzweise an das hier ran.« Larson wandte den Blick nicht vom Bild auf dem Schirm ab. »Also, Mr. Ground Zero, sind Sie für die Großaufnahme bereit?«

Der bräunlich gelbe Fleck vergrößerte sich zu grobkörnigen Rastern, bis Warren einen Krater im Eis erkennen konnte. Auf dem Grund befanden sich ein Pyramidenkomplex, Tempel und Wasserläufe. Dieser junge Hupfer will uns eindeutig verarschen, dachte Warren.

»Sie finden das wohl ziemlich lustig, was, Larson?«, sagte Warren und wollte aufstehen. »Mal sehen, wie urkomisch es in der Arrestzelle ist.«

»Einen Moment, Sir«, sagte McBride. »Wir haben das alles geprüft. Der Typ hier hat nichts manipuliert.«

Warren setzte sich langsam wieder hin. Er musste unweigerlich an Yeats denken. Dieser Scheißkerl hatte es schon die ganze Zeit gewusst. »Wollen Sie mir etwa erzählen, dass das auf dem Bildschirm echt ist?«

»Was Sie da sehen, ist sozusagen eine Hinterhofband kurz vor dem Berühmtsein«, sagte Larson. »Das ist praktisch die erste Single aus einem Album, das ich mal Mutter Naturs Kakophonie zum Weltuntergang nennen würde.«

Warren sah McBride augenrollend an, was sein Erster Offizier still zur Kenntnis nahm.

»Kinder, aufgepasst!«, sagte Larson.

Warren sah auf den großen Wandbildschirm. Das Bild der Stadt im Eis war weg. Stattdessen drehte sich in der Mitte so etwas wie ein Thermobild der Sonne. Bei jeder Stromschwankung des Notaggregats des Flugzeugträgers flackerte das Bild.

»Larson, können Sie mir vielleicht sagen, was ich da sehe?«

»Den Erdkern, mein Lieber«, sagte Larson. »Den Kern! Eine neue Technik, so etwas Ähnliches wie die Sonografie in der Medizin, macht es möglich, ein Bild vom Inneren des Planeten zu erzeugen. Ich habe die neueste Version von Powerpoint auf meinem G5 benutzt, um …«

Warren machte eine ungeduldige Handbewegung. »Zur Sache.«

»Die Erde ist wie eine Zwiebel, Mann, und besteht aus verschiedenen Schichten«, sagte Larson. »Und die Zwiebel rotiert. Sie wirbelt Orkane und Stürme in der Atmosphäre auf. Aber der Erdkern dreht sich unabhängig davon. Wenn sich da was ändert, kann das an der Oberfläche des Planeten bedeutende Folgen haben. Ich spreche von echten Konsequenzen.«

»Sie denken da an Erdbeben und Flutwellen?«, fragte Warren.

»Ganz große Nummer«, sagte Larson. »Albert Einstein, Dr. Relativität persönlich, hat sogar die Theorie aufgestellt, dass sich die äußere Kruste, die Lithosphäre, in Abständen über der Asthenosphäre verschiebt, was auf die Eisbildung an den Polen zurückzuführen ist.«

»Was erzählen Sie da?«

»Mein Lieber, ich sage Ihnen gerade, dass wir Zeugen einer so genannten Erdkrustenverschiebung geworden sind.«

Warren hatte keine Ahnung, wie bekifft dieser Typ war, aber er musste unbedingt rauskriegen, was es mit dieser Theorie auf sich hatte. »Und was bewirkt diese Erdkrustenverschiebung?«

»Also, hier wird's ziemlich krass«, sagte Larson. »Die Antarktis wird zum Äquator geschoben und Nordamerika in Richtung Polarkreis.«

Auf dem Bildschirm erschien ein weiteres Computerbild, diesmal von der Erde. Warren wurde ganz heiß, als er sah, wie sich die Antarktis – ohne Eis – zur Mitte der Erde hin bewegte und Nordamerika an das obere Ende der Weltkugel geschoben wurde.

»Wollen Sie damit sagen, dass wir lieber hier bleiben und uns an den Stränden der Antarktis sonnen sollen«, sagte er, »statt uns in den USA, die dann unter einer zwei Meilen dicken Eisschicht liegen, die Ärsche abzufrieren?«

»Bingo!«, sagte Larson. »Bingo! Eine Erdkrustenverschiebung würde in unterschiedlichem Maße auf verschiedenen Kontinenten größere Gebiete auslöschen, was wiederum von allen möglichen Veränderungen der Breitengrade abhängt. Ich habe die von einer eventuellen Zerstörung betroffenen Gebiete mal hervorgehoben. Also, vor denen muss man sich höllisch in Acht nehmen. Das kann ich Ihnen verklickern.«

Larson zog auf dem Bildschirm durch den Nordpol und den Südpol eine Linie um die Erdkugel. »Die Linie der größten Verschiebung verläuft durch Nordamerika, den Westen von Südamerika, halbiert die Antarktis, geht durch Südostasien bis nach Sibirien und dann nach Nordamerika zurück. Alle Kontinente, die sich auf dieser Linie befinden, stehen kurz vor der totalen Vernichtung.«

»Niemand kann die Zukunft voraussagen«, wandte Warren ein, der die Bestimmtheit, mit der der grüne Aktivist sprach, beklemmend fand. »Wenn Sie die alten Fünfjahresvorhersagen des Pentagons gelesen hätten, wüssten Sie das. Und wie lange soll dieser angebliche Todesring brauchen, um uns alle auszulöschen?«

»Das kann ich nur schätzen, aber meine Hochrechnungen sagen eine Erdkrustenverschiebung innerhalb der nächsten paar Tage voraus, die binnen einer Woche abgeschlossen sein wird.«

Warren war fassungslos. »Diese ganze Zerstörung soll in ein paar Tagen stattfinden?«

»O Mann, laut Schöpfungsgeschichte hat Gott schließlich auch nur sechs Tage gebraucht, um die Welt zu erschaffen«, sagte Larson. »Warum sollte eine Erdkrustenverschiebung länger brauchen, um sie zu zerstören? Es ist wie mit einer Spule, die sich, wenn sie erst einmal angefangen hat sich zu drehen, mit unaufhaltsamer, verheerender Schnelligkeit abrollt.«

Warren lehnte sich vor. »Ist so was schon einmal passiert?«

»Ja, mehrere Male.«

»Und Sie waren vermutlich dabei, um alles genau zu protokollieren, ja?«

»Schön wär's«, sagte Larson. »Die letzte Verschiebung liegt ungefähr 11.600 Jahre zurück, also etwa um das Jahr 9600 vor unserer Zeitrechnung. Den geologischen Aufzeichnungen nach haben damals gewaltige Klimaveränderungen den Planeten überzogen. Ganze Eisplatten schmolzen weg, und der Meeresspiegel stieg. Massenweise sind riesige Säugetiere verschwunden. Es gab eine gigantische Völkerwanderung in Richtung Mittel- und Südamerika. Ehrlich, da war schwer was los.«

»Und das passiert alle 12.000 Jahre?«

»Nein, alle 41.000 Jahre«, sagte Larson, dem plötzlich die Luft auszugehen schien. Er ließ sich in einen Sessel plumpsen. »Die nächste Verschiebung dürfte also eigentlich erst in 30.000 Jahren stattfinden. Irgendwie wurde der Kreislauf beschleunigt. Keine Ahnung, wie.«

Warren konnte sich noch weniger einen Reim darauf machen. Aber er war sich verflucht sicher, wer für das Ganze verantwortlich war. »Und wann ist es so weit?«, fragte er. »Wie schnell läuft der Countdown ab?«

»Die Verschiebung müsste uns morgen bei Tagesanbruch erreichen.« Mit glasigen Augen fing Larson an, mit den Fingern abzuzählen. »Mist, das sind weniger als fünfzehn Stunden. Nur noch eine Nacht für die Freuden dieser Welt, und dann ist alles futsch.«

Admiral Warren starrte den Knaben fassungslos an und hoffte, dass dessen Doktortitel nichts als fauler Zauber war. Sonst säßen sie übel in der Tinte.

Tagesanbruch 24 minus 14 Stunden

Serena lief in der Obelisken-Kammer auf und ab, während sie auf Conrad wartete.

Irgendetwas musste gründlich schief gelaufen sein. Sie konnte es in der Luft riechen und in ihren Knochen spüren. Etwas von gigantischem Ausmaß, etwas außerordentlich Bedeutendes war geschehen. Ihr war schrecklich flau im Magen, so als ob sie stundenlang nichts gegessen oder getrunken hätte, außer einen Espresso nach dem anderen zu sich zu nehmen. Hätte sie doch nur schon früher auf ihre Zweifel reagiert oder Conrad weiter zu überreden versucht, oder Yeats länger hingehalten.

Während sie umherwanderte und nachdachte, blickte sie beklommen auf den leeren Altar in der Mitte. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte er sich wie ein Höllenschlund geöffnet und dabei Kowitsch eingeäschert und Yeats verschlungen.

Vielleicht war es so etwas wie ein geothermischer Wind gewesen, etwas, was die Hitze in der Erdmitte anzapfen und die Energie nutzen konnte. Schließlich produzierten Brennstoffzellen die Nebenprodukte Hitze und Wasser. Und von beiden gab es in der P4 wahrlich genug.

Auf jeden Fall befolgte die P4 die vorprogrammierten Anweisungen ihrer Erbauer, wer immer diese auch gewesen sein mochten. Es war eindeutig beabsichtigt, eine Art weltweite Zerstörung zu inszenieren, falls die Menschheit nicht rechtzeitig ihr Dasein rechtfertigte, indem sie sich als ›ehrwürdig‹ erwies.

Serena sah sich nach allen Seiten um und zog dann das Zepter des Osiris aus ihrem Rucksack. Sie hielt den leuchtenden Obelisken in der Hand. Intuitiv hatte sie Conrad angelogen und ihm verschwiegen, dass sie sich den Gegenstand unter den Nagel gerissen hatte.

Sie ging zum Altar hinüber und setzte dort das Zepter behutsam in den runden Sockel. Rumpelnd drehte sich die gewölbte Sternendecke. Serena gab sich Mühe, die Gestirne so zu stellen, wie sie positioniert waren, bevor Conrad den Obelisken entfernt hatte. Die Drehbewegung stoppte. Serena wartete. Nichts geschah. Was auch immer Conrad ausgelöst hatte, es konnte offenbar nicht rückgängig gemacht werden. Von wegen Jungfräulichkeit. Sie war eindeutig genauso wenig ›ehrwürdig‹ wie er.

Sie nahm den Obelisken wieder vom Altar und spürte gleich darauf, wie die Wand hinter ihr erzitterte. Sie drehte sich um und sah, wie sich die vier Türen der Kammer nacheinander öffneten.

Eine ganze Zeit lang stand sie wie angewurzelt da und wusste nicht, was sie tun sollte. Dann betrachtete sie den Obelisken in ihrer Hand. Irgendetwas war anders. Die Seite mit den vier Sonnen hatte sich verändert. Jetzt waren da sechs Sonnen, wobei die sechste die größte war. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Ein neues Zeitalter war angebrochen, was nur bedeuten konnte, dass das alte unweigerlich zu Ende ging.

Gleich geblieben war die Inschrift, die besagte, dass das Zepter des Osiris zum Heiligtum der Ursonne gehörte. Daneben war jetzt eine Konstruktion wie die P4 zu erkennen, ein Denkmal seiner Zeitepoche. Wenn die P4 die Pyramide der Vierten Sonne war, dann musste das Heiligtum der Ursonne während der Ersten Zeit, der Schöpfung, der Urzeit gebaut worden sein. Sollte Conrad Recht haben, konnte die biblische Genesis nichts anderes als die entsprechende ›ehrwürdige‹ Zeit sein.

Serena kam zu dem Schluss, dass sie dieses Heiligtum der Ursonne finden und dessen Geheimnis lüften musste. Erst dann konnte sie die Sternenkammer auf die ›ehrwürdige‹ Zeit einstellen, um dadurch das, was auch immer gerade geschah, anzuhalten.

Aber wo befand sich dieses Heiligtum, und wie würde sie es überhaupt erkennen? Conrad würde das können. Sie ging zu dem Lichtrechteck unter dem Südschacht und verfolgte mit den Augen Conrads Seil, das den Schacht hochlief. Am anderen Ende flimmerte Tageslicht. Warum blieb er so lange weg?

Serena wandte sich vom Schacht ab und blickte durch die leere Kammer. Yeats' Rucksack lag immer noch da. Sie hatte ihn schon einmal durchwühlt, aber erst jetzt merkte sie, dass an dem Futter an der Rückenseite etwas nicht stimmte. Bei näherer Untersuchung stellte sie fest, dass dort ein flacher Gegenstand eingenäht war.

Sie zog ein Militärmesser aus Yeats' Rucksack und schlitzte das Futter auf. Ein gefaltetes Papier mit einer Zeichnung darauf kam zum Vorschein. Es sah wie der Konstruktionsentwurf einer Art Säule aus. Mit einem Schlag erkannte sie dann die ›Säule‹. Es war eine originalgetreue Abbildung des Obelisken, den sie in der Hand hielt.

Wie sie schon vermutet hatte, wussten die Amerikaner also mehr über diesen Ort, als Yeats zuzugeben bereit gewesen war. Yeats hatte die Zeichnung eindeutig schon gehabt, bevor sie die P4 betreten und den Obelisken gefunden hatten. Noch bevor Yeats das Zepter des Osiris mit eigenen Augen gesehen hatte, musste er gewusst haben, dass es sich hier unten befand.

