Teil Vier Der Jüngste Tag

Tagesanbruch 31 minus 45 Minuten

Im dunklen Inneren des Obelisken standen Yeats und Conrad auf einer runden Plattform, die einen Durchmesser von ungefähr anderthalb Metern hatte. Conrad hörte ein leises Summen und spürte einen feuchten, öligen Luftzug auf seinen Wangen. Er knipste seine Halogentaschenlampe an. Der Lichtstrahl schoss etwa 15 Meter weit, bis er auf eine emporragende Säule traf und in Sekundenschnelle an drei anderen glänzenden Säulen, die die große umgaben, abprallte. Das grelle Licht blendete immer stärker. Conrad schloss die Augen.

»Mach das Licht aus!«, rief Yeats. Seine Stimme hallte in der Dunkelheit wider.

Conrad knipste mit zugekniffenen Augen die Halogenlampe aus. Kurz darauf blinzelte er, sah aber immer noch das blendende Nachleuchten.

»Diese Lichtsäulen«, sagte Yeats und rieb sich die Augen, »was ist das?«

»Sie haben selbst keine Lichtquelle. Sie reflektieren und vervielfältigen nur das auftreffende Licht. Pass mal auf.« Conrad holte das Zippo-Feuerzeug aus seiner Hosentasche. »Es hat eine ganz niedrige Wattleistung. Bist du bereit?«

»Um geblendet zu werden?«

»So schlimm wird's diesmal nicht. Immer mit der Ruhe. Schütz deine Augen«, sagte Conrad.

Er setzte selbst seine Sonnenbrille auf und wartete, bis Yeats es ihm gleichgetan hatte. Dann zündete er das Feuerzeug. Die Wirkung ließ sich mit einer einzigen Kerze in einer hohen gotischen Kathedrale vergleichen. Im Dämmerlicht waren sie von vier leuchtenden, durchsichtigen Säulen umgeben, jede etwa sieben Meter im Durchmesser, die siebzig Meter in die Dunkelheit ragten und genauso weit in den Abgrund führten.

»Das ist also dein so genanntes Heiligtum der Ursonne«, sagte Yeats und starrte nach oben.

Conrad sah sich um und kam sich sehr klein vor. Ein Nebelschleier haftete an den leuchtenden Säulen, die oben an der höchsten Stelle zu einem Schornstein zusammenzulaufen schienen. Es roch eindeutig nach Öl. Conrad blickte nach unten und fragte sich, wie tief das Heiligtum der Ursonne wohl in die Erde hinunterging und wie weit sie noch gehen mussten, um das Geheimnis der Urzeit zu erkunden. Ehrfurchtsvoll nahm er das alles in sich auf, war sich aber gleichzeitig bewusst, dass die Zeit ziemlich knapp wurde.

»Schau dir das mal an.« Yeats hielt sein Ersatzfeuerzeug ganz dicht an die glatte, glänzende Säule. Die spiegelnde Oberfläche schien die Helligkeit nicht nur um ein Hundertfaches zu vervielfältigen, sondern sie schien auch zu beben. »Ich wette, diese Oberfläche hat mehr als hundert Prozent Spiegelungskraft.«

»Und das heißt?«

»Mit Aluminium kann man es auf maximal achtundachtzig Prozent bringen.«

»Die Säulen sind aber nicht aus Aluminium.«

»Stimmt.« Yeats streifte mit der Hand über die Oberfläche. »Die sind aus etwas noch Leichterem.«

»Noch leichter?« Conrad berührte die Säule. Sie war mit etwas Glitschigem, fast Flüssigem überzogen. Und doch merkte er, dass sie eine wenn auch undefinierbare Struktur hatte. »Sie fühlt sich so weich wie eine Spinnwebe an und gleichzeitig so hart wie Stahl. Wie federleichte Seide.«

»Weil es sich tatsächlich um ein perforiertes Gewebe handelt. Mit Löchern, die kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts.« Yeats klang merklich erregt. »Ich würde sagen mit einem Durchmesser um einen Mikrometer. Und jetzt? Gehen wir rauf oder runter?«

Gewebe. Conrad merkte, dass er genau dieses Wort gesucht hatte. Überraschend war nur, dass es ausgerechnet von Yeats kam. Aber er hatte Recht. Diese Säulen waren wie riesige Stoffrollen eines dünnen, leichten und spiegelnden Gewebes, so glänzend, dass man sie für das eigentliche Licht halten konnte, obwohl sie es nur reflektierten.

»Rauf oder runter, mein Sohn?«, fragte Yeats noch einmal.

»Rauf«, antwortete Conrad und war über sich selbst erstaunt. In Wirklichkeit hatte er nämlich keine Ahnung. In den alten Texten über die ägyptischen Pyramiden oder in den Überlieferungen der mittel- und südamerikanischen Kultur war er nie auf Vergleichbares gestoßen. Und er konnte sich auch auf keine Kindheitserinnerungen oder Albträume besinnen. Soweit er das beurteilen konnte, bestand die alleinige Bedeutung des hiesigen Obelisken darin, die lebensgroße Ausführung des Obelisken aus der P4 zu sein. Irgendwo in diesem Obelisken war der so genannte Thron des Osiris, der letzte Ruheplatz für das Zepter und für das Geheimnis der Urzeit. Die Frage war bloß, ob er das alles erkennen würde, wenn er es sah, und ob er wissen würde, was er dann zu tun hatte.

»Es geht nach oben.«

Tatsächlich. Die Plattform bewegte sich auf einmal wie ein Aufzug nach oben und trug sie zwischen den Lichtsäulen hindurch hoch.

»Festhalten«, sagte er angespannt, aber entschlossen. In seinem ganzen Leben war er noch nie so aufgeregt gewesen.

Sie mussten nach Conrads Schätzung an zahlreichen Stockwerken vorbeigekommen sein, als er über sich ein winziges Licht sah. Kurz darauf tauchten sie in eine kühle Kammer ein. Plötzlich blieb die Plattform stehen und Yeats fiel auf den Rand der Plattform zu. Conrad packte seinen Vater am Arm und umklammerte ihn ganz fest.

»Da wären wir«, sagte er.

Conrad versuchte sich zu orientieren. Verglichen mit den hohen Räumen unten, kam man sich hier richtig beengt vor. Es gab kein Echo mehr, und die Luft fühlte sich kühler an. Conrad nahm die Sonnenbrille ab und knipste die Halogenlampe an. Diesmal blendete nichts. Das Licht erhellte die Wand gegenüber.

Ein genauerer Blick ergab, dass sich links und rechts jeweils ein Korridor befand. Conrad ging in den rechten.

»Hier entlang.« Die Ungeduld, die ihn antrieb, war deutlich spürbar.

»Woher weißt du das so genau?«

»Du hast doch behauptet, dass ich Atlanter bin. Schon vergessen?«

Eine Weile lang ging Conrad mit Yeats wortlos durch den dunklen Gang. An einem Ende befand sich eine zwei Meter hohe Tür, die zu einer Krypta zu führen schien. Daneben war ein quadratisches Feld, das dem unten am Eingang ähnelte. Conrad ließ das Licht auf die Tür fallen. In die metallene Oberfläche waren ungewöhnliche Inschriften graviert, die sich seinem Verständnis zunächst ganz entzogen. Erst als er mit der Hand darüber strich, wurde ihm die Bedeutung klar.

»Es ist ein Sternbild«, sagte er, ohne jeglichen Zweifel daran aufkommen zu lassen.

Yeats nickte. »Der Stern hier ist der Sirius.«

»Die Göttin Isis in ihrer astralen Form.« Voller Ehrfurcht legte Conrad die Hand auf die kalte Metalltür. Ihm wurde eng in der Brust, und sein Herz schlug heftiger. Er bekam nur noch ein Flüstern zustande: »Wir haben die Krypta der Königin gefunden.«

»Eigentlich hätte ich die des Königs erwartet.« Yeats klang ganz geschäftsmäßig. »Wetten, dass wir Osiris im Gang gegenüber finden?«

Und damit auch den Thron des Osiris und das Geheimnis der Urzeit, dachte Conrad gerade, als er einen roten Punkt auf seiner Hand entdeckte. Blitzartig drehte er sich um. Yeats hielt seine Kalaschnikow mit eingeschaltetem Ziellaser auf die Tür gerichtet.

Conrad sprang zurück. »Verdammt noch mal, was machst du da?«

»Du wirst jetzt die Tür aufmachen, und wir schauen nach, ob die Lady da noch drin ist.«

Mit pochendem Herzen legte Conrad die Hand auf das quadratische Feld und spürte sogleich einen Energiestoß. Er zog die Hand zurück, und die Tür glitt auf. Kühle Nebelschwaden wichen aus der Kammer.

»Du hast nicht mal den Obelisken gebraucht«, sagte Yeats fast ehrfurchtsvoll.

»Vielleicht erkennt das System einen, wenn man ihn schon einmal benutzt hat«, sagte Conrad.

»Oder deine Kennung war bereits vorher schon gespeichert.«

Durch den Nebelschwall traten sie in die kleine Kammer. Der rote Laserstrahl fuhr kreuz und quer durch die Zelle und blieb auf einer Art Aushöhlung ruhen. Sie war für einen Menschen unter zwei Meter Größe geschaffen. Der Form nach zu schließen, musste es sich um eine Frau handeln. Sie hatte zwei Arme, zwei Beine, zehn Finger, zehn Zehen und weiche Rundungen.

»Mama.« Conrad pfiff, als er die Form betrachtete. »Bist du jetzt zufrieden, Yeats? Endlich weißt du, womit du es zu tun hast. Es hat wie wir menschliche Ausmaße. Vielleicht komme nicht nur ich aus Atlantis. Vielleicht kommen wir ja alle von daher.«

»Hoffentlich nicht. Es sei denn, du willst, dass uns dasselbe Schicksal trifft. Jetzt lass uns mal nach ›Papa‹ schauen.«

Die Tür zur Osiris-Krypta am anderen Ende des Korridors trug das Sternzeichen des Orion. Diesmal zögerte Conrad nicht. Er legte die Hand auf die Tür, und sie tat sich sofort auf. Auch hier entwich feiner kühler Nebel. Yeats kletterte mit seiner Kalaschnikow hinein, und Conrad folgte ihm dicht auf den Fersen. Er richtete die Lampe auf die hintere Wand und hielt den Atem an.

»Conrad, sag deinem Daddy guten Tag«, sagte Yeats.

Die Krypta hatte die Maße für ein aufrecht stehendes Wesen, das größer als ein Mensch war. Im Inneren befand sich eine eindrucksvolle Rüstung beziehungsweise Panzerung, die dem Wesen, für das sie entworfen worden war, an geheimnisvoller Komplexität sicher nicht nachstand. Ein durchsichtiger Schultergurt war über dem Mittelring verkreuzt und mit einem Sortiment beeindruckender Gerätschaften glanzvoll bestückt: Werkzeuge und möglicherweise Waffen.

»Großer Gott«, murmelte Conrad.

»Wenn Mutter Erde Recht hat, ist Gott gar nicht so groß«, sagte Yeats. »Der hier misst ungefähr drei Meter.«

Conrad zündete das Zippo-Feuerzeug und hielt es dicht an die Rüstung. Was auch immer das Material sein mochte, es war auf jeden Fall feuerfest. Aber die Rüstung bot ihrem Träger nur teilweise Schutz. Bei der Größe benötigte das Geschöpf wahrscheinlich auch nicht mehr.

Ein Geschöpf, dachte er. Das soll sein Vater gewesen sein? War er auch ein Geschöpf? Er hatte mit dem Mann neben ihm mehr gemein als mit dem Geschöpf, für das diese Rüstung gemacht war.

»Mit diesem Wesen hier bin ich garantiert nicht verwandt«, sagte Conrad zu Yeats. »Das hätte man in meiner DNS-Analyse sonst auch herausgefunden.«

»Wenn das stimmt, was Serena sagt, und die Bewohner von Atlantis die so genannten ›Söhne Gottes‹ aus der Schöpfungsgeschichte sind, dann hat dein biologischer Vater ein oder zwei Generationen später gelebt und war da schon mehr oder weniger menschlich.«

»Mehr oder weniger menschlich?«, wiederholte Conrad. »Das klingt ja noch …«

»Jetzt zeig mir verdammt noch mal endlich den Thron des Osiris. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Conrad nickte. »Er muss hier irgendwo ganz in der Nähe sein. Wenn wir uns aufteilen, finden wir ihn schneller.«

»Dann nimm du das hier.«

Yeats warf Conrad das Zepter des Osiris zu, und er fing es mit einer Hand auf. Es vibrierte buchstäblich vor Urkraft.

»Stell deine Kopfhörer jetzt auf die Notfrequenz ein«, sagte Yeats. »Da wo der kleine blaue Streifen klebt.«

»Hab schon verstanden.« Conrad stellte die Frequenz ein. »Test.«

»Test.«

Sie fuhren mit ihren Erkundungen fort, und Conrad hörte unterdessen Yeats' raue Stimme in seinem rechten Ohr. Aber schon bald war er außer Reichweite. Nachdem Conrad im oberen Teil des Obelisken alles gründlich untersucht hatte und zur Plattform in der Mitte zurückkehrte, war von Yeats nichts zu sehen. Conrad fühlte sich alleine. Er war enttäuscht, dass er nichts entdeckt hatte, und fragte sich, wo Yeats abgeblieben war und ob er wohl etwas herausgefunden hatte.

Conrad stand auf der Plattform oben und dachte über das merkwürdige Innere des Obelisken nach. Auch wenn ihm alles fremd erschien, so gab es an diesem Ort doch etwas, das ihm die innere Gewissheit gab, schon einmal hier gewesen zu sein. Zumindest an einem ähnlichen Ort. Eine innere Stimme drängte ihn, an die Decke zu schauen. Irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe hoch und entdeckte etwas, was ihm zuvor entgangen war: ein kleines quadratisches Feld, das genau dem zuvor glich.

Da oben musste es noch eine versteckte Kammer geben, sagte er sich aufgeregt.

Das Quadrat befand sich zwei Meter über ihm.

Mit dem Kontrollhebel gelang es ihm, die Plattform eine halbe Ebene höher fahren zu lassen, ohne dabei an der Decke zerquetscht zu werden. Er legte die Hand auf das quadratische Feld. Plötzlich erschien der äußere Ring einer Art Bodenluke, die sodann aufbrach und die Sicht in eine weitere Kammer mit einem Gewölbe wie in einer Kathedrale freigab – eindeutig die oberste Kammer des Heiligtums.

Conrad fuhr mit der Plattform bis ganz auf die höchste Ebene hoch. Mit seiner Lampe leuchtete er die Kammer aus. Ein großer Thron mit Lehne kam zum Vorschein, der waagerecht auf einer Art Altar lag und auf den höchsten Punkt des Gewölbes ausgerichtet war.

Heureka – ich habe ihn gefunden, dachte Conrad. Den Thron des Osiris!

»Jawohl!«, rief Conrad laut. Aufgeregt fummelte er an seinem Funkgerät herum. »Yeats, ich habe ihn gefunden.«

Keine Antwort. Wo zum Teufel war er nur?

»Yeats.« Unheimliches, beunruhigendes Schweigen.

Er drehte die Lautstärke auf, bis das Rauschen im Ohr schmerzte, hörte aber immer noch nichts. Er schaltete das Gerät wieder aus und fragte sich, was Yeats wohl vorhatte. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er konnte jetzt jedenfalls nicht länger auf ihn warten.

Langsam drehte er den leeren Thron und sah sich um. Im Lichtschein war sonst nichts in der Kammer zu entdecken. Weder Artefakte noch Zeichnungen, noch irgendein Hinweis darauf, dass dieser Raum schon einmal betreten worden war. Irgendwie kam ihm trotzdem alles bekannt vor.

Es war, als wäre er in eine lebendig gewordene Hieroglyphe getreten. Alte ägyptische Osiris-Reliefs stellten den ›Gott der Ewigkeit‹ – häufig mit seiner Atef-Krone – auf dem Thron sitzend dar, wie beispielsweise im Tempel Sethos' I. in Abydos. Conrad musste auch an eine Skulptur der Olmeken vom Ausgrabungsort in La Venta, Mexiko, denken, die einen Menschen in einem mechanischen Sessel darstellte, der dem Thron hier sehr ähnlich war. Und dann der Deckel des Steinsarkophags im ›Tempel der Inschriften‹ in der Mayastadt Palenque in Chiapas, Mexiko. Auch dort gab es eine Darstellung mit einem Mann, der in einer Art Maschine zu sitzen scheint.

Ja, hier war er schon einmal gewesen, dachte er, und spürte die Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine Hände fühlten sich feucht und aufgedunsen an. Diesmal war es der richtige Stuhl, der echte Thron des Osiris. Genauso echt war der kleine, einem Altar ähnliche Sockel daneben, eindeutig die Halterung für das Zepter des Osiris. Jetzt brauchte er nur noch das Zepter zu ergreifen und sich auf den Thron zu setzen, um das Geheimnis der Urzeit zu erfahren.

Conrad ließ eine Hand über die glatte Oberfläche des Throns gleiten. Er hatte die Form einer Eierschale. Conrad drückte darauf und merkte, wie sie seinem Druck nachgab. Er spürte das Verlangen, sich auf den Thron zu setzen, aber beim Gedanken daran, was mit dem Zepter in der P4 passiert war, zögerte er.

Diesmal ist es anders, redete ihm sein Verstand ein. Das erste Mal hatte er einen Fehler gemacht. Das wusste er nur zu gut. Jetzt würde er versuchen, diesen Fehler wieder gutzumachen. Er musste es probieren, sonst konnten Milliarden von Menschen umkommen. Ja, sagte er sich, was auch immer seine Schwächen waren, wie unwürdig er auch war, er musste den Thron besteigen, nicht aus Eigennutz, sondern zum Nutzen der Menschheit.

Conrad glitt auf den Thron des Osiris, stellte das Zepter in die Halterung und blickte zur pyramidenähnlichen Decke hinauf. Interessant, dachte er. Er kam sich vor wie einer seiner Studenten bei der Exkursion zu den Nazca-Scharrbildern, wo diejenigen Menschen immer auf eine großartige, aber leider nie eintreffende Offenbarung gewartet hatten.

»Wirklich, Conrad«, sagte er zu sich selbst, nur um seine Stimme zu hören. »Endlich hast du was Eigenes vollbracht. Du hast dich selbst verwirklicht und dein astrales Selbst gefunden. Du bist der Sonnenkönig.«

Er lachte nervös. Wenn Mercedes jetzt bei ihm wäre, würde sie alles aufnehmen. Er konnte sich die TV-Spots ausmalen: »Live vom Heiligtum der Ursonne! Das Geheimnis von Atlantis gelüftet! Werden Sie Zeuge des Weltuntergangs!« So wie die Dinge liefen, würde es sogar auf Letzteres hinauslaufen.

Auf dem Thron des Osiris wurde Conrad plötzlich von einer tiefen Niedergeschlagenheit erfasst. War er so weit gereist und würde die Menschheit so viel ertragen müssen, nur damit er herausfand, dass alles nur ein kosmischer Streich war? Was wäre, wenn hinter dem Geheimnis der Urzeit gar kein Geheimnis steckte?

Nein, beschloss er. Es hatte zu viel Mühe gekostet, all das zu bauen. Und außerdem musste es eindeutig weitere astronomische Zusammenhänge geben, die er nur noch nicht kannte. Es musste einfach möglich sein, die Erdkrustenverschiebung zu verhindern. Aber wenn er nicht der Richtige dazu war? Ein Gefühl der Hilflosigkeit übermannte ihn. Er hatte bei Serena versagt. Er hatte der Menschheit gegenüber versagt. Er hatte bei sich selbst versagt, basta. Was konnte er jetzt noch tun? Er war wirklich am Ende.