Natürlich war die verrückte Geschichte, wie er Conrad angeblich im Eis gefunden hatte, nicht wahr, sagte sie sich. Die hatte nur dazu gedient, in einer Krisensituation mit Conrads Gefühlen zu spielen. Nicht anders hatte das auch Conrad gesehen.

Aber da war etwas gewesen, bevor Conrad aus seiner Bewusstlosigkeit aufgewacht war. Er hatte etwas gemurmelt, und das wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Es hatte wie ein schmerzvolles Stöhnen geklungen. Aber in der Wortstruktur und in der Aussprache war es ihr eigenartig bekannt vorgekommen. Jetzt, wo sie wieder daran dachte, wurde ihr bewusst, dass Conrad ständig das Wort ›Mama‹ in einer Vorstufe der Aimara-Sprache wiederholt hatte. Ein Wort, das Conrad aber auf keinen Fall hätte wissen können.

Ihr lief es eiskalt den Rücken hinab. Ob Conrad vielleicht doch ein Atlanter war? Vielleicht war sie auch nur einfach verrückt. Sie besah sich den Obelisken genauer und verglich ihn mit dem Entwurf. Bis auf die Gravierungen, die, wie sie soeben selbst gesehen hatte, die Fähigkeit besaßen, sich zu verändern, sahen sie völlig gleich aus.

Serena nahm die Thermosflasche aus ihrem Rucksack. Sie drehte die Ummantelung, bis sie sich entriegelte, und nahm sie dann wie eine Hülle ab. Dann rollte sie die Zeichnung um das Innere der Thermosflasche und schob den Mantel wieder darüber, bis er einrastete. Auf dieses Versteck hatte sie auf ihren Reisen bereits öfter einmal zurückgegriffen. Schließlich verstaute sie die Flasche wieder im Rucksack.

Sie blickte wieder den Südschacht hoch. Es war wohl nicht ratsam, sich ohne Conrad von hier zu entfernen, aber er war jetzt schon sehr lange fort. Ewig konnte sie nicht warten. Und außerdem: Konnte sie sich wirklich sicher sein, dass Conrad sie mit seinem eigenmächtigen Erkundungsgang nicht im Stich ließe? Ihr hingegen war völlig klar, was sie tun musste. Sie musste das Zepter zum Heiligtum der Ursonne bringen. Dort hoffte sie, das so genannte Geheimnis der Urzeit zu enthüllen, um dadurch das zu stoppen, was gerade geschah.

Was Conrad betraf, konnte sie ihm einfach nicht trauen, genauso wenig, wie sie das bei Yeats hatte tun können. Wenn es darauf ankam, konnte sie sich nicht einmal auf den Papst oder Gott verlassen. Wie konnte Er das alles überhaupt zulassen – und auch noch zum wiederholten Mal? Sie musste an das Mädchen im Eis denken. Sie konnte den Gesichtsausdruck nicht vergessen. Gott konnte Derartiges jederzeit noch einmal geschehen lassen. Sie würde das aber nicht zulassen.

Sie steckte den Obelisken in ihren Rucksack, hievte ihn auf ihre Schultern und ging dann durch den inzwischen wieder geöffneten Durchgang hinaus. Der Tunnel brachte sie zu einer Gabelung am Ende des großen Gangs. Sie nahm den Mittelgang, der nach unten führte, aus der P4 hinaus.

***

Als Serena aus der dunklen Pyramide ins Tageslicht eintauchte, kam ihr die Sonne so strahlend vor wie noch nie. Es war heiß, aber die Hitze war von jener trockenen Beschaffenheit, die sie mochte. In der Antarktis herrschte eben Wüstenklima, ob nun mit oder ohne Eis, dachte sie, während sie die Hand vor die Augen hielt. Wahrscheinlicher rührte die Hitze von der gewaltigen geothermischen Maschinerie her.

Nachdem sich ihre Augen kurz darauf an das Licht gewöhnt hatten, merkte sie, dass sie sich auf dem Grund eines riesigen Kraters im Eis mitten in einer Stadt befand. Weiter hinten ragten Eiswände in die Höhe und bildeten einen spektakulären Hintergrund für diese Wüstenlandschaft mit ihren Pyramiden, Obelisken, Tempeln und Wasserläufen. Sie konnte das Rauschen eines entfernten Wasserfalls hören.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Die frische, sauerstoffreiche Luft überwältigte ihre Sinne. Genau wie die Erkenntnis, dass es hier unten wahrscheinlich jahrhundertelanger Forschung bedurfte und dass, selbst wenn sie tausend Leben hätte, sie gerade mal anfangen könnte, die Geheimnisse dieser Stadt aufzudecken.

Was auch sonst noch geschehen sollte, diese Entdeckung veränderte die Menschheitsgeschichte von Grund auf.

Während sie die Augen noch geschlossen hielt, glaubte sie einen Hund bellen zu hören. Das ist doch lächerlich, dachte sie. Eigentlich sollte sie jetzt beten und auf eine innere Botschaft des Heiligen Geistes oder eine Anweisung Gottes lauschen. Aber außer dem Bellen, das immer lauter und aufgeregter wurde, war nichts zu hören. Sie blinzelte und sah nun, wie Nimrod, Yeats' Husky, auf sie zutrottete.

Serena war über die Freude, die daraufhin in ihr aufkam, selbst erstaunt und rief ihm zu: »Ja, komm schon!«

Nimrod sprang in ihre Arme und leckte ihr Gesicht ab.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie ihn. »Ist mit den anderen auch alles okay?«

Nimrod drehte sich sofort um, rannte in die andere Richtung und blickte immer wieder zu ihr zurück.

»Du willst wohl, dass ich dir folge, was?«

Nimrod bellte und rannte jetzt weiter, ohne noch einmal zurückzuschauen.

Eine halbe Stunde lang folgte Serena dem Hund den Hauptwasserweg der verlassenen Stadt entlang. Je länger sie liefen, desto weniger kam sie sich wie in einer Stadt vor. Nichts wies darauf hin, dass hier jemals Menschen gelebt hatten. Es gab keine Straßen, nur Wasserläufe. In einigen glitzerte das Wasser, andere waren trocken. Auch der Boden zwischen den einzelnen Gebäuden war trocken. Keine Pflanze, nichts. Was sich natürlich innerhalb ein paar Tagen ändern konnte.

Möglicherweise lagen die Wohnhäuser ja außerhalb, wo sie noch unter dem Eis begraben waren. Diese von einer kalten Pracht geprägten Gebäude erinnerten sie an jene Stadt voller aufgelassener Ölfördertürme, die sie am Kaspischen Meer in der ehemaligen Sowjetunion einmal bereist hatte: meilenweit nichts als verrostete Rohrleitungen, durch die man mit einem Lastwagen hätte fahren können, und gespenstische Raffinerien, die sich wie Müllberge am Horizont erstreckten.

Sie hatte auch das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl sie wusste, dass es absurd war. Weit und breit war niemand, der sie hätte sehen können. Natürlich war Nimrod hier. Vielleicht gab es da auch noch andere Lebewesen. Manchmal verlor sie den Hund aus dem Blickfeld, blieb aber immer in Hörweite des Bellens. Dann wurde das Bellen lauter. Er wartete wohl auf sie, um ihr etwas zu zeigen.

Aus der Ferne sah sie etwas in der Sonne blinken. Bald erreichte sie am Rand der Wasserstraße einen zerstörten Hägglunds-Transporter. Der hintere Kabinenaufsatz war völlig zersplittert. Die Fiberglasscherben glitzerten überall auf dem Boden. Das Führerhaus schien jedoch noch intakt zu sein.

Serena ging zur Fahrertür, die einen Spalt offen stand, und riss sie ganz auf. Sie schnappte nach Luft, weil ihr Colonel O'Dells Leiche vor die Füße rutschte. Sein Kopf war ein einziger Blutklumpen, und an den Haaren klebten noch Teile des Armaturenbretts. Nimrod schnüffelte winselnd an dem leblosen Körper.

Der arme O'Dell. Sie würde ihn wohl beerdigen müssen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Aber zuerst einmal musste sie prüfen, ob der Sender des Hägglunds funktionierte und ob es Lebensmittel oder Wasser gab.

Sie kletterte ins Führerhaus und suchte systematisch nach einem Satellitentelefon, nach Waffen und Essbarem, nach allem, was eventuell gut zu verwenden war. Aber die Kabine war wie leer gefegt. Sie fand lediglich ein einziges Fertiggericht und einen Kurzwellensender.

Sie riss den Essensbeutel auf. Nimrod gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er auch einen Teil abhaben wollte, und kam schnuppernd in die Kabine.

»Ist ja schon gut«, sagte sie. »Komm nur rein.«

Sie teilten sich die Mahlzeit. Je länger sie kaute, umso mehr wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich eher nach Nachrichten hungerte. Sie blickte zum Kurzwellengerät und fragte sich, ob es wohl funktionierte, hoffte aber komischerweise, dass das nicht der Fall war.

Sie hielt es nicht mehr aus und stellte den Sender an. Er funktionierte. Ein lautes Rauschen war zu hören. Sie suchte die Frequenz der BBC. Sie fand den Sender und hörte die angespannte Stimme des Sprechers.

»Die Massenevakuierungen der Küstenstädte in den USA sind in vollem Gang«, berichtete der Sprecher. »Die Regierung hat den Flüchtlingen nach eigener Aussage fast drei Millionen Quadratkilometer Land zur Verfügung gestellt. Das entspricht annähernd dreißig Prozent der US-Landfläche.«

Stück für Stück wurden die Einzelheiten genannt: der gewaltige ›seismische Zwischenfall‹ in der Antarktis, der einen Gletscher in der Größe von Texas abgespalten hatte, die Überflutung der Malediven und anderer Inseln im Pazifik, die Zusammenkunft des UN-Sicherheitsrates in New York und die Schuldzuweisungen bezüglich geheimer amerikanischer Atomwaffentests in der Antarktis.

Mein Gott, was haben wir da angestellt? Serena hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Sie überließ Nimrod den Rest der Mahlzeit.

Diverse Kommentatoren, Situationsanalytiker und Wissenschaftler von internationalem Rang meldeten sich zu Wort. Einige befürchteten, dass die Eiskappe ganz zusammenbrach, andere glaubten, dass der Meeresspiegel ganze Küstenregionen auslöschte und tief liegende Gebiete wie Florida im Meer versinken ließ. Diejenigen, die Zugang zu den entscheidenden Stellen besaßen, gaben zu, Gerüchte von einer potenziellen Erdkrustenverschiebung und einer weltweiten geologischen Katastrophe gehört zu haben.

Serena schaltete den Sender aus und nahm das Zepter des Osiris wieder aus ihrem Rucksack. Sie starrte es an, und es drehte sich ihr der Magen, als sie daran dachte, was dieses Zepter bisher alles angerichtet hatte.

Sie öffnete die Beifahrertür. Nimrod sprang hinaus, rannte zum Kanal hinüber und schlabberte das Wasser. Sie ging zu ihm, kauerte sich neben ihn und sah zum anderen Ufer. Es war ungefähr 170 Meter weit entfernt.

Nimrod schien das Wasser gut vertragen zu haben. Sie holte eine leere Wasserflasche aus dem Rucksack und tauchte sie ein. Die Strömung war so stark, dass sie die Flasche sofort mitriss. Serena hielt nun einfach die hohle Hand ins Wasser und schlürfte daraus. Sie spritzte gerade etwas Wasser auf ihr ölverschmiertes Gesicht, als sie ein Jaulen vernahm.

Sie drehte sich um. Nimrod lag mit aufgerissenen Augen auf der Seite und hechelte. Sie spuckte das Wasser aus und untersuchte ihn.

»Stimmt was nicht, alter Junge?« Sie machte sich Sorgen und kraulte ihn an den Ohren. »Sag bloß nicht, dass es am Wasser liegt.«

Es war nicht das Wasser. Aus Nimrods Bein sickerte Blut. Sie schaute genauer hin. Es sah wie ein Einschussloch aus.

»Mein Gott«, wollte sie gerade sagen, da erschien auf Nimrods Fell in Brusthöhe ein leuchtend roter Fleck. Eine Sekunde später schoss das Blut nur so heraus. Sie sprang auf und schrie.

Ein Dutzend arabische Soldaten in UNACOM-Uniformen umstellten sie und hielten ihre Kalaschnikows im Anschlag. Ihr Befehlshaber machte einen Schritt aus dem Kreis heraus und sprach in sein Funkgerät.

»Jamil hier«, sagte er auf Arabisch. »Wir haben einen Überlebenden gefunden. Eine Frau.«

Serena glaubte, dass er mit ägyptischem Akzent sprach. Die Antwort, die aus dem Funkgerät drang, bestätigte ihre Vermutung: »Bring sie zu mir.«

»Jawohl.«

Bevor sich Serena rühren konnte, gab Jamil einem seiner Männer ein Zeichen, worauf sie dieser übereifrige Grünschnabel auf den Boden warf, um sie mit beachtlichem Kraftaufwand unten festzuhalten. Er riss ihren Overall auf, griff hinein und tastete sie überall ab.

»Was haben wir denn hier?«, sagte der Soldat mit saudiarabischem Akzent und zog ein Schnappmesser heraus.

Der Saudi hielt das Messer hoch und ließ die Klinge aufspringen, worauf prompt das Gelächter seiner Kameraden einsetzte. Dann schleuderte er das Messer durch die Luft. Es grub sich in den Boden. Seine Augen schienen Feuer zu versprühen, während er nun mit in die Hüften gestemmten Armen über Serena stand.

Jetzt reichte es ihr. Der Saudi wollte gerade weggehen, da trat sie ihm mit voller Wucht in den Unterleib. Er wich vor Schmerz zurück. Serena sprang auf und wollte ihr Knie gerade in sein gebeugtes Gesicht stoßen, da zeichneten sich plötzlich rote Punkte auf ihrem Oberkörper ab. Beim Aufschauen sah sie, wie zahlreiche Kalaschnikows auf sie gerichtet waren.

Serena streckte die Arme hoch und ergab sich. Sie blickte zu dem Saudi hinüber, den sie getreten hatte. Er kroch auf allen vieren auf dem Boden. Ein anderer Araber, seinem Akzent nach ein Afghane, stellte sich hinter sie und führte sie vor Jamil.

Jamil schien von ihrer Vorstellung begeistert zu sein. »Na, was haben wir denn da?«

»Zeig ich Ihnen gleich«, sagte Serena auf Arabisch. Mit ihrem Ellenbogen stieß sie dem Afghanen hinter ihr ins Gesicht. Er schrie auf und ließ seine Waffe fallen. Serena brachte die Kalaschnikow an sich und richtete es auf den verwundeten Soldaten.

»Lassen Sie mich gehen«, sagte Serena zu Jamil, wobei sie dem Afghanen das Gewehr in den Rücken drückte. »Oder ich töte diesen Mann.«

»Sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun, Mademoiselle.«

Jamil zog einen Colt mit Perlmuttgriff heraus, richtete ihn auf Serenas Geisel und erschoss sie. Serena sah fassungslos zu, wie der Afghane zu Boden sackte. Jetzt war sie Jamil schutzlos ausgeliefert.

»Mademoiselle, bitte geben Sie das Zepter des Osiris heraus, oder ich muss sie ebenfalls erschießen.«

»Sie wissen über das Zepter Bescheid?«

»Erschießt sie«, sagte einer der Soldaten zu Jamil.

Jamil lächelte. »Nicht bevor sie mir alles erzählt hat.«

Der Wind nahm zu. Serena blickte nach oben und sah, wie sich ein Hubschrauber näherte. Es war ein französisches Modell, ein AS365 Dauphin. Sie selbst hatte diesen Eurocopter auch schon mehrmals geflogen. Er gehörte offensichtlich den Leuten von der UNACOM, jedenfalls schien sich Jamil nicht besonders darum zu scheren.

»Das Zepter, sagte ich.«

»Ich habe es an einem sicheren Ort versteckt«, antwortete Serena. »Lassen Sie mich gehen, dann führe ich Sie hin.«

Einer von Jamils Leuten, der Serenas Rucksack durchwühlte, rief plötzlich zu ihnen herüber und zog den Obelisken heraus.

Jamil nahm den Obelisken in die Hand, begutachtete ihn kurz, sah dann Serena an und lachte los. »Sagen Sie Oberst Zawas, dass wir das Zepter des Osiris gefunden haben.«

Tagesanbruch 25 minus 13 Stunden

Am späten Nachmittag blickte Conrad von seinem Hochsitz auf dem Gipfel der P4 aus der Vogelperspektive über die verlorene Stadt. Wenn Dad das alles sehen könnte, dachte er, während er aus der Schachtöffnung schaute.

Die Stadt lag mit ihren konzentrisch angelegten Wasserwegen wie zu einem Gitter zusammengefügt da. Breite Straßen mit kleinen und größeren Tempeln an den Seiten liefen strahlenförmig vom P4-Komplex nach außen. Die inselartige Ansiedlung erinnerte ihn an die Straße der Toten im mexikanischen Teotihuacan. Irgendwie aber auch an die National Mall in Washington.

Die Totenstadt war ungefähr eine Meile lang, und die P4 bildete das Zentrum. Im Osten schloss eine sphinxartige Konstruktion die Anlage ab, im Westen eine Stufenpyramide mit tosenden Wasserfällen, die im Sonnenlicht glitzerten. Die Ausmaße waren gigantisch.

Am erstaunlichsten war, dass sich die verschiedenen Gebäuderinge langsam verschoben, um an bestimmten Stellen einzurasten. Oder drehte sich etwa die P4? Conrad konnte es nicht sagen. Auf jeden Fall hatten die Erbauer damals, noch bevor eine Erdkrustenverschiebung den Kontinent bewegt hatte, mehr als nur eine auf die Sterne abgestimmte Stadt konstruiert. Sie hatten eine Stadt erbaut, in denen die Bauwerke immer wieder neu angeordnet werden konnten, möglicherweise mithilfe von Hydraulik. Genug Wasser floss ja durch die Venen der Stadt.

Conrad bemühte sich, diese entrückte Landschaft in sich aufzunehmen, um das Bild in seinem Gedächtnis zu speichern, damit er es niemals vergesse. Die Dimension der Anlage jedoch trotzte jedem Begriffsvermögen. Die Stadt umfasste sicherlich eine Fläche von 25 Quadratkilometern, die es in diesem Krater, dessen Eiswände um die Stadt herum dreitausend Meter in den Himmel ragten, zu erforschen galt. Und das bezog sich lediglich auf den sichtbaren Teil der Stadt. Conrad nahm an, dass er nur den Bruchteil einer größeren Metropole vor sich hatte.

Die Versuchung war groß, sofort wieder den Schacht hinunterzurutschen, um Serena von seinem Fund zu berichten. Aber er wollte zuerst ein Bild einfangen. Er zog seine kleine Digitalkamera heraus und schwenkte sie über das Tal. Was immer er sonst noch aus dieser Stadt mitnähme, das Foto sollte der Beweis dafür sein, dass er der erste Mensch seit 12.000 Jahren war, der einen Blick auf die früheste Epoche der Menschheit warf. Vielleicht war er sogar der Erste, der eine völlig fremde Zivilisation sah. Womöglich sogar eine Zivilisation, die sein eigener Ursprung war, wenn man Yeats Glauben schenken konnte.

Yeats' Enthüllung hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Zumindest hatte sie die Mauer zwischen ihm und Serena vergrößert. Er hatte die Verunsicherung in ihren Augen lesen können, als sie ihn unten in der Sternenkammer betrachtet hatte. Er wusste nicht, ob es an seiner vermeintlichen Herkunft gelegen hatte oder an dem, was er getan hatte. Die Schuldgefühle darüber, dass der einzige Mensch, der ihm seine Fragen hätte beantworten können, nämlich Yeats, wegen einer fixen Idee sein Leben hatte lassen müssen, wollten ihn jedoch nicht loslassen.

Tatsache war, dass der einzige Vater, den er jemals gekannt hatte, nun tot war.

Er hat mich geliebt, dachte Conrad. Er hat sein Bestes gegeben. Auf seine Art hat er mir das sogar vermitteln können. Jetzt war er nicht mehr da, und sie würden sich niemals mehr wie Vater und Sohn versöhnen können. Dabei hätte Yeats es verdient.

Conrad wurde auf einmal übel. Er atmete die frische Antarktisluft tief ein und fragte sich, was Yeats ihm wohl raten würde. Die Antwort, die ihm dazu einfiel, war eindeutig.

Yeats hätte zweifelsohne eine Militärpersönlichkeit wie Admiral Mahon, seines Zeichens Admiral der Navy während der amerikanischen Revolution, zitiert und gesagt: »Wenn du dich einmal entschlossen hast, etwas zu erreichen, musst du dir von Anfang an über dein höchstes Ziel im Klaren sein. Und hast du dieses Ziel einmal bestimmt, verlier es niemals aus den Augen.«

Conrads Ziel war klar: Er musste einen Plan der Stadt erstellen und das Heiligtum der Ursonne finden, das mit Sicherheit ein Denkmal aus der Urzeit war. Im Inneren des Heiligtums würde sich der Thron des Osiris befinden, jener, der auch auf dem königlichen Siegel zu sehen gewesen war. Wenn es ihm gelänge, das Zepter aus der Sternenkammer in das Heiligtum zu bringen, um dann auf dem Thron des Osiris Platz zu nehmen, würde er das Geheimnis der Urzeit erschließen.

Conrad hielt die Kamera hoch und schwenkte sie von rechts nach links, in den Himmel und auf den Boden. Dann holte er mit dem Zoom verschiedene Konstruktionen heran, angefangen mit der einer sphinxähnlichen Begrenzung im Osten bis hin zur Stufenpyramide mit den Wasserfällen im Westen.

Er war zufrieden, alles eingefangen zu haben, und spielte ein paar Bilder auf dem Display noch einmal ab, um sicher zu sein, dass er nicht träumte. Dabei entdeckte er am Boden einen Punkt, der sich bewegte. Er machte ihn bei der großen Wasserstraße aus, die durch das Stadtzentrum schnitt.

Conrads Herz pochte vor Angst und Aufregung, als er die Kamera auf den Punkt hielt und langsam die Vergrößerung einstellte. Da war es, ein verschwommenes Bild, auf dem sich eindeutig etwas bewegte. Moment mal: Es waren zwei verschwommene Gestalten zu erkennen! Er stellte schärfer. Plötzlich sprang etwas ins Bild.

Es war Nimrod, der Husky aus der Eisstation Orion. Und neben ihm ging Serena. Kurz darauf brach der Hund plötzlich zusammen, und Serena wurde von einem Dutzend Männer umstellt, bevor ein Hubschrauber neben der Gruppe landete. Es schien keine freundliche Zusammenkunft zu sein.

Conrad ließ die Kamera sinken. Mehrere Kampfhubschrauber schwirrten über ihn hinweg. Bevor er winken konnte, entleerte sich ein Maschinengewehr in seine Richtung. Die Salve streifte die Pyramide.

So schnell er konnte, rutschte er in die Sternenkammer hinunter, die jetzt völlig leer war. Die Türen, die zum Gang hinausführten, standen weit offen.

Über ihm klapperte etwas, und als Conrad den Schacht, den er gerade herabgerutscht war, hochsah, fiel ein brennender Kanister herunter. Conrads Augen fingen an zu schmerzen. Es war Tränengas. Er rannte aus der Kammer hinaus.

An der Gabelung, unten im großen Gang, schaute er durch den Tunnel zum Eingang der P4, den Serena genommen haben musste. Mehrere leuchtend grüne Augen schwebten auf ihn zu. Als einzige Chance blieb ihm, sich in den Schacht fallen zu lassen, der zum Heizkessel führte. Er landete in reißenden Wassermassen, die den unterirdischen Tunnel, der aus der P4 hinausführte, durchspülten.

Jetzt wurde er in rasendem Tempo durch den Kanal getrieben. Er war in einer derart starken Strömung gefangen, dass er nichts tun konnte, außer den Kopf mühsam über Wasser zu halten. In was war er da nur reingeraten?, fragte er sich. Dann sah er, wie eine Tunnelöffnung bedrohlich auf ihn zuschoss. Kurz darauf wurde er von der Dunkelheit verschluckt.

Tief unter der Stadt schnappte Conrad verzweifelt nach Luft, während er durch die finsteren unterirdischen Kanäle mitgerissen wurde. Im eisigen Wasser verlor er die Orientierung. Von überall her hörte er bedrohliche Sauggeräusche.

Als sich der Kanal mit einem größeren Tunnel vereinte, prallte er von der Wand ab und wurde im Kreis herumgewirbelt. Die überwältigende Kraft der Wassermassen verwandelte den rasenden Fluss in einen Whirlpool. Eine weiße Schaumkrone brach in der Dunkelheit über ihm zusammen. Er dachte schon, sie würde ihn umbringen, aber die Welle hob ihn über ein Steinufer auf einen Weg.

Er rang nach Atem, als er aus dem Wasser war. Aber schon flutete die nächste Woge heran, umspülte seine Knie und wollte ihn mit ihrem Sog erfassen. Aber sie wich schnell zurück. Er war schon auf den Beinen und ging den Weg hinunter. Ein flüchtiger Blick sagte ihm, dass dieser Tunnel mindestens zweimal so hoch war wie die Gänge in der P4.

Als Conrad sich nun durch das Labyrinth bewegte, das kreuz und quer unter der Stadt verlief, erfasste ihn Ehrfurcht, aber auch Hilflosigkeit angesichts des Ausmaßes der unterirdischen Infrastruktur des Bauwerks. Er könnte wohl eine Ewigkeit damit verbringen, diese Stadt zu erforschen, und wenn er nicht bald einen Ausgang fand, würde er das wohl oder übel sogar müssen.

Außerdem war er wütend auf Serena, auch jemand, der für ihn ein Geheimnis des Lebens darstellte, das er nie würde ganz ergründen können. Offensichtlich vertraute sie ihm nicht. Warum sonst hätte sie ihn in der P4 zurückgelassen und sich allein vorwärts gewagt? Sie hatte ihren eigenen Überlebenskampf gewählt und – soweit er das beurteilen konnte – ihn als Feind betrachtet. Und doch machte er sich, nachdem er Zeuge ihrer Gefangennahme gewesen war, um ihre Sicherheit Sorgen.

Nach ein paar Minuten gelangte er an eine Gabelung im Tunnel und blieb dort stehen. Zwei kleinere Kanäle tauchten auf, jeder ungefähr zwölf Meter hoch und sechs Meter breit. Er hörte ein schwaches Grollen, das aus dem rechten Kanal kam. Er starrte in die Dunkelheit und sah einen Lichtschimmer. In dem Maße, wie das Grollen lauter wurde, vergrößerte sich auch der Lichtschimmer. Ein Wasserschwall schoss heran, und in wenigen Sekunden würde ihn seine Wucht an die Tunnelwand schleudern und dabei womöglich umbringen.