Conrad lehnte sich zurück, schloss die Augen und betete: Gott Noahs, Moses', Jesu und Serenas. Wenn es Dich gibt, wenn Dir an Serena und an allem, was ihr wichtig ist, gelegen ist, dann hilf mir jetzt die Situation zu meistern, bevor Osiris und seinesgleichen Dich und die Deinigen endgültig ins Verhängnis treiben.

Conrad öffnete die Augen. Nichts geschah.

Er lehnte sich wieder zurück, und sogleich merkte er, wie der Thron mit einem Klicken einrastete. Conrad wollte sich nach vorn beugen, um nachzusehen, aber die eiförmige Kapsel hielt ihn zurück.

Was war das für ein surrendes Geräusch?

Der Sitz engte ihn ein. Conrad wurde starr vor Schreck, weil der Thron nun seinen ganzen Körper umschlang, sich fest um die Hüfte legte und die Schultern niederdrückte. Eine Konsole aus Metall schob sich vor die Stirn. Er sank immer tiefer in den Thron ein und wurde von der Vorrichtung verschlungen.

»Yeats!«

Mit einem Piepen erwachte die Konsole über ihm auf einmal zum Leben. Sie glühte in einem unheimlichen Blau. Eine Instrumententafel leuchtete auf. Ein gewaltiges Rütteln ergriff den Obelisken, und Conrad spürte, wie sich in der Lehne Vibrationen aufbauten.

»Yeats!«

Das grelle weiße Licht, das von oben aus einem Schacht strömte, blendete ihn.

»Yeats!«

Von unten schoss nun ein Blitz hoch, der die ganze Kammer in Licht tauchte. Conrad merkte, dass aus den Schächten über und unter seinem verstellbaren Sessel Sonnenlicht strömte. Genau wie bei dem Sternenschacht der P4. Sonnenlicht? Woher das wohl kam?

Conrad gelang es, seine Schutzbrille aufzusetzen, weil er in die Schächte schauen wollte. Sie rahmten den leuchtenden Himmel wie Fenster ein. Er hatte die Türen der unterirdischen Rampe geöffnet.

Wieder ein Rütteln. Schlagartig wurde ihm alles klar.

Dieser Obelisk war kein Heiligtum, kein Schrein. Er war ein Schiff, ein Raumschiff!

»Dad!«

Conrad versuchte wieder, aus dem Sessel herauszukommen. Vergebens. Er machte eine Drehung nach rechts. Kein Erfolg. Nach links. Ja. Jetzt warf er sich mit all seiner Kraft nach vorn und sprang schließlich Funken sprühend heraus. Die Konsole verschwand im Sessel, die Vibrationen versiegten. Der Sessel schnappte hoch und gab ihn ganz frei. Er atmete schwer und versuchte sich zu sammeln.

Eine Weile lang saß er ganz benommen auf dem Boden. Aber in seinem Kopf arbeitete es. In der Vergangenheit ließen sich keinerlei Anhaltspunkte für das finden, was er gerade erlebt hatte. Oder doch? Es gab alte ägyptische Trauerreden, die sich auf Himmelsschiffe bezogen, mit denen die Toten die letzte Reise in die Ewigkeit antraten. Es gab zum Beispiel die ›Barke des Osiris‹ und das ›Boot des Re‹. Die Ägyptologen tauften sie ›Sonnenbarken‹. Und 1954 entdeckte Kamal el-Mallakh in einem Graben an der Südseite der Cheopspyramide in Gise ein fünfzig Meter langes Zedernholzboot. Die darauf folgenden Ausgrabungen brachten in der gleichen Gegend ähnliche Boote zutage – Symbole der Sonnenbarken, in denen die Seelen der verstorbenen Könige ins Jenseits reisten.

Conrad stellte fest, dass sich die unterirdische Abschussrampe auf der Südseite der P4 befand.

Er musste an die drei Tierkreiszeichen auf dem kleinen Obelisken denken. Er erinnerte sich an die Pyramidentexte aus Gise, die beschrieben, wie der Sonnenkönig mit seiner ›Sonnenbarke‹ über die Milchstraße zur Urzeit fuhr. Für Astro-Archäologen wie Conrad war die ›Sonnenbarke‹ eine Metapher für die Sonne, insbesondere für ihre jährliche Bahn durch die zwölf Tierkreiszeichen. Aber was wäre, wenn es mehr als nur eine Metapher war?

Das hier war die wirkliche Sonnenbarke, dachte Conrad, das Himmelsschiff, das denjenigen, der sich zum Sonnenkönig ernannte, durch das Firmament zur Urzeit führte. Eine euphorische Stimmung erfüllte ihn.

Aber dann nahm ihm die nackte Realität wieder jegliche Hoffnung: Das Geheimnis der Urzeit lag am Ende der Reise mit der Sonnenbarke. Die Erdkrustenverschiebung jedoch war nur noch Stunden, ja vielleicht sogar nur noch Minuten entfernt. Es war nicht mehr möglich, die Sternenkammer in der P4 auf den Zeitpunkt der Urzeit einzustellen, ohne diese Reise vollendet zu haben. Die Entfernung, die die Sonnenbarke fahren musste, um ihr Ziel zu erreichen, hätte Conrad lediglich in Lichtjahren schätzen können, aber das überstieg seine Vorstellungskraft bei weitem.

Das Funkgerät meldete sich knisternd. Conrad hob es auf und brüllte hinein: »Yeats, wo zum Teufel hast du gesteckt.«

Es meldete sich Serenas Stimme. »Hallo, Conrad.«

»Serena? Wo bist du?«

»Schau aus dem Cockpitfenster.«

Conrad blickte nach oben und sah die Umrisse der ägyptischen Soldaten, die sich um die Öffnung der Rampe herum aufgestellt hatten und ihre Gewehre und Granatwerfer auf ihn richteten. Was seine Aufmerksamkeit jedoch ganz besonders erregte, war Zawas, der Serena mit dem ausgestreckten Arm eine Waffe an den Kopf hielt.

»Oberst Zawas lässt dir mitteilen, dass er mich umbringt, wenn du nicht innerhalb von zehn Minuten unten am Heiligtum bist und ihm das Zepter überreichst«, sagte Serena. »Ich habe ihm bereits gesagt, dass du dazu nicht bereit sein wirst. Ich wäre das auch nicht wert.«

»Sag Zawas, dass ich komme«, rief Conrad in das Funkgerät.

Tagesanbruch 32 minus 25 Minuten

Conrad eilte durch das gigantische Raumschiff zum Rundbau am unteren Ende hinunter. Plötzlich ergab alles Sinn: Die Krypten waren so etwas wie Tiefkühlkammern, in denen man während der langen Reise durchs All schlief. Und die Lichtsäulen waren eine Art Antriebssystem.

Conrad verließ die Sonnenbarke und sah, wie die ersten Strahlen des anbrechenden Tages die ganze Rampe in Licht tauchten. Er blickte nach oben. Die Kapsel hatte sich aufgetan. Er hielt sich die Hand vor die Augen und spürte einen heftigen Stoß im Rücken.

»Los, weiter«, sagte hinter ihm jemand mit arabischem Akzent.

Conrad, der in das grelle Licht blinzelte, reckte den Hals, um nach hinten zu sehen. Seine Neugier wurde durch einen Schlag an den Kopf mit dem Gewehrkolben einer Kalaschnikow belohnt.

»Idiot!«

Mit hämmerndem Schädel stolperte Conrad weiter.

Er wurde von Serena und Zawas empfangen. Nachdem Zawas ihm das Zepter aus der Hand genommen hatte, sah Conrad zu Serena hinüber und musste kräftig schlucken. In ihren Augen lag Traurigkeit, aber sonst wirkte sie kalt wie Eis.

»Was haben diese Scheißkerle mit dir gemacht?«

»Nicht der Rede wert, wenn man bedenkt, was die Menschheit deinetwegen noch ertragen muss.«

»Doktor Yeats.« Zawas sah ihn eindringlich an. »Sie haben Ihren Ruf wirklich verdient. Sie haben uns zum Heiligtum der Ursonne geführt.«

»Das wird Ihnen kaum was nützen.«

»Lassen Sie das mal meine Sorge sein.« Zawas hielt seinen Leuten das Zepter des Osiris wie ein Götzenbild hin, aber es gab deswegen keinen Tumult. Das sind Berufssoldaten, die Zawas da als Verstärkung mitgebracht hat, dachte Conrad, nicht irgendwelche Fanatiker. Für sie war der Obelisk nichts anderes als der Kopf eines toten Feindes oder eine brennende amerikanische Flagge oder ein Atomsprengkopf. In ihren Augen diente er lediglich als Symbol ihrer Macht.

Zawas sah Conrad wieder an und sagte: »Und jetzt, Doktor Yeats, werden Sie mich in das Geheimnis der Urzeit einweihen.«

»Ich kenne es selbst nicht. Da kann ich es auch nicht entschlüsseln. Kann sein, dass wir es niemals herausfinden.«

Zawas kniff die Augen zusammen. »Und warum nicht?«

»Das Heiligtum, wie Sie es nennen, ist in Wirklichkeit ein Raumschiff, das den Suchenden zum Ort der Urzeit führt – zur Ursonne. Jedenfalls sahen das die Erbauer von Atlantis so.«

»Ein Raumschiff?«, wiederholte Zawas.