Es gab nur einen Ausweg, nämlich in den linken Kanal zu laufen. Er tauchte ein, bevor eine Wasserwand, die aus der rechten Öffnung herausbrach, den breiteren Tunnel durchflutete. Er stand im linken Kanal bis zu den Knien im Wasser und sah zu, wie die Flut ganze drei Minuten lang dahindonnerte, bis sie nachließ.

Als alles vorbei war, merkte er, wie er zitterte. Das war knapp, dachte er, als er aufstand. Kaum hatte er einen Schritt in den Kanal gemacht, da hörte er ein entferntes Platschen. Er rechnete mit einer weiteren Sturzflut, die ihm schließlich den Garaus machen würde. Aber sie blieb aus. Er spitzte die Ohren. Das Platschen hatte einen gleichmäßigen Rhythmus.

Er stierte in die Dunkelheit. In der Entfernung hörte er Schritte, die auf ihn zukamen. Es mussten mehrere Personen sein, denn jetzt hörte er auch das raue, immer lauter werdende Gemurmel. Sie sprachen arabisch.

Conrad wich zurück. Das Geräusch seiner Stiefel im Wasser war lauter als beabsichtigt. Er erstarrte. Einen Moment lang hörte er nichts. Dann nahmen die Schritte wieder ihr platschendes Geräusch auf.

»Stehen bleiben!«, rief jemand auf Englisch.

Conrad blickte über die Schulter und sah zwei leuchtend grüne Augen aus der Finsternis auftauchen. Er rannte zum großen Tunnel zurück. Ein Schuss fiel, er duckte sich, und die Kugel prallte an der Wand ab. An der Gabelung vor den beiden Kanälen blieb er wie erstarrt stehen. Er drehte sich langsam um und sah einen roten Punkt auf seiner Brust. Nein, zwei Punkte.

Conrad stand bewegungslos da, als die beiden mit ihren Nachtsichtbrillen aus dem Tunnel auftauchten. Sie trugen UNACOM-Uniformen. Ihre Kalaschnikows waren auf seine Brust gerichtet. Sie sahen wirklich nicht wie UN-Waffeninspekteure aus.

»Abdul, funke Zawas an«, sagte der Mann zur Rechten.

Abdul versuchte die Verbindung herzustellen, aber es kamen nur Störgeräusche. »Wir müssen an die Oberfläche«, sagte er frustriert. »Die Wände hier lassen das Signal nicht durch.«

Abduls Partner ging auf Conrad zu, als es in der Ferne wieder zu grollen anfing. Conrad bewegte sich auf den rechten Kanal zu.

»Stehen bleiben!«, befahl Abdul. »Wo wollen Sie hin?«

»Nach oben, genau wie Sie gesagt haben«, antwortete Conrad, ohne sich umzudrehen.

Als er sich der Öffnung des rechten Kanals näherte, konnte er eine kühle Brise im Gesicht spüren. Das entfernte Tosen wurde lauter. Dann pfiff eine Kugel an seinem Ohr vorbei. Er blieb stehen und drehte sich um.

Abdul und sein Begleiter waren fast zwanzig Meter hinter ihm im großen Tunnel und blickten mit wachsendem Interesse in seine Richtung. Sie sagten etwas, aber Conrad konnte es nicht hören, weil das Grollen hinter ihm zu laut war. Mit einem Mal – Conrad konnte schon die ersten Wasserspritzer am Nacken fühlen – ließen sie ihre Waffen fallen und rannten davon.

Conrad hechtete gerade rechtzeitig in den linken Tunnel, bevor die Wasserwand aus dem Kanal hinter ihm herausschoss und die Soldaten wegspülte. Urplötzlich verwandelte sich der gewaltige Wasserschwall wieder in ein dünnes Rinnsal, so als ob eine automatische Zeituhr den Hahn abgedreht hätte. Die beiden UNACOM-Soldaten waren verschwunden.

Conrad stand bewegungslos da und hörte nur das Tröpfeln des Wassers und seinen schweren Atem. Hinter ihm platschte es plötzlich. Er wirbelte herum und sah eine Gestalt, groß wie ein Kleiderschrank, im Dunklen auf sich zukommen. Sie wurde immer bedrohlicher, bis sie ganz aus der Dunkelheit trat und die Nachtsichtbrille herunterriss.

»Ich habe dich gesucht«, sagte Yeats.

»Dad!« Conrad wollte seinem Vater in die Arme fallen.

Aber Yeats beugte sich nach unten und hob einen leuchtenden Gegenstand auf, der im Wasser trieb. Conrad erkannte, dass es sich um einen ägyptischen ›Ankh‹ handelte, den einer der Soldaten um den Hals getragen hatte. Der Kettenanhänger in Form eines Henkelkreuzes war ein Symbol des Lebens, was dem toten Soldaten jetzt natürlich nichts mehr half. Yeats hielt das Ankh-Zeichen ins Licht seiner Stirnlampe.

»Zumindest fängst du jetzt an, jemandem einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen, Conrad«, sagte er.

Tagesanbruch 26 minus 12 Stunden

Serena fühlte sich unwohl, und ihr war heiß in dem Helikopter, der ruckartig ohne ersichtliches Ziel über die Ebene flog. Der ägyptische Pilot hatte Schwierigkeiten, den überladenen Hubschrauber ruhig zu halten. Jedes Mal, wenn er absank, fluchten hinten die UNACOM-Soldaten. In dem voll gestopften Raum war Jamils Körpergeruch mittlerweile unerträglich geworden. Sie merkte, wie seine grausamen Augen bei jedem Absinken auf ihren Busen starrten.

»Ihnen macht der Flug anscheinend Spaß«, sagte er auf Arabisch.

»Nicht so wie Ihnen«, erwiderte sie. »Vielleicht sollte Ihr Pilot lieber mich ans Steuer lassen.«

Jamil sah sie wutentbrannt an. »Werden Sie nicht unverschämt.«

Serena biss sich auf die Zunge. Sie widmete sich nun ganz der spektakulären Stadt und dem Kanalsystem unter ihr und fragte sich, was wohl mit Conrad geschehen war, wer diese UNACOM-Soldaten wirklich waren und welche Absicht sie verfolgten.

Sie wusste, dass Oberst Ali Zawas sich im Auftrag der Vereinten Nationen in der Antarktis aufhielt und dass diese Männer eindeutig unter seinem Befehl standen. Zweifelsohne brachte man sie jetzt zu ihm. Möglicherweise war der UNACOM-Auftrag jedoch lediglich ein Deckmantel, um eigenmächtige Ziele zu verfolgen. Möglicherweise hatten die Soldaten die ganze Zeit schon darauf gelauert, den Amerikanern ihren Fund im Eis abzuluchsen. Jamil schien über das Zepter des Osiris im Bilde zu sein. Aber woher wusste er davon?

Was ihr dazu einfiel, war alles andere als erfreulich: Die Amerikaner in der Eisstation Orion waren alle vernichtet worden, die russischen Waffeninspekteure ebenso, und jetzt kontrollierten Zawas und seine bewaffnete Truppe die Stadt, bis amerikanische Unterstützung anrückte. Dann war es aber zu spät, um Zawas daran zu hindern, seine fragwürdige Mission auszuführen. Ganz zu schweigen von der weltweiten Naturkatastrophe, die bevorstand.

Der Hubschrauber legte sich nach rechts, sodass Serena die große Wasserstraße unten sehen konnte und dahinter, am Ende einer erhöhten Tempelanlage, eine riesige Stufenpyramide, die wie eine dunkle Festung aufragte. Jamil nannte sie in einem Gespräch mit dem Piloten ›Tempel des Wassermanns‹, und sie erwies ihrem Namen alle Ehre. An den Seiten stürzten zwei Wasserfälle herab, die so groß wie die Niagarafälle waren. Auf einem Vorsprung dazwischen war eine Art Lager errichtet.

Sie flogen über die abgeflachte Ostseite des Tempels zwischen den beiden gewaltigen Wasserfällen hindurch und setzten auf dem Landeplatz eine Stufe weiter unten auf. Als die Tür sich aufschob und die Soldaten ausstiegen, stellte Serena fest, dass die Wasserfälle die Ursache für das leise Grollen waren, das sie die ganze Zeit über in der Stadt gehört hatte. Die vibrierende Kraft des Wassers verursachte bei ihr ein unbehagliches Gefühl. Sie ahnte nichts Gutes.

Serena kletterte hinaus und blickte sich um. Auf beiden Seiten wanden sich zwei schmale, mit Stufen versehene Rampen nach unten. In der Mitte standen Kisten mit Ausrüstungsgegenständen. Weiter hinten, vor dem Eingang zum Tempel, befand sich ein Eisentor. Auf der Pyramidenspitze standen ein Kontrollturm und eine Flugabwehrkanone. Weiter oben musste es noch einen weiteren Landeplatz geben. Sie sah die Rotoren eines Hubschraubers über den Rand hervorstehen. Sie spähte über die Kante. Tief unter ihr standen Sandbuggys, und beim Wasserfall war sogar ein Schlauchboot mit Außenbordmotor festgebunden, wie es die SEALs der Navy benutzten. Wer auch immer diese Leute waren, sie waren gut vorbereitet und hatten offenbar genügend Geldmittel zur Verfügung.

Das behelfsmäßige Eisentor wurde geöffnet, und ein Mann kam lässig auf sie zu. Wie die anderen Soldaten trug auch er einen Kampfanzug der Vereinten Nationen. Der einzige Unterschied war, dass er keinen Helm und keine Rangabzeichen trug. Dennoch erkannte sie ihn sofort.

Es war Ali Zawas, Oberst der ägyptischen Luftwaffe, und Spross einer der bekanntesten Diplomatenfamilien des Landes. In New York geboren und aufgewachsen, hatte er seine Ausbildung an der U. S. Air Force Academy absolviert und war dann nach Kairo zurückgekehrt. Er war mehr Amerikaner als Ägypter. Sie war ihm gelegentlich bei UNO-Konferenzen und einmal auch an der Amerikanischen Universität von Kairo begegnet. Bei diesen offiziellen Anlässen war er allerdings immer in Paradeuniform aufgetreten und nicht in dem bedrohlichen Kampfanzug, den er jetzt trug. Normalerweise hatte er auch dunkles, lockiges Haar, jetzt aber einen kahl geschorenen Schädel.

Zawas blieb in der Mitte des Vorsprungs vor einer Gruppe Soldaten stehen. Jamil trat beflissen vor und salutierte. Zawas hob kurz die Hand. Er sah gut aus, hatte tief liegende Augen. Sie sprachen arabisch miteinander. Serena konnte nicht alles verstehen, aber Zawas verächtlicher Gesichtsausdruck sprach Bände.

Sein Blick schweifte über die Männer und blieb schließlich auf ihr ruhen. Schweigend starrte er sie an und sagte dann etwas zu Jamil, der daraufhin zu ihr kam, sie am Arm griff und sie vor sich herschubste. Sie kämpfte mit der aufkommenden Panik. Angst war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Sie nahm sich zusammen und versuchte, möglichst cool zu wirken.

Sie hielt den Kopf gesenkt, aber Zawas fasste sie am Kinn, sodass sie in seine dunklen Augen blicken musste. »Sollten Sie eine Atlantin sein«, sagte er auf Englisch, »dann befinden wir uns in der Tat im Paradies. Aber ich gehe mal davon aus, dass Sie Amerikanerin sind.«

Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, Oberst, ich bin aus Rom.«

Er brauchte eine Weile, um ihren Akzent zu registrieren. Er war sichtlich bewegt, als er sie schließlich erkannte. Ein aufrichtiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Schwester Serghetti? Was um alles in der Welt machen Sie denn hier?«

»Für Sie, Oberst, immer noch Doktor Serghetti. Ich wollte Ihnen gerade dieselbe Frage stellen«, sagte sie und blickte auf die Soldaten. »Sie glauben doch nicht etwa, ich nehme Ihnen ab, dass Sie im Auftrag der Vereinten Nationen hier sind?«

Zawas grinste. Es amüsierte ihn offensichtlich, dass sie die Fragen stellte. »Betrachten Sie uns als Abgesandte der arabischen Ölproduzenten, die durch alternative Energiequellen am meisten zu verlieren haben.« Er nahm sie am Arm und sagte beiläufig über seine Schulter hinweg: »An die Arbeit, Jamil.«

Jamil wartete, bis sie sich entfernt hatten, rief dann etwas Unverständliches, das sofort im Lärm der Soldaten unterging, die mit dem Aufbrechen der Kisten beschäftigt waren. Bohrer, Seismografen, Metalldetektoren, Sprengstoff.

Sie kamen zu der Treppe, die zur Eisentür und zum Tempeleingang führte. Zawas blieb stehen und wandte sich ihr stirnrunzelnd zu.

»Ich habe Sie zuerst tatsächlich nicht erkannt«, sagte er wie zur Entschuldigung. »Es ist schon lange her, dass wir uns gesehen haben, und auf den Titelseiten der Zeitschriften sehen Sie, nun ja, deutlich gepflegter aus.«

»Tut mir Leid, wenn ich Sie enttäusche.«

»Ich bitte Sie. Das bisschen Schmutz steht Ihnen gut.«

Sie betrachtete ihn genau. Gut aussehend und clever wie er war, konnte er, wenn er wollte, sicher auch nett sein.

»Wie soll ich das verstehen?«

»Es macht sie menschlicher.« Er lächelte, öffnete das Tor und ließ sie hinein.

Der Raum war spärlich möbliert. Tisch, Stühle, ein Computer, ein Feldbett. Nachdem er die Tür zugemacht hatte, nahm er ihr den Rucksack ab und ließ ihn auf einen der Stühle fallen.

»Nehmen Sie doch Platz.«

Er rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich dann ihr gegenüber hin.

Sie verschwendete keinen Augenblick. »Alternative Energie. Die wollen Sie also hier finden?«

»Nicht irgendeine Energiequelle, Doktor Serghetti, die Quelle! Die legendäre Sonnenenergie, die die Bewohner von Atlantis angeblich genutzt haben. Worauf sollten General Yeats und Doktor Yeats denn sonst aus sein?«

Das konnte Serena auch nicht sagen. Ihr Blick streifte unwillkürlich ihren Rucksack. Sie dachte an die Zeichnungen vom Obelisken, die sie in der Thermosflasche versteckt hatte. Sie musste unbedingt herausbekommen, warum Zawas glaubte, dass es sich bei der Antarktis um Atlantis handelte, und woher er von der kraftvollen ›Energiequelle‹ wusste.

»Dann sind Sie also aus reiner Machtgier hier, genau wie die anderen«, sagte sie. »Dabei haben Sie bei der UNO einen ganz anderen Ruf.«

»Im Gegenteil. Ich mache mir Sorgen wegen der instabilen Wirtschaftslage im Nahen Osten, die es immer einflussreicher werdenden Mullahs ermöglicht, Unruhe zu stiften, um an die Macht zu kommen. Dass ich mich mit Bestien wie Jamil abgeben muss, um seinen Artgenossen Einhalt zu gebieten, gehört nun mal zur Ironie der weltweiten Politik.«

»Dann hab ich wohl was nicht richtig kapiert. Sie sind gar kein Terrorist. Sie sind in Wirklichkeit ein Patriot, den man lediglich falsch verstanden hat?«

»Sie denken zu viel über den Charakter von Menschen wie mich oder Doktor Yeats nach«, sagte er. »Ja, ich kenne ihn durch und durch. Vielleicht sogar besser als Sie. Wenn er noch lebt, werden wir ihn finden. Sie sollten sich allerdings selbst einmal fragen, was Sie hier wollen. Mit Sicherheit geht es Ihnen nicht um den Schutz der Umwelt. Es ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass sich seit Ihrer Ankunft einiges verändert hat.«

»Also gut«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann sagen Sie mir doch, warum ich hier bin.«

»Sie sind hier, weil ich Sie habe kommen lassen.«

Ihr Mund wurde ganz trocken. »Sie?«

»Na ja, nicht unbedingt Sie persönlich. Ich wusste, dass ich jemanden brauchen würde, der die Zeichen entschlüsseln kann, um das Heiligtum der Ursonne zu finden. Warum sonst hätte ich dem Vatikan den Tipp wegen Yeats' Expedition geben sollen?«

Serena blieb das Herz stehen. Auf was wollte Zawas hinaus? Was wusste er, das sie nicht wusste? »Was genau soll ich denn entschlüsseln?«

»Eine Karte.«

Zawas rollte ein altes Pergament aus.

Serena sah sofort, dass es sich um einen Stadtplan handelte. Die Schrift bestand aus Hieroglyphen, die aus vorägyptischer Zeit zu stammen schienen. Deutlich erkannte sie den Tempel des Wassermanns und die anderen Gebäude. Es war die Erdkarte, das Pendant zu der Himmelskarte, die Conrad auf dem Zepter entdeckt hatte.

»Wir haben sie vor ein paar Jahren in einer Geheimkammer unter der großen Sphinx in Gise gefunden. Sie wurde von jenem alten ägyptischen Priester Sonchis erstellt, der quasi der Gewährsmann für Platons Atlantisbericht war. Natürlich konnten wir nicht wissen, ob es die Stätte wirklich gab und wenn ja, wo. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Amerikaner die P4 in der Antarktis entdeckten.«

»Und woher wussten die Amerikaner, wo die P4 war?«

»Soweit ich weiß, kamen die gar nicht wegen der hierher«, sagte Zawas. »Der eigentliche Grund waren Beben in der Ost-Antarktis. Und erst nachdem sie etwas unter dem Eis gefunden hatten, kam der Vatikan ins Spiel.«

»Der Vatikan?« Serena zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Der Vatikan besitzt auch eine Atlantis-Karte«, sagte Zawas. »Zur Zeit Alexander des Großen befand sie sich in der Bibliothek von Alexandria. Dann haben die Römer sie während ihrer Besetzung Ägyptens gestohlen. Später, nach dem Untergang des Römischen Reichs, wurde sie nach Konstantinopel gebracht. Als während des vierten Kreuzzugs Konstantinopel eingenommen wurde, schmuggelte man die Karte nach Venedig. Im 17. Jahrhundert wurde sie dort von einem Jesuitenpriester wiederentdeckt.«

Serena bebte innerlich vor Wut. War sie auf Zawas wütend, weil er ihr das erzählte, oder auf den Papst, weil er ihr nichts davon gesagt hatte? »Ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Warum sollte Rom Sie sonst geschickt haben? Sie glauben doch nicht etwa, um das intakte Ökosystem in der Antarktis zu retten?«

»Warum denn sonst?«

»Zur Aufrechterhaltung der Macht. Die Kirche ist auch nicht edler als die imperialistische Weltmacht USA. Sie befürchtet jede echte göttliche Offenbarung, die ihren Einfluss auf die Menschheitsgeschichte untergräbt. Darum geht es nämlich, Doktor Serghetti. Um etwas, das älter ist als der Islam, das Christentum und sogar das Judentum. Unsere Kirchenfürsten hegen ihre Befürchtungen zu Recht. Und Sie haben allen Grund, ihnen und anderen zu misstrauen – außer dem, der sich die Mühe gemacht hat, Ihnen die Wahrheit zu erzählen. Also kommen Sie schon, helfen Sie mir, das Heiligtum der Ursonne zu finden. Es birgt das Urwissen.«

»Und was ist, wenn ich Ihnen nicht helfe?«

»Dann werden Sie untergehen wie alle auf dieser Welt«, erwiderte Zawas.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ach, Sie haben ja die Nachrichten noch nicht gehört. In McMurdo ist die Landebahn verschwunden. Und der US-Flugzeugträger vor der Küste fährt mit halber Kraft und kämpft noch mit den Auswirkungen der Flutwelle. Mein Kombinationsvermögen sagt mir, dass die Amerikaner noch mindestens sechzehn Stunden brauchen, bis sie hier sind. Bis dahin habe ich die alleinige Verfügungsgewalt über Atlantis.«

»Und dann?«

»Ist es schon zu spät.« Zawas dunkle Augen blitzten entschlossen auf. »Bis dahin werde ich den Mechanismus des Heiligtums der Ursonne erkannt haben, und die Machtverhältnisse auf der Welt werden sich verlagert haben. Die Vereinigten Staaten sind dann ausgelöscht, Opfer der selbst verursachten Erdkrustenverschiebung. Atlantis hingegen gehört dann uns.«

»Sie sind also auch noch Wahrsager?«

»Es geht um unser Schicksal.« Er beugte sich vor und lächelte. »Wissen Sie, Schwester Serghetti, endlich hat mein Volk das Gelobte Land gefunden.«

Tagesanbruch 27 minus 11 Stunden

Conrad machte den Reißverschluss der UNACOM-Uniform auf und bemerkte grimmig das Namensschild Capt. Hassein an der linken Brusttasche. In dem Raum, in den Yeats ihn gebracht hatte, lagen mehrere dieser Uniformen, und Conrad konnte nur raten, woher sein Vater sie hatte. Der Raum war bis zum Rand voll mit Computern, Sturmgewehren und Sprengstoff.

»Was soll das hier sein?«

»Ein Waffenversteck.« Yeats war damit beschäftigt, Plastiksprengstoff in seinen Rucksack zu stopfen. »Ich bin hier gelandet, nachdem du mich wie einen Scheißhaufen den Schacht in der P4 hinuntergespült hast. Ich bin rausgekrochen, habe mich erst einmal orientiert und mich dann an die Arbeit gemacht, um alles, was ich Nützliches finden konnte, einzusacken.«

»Und keiner dieser Schlägertypen da draußen hat das Versteck bewacht?«

»Da ist niemand mehr.«

Yeats' Überlebenswille war selbst für Conrad, der in den letzten paar Stunden ja auch um sein Leben gekämpft hatte, wirklich erstaunlich. Wie hatte er den Sturz nur überlebt? Er wusste nicht, ob er seinem Vater einen Orden oder einen Tritt verpassen sollte. Dieser Mann hatte weder Erleichterung gezeigt, seinen einzigen Sohn lebend wiederzusehen, noch hatte er sich wegen seiner Herkunft geäußert.

»Woher willst du wissen, ob das nicht alles wieder weggeschwemmt wird?«

»Gar nicht.« Yeats überprüfte die Zeitzünder für den Sprengstoff. »Immerhin gibt's keine Verbindung zu den unterirdischen Gängen. Wir bleiben sowieso nicht lange hier.«

»Offensichtlich.« Conrad blickte auf den dicken Packen Sprengstoff, den Yeats sich auf die Schulter geschnallt hatte. »Du kennst also diese Typen?«

»Ihr Befehlshaber, Oberst Zawas, hat seine Ausbildung bei mir gemacht.«

Ungläubig starrte Conrad seinen Vater an. »Du hast ihn ausgebildet?«

»Ja. Ende der Achtzigerjahre auf der U. S. Air Force Academy in Colorado Springs, und zwar im Rahmen eines amerikanisch-ägyptischen Militäraustauschprogramms«, erklärte Yeats. »Hat sich ein paar Jahre später im Golfkrieg, als die Alliierten den Irak bombardierten, als ganz praktisch erwiesen. Ein arabischer Pilot, der zwei irakische Kampfjets außer Gefecht setzt, war für uns kostenlose PR und legitimierte den Bombenangriff als multinationale Leistung.«

»Du hast ihm also beigebracht, wie man andere Araber tötet?«

»Schön wär's«, erwiderte Yeats. »Nein, ich habe ihn in Kriegsführung ausgebildet. Bei dem Konzept der ›Decisive Force‹ geht es um den Einsatz des richtigen Angriffspotenzials, das den Feind entweder gleich vernichtet oder ihn zur Kapitulation zwingt. Da kennt sich Zawas jetzt besser aus als unser oberster Stabschef in Washington.«

»Dann ist das mit den UNO-Waffeninspekteuren nur Tarnung?«

Yeats nickte. »Offensichtlich hat Zawas da seine eigenen Leute eingeschleust. Wahrscheinlich hat er die anderen internationalen Truppen ausgeschaltet und hat vor, uns die Schuld zuzuschieben. Es würde mich auch nicht wundern, wenn er uns die Russen auf den Hals gehetzt hat, um dann abzuwarten, bis wir für ihn die Drecksarbeit erledigt haben.«

»Willst du damit sagen, Zawas hat nur eigene Verbündete mitgebracht?«

»Ja, und jede Menge Waffen. Normalerweise können ein paar Terroristen einer Supermacht nichts anhaben. Aber die Antarktis ist ein spezieller Kriegsschauplatz. Auf dem unbewohnten Kontinent ist es kein Kunststück, ein kleines amerikanisches Team zu überwältigen.«

»Jedenfalls haben seine Leute deinen Hund erschossen und Serena entführt.«

Conrad bemerkte, wie Yeats' Halsadern anschwollen. »Also wo ist der Obelisk?«

Conrad gab keine Antwort.

Yeats sah Conrad mit einem dieser vernichtenden Blicke an, unter denen dieser schon als Kind gelitten hatte. »Verfluchter Mist. Willst du etwa sagen, dass Zawas nicht nur meinen Hund erschossen hat, sondern auch noch das Zepter des Osiris im Besitz hat?«

»Ich habe lediglich gesagt, dass er Serena entführt hat.«

»Das ist ein und dasselbe. Mach doch endlich mal deine Augen auf. Du hast doch gehört, was Miss Rette-die-Erde in der P4 gesagt hat. Das Zepter des Osiris gehört in das Heiligtum der Ursonne. Und genau dahin wird sie Zawas führen.«

»Das traust du ihr zu?«

»Darum geht's hier gar nicht.« Yeats sah ihm direkt in die Augen. »Unser Auftrag ist es, alles zu tun, um zu verhindern, dass Zawas an hochentwickelte Waffen und Technologien kommt, die das Gleichgewicht der Mächte in der Welt empfindlich stören könnten. Ungleiche Machtverhältnisse. Verstanden? Krieg das mal in deinen Kopf rein.«

»Ach, Dad, und ich dachte schon, wir würden jetzt endlich klären, wer ich bin und wo ich herkomme«, konterte Conrad.

Yeats überlegte. Conrad hörte förmlich, wie es im Kopf seines Vaters auf der Suche nach einer passenden Antwort arbeitete.