»Genau. Und deshalb werden wir wahrscheinlich nie etwas vom Geheimnis der Urzeit erfahren.« Conrad blickte verstohlen zu Serena, deren traurige Augen verrieten, dass sie schon selbst ihre Schlüsse gezogen hatte. »Allein die Existenz der Sonnenbarke bedeutet, dass das Geheimnis nicht auf unserer Erde zu finden ist, sondern an einem Ort, der sich, wenn ich das richtig mitbekommen habe, irgendwo hinter dem Sternbild des Orion befindet.«

Serenas Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Es gibt also keine Möglichkeit, die Erdkrustenverschiebung zu verhindern.«

Conrad schüttelte den Kopf und sah ihr fest in die Augen. »Jedenfalls gibt es nichts, was in meiner Macht steht.«

Zawas trat an Conrad heran, bis ihre Gesichter dicht an dicht waren. »Sie behaupten also, dass es sich bei dem Heiligtum um ein Raumschiff handelt, Doktor Yeats. Sie sagen, dass es für die Welt keine Hoffnung mehr gibt. Warum sind Sie dann nicht damit weggeflogen?«

Conrad blickte Serena über Zawas' Schulter hinweg an.

Serena schüttelte den Kopf, weil sie es nicht glauben konnte. »Conrad, du bist wirklich der größte Dummkopf, den ich kenne.«

»Endlich sind wir uns mal einig, Schwester«, sagte auf einmal jemand.

Conrad fuhr herum. Yeats tauchte hinter einer der Säulen im Rundbau auf und wirkte unerbittlicher als je zuvor.

»Zawas, geben Sie mir den Obelisken, Conrad und das Mädchen«, sagte Yeats. »Und wir sind weg.«

Conrad starrte Yeats verblüfft an. »Weg wohin? Du willst einfach so in ein Raumschiff steigen und abfliegen?«

»Genau das.«

Conrad war sich bewusst, dass es Yeats mehr oder weniger egal war, wohin sie flogen, Hauptsache er flog. Irgendwie war er ganz versessen darauf, die Raumfahrtmission, auf die er in seiner Jugend hatte verzichten müssen, jetzt zu vollenden.

»Hör mal zu, mein Sohn, wenn wir es nicht tun, gehen wir mit dem Rest der Welt unter«, sagte Yeats.

»Du kannst es dir zurechtlegen, wie du willst, ich spiele da jedenfalls nicht mit.«

Zawas umklammerte das Zepter fester und nickte seinen Leuten, die Yeats mit ihren Kalaschnikows im Anschlag eingekreist hatten, mit kühler Gelassenheit zu.

»Sie haben fast mein ganzes Lager zerstört, was mich auch ein paar meiner besten Leute gekostet hat«, sagte Zawas. »Und jetzt wollen Sie mich auch noch für dumm verkaufen.«

Conrad schaute abwechselnd zu Yeats und Zawas, die sich nun mit verbissenem Blick anstarrten.

»Du wolltest nie wirklich irgendwelche Waffen finden oder außerirdische Bomben entschärfen, stimmt's, Yeats?« Conrad schnaubte vor Wut. »Und es hat dich auch nie interessiert, mir bei der Suche nach meiner Identität zu helfen. Du hast die ganzen Jahre über genau gewusst, was hier zu finden war.«

»Ich habe es zumindest vermutet. Und jetzt wissen wir es ganz genau. Das ist das Happyend, auf das wir hinarbeiten, seit ich dich aufgefunden habe. Du kehrst jetzt heim, mein Sohn.«

Heim? Conrad überlegte. Das erste Mal seit Jahren dachte er daran, dass er vielleicht irgendwo ein wirkliches Zuhause haben könnte – das womöglich nicht mal auf dieser Erde war.

Zawas meldete sich zu Wort: »Sie glauben doch nicht etwa, dass ich Sie in dieser Sonnenbarke abheben lasse?«

»Doch, genau das glaube ich«, sagte Yeats.

Yeats ließ den linken Arm hochschnellen. Er hielt eine kleine Fernsteuerung in der Hand. Mit den kältesten blauen Augen, die Conrad jemals gesehen hatte, sah Yeats den Ägypter an. »Entweder Sie lassen mich abfliegen, oder wir gehen alle zusammen in die Luft«, sagte Yeats. »Ich habe hier genug Sprengstoff verteilt, um uns alle zur Urzeit zu befördern, auch ohne Raumschiff.«

Zawas' Blick verdüsterte sich. »Sie bluffen.«

»Ach wirklich?« Yeats betätigte eine der Tasten, und durch die Rampe schallte von überall her ein Piepen, mit dem im Dunkeln ein roter Lichtkreis zu blinken anfing. »Sie können sich das gern genauer ansehen.«

Conrad beobachtete, wie Zawas zur nächsten blinkenden Stelle ging und sich darüberbeugte. Der Oberst erstarrte. Langsam richtete er sich wieder auf und ging zu seinen Leuten zurück. »Lasst Doktor Serghetti los.«

»Und das Zepter, wenn ich bitten darf, Oberst. Geben Sie es ihr.«

Zawas reichte Serena das Zepter des Osiris und schubste sie dann zu Yeats hin. »Tut mir Leid, meine Schöne«, sagte Zawas.

Yeats zog sie sofort zum Rundbau am unteren Ende der Sonnenbarke. »Komm schon, Conrad.«

Conrad bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Er sah Yeats und Serena an und sagte: »Ich habe, glaube ich, gerade herausgefunden, wie ich die Erdkrustenverschiebung aufhalten kann. Aber die Lösung ist nur in der Sternenkammer zu finden. Nicht hier.« Er deutete auf die Sonnenbarke.

Yeats war völlig verblüfft. »Zu spät. Los jetzt.«

»Nein. Ich bleibe.« Conrad sah Serena an. »Aber ich brauche Serena und das Zepter.«

Yeats schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, mein Sohn. Das Zepter wird zum Starten gebraucht.«

Conrad spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. »Und warum um alles in der Welt willst du Serena mitnehmen?«

»Als Anreiz, damit du es dir noch anders überlegst«, sagte Yeats und zog sie mit sich zur Sonnenbarke. »Wenn du sie willst, musst du sie dir schon holen.«

Obwohl Conrad eigentlich zu ihr laufen wollte, sah er einfach nur zu, wie sie ihm einen flüchtigen, verunsicherten Blick zuwarf. Dann verschwand sie in dem riesigen Raumschiff.

Kurz darauf waren die Vorbereitungen für den Countdown in vollem Gange, und der Boden fing an zu beben. Vor Wut und doch voller Bewunderung für seinen ehemaligen Lehrer konnte Zawas nur noch den Kopf schütteln, bevor er seinen Soldaten befahl, die Abschussrampe zu räumen.

»Und Sie?«, rief Conrad dem ägyptischen Oberst zu. »Was haben Sie jetzt vor?«

»Ich werde mich schleunigst hier irgendwo in Sicherheit bringen«, antwortete Zawas. »Wenn es stimmt, dass die Erde von einer großen Katastrophe heimgesucht werden wird, befinden wir uns hier am denkbar sichersten Ort. Wir werden Überlebende finden und eine neue Welt schaffen. Falls aber nichts dergleichen passiert, haben wir immerhin eine unerschöpfliche Energiequelle gefunden. Dann beherrschen wir die Welt ohnehin.«

»Und was wird aus mir?«, sagte Conrad.

»Der Teufel soll Sie holen, Doktor Yeats«, sagte Zawas. Zwei Ägypter fesselten Conrad an eine Säule in der Nähe der Sonnenbarke. »Entweder wird die Aussicht auf Ihren Tod Ihren Vater dazu bewegen, seine Pläne aufzugeben, oder Sie verschwinden, sobald die Sonnenbarke abhebt, mit Glanz und Gloria aus diesem Leben.«

Conrad sah zu, wie Zawas seine Leute aus der Rampe hinausführte. Bald war er ganz allein. Er zerrte an den Handfesseln. Voller Verzweiflung merkte er, wie die Sonnenbarke mit Serena und dem Obelisken an Bord zum Leben erwachte. Der Start stand unmittelbar bevor.

***

Im Inneren der Sonnenbarke befand sich Serena mit Yeats auf einer runden Plattform, die von vier wunderbar goldenen Lichtsäulen umgeben war. Jede dieser Säulen vibrierte vor Energie. Yeats, der immer noch die Fernbedienung für die Sprengstoffzünder in der Hand hielt, legte diese zusammen mit dem Zepter auf den Boden. Plötzlich stieg die Plattform in den kühlen Nebel auf.

»Yeats, wenn wir die Sternenkammer nicht neu einstellen, wird sich die ganze Erde verschieben«, sagte Serena. Wut und Verzweiflung schwangen in ihrer Stimme mit. »Milliarden Menschen werden sterben. Sie können nicht einfach so losfliegen.«

»Es gibt jetzt keinen Weg zurück mehr«, sagte Yeats abschätzig. Sein Blick war starr auf die Kammer über ihnen gerichtet. »Sie haben ja gehört, was Conrad gesagt hat. Was immer das Geheimnis der Urzeit ist, wir werden es todsicher nicht auf der Erde finden. Damit die Menschheit nicht untergeht, sind wir geradezu verpflichtet abzuheben.«

Sie sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck war der eines hochmütigen, selbstgefälligen Kriegers, der sich von niemandem aufhalten lassen würde. Fest entschlossen funkelten seine Augen im dämmerigen Licht der vier Säulen. Zorn stieg in ihr auf – diese völlige Missachtung der Menschen, die drauf und dran waren, ihr Leben zu verlieren.

»Warum sind Sie sich überhaupt so sicher, dass wir starten können?«

»Wir befinden uns hier in einer Art sonnenbetriebenem System«, sagte Yeats. »Diese gewaltigen Säulen sind ein Teil von vier unglaublich langen sonnenbetriebenen Rotorblättern. Wie die eines Helikopters, nur noch viel größer. Sobald wir auf der Flugbahn in den Weltraum sind und aus der Erdatmosphäre austreten, werden sie sich auffächern und das Sonnensegel ausrollen.«

Auf eine verrückte Art und Weise schien das alles logisch zu sein. Sie war offenbar schon gänzlich in Yeats' Gedankenwelt eingedrungen. Egal, wie wahnsinnig der ehemalige Astronaut war, er befand sich jedenfalls auf sicherem Terrain, und sie war in diesem Fall die Außenstehende.