»Wir müssen dazu als Erste im Heiligtum der Ursonne sein, um Zawas dort eine Falle zu stellen. Falls Serena ihn überhaupt dorthin führt.« Yeats klopfte auf den Packen Sprengstoff und ging los, als ob nun alles gesagt wäre. »Das Problem dabei ist nur, dass wir das Heiligtum finden müssen, bevor wir entdeckt werden. Bis Zawas merkt, dass ein paar seiner Leute fehlen, haben wir noch Zeit. Da oben alles kontrolliert wird, sollten wir, bis es dunkel wird, lieber im unterirdischen Teil bleiben.«

»Wir müssen uns aber an den Gestirnen orientieren«, sagte Conrad und zog seine Digitalkamera mit den Bildern des Obelisken hervor. »Das Zepter sagt uns nämlich, dass der künftige Sonnenkönig Himmel und Erde zusammenfügen muss. Erst dann werden die ›Leuchtenden‹ den Ort des Heiligtums der Ursonne preisgeben.«

Yeats blickte Conrad in die Augen. »Davon hat Serena nichts gesagt.«

»Ich weiß. Das Zepter selbst hat's mir offenbart.«

»Ich dachte, du kannst derartige Inschriften nicht entziffern.«

»Sagen wir mal: Einiges davon kam mir sehr bekannt vor.«

»Du glaubst mir inzwischen also? Dass ich dich in jener Kapsel gefunden habe?«

»Dir werde ich niemals etwas glauben«, sagte Conrad. »Ich will mir erst noch mein eigenes Urteil bilden. Die Inschrift unter den vier Konstellationen ist jedenfalls fast identisch mit der Inschrift, die Serena vorgelesen hat.«

»Und worin unterscheiden sie sich?«

»Die Inschrift unter den sechs Ringen – also den Sonnen – warnt davor, das Zepter zu entfernen. Den ›Leuchtenden‹ zufolge darf nur jemand, der sich dessen als würdig erweist, das Zepter nehmen, sonst werden Himmel und Erde auseinander gerissen«, erklärte Conrad.

»Was ja wohl gerade geschieht«, fügte Yeats hinzu.

»Sieht ganz so aus. Aber die Inschrift unter den vier Tierkreiszeichen auf der anderen Seite teilt dem künftigen Sonnenkönig mit, wie er das Heiligtum der Ursonne mithilfe der ›Leuchtenden‹ findet, um Himmel und Erde wieder zusammenfügen zu können.«

»Und was in aller Welt sind die ›Leuchtenden‹?«, fragte Yeats.

»Jedenfalls nichts Irdisches. Wahrscheinlich wird damit irgendein astronomisches Phänomen bezeichnet. Ich werd's wissen, sobald ich es sehe.«

»Wahnsinn! Es sieht tatsächlich so aus, als ob du der Sonnenkönig wärst.«

Zum ersten Mal seit Jahren klopfte Yeats ihm auf die Schulter, und Conrad gestand sich ein, dass es ihm gut tat.

»Aber wo sollen wir die ›Leuchtenden‹ finden?«, sagte Yeats. »Wo unter all den Millionen Sternen?«

»Wir folgen einfach dem Plan auf dem Zepter.«

»Welchem Plan?«

»Den vier Sternenbildern.« Conrad zeigte Yeats seine 360° Digitalaufnahme vom Obelisken. »Es handelt sich um die Tierkreiszeichen Skorpion, Schütze, Steinbock und Wassermann.«

Yeats sah sich die Aufnahme genauer an. »Und weiter?«

»Wenn diese Stadt nach den Sternen konzipiert ist, dann haben diese Himmelskoordinaten vielleicht eine Entsprechung auf der Erde.«

»Was heißt hier vielleicht. Das sollten wir schon noch genauer rauskriegen.«

»Wir wissen ja, dass die P4 auf den mittleren Stern des Orion-Gürtels, den Al Nitak, ausgerichtet ist«, erklärte Conrad, und Yeats nickte. »Genauso gut könnten wir strategisch platzierte Heiligtümer in der Stadt finden, die dem Skorpion, Schützen, Steinbock und Wassermann zugeordnet sind.«

Yeats runzelte die Stirn. »Soll das heißen, wir folgen wie bei einer Schatzsuche den Tempeln, die diesen Zeichen entsprechen?«

»Genau.«

»Wir gehen also einfach den Himmelszeichen zum Wassermann nach. Und stoßen dann automatisch auf den irdischen Gegenpol.«

»Ganz genau«, sagte Conrad. »Draußen wird es jetzt schon dunkel. Bald werden die Sterne zu sehen sein. Sie werden uns wie eine Karte zu einem Bauwerk leiten, das dem Wassermann gewidmet ist. Und dort finden wir dann die ›Leuchtenden‹, die uns zum Heiligtum der Ursonne führen.«

Yeats nickte. »Danach haben wir unser ganzes Leben gesucht.«

Tagesanbruch 28 minus 6 Stunden

Im Tempel des Wassermanns sickerte Sternenlicht in die Kammer, in der sich Serena an einen Pfosten gefesselt befand. Es war die Strafe dafür, dass sie Oberst Zawas nicht geholfen hatte, seine Atlantiskarte zu deuten. Ihm bei der Suche nach dem Heiligtum der Ursonne zu helfen wäre einem Verrat an Conrad gleichgekommen. Sie ging davon aus, dass Conrad trotz seiner Fehler immer noch ihre größte Hoffnung war, um die Katastrophe zu verhindern. Aber selbst wenn Conrad das Heiligtum als Erster fand, hätte Zawas natürlich immer noch das Zepter. Irgendwie musste sie einen Weg finden, es wieder an sich zu bringen.

Draußen hörte sie Stimmen. In der Tür zeichneten sich kurz darauf die dunklen Umrisse dreier Gestalten ab, die den Sternenhimmel verdeckten. Es war Jamil in Begleitung zweier Ägypter. Serena wurde starr vor Schreck, weil er nun ein Tuch mit einem ganzen Sortiment an Messern und Nadeln auf dem Tisch ausrollte.

»Schwester Serghetti, Oberst Zawas bedauert es zutiefst, dass er Sie nicht zum Kooperieren bewegen konnte«, sagte er. »Jetzt werde ich mein Glück versuchen.«

»Was Sie nicht sagen.« Sie starrte auf die grausamen Werkzeuge. »Übertreiben Sie da nicht ein wenig? Ich habe Zawas schon gesagt, dass ich nicht weiß, wo das Heiligtum ist. Ehrlich. Wenn ich es wüsste, hätte ich es längst gesagt.«

»Sie tun ganz schön tapfer, Schwester Serghetti. Ich bin schwer beeindruckt.« Jamil betrachtete seine Utensilien, bei denen es sich in erster Linie um Spritzen, Messer verschiedenster Art und Elektrostäbe handelte. »Ach, ist das schön. Das haben wir alles von eurer Inquisition abgeschaut.«

Er nahm eine ellenlange schwarze Stange. Blitzartig wurde sie lebendig. Es war ein Elektroschockstab.

»Mein Lieblingsstück«, sagte er und wedelte damit vor ihr herum. An der Spitze sprühten blaue Funken. »Jeder Schlag hat etwa 75.000 Volt. Nach ein paar Stößen sind Sie bewusstlos. Ein paar mehr – und Sie sind tot.«

»So weit wollen Sie es kommen lassen, Jamil?«

Jamil fluchte und riss ihr den Mund auf. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, aber der Metallstab steckte schon in ihrem Mund. Sie musste würgen, weil Jamil ihn tief hineinschob.

»Die Chinesen rammen ihn den Gefangenen in den Rachen und laden ihn erst dann auf«, sagte er, während sie würgte. »Der Stromschlag zischt durch den Körper, und man liegt im eigenen Blut und den eigenen Exkrementen da. Äußerst schmerzvoll!«

Sie spürte die heißen Metallspitzen im Hals und stöhnte. Jamil zog den Stab heraus und drückte noch einmal auf den Knopf, sodass sie die blauen Elektroströme aufleuchten sah.

»Ich könnte ihn natürlich auch noch woanders hineinrammen.«

Serena drückte unwillkürlich die Schenkel zusammen.

»Also gut«, sagte Jamil lächelnd und legte den Elektrostab auf den Tisch. »Sie haben offensichtlich verstanden.« Dann nahm er eine Spritze und schlug mit dem Finger kurz an die Nadel. Eine gelbliche Flüssigkeit spritzte heraus. »Dann wollen wir mal.«

***

Nach ein paar Stunden kam Serena wieder zu Bewusstsein. Sie starrte auf eine improvisierte Lampe, die Jamil an der Decke befestigt hatte – der Elektrostab schwang an einem Seil und gab bei jedem Aufblitzen ein makabres Zischen von sich. Sie schloss die Augen. Das Gezische schien immer lauter zu werden. Vielleicht war sie auch nur von den Drogen benommen, die man ihr verabreicht hatte.

Sie spürte, dass noch jemand in der Kammer war, und öffnete die Augen. Sie sah einen langen Schatten an der Wand. Und blickte zur Tür, konnte aber nicht genau erkennen, wer da hereinkam.

»Conrad?«

»Schön, dass Sie noch träumen können, Schwester Serghetti.«

Es war Zawas. Serena ließ den Kopf wieder hängen, während er zu dem kleinen Tisch ging, auf dem Jamil seine Folterinstrumente ausgebreitet hatte.

»Ich habe gehört, dass Sie nicht sonderlich kooperativ waren«, sagte er und prüfte Jamils Spielzeug. »Ich konnte Jamil gerade noch davon abhalten, Ihr Gedächtnis mit seinen chemischen Substanzen für immer auszulöschen. Er ist eine Bestie. Er versaut überall den guten Ruf der Araber. Ehrlich, die meisten von uns sind da ganz anders. Ausnahmen gibt's immer. In Ihrer Kirche gibt es schließlich auch Priester, die sich an Kindern vergehen. Trotzdem geben Sie Ihren Glauben nicht auf. Mir geht es genauso.«

Serena schwieg, während er sich im Raum umsah. Der Rucksack auf dem Boden schien seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er ging um ihn herum und beobachtete sie dabei. Dann stellte er den Rucksack auf den Tisch und machte den Reißverschluss auf. Er fing an, den Inhalt zu durchwühlen, und begutachtete ihre Sachen – Desinfektionstabletten für Wasser, Flaschen, ein Leuchtsignal und so weiter.

Dann kam ihre Thermosflasche an die Reihe. Als er den Verschluss aufdrehte, bekam sie ein beklemmendes Gefühl. Sie betete, dass er die Zeichnung in der Ummantelung nicht entdecken würde. Ihr war klar, dass die Karte genügend Informationen enthielt, um jene unerschöpfliche Energiequelle im Heiligtum der Ursonne zu finden.

»Zawas, Sie erinnern mich an den Pharao«, sagte Serena. »Sie wissen schon, den aus der Bibel.«

Der Vergleich schien Zawas zu belustigen. Er stellte die Thermosflasche auf den Tisch. »Dann wissen Sie also, dass mich die Götter höchstpersönlich beauftragt haben und Sie mir jetzt antworten müssen.«

»Die ägyptischen Götter sind schon einmal besiegt worden. Das kann jederzeit wieder passieren.«

»Die Geschichte wird gerade neu geschrieben, Schwester Serghetti. Aber zuerst muss ich das Heiligtum der Ursonne finden. Ich weiß immer noch nicht, wo es sich befindet. Doktor Yeats übrigens auch nicht. Ja, er lebt noch. Ich weiß das, weil ich ein paar meiner Leute vermisse«, sagte er. »Er hat sie getötet, so wie einige andere auch. Immer auf der egoistischen Suche nach den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation. Ich kenne diesen Mann nur zu gut. Er schert sich recht wenig um die Folgen seiner Forschungen für die betroffenen Länder, die Völker und die Ausgrabungsstätten selbst. Sie können froh sein, dass ich Sie und das Zepter des Osiris vor ihm bewahrt habe.«

Serena schwieg, weil sie Conrad gegen Zawas' Anschuldigungen nicht verteidigen konnte. Er hatte Recht.

»Anders als der rücksichtslose Doktor Yeats«, fuhr Zawas fort, »schätze ich die Naturschönheiten und möchte sie erhalten, besonders wenn es sich dabei um die weibliche Schönheit handelt. Ich fände es furchtbar, wenn ein Tier wie Jamil Ihnen etwas antun würde.«

Natürlich war das gelogen. »Sie sind also ein einzigartiger Gentleman unter lauter Barbaren.«

Er sah sie genau an. »Wir scheinen uns gut zu verstehen, Schwester Serghetti. Die katholische Kirche hat sich ja auch immer schon mit Edelmut und sozialer Barmherzigkeit ummantelt, nur um dann einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, wenn es die Situation erforderte.«

»Dann sind Sie wahrlich ein Held. Nur leider auf der falschen Seite.«

»Genau«, sagte Zawas. »Wie der Pharao während des Exodus. Es war einfach sein Pech, dass der Vulkanausbruch von Thera im Mittelmeer die zehn Plagen ausgelöst hat, die Sie so bereitwillig dem Gott Moses' zuschreiben. Das Rote Meer hatte sich gar nicht aufgetan. Die Israeliten durchquerten das Schilfmeer an einer seichten Stelle in knöchelhohem Wasser. Immerhin so tief, dass die Räder der Wagen des Pharao stecken geblieben sind.«

»Dann war es ein noch größeres Wunder, als ich angenommen hatte«, sagte Serena. »Man stelle sich vor: Alle Soldaten und Pferde des Pharao sind in knöchelhohem Wasser ertrunken.«

Zawas fand ihr Argument offensichtlich gar nicht lustig. Im hellen Licht sah sie, wie seine Miene streng wurde. »Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. Wie könnte man sonst die jüdisch-christliche Begeisterung für einen angeblich barmherzigen Gott erklären, der die Erstgeborenen der Ägypter einfach so umbringen ließ?«

»Er hätte alle Ägypter töten können«, sagte sie und erschrak zugleich über ihre Stimme, die so überzeugt klang.