»Wenn das Segel erst mal aufgezogen ist«, fuhr Yeats fort, »funktioniert es wie ein Spiegel mit hoher Reflexion. Wenn die Photonen auf die Oberfläche treffen, erzeugen sie durch Druck den Antrieb für das Segel. Je größer das Segel, umso größer die Kraft. Wir können den Spiegel in unterschiedliche Richtungen neigen, um die Antriebskraft auf diese Weise dorthin zu lenken, wo wir sie haben wollen.«

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie dieses Ding steuern können?«

»Doch, und zwar wie Kolumbus seine Pinta«, erwiderte er. »Ich bin mir sicher, dass alle Daten – Laufbahnbestimmung, Stabilisierungswerte und Geschwindigkeitskontrolle – in dem Navigationssystem des Raumschiffs gespeichert sind.«

Serena schwieg. Die Plattform rastete ein. Mit der Spitze des Obelisken schob Yeats sie einen langen Gang hinunter, der an einer Metalltür mit eigenartigen Inschriften endete.

»Warum hätten sie das Schiff ausgerechnet so bauen sollen?«, hörte sie sich fragen. Sie musste ihn am Reden halten, sie musste Zeit gewinnen, damit sie sich überlegen konnte, wie sie ihn vom Starten abhalten konnte.

»Das können Sie die selbst fragen, wenn wir erst mal da sind. Vermutlich wurde das Schiff als eine Art Rettungsboot gebaut, das mit minimaler Energie weite Entfernungen überbrücken sollte. Das ist ja gerade das Schöne an diesem Schmuckstück: geringe Schubkraft, aber unendliche Antriebskraft, weil es keinen Treibstoff braucht. Das Sonnensegel ist das perfekte Antriebssystem für Reisen durchs All.«

»Abgesehen davon, dass es das Sonnenlicht braucht«, bemerkte Serena, »das uns aber nicht mehr zur Verfügung steht, sobald wir das Sonnensystem verlassen. Dann schunkeln wir in einem Segelboot aufwindstiller See.«

Yeats blieb an der Tür stehen und sagte: »Dann kommt die Schwerkraft zum Zuge.«

»Wie bitte?«

»Ja, so werden wir ohne Licht vorankommen«, sagte er. Er sprach so ruhig und vernünftig, dass sie Angst bekam und gleichzeitig wütend wurde. »Wir fliegen ganz dicht um den Jupiter herum, sodass wir seine Schwerkraft nutzen können, um uns in eine schnellere Laufbahn in Richtung Sonne zu katapultieren. Dann werden wir um die Sonne geschleudert und legen beim Austritt aus dem Sonnensystem weiter an Geschwindigkeit zu. Auf jeden Fall bin ich mir ziemlich sicher, dass dieses Ding hier eine ganze Menge Maser- und Laserpotenzial in sich hat, dessen Mikrowellen wiederum eine gewaltige Beschleunigung und den Antrieb der Segel erzeugen.«

»Sie scheinen ja tatsächlich selbst zu glauben, was Sie da sagen, Yeats. Wie lange werden wir denn unterwegs sein?«

Yeats überlegte. »Bei normaler Geschwindigkeit ungefähr ein Jahr.«

Ein Jahr?, dachte Serena. »Bei dieser Geschwindigkeit würden wir den nächsten Stern …«

»… irgendwann in einem Zeitraum zwischen 250 und 6.600 Jahren erreichen.«

Serena wollte gar nicht wissen, wie lange es dauern würde, bis sie im beabsichtigten Sonnensystem ankämen. Ganz zu schweigen davon, wer sie dort begrüßen würde. »Haben Sie sich schon überlegt, wie wir bis dahin am Leben bleiben?«

»Ja.«

Yeats steckte das Zepter in die Wand. Die Tür öffnete sich und gab den Blick in eine Kammer frei, in der kühler Nebel waberte. Serena starrte hinein und entdeckte in der hinteren Ecke so etwas wie einen offenen Sarg. Er hatte die Umrisse einer wohlgeformten Frau, die ungefähr Serenas Statur besaß.

»Sieht so aus, als ob die Erbauer an alles gedacht hätten«, sagte Yeats. »Willkommen in Ihrer Eisgruft.«

Bei Serena funkte es erst, als ihr klar wurde, dass Yeats von ihr erwartete, sich in diesen Kühlschrank hineinzulegen. Sie erstarrte und weigerte sich, in die Kammer einzutreten. Dann spürte sie eine feuchte Hand an ihrem Hals. Nicht um alles in der Welt würde sie dort hineingehen.

»Sie zuerst«, sagte sie. Sie trat Yeats mit dem Absatz fest auf die Zehen und stieß ihm den Ellbogen in den Unterleib.

Yeats stöhnte auf. Serena vollführte eine Drehung, trat mit dem Knie nach und versetzte ihm mit einer Doppelfaust einen heftigen Schlag auf den gekrümmten Rücken. Sie rappelte sich auf und rang nach Luft. Yeats ließ den Kopf hochschnellen und schlug gegen ihre Kinnlade, sodass ihr die Unterlippe platzte. Er richtete sich wieder auf. Serena taumelte rückwärts in die Kammer. Yeats hob den Kopf. In dem matten Licht kamen seine kalten, toten Augen zum Vorschein. Er hielt eine Pistole auf sie gerichtet.

»Sie können Ihr Gutenachtgebet aufsagen, Schwester.«

Mit ganzer Kraft quetschte Yeats sie in den Sarkophag, der sich wie Lehm um sie legte. Sie spürte, wie ein kaltes Kribbeln in ihr aufstieg. Es fing im Kreuz an, raste die Wirbelsäule hoch und breitete sich dann explosionsartig im ganzen Körper aus.

Plötzlich wurde alles taub. Sie war jetzt ganz ruhig, fast leblos, spürte aber noch ihren Herzschlag. Bald wurde auch der immer schwächer. Yeats schlug die Tür zur Grabkammer zu, und dann spürte sie gar nichts mehr.

Tagesanbruch 33 minus 20 Minuten

Als die mächtigen Steuerraketen der Sonnenbarke zu summen anfingen, spürte Conrad – der immer noch an die Säule gefesselt war –, wie die Wände der Rampe vibrierten. Die ölige Luft im Schiff sickerte nach außen und legte sich über ihn. Er merkte, wie sich alles aufheizte. Die Dachöffnung des versunkenen Heiligtums gab den Blick auf den bedeckten Himmel frei. Dann wurde die Öffnung größer, und Geröll und Felsbrocken fielen herab.

Conrad schloss die Augen, um sie vor dem herunterwirbelnden Staub zu schützen. Dann blickte er blinzelnd in den höhlenartigen Abschussschacht. Einen Moment lang konnte Conrad vor Rauch und Wirrwarr das Raumschiff nicht mehr sehen und fürchtete schon, dass es bereits abgehoben hatte. Dann teilte sich der Rauchvorhang, und sein Blick fiel auf das unwirkliche Bild der schimmernden Sonnenbarke. Auf dem Boden lag eine Kalaschnikow, die einer von Zawas' Soldaten bei ihrem panikartigen Rückzug offenbar hatte fallen lassen. Aber das Sturmgewehr lag mehr als zehn Meter weit entfernt und nutzte ihm deshalb in seiner momentanen Zwangslage rein gar nichts.

Es roch nach Rauch. Seine Augen fingen an zu brennen, seine Nase kribbelte vom Ruß. Er versuchte vergebens, sich zu befreien, und hustete in der rauchigen Luft. Ob nun mit oder ohne das Geheimnis der Urzeit, sagte er sich, das Zepter des Osiris war seine einzige Chance, die Sternenkammer in der P4 neu einzustellen, um dadurch die Erdkrustenverschiebung zu verhindern. Aber das Zepter war im Raumschiff. Er musste sich irgendwie befreien, um es sich zurückzuholen, bevor die Sonnenbarke abhob und ihn bei lebendigem Leib verbrannte.

Der Gedanke an Feuer erinnerte ihn an das Zippo-Feuerzeug, das Yeats ihm überlassen hatte. Es befand sich noch in seiner Brusttasche. Wenn er einen Weg fand, es herauszuholen, konnte er damit vielleicht die Fesseln durchbrennen. Conrad ließ sein Kinn auf die Brust fallen und zog mit den Zähnen seine Sonnenbrille heraus, die er in den Ausschnitt gehängt hatte. Dann führte er die Brille vorsichtig in seine Brusttasche, um damit das Feuerzeug herauszuheben. Nach kurzer Zeit gab er mit schmerzendem Genick auf. Die vibrierenden Maschinen in der Sonnenbarke brachten ihn jedoch dazu, es noch einmal zu versuchen.

Diesmal klappte es. Es gelang ihm, das Feuerzeug herauszuschaufeln. Die Brille im Mund, balancierte er das Feuerzeug mit einer Kopfdrehung nach links und schob es unter den Jackenkragen. Wenn es nur bis zum Ärmel käme …

Das Feuerzeug rutschte tatsächlich in den Ärmel und landete mit etwas Schütteln schließlich in seiner Hand. Mit einigem Geschick zündete er das Feuerzeug. Er fluchte, weil die Flamme seine Hand verbrannte. Fast hätte er das Feuerzeug wieder fallen lassen.

Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Er suchte einen Weg, die Fesseln mit der Flamme zu lösen, ohne sich Verbrennungen dritten Grades zuzuziehen. Er kam zu dem Schluss, dass kein Weg an den Schmerzen vorbeiführte. Er atmete tief ein, biss die Zähne zusammen und zündete das Feuerzeug. Die Flamme stach in sein Handgelenk, während er sich an den Fesseln zu schaffen machte. Sein innerer Impuls war es, das Feuerzeug fallen zu lassen, aber er zwang sich, es fest zu umklammern. Bald strömten ihm die Tränen aus den Augen, aber er konzentrierte sich auf die Sonnenbarke und sein Ziel, das nun greifbar nahe lag.