Zawas zeigte sich verstimmt. »Dann war es also die Schuld des Pharao?«

Serena versuchte, sich zu konzentrieren. Trotz ihrer Schwäche merkte sie, dass jetzt der entscheidende Augenblick gekommen war, um Zawas zu überzeugen. »Sie wissen genau, dass an bestimmten Punkten in der Geschichte alles auf einem Mann oder einer Frau lastet: Noah und die Arche, der Pharao und die Israeliten. Gott gab dem Pharao die Chance, der größte Befreier zu werden. Aber sein Herz blieb störrisch und überheblich. Jetzt ist die Zeit erneut gekommen. Vielleicht sind Sie der richtige Mann.«

»Oder Sie die richtige Frau«, erwiderte Zawas. »Wo ist das Heiligtum der Ursonne?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Ehrenwort.«

»Dann muss ich Sie jetzt Jamil überlassen. Ich habe keine andere Möglichkeit mehr. Ich wasche meine Hände in Unschuld.«

»Sprach Pontius Pilatus.«

»Und ich dachte schon, ich soll ein Pharao sein.« Er schüttelte den Kopf und warf die Arme hoch. »Wollen Sie mich etwa mit den Schurken der Bibel vergleichen? Haben Sie jemals die Möglichkeit bedacht, dass jene Führer die wahren Helden der Menschheitsgeschichte sind und Ihre Heiligen alles nur verändert oder sogar frei erfunden haben?«

Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, als sein Blick wieder auf die Thermosflasche fiel. »Warum laufen Sie eigentlich immer noch mit solchen altmodischen Thermosflaschen herum?«

Serena tat so, als ob sie nichts gehört hätte.

Aber Zawas drehte schon an der Ummantelung. Er roch den Kaffee und verzog das Gesicht. »Ich persönlich trinke lieber Tee.«

Er schüttete den Kaffee auf den Steinboden und wollte dann alles wieder zuschrauben. Dabei fiel die Zeichnung heraus.

Serena hielt die Luft an.

Zawas hob sie auf und musste laut lachen. Er zeigte ihr die Zeichnung. »Wissen Sie, was da dargestellt wird?«

Geschlagen ließ sie die Schultern hängen. »Das Zepter des Osiris.«

»Nein«, erwiderte er. »Das ist die Zeichnung vom Heiligtum der Ursonne.«

Sie starrte ihn an. In ihrem Kopf drehte sich alles.

»Tja«, sagte Zawas, »jetzt habe ich drei Dinge, auf die Doktor Yeats scharf ist. Und wenn er mich nicht zum Heiligtum der Ursonne führt, dann werden Sie es tun. Ich werde Jamil sagen, dass er noch eine Menge Arbeit vor sich hat.«

Tagesanbruch 29 minus 2 Stunden

Skorpion. Schütze. Steinbock. Stundenlang führte Conrad sie durch die dunkle Stadt. Er folgte den Himmelskoordinaten zu ihren irdischen Gegenstücken und dann weiter von einem astronomisch ausgerichteten Bauwerk zum anderen. Jeder Tempel oder auch nur Grenzstein für sich genommen war schon den archäologischen Preis des Jahrhunderts wert, aber der Zeitdruck, das Brummen der Hubschrauber und die Suchscheinwerfer ließen sie schnell weitergehen. Schließlich endete die von den Sternen vorgegebene Schatzsuche bei der irdischen Entsprechung des Sternzeichens Wassermann, einem großartigen, dem Wassermann gewidmeten Tempel.

Der Tempel in Form einer Sphinx zeichnete sich gegen den Himmel wie ein Schädel ab. Die silbernen Wasserfälle leuchteten im Mondschein. Dahinter ragte die dunkle Spitze der P4 empor.

»Wir sind da«, sagte Conrad und reichte Yeats das Nachtsichtglas. Sie duckten sich an den Rand des größten Wasserwegs der Stadt, der direkt aus dem Bauwerk floss. »Der Tempel des Wassermanns.«

Yeats sah durch das Fernglas. »Das ist noch lange nicht alles. Schau dir das einmal an.«

Conrad richtete das Fernglas auf den Tempel des Wassermanns und sah unten und auf dem Vorsprung plötzlich Licht. »Zawas?«

»Sieht so aus, als hätte er dort ein Basislager errichtet.«

Conrad ließ das Nachtsichtglas sinken. »Wie haben die das bloß herausbekommen?«

Yeats zuckte die Achseln. »Vielleicht hilft ihnen ja Mutter Erde.«

»Oder sie haben eine Karte.«

»Kaum«, sagte Yeats. »Du hast selbst gesagt, dass die Sterne die Karte sind.« Er überlegte. »Bist du dir ganz sicher, dass wir da rein müssen? Wir sind beide geliefert, wenn Zawas uns entdeckt.«

Conrad nickte. »Nur wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort steht, werden die ›Leuchtenden‹ den Standort des Heiligtums der Ursonne preisgeben.«

Yeats kniff die Augen zusammen. »Und wo genau sollen wir die ›Leuchtenden‹ befragen?«

Conrad rückte nur zögernd mit der schlechten Nachricht heraus. »Zwischen den Wasserfällen des Tempels des Wassermanns. Mitten in Zawas' Basislager.«

»Und dann noch zur richtigen Zeit, ich weiß.« Yeats sah auf die leuchtende Digitalanzeige seiner Armbanduhr. »Schon vier Uhr. Die Sonne geht gleich auf, und es wird hell. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Die nächste halbe Stunde verbrachte Conrad damit, den Tempel von weitem zu beobachten, während Yeats eine Planskizze anfertigte.

»Der Vorsprung an der Ostwand ist ungefähr fünfzig Meter hoch«, erklärte Yeats. »Auf beiden Seiten führen zwei schmale Treppen nach unten. Ich glaube nicht, dass Zawas mehr als einen Wachposten pro Treppe abgestellt hat. Immerhin braucht er möglichst viele Leute, um das Heiligtum der Ursonne zu suchen.«

Mit dem Nachtsichtglas verfolgte Conrad die Ostwand und die Wasserfälle bis zum Boden. Plötzlich konnte er die Wachposten am nördlichen Ende der Ostwand ganz deutlich sehen. Unten bei den Wasserfällen lag ein Schlauchboot.

»Ich kann die Wachposten sehen«, sagte er. »Sie haben auch ein Schlauchboot.«

»Nur eins?«

»Wahrscheinlich suchen sie uns mit den anderen.«

»Lass mich mal sehen.« Yeats nahm das Fernglas. »Zawas wechselt die Wachleute alle drei Stunden aus. Zumindest hat er das bei seinen Friedenseinsätzen für die Vereinten Nationen so gemacht. Und so schlapp wie die aussehen, ist ihre Schicht gleich vorbei.« Yeats gab Conrad das Fernglas zurück. »Wir brauchen sie also nur ein paar Minuten früher abzulösen. Dann gebe ich dir Deckung, und wir teilen uns auf.«

»Und wie soll das gehen?«

Mit einem alten Feuerzeug leuchtete Yeats auf die Skizze, die er im Dunkeln angefertigt hatte.

»Du hältst nach den so genannten ›Leuchtenden‹ Ausschau, die uns zum Heiligtum der Ursonne führen«, sagte Yeats und zeigte mit dem Finger auf die Linie zum Vorsprung. »Ich gehe zum Gipfel, wo Zawas' Hubschrauber stehen, und sichere uns einen für den Rückzug. Du hast genau sechs Minuten, um vom Vorsprung zum Gipfel zu kommen, und dann fliegen wir los.«

»Einfach so?«

»Einfach so«, sagte Yeats. »Ich setze zuvor noch die anderen Hubschrauber außer Gefecht, damit Zawas uns nicht verfolgen kann. Wir brauchen einen Vorsprung, um als Erste zum Heiligtum zu kommen.«

Conrad starrte auf das Feuerzeug, mit dem Yeats die Skizze beleuchtete. Ein altes Zippo mit einem NASA-Emblem und einer Widmung für Yeats von Captain Rick Conrad, der zu Yeats' Mannschaft gehört hatte und 1969 in der Antarktis umgekommen war. Und der angeblich Conrads leiblicher Vater war. Damals rauchten Astronauten noch. Conrad hatte sich oft in das Büro seines Pflegevaters geschlichen und mit dem Feuerzeug gespielt. Einmal hatte er dabei fast das Haus abgefackelt. Er hatte immer gehofft, Yeats würde endlich mal kapieren, wie sehnsüchtig er etwas von seinem Vater besitzen wollte, und ihm das Ding schenken. Das hatte er aber nie getan.

»Ich dachte, du hast das Rauchen aufgegeben.«

»Ich gebe nie etwas auf, mein Sohn.« Yeats machte die Flamme aus und gab Conrad das Feuerzeug.

Überrascht hielt Conrad das vertraute Zippo in der Hand und machte es an und aus.

»Und was ist mit Serena?«, fragte er. »Und mit dem Obelisken?«

»Wenn Zawas einen von beiden vermisst, bevor du weißt, wo sich das Heiligtum der Ursonne befindet, wird er hinter uns her sein, und unsere Mission ist beendet«, sagte Yeats. »Aber wenn wir ohne die Schwester oder den Obelisken abheben, wird er denken, dass wir aufgeben. Bis er merkt, was wir vorhaben, sind wir schon im Heiligtum der Ursonne, nehmen uns, was wir brauchen, und stellen ihm eine Falle. Dann wird Zawas uns sowohl Serena als auch den Obelisken bringen.«

»Wenn er sie nicht vorher umbringt.«

»Hör mir doch einmal zu«, sagte Yeats ärgerlich. »Sie ist diejenige, die ihn zu uns führt. Glaub mir, Zawas ist auf sie angewiesen. Er wird sie erst umbringen, wenn er sie nicht mehr braucht.«

»Wirklich beruhigend.« Conrad wollte seinem Vater das Feuerzeug zurückgeben, aber zu seinem Erstaunen lehnte dieser ab.

»Auf geht's!«

***

Oben war Licht, und von überall her kam das Tosen der Wasserfälle. Als sie um die letzte Ecke bogen, konnte Conrad die schwarze Silhouette eines Wachposten erkennen, der bei der Treppe stand. Hinter ihm schaukelte das Schlauchboot im Wasser. Der Ägypter rauchte gerade. Conrad wollte einen Schritt nach vorn machen, da kratzte seine Stiefelsohle über den Steinboden.

Der Wachposten wirbelte herum. »Jasir?«

Conrad nickte und tippte auf die Uhr.

Der Mann meckerte auf Arabisch, drehte sich um und ging.

Conrad beobachtete, wie der Mann die Stufen hinaufstieg, und sah sich schnell um. In wenigen Minuten würde der Wachposten den echten Jasir treffen. Zufrieden stellte er fest, dass niemand in Sicht war, und stieg die Steinstufen zum Vorsprung hoch.

Die Stufen waren schmal und glitschig, aber er war schnell oben. Als er auf den Vorsprung trat, sah er eine Gestalt auf sich zukommen.

»Dad, bist du es?«, flüsterte er in sein Funkgerät.

»Ich vollführe mit dem Arm einen Kreis«, sagte Yeats.

Conrad konnte ihn wegen des Rauschens des Wassers kaum hören. Aber er sah, wie die Gestalt auf der anderen Seite den Arm bewegte. »Okay«, sagte er.

»An die Arbeit«, sagte Yeats. »Vergiss nicht: Egal, was passiert, du hältst dich an unseren Plan und an die Verabredung in sechs Minuten.« Dann verschwand er im Dunkeln.

Conrad ging an den Rand der Plattform zwischen den Kaskaden und nahm dort eine günstige Stellung ein. Der Boden unter ihm bebte von dem gewaltigen Donnern der Wasserfälle, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

Er blickte um sich und fand sofort, was er suchte. In der frühen Dämmerung der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche zog im Osten das Sternbild Wassermann auf. Es war perfekt auf das Bauwerk, auf dem er stand, ausgerichtet. Der Wassermann auf der Erde starrte den Wassermann im Himmel an. Und die aufgehende Sonne – die Leuchtende – zeigte die richtige Stelle.

Sofort zog er das elektronische Vermessungsgerät heraus, das Yeats ihm eingepackt hatte, und fing mit seinen Berechnungen an. Wenn sie stimmten, lag das Heiligtum der Ursonne 90 Grad südlich. Das hieß, es befand sich direkt unter dem Fluss in etwa 300 Meter Tiefe. Er schwenkte mit seiner Digitalkamera über den Horizont, um den Punkt zu markieren.

Conrad blickte wieder zu den Gestirnen. Die erste Morgenröte schimmerte. Bald würde der Wassermann aufgegangen sein; ein Wassermann am Firmament mit seinem Gefäß am Horizont. Gleichzeitig läge die Sonne – und zwar genau auf dem Frühlingspunkt – irgendwo unter dem letzten Stern, der aus dem Gefäß floss.

Conrad blickte auf seine Uhr. Fast fünf Uhr; er musste sich beeilen. Als er sich umdrehte, sah er einen Ägypter aus dem Tempel herauskommen und auf ihn zugehen.

»Jasir, warum bist du nicht auf deinem Posten?«, brüllte Jamil.

»Und warum bist du nicht auf deinem?«, erwiderte Conrad barsch in passablem Arabisch. Sein Arabisch war ein Mischmasch aus allen möglichen Wörtern, die er im Laufe der Jahre aufgeschnappt hatte.

Jamil schien sich zu beruhigen. »Ich mache gerade Pause«, sagte er. Zumindest verstand Conrad es so. »Diese Nonnen sind nicht kleinzukriegen. Als wären sie zum Martyrium geboren. Bei der muss ich aufpassen, wo ich sie verletze. Damit ich mich noch an sie ranmachen kann, wenn sie tot ist.«

Conrad bemerkte etwas in Jamils Hand. Ein Büschel Haare. Serenas Haare. Am liebsten hätte Conrad ihn auf der Stelle umgebracht und Serena gerettet. Aber ihm war klar, dass Jamil nicht sein Gesicht sehen durfte. Deshalb lachte er einfach über Jamils widerlichen Witz, drehte sich um und blickte über die Wasserfälle. Er merkte, dass jemand ihm einen Gewehrlauf in den Rücken drückte.