Der Geruch des eigenen verbrannten Fleisches – es roch wie verbrannter Gummi – erregte Übelkeit in ihm. Er konnte es nicht länger ertragen. Das Feuerzeug glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend auf den Steinboden. Ihm wurde langsam bewusst, dass er seine letzte Chance, dem Ganzen zu entkommen, vertan hatte. Schlimmer noch, der Gummigeruch kam von seinem Uhrarmband, das er durchgeschmort hatte.

Conrad stöhnte. Nun hatte er nichts mehr zu verlieren. Er zog seine Handgelenke auseinander. Der verkohlte Strick gab etwas nach und glitt schließlich über seine Hände. Er schrie vor Schmerz auf.

Mit aller Kraft riss er ein letztes Mal die Hände auseinander. Die rauen Fesseln zerrten an den empfindlichen, versengten Handgelenken, bis die verkohlten Stränge endlich rissen und seine Hände freigaben.

Conrad taumelte vorwärts und starrte auf die Ringe um seine zitternden Hände. Dann riss er zwei Stoffstreifen von der Uniform, die er trug, und verband sie damit. Er hob die Kalaschnikow auf und raste durch den Staub auf die Sonnenbarke zu.

Er betrat den Rundbau und kam zur Außentür des Schiffs, die er zuvor mit Yeats entdeckt hatte. Sie war fest verschlossen, vibrierte aber von jener Energie, die den gesamten riesigen Obelisken erfasst hatte. Er legte die Hand auf das quadratische Feld.

***

Kurz darauf fuhr Conrad mit der Plattform zu der Ebene hoch, wo sich die ›Kühlkammern‹ befanden. Direkt über sich sah er die Ausstiegsluke, die zur Kommandozentrale des Schiffs führte. Der Lichtkreis verriet ihm, dass sich dort Yeats mit dem Obelisken befand. Er blickte nach links den Gang hinunter, der zur Osiris-Kammer führte, und dann nach rechts zu dem Gang, der bei der Isis-Kammer endete. Er ging nach rechts.

Am Ende des dunklen Tunnels schien ein unheimliches blaues Licht. Als Conrad sich der Tür der Eisgruft näherte, bemerkte er, dass sie geschlossen war und dass die Rillen, die in die Metalltür eingraviert waren, nun leuchteten. Er wusste augenblicklich, dass ›Isis‹ in der Kammer war. Yeats hatte Serena eingefroren.

»Yeats, du verdammter Mistkerl«, knurrte er und schlug mit dem Lauf der Kalaschnikow an die Tür.

Er prüfte das quadratische Feld neben der Tür. Er legte die Hand darauf und hörte einen hohen Summton. Das Licht in den Rillen wurde plötzlich heller und leuchtete mit einer solchen Intensität, dass er die Hand vor die Augen legen und in den Gang zurücktreten musste. Genauso schnell, wie sie aufgeleuchtet hatte, verblasste die Helligkeit wieder zu einem matten Schein, der dann noch einmal wie die letzte Glut eines ausgehenden Feuers aufflackerte, um schließlich ganz zu verlöschen.

Mein Gott, dachte Conrad. Was habe ich da gemacht?

Mit den Fäusten hämmerte er auf die eiskalte Tür ein. Vergeblich. Er wusste, dass es sinnlos war. Er gab auf und ließ sich an der Tür entlang auf den Boden sacken. Er merkte, wie sie vibrierte. Die Tür gab nach! Er sprang auf und sah, wie die Eisgruft aufbrach und ein eisiger Nebel in den Gang herausströmte. Er wartete nicht lange, bis der Nebel sich aufgelöst hatte, sondern tauchte ein, um Serena zu suchen.

Sie befand sich in dem sarkophagähnlichen Gebilde. Ihre Haut war fast blau. Er packte sie und trug sie auf der Schulter in den Gang hinaus, wo er sie auf den Boden legte, um ihr Arme und Beine zu massieren. Sie atmete nur sehr schwach.

Lieber Gott, betete er leise, lass sie nicht sterben. »Tapfer, Kleines«, wiederholte er immerzu. »Du schaffst es.«

Langsam kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück, und die Atmung wurde tiefer und regelmäßiger. Als sie die Augen öffnete, bekam Conrad einen Schreck, weil ihr Blick so leer und leblos wirkte.

»Serena, ich bin's, Conrad. Weißt du, wo du bist?«

Sie stöhnte. Er legte das Ohr an ihre Lippen. »Conrad? Dann muss ich wohl in der Hölle sein.«

»Gott sei Dank.« Er atmete erleichtert auf. »Du bist wieder ganz die Alte.«

Sie setzte sich mühsam auf und orientierte sich erst einmal. »Yeats?«

»Oben in der Kapsel«, sagte Conrad. »Aber vor dem eigentlichen Start muss er noch runterkommen, um sich in die Osiris-Gruft zu legen. Da werde ich ihn abpassen.«

»Und ich?«

»Während ich mit ihm beschäftigt bin, gehst du in die Kapsel und holst das Zepter. Egal, was mit mir passiert, du musst verhindern, dass das Schiff abhebt. Dann gehst du zur P4 zurück. Klar?«

Sie rieb sich die Schläfen. »Du glaubst also wirklich, dass wir die Verschiebung noch stoppen können?«

»Keine Ahnung, aber wir müssen es versuchen«, sagte er.

Auf einmal leuchtete der Lichtkreis über der Hauptplattform auf.

»Er kommt runter«, sagte Conrad. »Ich muss jetzt in Stellung gehen. Du wartest, bis er am Ende des Gangs ist.«

Serena nickte halbherzig.

Conrad lief den Gang zur Eisgruft des Osiris entlang. Als er beim Mittelschacht war, kam gerade die Plattform mit Yeats an. Conrad rannte durch den Nebel in die offene Osiris-Gruft, um dort auf Yeats zu warten.

Während er sich schnaufend an die Wand lehnte, spürte er etwas an seiner Schulter. Er drehte sich um und sah das fremdartige Gehäuse. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, sich aus Versehen selbst für die halbe Ewigkeit in den Eissarg einzuschließen. Die Tür öffnete sich.

Conrad blinzelte und sah Yeats' Gestalt im Dunst. Er hob die Kalaschnikow und trat vor. »Mission beendet, Yeats.«

»Bist du das, mein Sohn? Ich bin beeindruckt. Ich wusste ja, dass du mitkommst.«

»Lass Serena frei, und gib mir den Obelisken.«

Conrad merkte, wie Yeats' Blick über den Verband an seinen Handgelenken streifte. Er merkte wohl, dass er die Kalaschnikow nicht richtig halten konnte. Wahrscheinlich glaubte er auch einfach nicht, dass Conrad tatsächlich ein Gewehr auf seinen Vater richten konnte. Selbst wenn Yeats gar nicht sein leiblicher Vater war, selbst wenn er ihn oft genug hasste, so war er doch der einzige Vater, den Conrad hatte.

»Du wirst nicht abdrücken, mein Sohn.«

»Ach wirklich?«

»Wenn du mich tötest, vertust du damit deine letzte Chance, deine lebenslange Suche zu beenden«, sagte Yeats. »Nur wenn du mit diesem Obelisken – dem Raumschiff – abhebst und die vorgesehene Reise antrittst, wirst du deine wahre Herkunft entdecken.«

»Und was passiert mit meinen Mitmenschen?«

»Du bist kein Mensch, und es ist zu spät, die Welt noch zu retten. Die Menschheit hat sich als nicht würdig erwiesen, und das Geheimnis der Urzeit kann nur am Ende der Reise durchs All mit der Sonnenbarke enthüllt werden. Du bist genauso erpicht darauf wie ich. Verdammt, wahrscheinlich liegt es dir sogar in den Genen.«

»Sei dir da mal nicht so sicher.« Conrad richtete die Kalaschnikow auf ihn. »Leg deine Waffe weg. Langsam. Mit zwei Fingern.«

Yeats löste den Lederriemen am Gürtel und nahm vorsichtig die Glock aus ihrem Halfter.

»Auf den Boden.«

Yeats legte die Pistole auf den Boden und hob die Arme.

»Zurück.«

Yeats lächelte gezwungen, als Conrad die Glock mit dem Fuß wegstieß. »Wir sind uns ähnlicher, als du das zugeben willst.«

»Du fantasierst, Yeats.« Conrad merkte, dass Yeats Zeit zu schinden versuchte, wohl in der Hoffnung, dass die Sonnenbarke von selbst in eine vorbestimmte Flugbahn schoss. Conrad selbst wartete auf Serena und hoffte, dass sie bald mit dem Zepter herunterkam.

»Auch ich will alles Mögliche wissen«, sagte Yeats. »Nicht nur was den Ursprung der Menschheit angeht, sondern auch was das Universum an sich betrifft. Hast du dich schon mal gefragt, warum ich überhaupt auf den Mars wollte?«

»Um dort deine Flagge zu hissen und um der Erste zu sein, der auf den Roten Planeten pinkelt.«

»Vergleichende Planetenkunde, sagen die Wissenschaftler dazu.« Da Yeats nun meinte, abschätzen zu können, dass Conrad nicht abdrückte, wurde er sich seiner Sache wieder sicherer. »Die wollen die Geschichte des Sonnensystems und die Entwicklung der Planeten erforschen, indem sie Beweismaterial von Erde, Mond und Mars vergleichen. Wenn wir andere Welten entdecken, entdecken wir in Wahrheit uns selbst und erfahren dadurch genauer, wo wir einzuordnen sind.«

Conrad sagte nichts dazu, beobachtete aber fasziniert, wie Yeats' müdes Gesicht sich mit fast spirituellem innerem Licht erhellte.

»Jahrhundertelang wurden wir von den Gedanken des griechischen Astronomen Ptolemäus geleitet, der uns lehrte, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums sei«, fuhr Yeats fort. »Dann belehrte uns Galileo Galilei eines Besseren, und wir erfuhren, dass die Sonne der Mittelpunkt ist, um den wir und andere Planeten kreisen. Aber innerlich hängen wir noch der ptolemäischen Sichtweise nach. Warum auch nicht? Solange wir auf der Erde bleiben, sind wir de facto das Zentrum des Geschehens. Man muss nicht mal auf den Mond gehen, um die Erde aus der Ferne zu betrachten. Das All hat nichts mit den technischen Errungenschaften zu tun, sondern mit dem menschlichen Geist und unserem Beitrag zum universellen Ziel. Das All ist eine Metapher für Expansion, offene Möglichkeiten und Freiheit.«

Conrad richtete seine Waffe erneut auf Yeats' Brust. »Ich muss wohl das Pfadfindertreffen verpasst haben, bei dem du diese blödsinnige Rede das erste Mal gehalten hast.«

Yeats sah ihn keineswegs entmutigt an. »Du brennst genau wie ich darauf zu erfahren, wie das alles endet.«

Eine Stimme meldete sich hinter Yeats. »Es endet genau hier, General.«

Yeats wirbelte herum und sah Serena, die das Zepter des Osiris in der Hand hielt. Yeats wurde ganz starr vor Wut.

»Jetzt weißt du ja, wozu die Eisgruft gut ist, Yeats. Es macht dir also sicher nichts aus, einstweilen hier hineinzugehen.« Conrad deutete auf die Kammer des Osiris.

»Ich finde, du solltest die Waffe fallen lassen, mein Sohn.«

Conrad traute seinen Augen nicht. Yeats hatte nach hinten gegriffen und eine kleine Pistole hervorgezogen. Damit hatte Conrad nicht gerechnet. Serena auch nicht.

Yeats lächelte. »Allzeit bereit, wie die Pfadfinder sagen.«

»Schieß, Conrad!«, rief Serena.

Conrad machte einen Schritt vor, aber Yeats hielt den Lauf der Waffe an Serenas Schläfe. »Bleib, wo du bist.«

Conrad machte noch einen Schritt.

Yeats zog kräftig an Serenas langem schwarzem Haar, bis sie vor Schmerzen aufschrie. »Jetzt oder nie, mein Sohn.«

Conrad machte einen dritten Schritt.

»Fallen lassen, habe ich gesagt!« Yeats zog noch fester an Serenas Haar. Conrad war klar, dass Yeats ihr ohne weiteres das Genick brechen konnte.

»Hör nicht auf ihn, Conrad«, sagte Serena mit letzter Kraft. »Er wird dich umbringen.«

Aber Conrad brauchte nur in ihre angsterfüllten Augen zu sehen, um sich davon zu überzeugen, dass er kein Risiko eingehen durfte. Er ließ die Waffe sinken.

»So ist's brav«, sagte Yeats. »Jetzt lass sie fallen.«

Conrad ließ die Kalaschnikow los. Sie fiel klirrend auf den Boden. Als sie sich ansahen, merkte Conrad, wie Serena die Tränen über das Gesicht liefen.

»Du bist ein hoffnungsloser Fall, Conrad«, flüsterte sie.

Tagesanbruch 34 minus 15 Minuten

Yeats hob die Kalaschnikow vom Boden auf. Sie waren jetzt nur ein, zwei Meter voneinander entfernt, und Conrad bemerkte nun erst Yeats' wahnsinnigen Blick, der ihm von weitem entgangen war. Der Mann sah aus wie ein im Käfig gefangenes Tier, das verzweifelt kämpfte, um freizukommen.

»Ich wusste, dass du mich nicht umbringen kannst.« Er hielt Serena fest, die vergebens versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Und ich will dich ganz bestimmt auch nicht umbringen. Es sei denn, du zwingst mich dazu.«

»Lass sie sofort los.«

»Sobald du eingefroren bist und nichts mehr anstellen kannst, mein Sohn. Vielleicht kommst du ja wieder zu Verstand, wenn wir, wo auch immer, wieder aufgetaut sind.«

»Bevor ich mich einfrieren lasse, wirst du mich töten müssen, Dad.«

Conrad stürzte sich auf die Pistole. Ein Schuss ging los. Die Kugel grub sich in seine Schulter, und er sackte zu Boden. Benommen griff er an seine Schulter und sah, wie das Blut zwischen seinen Fingern durchrann. Als er aufblickte, kam Yeats auf ihn zu, um ihm den Rest zu geben.

»Ich werde Osiris von dir grüßen.«

Yeats wollte gerade mit dem Gewehrlauf zuschlagen, da rollte sich Conrad auf der anderen Schulter nach hinten und versetzte Yeats mit beiden Beinen einen Tritt vor die Brust.

Yeats wurde zurückgeworfen und von der Spitze des Obelisken, den Serena in der Hand hielt, aufgespießt. Sie schrie laut auf. Yeats wurde mit solcher Wucht getroffen, dass er vor Todesschmerzen brüllte.

Yeats ließ das Gewehr fallen und taumelte kurz, bevor Conrad ihn in die Eiskammer beförderte. Frostige Nebelschwaden drangen heraus. Conrad schlug die Tür zu.

Plötzlich war alles ganz still, und außer dem leisen Summen der Energie, die durch Konsolen, Wände und Bodenflächen strömte, war nichts zu hören.

Conrad hatte alle Mühe, sich in dem Lichtschacht aufrecht zu halten. Serena lief zu ihm und umarmte ihn. Dann spürte sie, wie warm seine Schulter war.

»Du bist ja überall voll Blut.«

»Du merkst aber auch alles.«

Sie riss einen Streifen Stoff aus seinem Ärmel, wickelte ihn um seinen Oberarm und zog ihn fest. Sie merkte, dass Conrad sie anstarrte. »Jetzt hast du ja alles, was du wolltest. Vielleicht sollten wir beide wie im Film Händchen haltend dem Sonnenuntergang entgegengehen.«

Conrad sah den blutverschmierten Obelisken auf dem Boden liegen. Er hob ihn auf. Irgendwie hatte sie Recht. Er brauchte nur noch sich und Serena in der Sonnenbarke zum vorbestimmten Ziel bringen zu lassen, und er würde endlich das Geheimnis der Urzeit erfahren.

Er sah sie ungläubig an. »Ist dir klar, was du da sagst?«

»Ich sage nur, dass wir nicht wissen, ob diese Erdkrustenverschiebung die Welt tatsächlich auslöschen wird. Vielleicht werden die Menschen überleben, vielleicht geht es ihnen wie den Dinosauriern. Aber die einzige Möglichkeit, das Überleben der Menschheit sicherzustellen, ist, auf unserem Kurs weiterzumachen.«

Conrad blickte in ihre flehenden Augen. Sie war nicht auf seiner Seite, stellte er fest. Sie stand auf der Seite der Menschheit. Und sie war bereit, alles, was ihr lieb und teuer war, dafür aufzugeben.

»Willst du, dass wir die Welt zur Hölle verdammen?«

»Nein, Conrad. Wir könnten in einer anderen Welt ein neues Paradies erschaffen.«

Als er über diese verrückte Idee nachdachte, fing das Schiff an zu rumpeln. Er wischte ihr eine Träne von der Wange. »Du weißt ganz genau, dass wir zurückmüssen.«

Ja, sie wusste es und sträubte sich nicht, als sie schweigend die Plattform zum Rumpf der Sonnenbarke hinunterfuhren.

Als sie schließlich einige hundert Meter von der Rampe entfernt an die Oberfläche traten, bebte der Boden stärker als je zuvor. Kaum hatte er Serena aus dem Tunnel gezogen, schoss eine Feuerfontäne in die Luft, versengte ihr Haar und schleuderte beide über den Boden.

Er sah noch, wie ein Dutzend weitere Geysire rings um die Abschussrampe ausbrachen, als die Sonnenbarke aus dem Krater herausschoss und zum Himmel aufstieg. Conrad sah das Raumschiff mit seinem Vater an Bord, tot oder lebendig, im Universum verschwinden.

»Ich bete zu Gott, dass du weißt, was du tust, Conrad.« Serena riss ein Stück Schnürsenkel von ihrem Stiefel und band damit die versengten Haarspitzen nach hinten. »Das war nämlich die letzte Maschine ins All.«

Tagesanbruch 35 minus 2 Minuten

Serena stand in der Sternenkammer der P4. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, und sie sah zu, wie sich das Deckengewölbe drehte. Der Lärm, den die knirschende Kuppel verursachte, war ohrenbetäubend. Sie verstand nicht, was Conrad sagte. Er stand neben dem Altar und machte ihr Zeichen, zu ihm herüberzukommen.

»Stell den Obelisken in den Sockel«, rief er ihr zu.

Sie betrachtete das Zepter des Osiris in ihrer Hand und las noch einmal leise die Inschrift darauf: Nur derjenige, der sich würdig erweist, zur rechten Zeit und am rechten Ort vor den Leuchtenden zu stehen, kann das Zepter des Osiris entfernen, ohne Himmel und Erde auseinander zu reißen. Gab es so jemand Würdiges unter den Menschen überhaupt? Oder hatte der hebräische Prophet Jesaja Recht, als er sagte, dass die menschliche Gerechtigkeit angesichts der Heiligkeit Gottes nur ein ›unflätig Kleid‹ sei?

»Yeats hatte Recht, Conrad«, sagte sie entmutigt. »Die Erbauer von Atlantis waren unserem Denken weit voraus. Wir haben keine Chance.«

»Ich dachte, wir wären uns einig, dass die ägyptischen Götter schon einmal besiegt worden sind«, sagte Conrad. Er sprach jetzt schneller und lauter. »Also, wann war das?«

Serena dachte nach. »Während des Exodus, als Moses die Israeliten aus Ägypten hinausführte.«

»Genau. Ein kosmisches Ereignis, das die Kulturgeschichte genauso verändern kann wie der Aufprall eines Meteoriten die Naturgeschichte. Ohne Exodus hätte es auch keine göttliche Erscheinung auf dem Berg Sinai gegeben. Und ohne Sinai gäbe es auch keinen Moses, Jesus oder Mohammed. Osiris und Isis wären die absoluten Herrscher, und die Skyline Manhattans bestünde aus Pyramiden. Wir würden statt Café Latte gegorenen Getreidesaft trinken.«

Serena spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Conrad hatte mit dem, was er da sagte, nicht ganz Unrecht.