»Sie haben also das Heiligtum gefunden, Doktor Yeats?«

Er drehte sich um und blickte in Jamils glühende Augen.

Jamil grinste triumphierend. »Jetzt brauchen wir die Nonne ja nicht mehr«, sagte Jamil. »Also, wo ist es?«

»Da drüben.« Conrad ging scheinbar auf die Frage ein. »Sehen Sie den Wassermann?«

Er deutete mit der linken Hand, und Jamil folgte ihr automatisch. Sofort stieß Conrad dem Ägypter mit der Rechten das Messer, das er dem Russen in der P4 abgenommen und im Ärmel bereitgehalten hatte, ins Genick. Die Klinge hinterließ eine dünne Blutspur.

Jamil wollte schreien, brachte aber nur noch ein Gurgeln heraus, bevor er nach hinten über den Rand taumelte und in der Dunkelheit verschwand. Conrad beobachtete, wie Jamil zweimal von der Wand abprallte und dann in den Fluss stürzte.

Conrad machte sich auf den Weg zur oberen Plattform beziehungsweise zum Landeplatz, wo er Yeats treffen sollte. Auf einmal kam ein weiterer Ägypter aus dem Tempel und ging auf ihn zu. Conrad erstarrte. Er erkannte Oberst Zawas am Gang. Ihm war klar, dass es diesmal kein Entrinnen gab.

Tagesanbruch 30 minus 1 Stunde

Ein paar Minuten nach fünf trat Zawas aus der Kammer, um draußen zu rauchen und sich die Zeichnung vom Heiligtum der Ursonne, die er Serena weggenommen hatte, noch einmal in Ruhe anzuschauen. Jetzt, da er wusste, wonach er suchen musste, ging es nur noch darum, wo er suchen sollte.

Unter dem Sternenhimmel nuckelte er an der noch nicht angezündeten Havanna und stellte fest, dass es allmählich hell wurde. Bald würde die Sonne aufgehen, und die Chance, das Heiligtum der Ursonne zu finden, wäre vertan. Auf einmal sah er einen seiner Wachleute – wahrscheinlich Jasir – am Wasserfall stehen. Als er im dämmerigen Licht auf ihn zuging, nahm Jasir eine angespannte Haltung ein.

»Stehen Sie bequem, Leutnant«, sagte Zawas, worauf sich Jasir rührte. »So einen Sonnenaufgang gibt's nicht alle Tage, was?«

Jasir murmelte etwas Zustimmendes. Zawas stellte fest, dass bei fast allen seinen Leuten Anzeichen von Erschöpfung und Stress zu beobachten waren.

Er seufzte und klopfte seine Hosentaschen nach Streichhölzern ab, da streckte Jasir ihm ein altmodisches Zippo-Feuerzeug hin. Zawas hielt die Zigarrenspitze in die Flamme und inhalierte. Welch ein Genuss!

»Bleiben Sie auf dem Posten«, sagte Zawas und ging zur Kommandozentrale zurück.

Auf halbem Weg kam ihm an der handgerollten Zigarre irgendetwas bekannt vor. Nein, nicht die Zigarre, sondern das silberne Zippo-Feuerzeug weckte eine Erinnerung in ihm. Genau so eines hatte sein Großvater ihm einmal gegeben. Allerdings wunderte es ihn, dass Jasir oder sonst jemand seiner Leute solch ein vorsintflutliches Modell besitzen sollte. Er wollte Jasir fragen, wo er es herhatte.

Als Zawas sich umdrehte, war Jasir jedoch nicht mehr auf seinem Posten. Der Oberst fluchte leise und ging auf den Vorsprung zurück. Er blickte über den Rand die Wasserfälle hinab, konnte aber nichts erkennen. Als ob Jasir sich in Luft aufgelöst hatte. War er womöglich hinuntergestürzt? So blöd konnte Jasir doch nicht sein.

Zawas zog sein Funkgerät aus dem Gürtel. »Jamil!«, brüllte er hinein. »Trommle deine Leute zusammen. Conrad Yeats ist hier aufgetaucht!«

Aber Jamil antwortete nicht.

»Jamil«, rief Zawas noch einmal, da hörte er auf einmal, wie hinter ihm etwas explodierte.

Es regnete Steinbrocken, und Zawas sah, wie es oben auf der Stufenpyramide grell aufleuchtete. Plötzlich kam der brennende Rumpf eines Eurocopters die Ostfassade herabgestürzt. Stahl schrammte mit ohrenbetäubendem Krach gegen den Stein. Der Hubschrauber kam auf der Plattform auf und explodierte in einem Feuerball. Zawas duckte sich.

»Das Zepter!«, fluchte er.

Er rannte in die Kammer, wo der Obelisk bewacht wurde. Die zwei Wachposten lagen jedoch tot auf dem Boden. Das Zepter war verschwunden.

***

Conrad stürzte mit einer derartigen Wucht in das Wasser unten am Tempel des Wassermanns, dass er glaubte, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Kurz darauf kam er wieder an die Oberfläche, rang nach Luft und stellte fest, dass sein Aufprall dank dem tosenden Wasserfall von den Wachposten unbemerkt geblieben war.

Er schwamm im Dunkeln zum Schlauchboot hinüber, machte es los, kletterte an Bord und startete den Motor. Bis die Wachen merkten, was passiert war und zu schießen anfingen, war er schon hundert Meter entfernt und raste den Kanal entlang.

Er blickte über die Schulter und sah die Explosionen oben auf dem Tempel des Wassermanns. Er sah auch den großen Schatten, der schnell auf ihn herunterkam – einer von Zawas' Hubschraubern. Ohne Licht flog er praktisch im Tiefflug über ihm und verdeckte die Sterne. Conrad warf den höchsten Gang ein, konnte ihn aber nicht abschütteln.

Der Hubschrauber flog über ihn hinweg und landete ein paar hundert Meter weiter auf der Randbefestigung des Kanals. Als Conrad näher kam, sah er, wie ihn jemand zu sich winkte.

Es war Yeats. In der Hand hielt er das Zepter des Osiris.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Conrad, als er am Ufer anhielt.

»Bin den Schüssen gefolgt.« Yeats stieg in das Schlauchboot. »Weißt du inzwischen, wo sich das Heiligtum befindet?«

Conrad sah auf den Helikopter und schüttelte den Kopf. »Wie konntest du damit unentdeckt entkommen?«

»Ich musste ein Ablenkungsmanöver veranstalten und gleichzeitig Zawas einen Wink geben.«

Conrad verspürte das stechende Gefühl des Betrogenseins, das er aus seiner Kindheit kannte. »Du hast das Zepter genommen, aber Serena zurückgelassen?«

»Ich hatte kaum eine andere Wahl, nachdem ich dich mit Jamil gesehen habe, mein Sohn«, antwortete Yeats in nüchterner, knapper Militärsprache. »Mir war klar, dass unser Plan gescheitert ist. Deshalb habe ich genommen, was ich kriegen konnte – und dann nichts wie weg. Noch mal: Hast du nun das Heiligtum gefunden oder nicht? Zawas hat die Schnauze gestrichen voll und ist hinter uns her.«

Conrad strich sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn. »Ja, ich habe es gefunden. Es liegt direkt vor uns.«

»Braver Junge.« Yeats nickte anerkennend. »Also, los geht's.«

Sie folgten dem Wasserweg in einen Tunnel. Conrads GPS-Anzeige führte sie durch einen dunklen schmalen Gang, der vom unterirdischen Kanal abzweigte. Am Ende befand sich eine Art Steingitter.

»Das ist die Tür zum Heiligtum der Ursonne. Da unten ist es. Ungefähr dreihundert Meter tief.«

Sie ließen das Schlauchboot als Köder den Tunnel hinuntertreiben.

Conrad sah, wie das Boot in der Dunkelheit verschwand, und blickte auf seine Uhr. Die Zeit drängte. Es war gleich Viertel nach fünf. Über der Stadt waren bereits die ersten Anzeichen des Tagesanbruchs zu sehen.

Sie gruben das Steingitter aus und legten eine Einstiegsöffnung in der Größe eines Kanalschachts frei. Sofort ließen sie sich in das Labyrinth unterirdischer Gänge hinunter, das immer tiefer in die Erde führte. Nach einer halben Stunde erreichten sie einen langen dunklen Tunnel, an dessen Ende blaues Licht zu sehen war.

»Wir sind da«, sagte Conrad.

Yeats zog seine Taschenlampe heraus. Der Lichtstrahl enthüllte eine Tür. Sobald sie unter dem blauen Licht durchgegangen waren, schob sich die Tür auf, und sie konnten in eine dunkle Höhle treten. Dieser Raum war der größte, der ihnen bislang untergekommen war.

»Ich zünde eine Leuchtbombe«, sagte Yeats. »Sie explodiert in dreißig Sekunden.«

Conrad bedeckte seine Augen, als Yeats die kleine Leuchtbombe in die Kammer warf. Er zählte bis auf zwei Sekunden runter, da wurde auch schon alles in ein grelles Licht getaucht. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er das Unglaubliche: einen in die Höhe ragenden Obelisken. Er sah ähnlich aus wie der in der P4, nur dass er von einem unglaublich großen Zylinder umgeben war und bestimmt 170 Meter in die Höhe ragte. Der Sockel bestand aus einem riesigen Rundbau, in dem der Eingang sein musste.

Die abgestuften Schrägen des Zylinders ragten nach oben, bis sie in eine gewölbeartige Decke übergingen. Bevor das Licht erlosch, konnte Conrad noch feststellen, dass sie sich auf halber Höhe befanden.

»Unglaublich!« Das laute Echo seiner Stimme hallte zurück.

Sie gingen die Stufen hinab, die entlang dem Zylinder spiralenförmig nach unten führten. Sie standen jetzt am unteren Ende des riesigen Obelisken und schauten hoch. Er konnte nur etwa zehn Meter weit sehen. Allerdings blinkten um den Zylinder herum rote Leuchtpunkte – die Fernauslöser für die Sprengstoffplatten, die Yeats unterwegs angebracht hatte.

»Was machst du da?«

»Ich stelle Zawas eine Falle.«

»Vergiss nicht, dass er Serena in seiner Gewalt hat.«

»Keine Angst, da sind keine Zeitzünder dran. Ich zünde alles auf Knopfdruck.«

Das Ganze beruhigte Conrad nicht im Mindesten. Er war jedoch so im Bann seiner Entdeckung, dass er es nicht auf einen Streit ankommen lassen wollte, bei dem er ohnehin den Kürzeren ziehen würde. Er folgte Yeats also wortlos durch den Rundbau zu einem Durchgang am unteren Ende des Obelisken.

Conrad fragte sich, ob das wohl der tatsächliche Eingang war. Dann bemerkte er neben der Tür ein quadratisches Feld, das ungefähr so groß wie der Sockel des Osiris-Zepters war.

»Zum Öffnen brauchen wir wahrscheinlich das Zepter.«

»Hier, mein Sohn.« Yeats reichte ihm den kleinen Obelisken.

Conrad steckte das Zepter in das Quadrat und spürte gleich darauf ein leichtes Vibrieren. Die Tür ging auf, und sie traten in den riesigen Obelisken hinein.

***

Zawas knirschte mit den Zähnen, als er die Trümmerhaufen draußen in Augenschein nahm. Er verfluchte Conrad Yeats. Er hatte noch nie das Gesicht dieses Mannes gesehen, aber dennoch war es ihm offensichtlich gelungen, das Zepter des Osiris direkt vor seiner Nase zu stehlen.

Zawas schüttelte den Kopf und sah den Wasserfall hinunter auf das ausgebrannte Wrack des Hubschraubers. Er lag zertrümmert unten im Becken, wurde vom Wasser weitergetrieben und zerfiel dabei langsam in seine Bestandteile. Jetzt, da ihm dieser Hubschrauber nicht mehr zur Verfügung stand, blieb ihm nur noch einer übrig.

Mit den Augen folgte er einem Teil der Windschutzscheibe, der den Kanal hinunter zum Horizont floss, wo die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages hervorkamen. Die Sterne erloschen allmählich. Etwas an der Anordnung der Sterne erregte seine Aufmerksamkeit. Er machte einen Satz rückwärts und starrte geradewegs auf das Sternbild des Wassermanns. Plötzlich erklärte sich die Skizze wie von selbst.

Er lief in das Quartier zurück und sah sich die Sonchis-Karte noch einmal an. Er betrachtete den Tempel des Wassermanns, also das Gebäude, auf dem er sich gerade befand. Dann blickte er auf die Schlüsselsymbole am Rand – die Sternbilder Wassermann, Steinbock und Schütze. Ihm brach der Schweiß aus. Mit zittrigen Händen nahm er die Sonchis-Karte und betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal.

Dann eilte er in den Raum, wo sich Serena befand, und band sie los.

»Ist irgendetwas schief gelaufen, Oberst Zawas?«

»Ganz im Gegenteil, Schwester Serghetti«, sagte er und schob sie auf den Vorsprung hinaus.

Anscheinend glaubte sie einen Augenblick lang, er würde sie hinunterstoßen, weil sie sich mit aller Kraft sperrte, als er sie auf den Abgrund zuschob. Schließlich forderte er sie aber lediglich auf, mit dem Blick dem Kanal bis zum Horizont zu folgen, wo der neue Morgen schon schimmerte. Sie entspannte sich. Beide standen sie staunend vor dem Sternbild des Wassermanns.

»Ich habe das Heiligtum der Ursonne gefunden«, teilte er ihr mit. »Und damit auch Conrad Yeats.«

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