»Die Frage ist nur«, fuhr Conrad mit glänzenden Augen fort, als stünde eine große Entdeckung bevor, »was hatte den Pharao dazu bewegt, es sich anders zu überlegen und die Israeliten ziehen zu lassen?«

»Passah«, sagte Serena. »Als der Gott der Israeliten die Erstgeborenen aller Ägypter erschlug, aber die Häuser der israelitischen Sklaven, die ihre Pfosten mit dem Blut eines Lammes bedeckt hatten, verschonte.«

»Genau«, sagte Conrad. »Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, dieses Passah allen Völkern zu ermöglichen.«

Es gab eine, schoss es Serena plötzlich in den Kopf, und es platzte förmlich aus ihr heraus: »Das Lamm Gottes!«

»Mein Gott, du hast Recht!«

Sofort fing Conrad an, die Sterne im Gewölbe neu einzustellen, sodass sie den Sternenhimmel über Jerusalem darstellten.

Im Nu schien sich der ganze Raum auf den Kopf zu stellen. Aber es war nur eine optische Täuschung, stellte Serena fest, weil die Gestirne der nördlichen und südlichen Hemisphäre ihre Position austauschten.

»So weit, so gut. Jetzt haben wir den Ort«, sagte Conrad. »Wir brauchen noch einen Zeitpunkt.«

Das war schon schwieriger, dachte Serena. »Laut Überlieferung starb Jesus im Alter von dreiunddreißig Jahren. Damit hätte die Kreuzigung zwischen den Jahren 30 und 33 unserer Zeitrechnung stattgefunden.«

»Das ist nicht genau genug.« Conrad wurde ungeduldig. »Ich brauche die genaue Jahreszahl.«

Serena kämpfte gegen die aufkommende Panik. Der christliche Kalender, von dem Mönch Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert erstellt, basierte auf falschen Zahlenangaben. Genauere Betrachtungen hatten ergeben, dass Dionysius die Geburt Christi einige Jahre zu spät angesetzt hatte. Heutzutage datierten die Kirchengelehrten die Geburt nicht später als das Jahr, in dem Herodes starb, also vier Jahre vor unserer Zeitrechnung.

»Neunundzwanzig«, sagte sie schließlich. »Nimm neunundzwanzig.«

Conrad stellte das Zepter auf dem Altar ein, und wieder drehte sich das Gewölbe. Wieder war das ohrenbetäubende Krachen zu hören. »Ich brauche jetzt noch den Tag«, rief er. »Und zwar sofort.«

Serena nickte. Die katholische Kirche feiert Ostern jedes Frühjahr zu einem anderen Zeitpunkt. Aber die orthodoxe Kirche hielt mit astronomischer Genauigkeit an dem historischen Datum fest. Das Konzil von Nizäa im Jahre 325 hatte das Dekret erlassen, dass Ostern am ersten Sonntag nach dem Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche gefeiert werden musste, aber immer nach dem jüdischen Passahfest, um die biblische Reihenfolge der Kreuzigung und der Auferstehung einzuhalten.

»Freitag nach dem ersten Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche.«

»Freitag?«, fragte er zweifelnd. »Nicht Sonntag?«

»Freitag«, beharrte sie. »Die Auferstehung war ein Zeichen des Triumphes über den Tod. Aber der größte Edelmut wurde bewiesen, als Jesus am Kreuz für die Sünden der Menschheit starb und seinen Feinden vergab.«

»In Ordnung. Jetzt die genaue Stunde.«

»In den Schriften steht, dass es die neunte Stunde war.«

Er sah sie verdutzt an. »Hä?«

»Drei Uhr.«

Conrad nickte, machte die letzten Einstellungen und trat dann zurück. »Beten Sie, Schwester Serghetti.«

Das Gewölbe drehte sich und rastete ein. Es stellte jetzt den Himmel über Jerusalem in der neunten Stunde des fünften Tages nach dem ersten Vollmond der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche im Jahre 29 dar.

»Jetzt zeigt sich die Gerechtigkeit aus dem Glauben, unabhängig von den Gesetzen«, betete sie leise und wiederholte die Worte, die der heilige Paulus zu den Römern gesprochen hatte.

Ein heftiger Ruck ging durch die Kammer, und sie sprang nach hinten. Der Boden tat sich auf, und der Altar fiel mit dem Obelisken den Schacht hinunter und verschwand. Noch bevor sie über den Rand schauen konnte, schloss sich der Schacht wieder. An der Stelle war nun eine Kartusche zu sehen, die das Osiris-Symbol trug. Von unten kam Donnerrollen.

Plötzlich war es unheimlich still. Serena hörte, wie jemand seufzte. Es klang wie das Seufzen eines jungen Mädchens. Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange floss, und stellte fest, dass sie selbst das Mädchen war. Irgendwie fühlte sie sich innerlich auf einmal ganz rein, so als wären alle ihre Sorgen und Ängste und ihre Schuldgefühle weggespült worden.

»Du hast es geschafft«, sagte sie und umarmte Conrad. »Gott sei Dank.«

»Wie wär's, wenn wir jetzt hier rausgingen?«, sagte er. Von überall her erscholl ein tiefes, beunruhigendes Poltern. Plötzlich fielen die Türen der Kammer herab, und sie waren eingeschlossen.

Serena stand reglos da. »Conrad, was ist da passiert?«

»Ich glaube, wir sind jetzt zwei Meilen unter dem Eis lebendig begraben.«

36 Tagesanbruch

Vom Vorsprung des Tempels des Wassermanns aus sahen Zawas und seine Leute zu, wie die Sonnenbarke im Himmel verschwand. Die erste Druckwelle erreichte ihr Lager. Zelte brachen zusammen, und Zawas geriet in Panik, als er sah, wie sein einziger noch flugfähiger Helikopter über den Landeplatz auf den Abgrund zuschlitterte.

»Bringt den Hubschrauber in Sicherheit«, rief er, worauf fünf Ägypter losrasten, um ihn festzuzurren.

Egal, was mit dem Rest der Welt geschah, sagte sich Zawas, egal, wie viele Küstenstädte vom Meer verschluckt wurden, es gab keinen sichereren Ort auf Erden als den, wo er sich gerade mit seiner Mannschaft befand. Gleichgültig, ob die Erdkrustenverschiebung nun einen Tag oder eine Woche dauerte: Hatte sie erst einmal ihren verheerenden Lauf genommen, wurde der Boden, auf dem sie standen, zum Zentrum der neuen Welt.

So tröstete er sich immer wieder, wenn seine Gedanken zu seiner Großfamilie in Kairo schweiften, von der die meisten in unzulänglichen ›Luxus‹-Hochhäusern wohnten, die bei einem größeren Beben unweigerlich in sich zusammenfallen würden.

Plötzlich fühlte sich die Luft ganz warm an, und die Beben wurden stärker.

Irgendwann bekamen sie eine solche Kraft, dass er seine Strategie, nämlich im Tempel des Wassermanns zu lagern, erneut überdachte und sich fragte, ob es nicht klüger wär, auf offenem Gelände abzuwarten, also in einiger Entfernung von den Gebäuden und Heiligtümern.

Zawas trat in die Kammer, nahm die Sonchis-Karte, die auf seinem Schreibtisch lag, und rollte sie zusammen mit den amerikanischen Plänen von der Sonnenbarke wieder in die grüne Thermosflasche der Nonne.

Eine weitere Schockwelle schmiss Zawas fast vom Stuhl. Er hielt sich am Schreibtisch fest, der nun aber auch anfing, sich zu bewegen. Er schraubte die Ummantelung der Thermosflasche fest und warf sie in seinen Rucksack, bevor das Geschrei seiner Leute ihn nach draußen holte. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn mit Grauen zurückschrecken.

Der Himmel schien einzustürzen.

Zawas griff nach dem Fernglas und stellte es auf die Eisberge ein, die einen Ring um die Stadt bildeten. Und dann verstand er: Nicht der Himmel fiel herab, sondern die Eisklippen, die die Stadt umgaben.

Eislawinen stürzten aus allen Richtungen heran und würden sie unter sich begraben.

»Los, in den Hubschrauber!«, brüllte Zawas. Er winkte seine Leute zu sich, als er in den Eurocopter einstieg und in dem verzweifelten Versuch, sich vor den Lawinen in die Luft zu retten, den Motor anließ. Die Rotoren bewegten sich zunächst gleichmäßig, fingen dann aber zu stottern an.

Er machte noch einen Anlauf, um die Rotoren in Bewegung zu setzen, während sich im Inneren der Maschine ein Dutzend Ägypter türmten. Als der Pilot das Steuer übernahm, versuchte Zawas mit dem Fernglas abzuschätzen, wie viel Zeit ihnen ungefähr noch blieb.

Eine Eiswand rückte in den Brennpunkt. Sie war drauf und dran, den Hubschrauber zu zerschmettern und sie alle zu einem blutigen Brei aus Metall und Fleisch zu zermalmen. Zawas blieb das Herz stehen, als er sah, wie die schäumende Lawine unter den Tempel fegte und zum Vorsprung hochschoss. Dann hob sich der Hubschrauber in den Himmel.

***

Serena war es in der Sternenkammer der P4 heiß. Sie kletterte an dem Seil, mit dem Conrad am Tag zuvor an die Oberfläche gestiegen war, um einen ersten Blick über die Stadt zu werfen, den Südschacht hoch. Sie schaute zurück und sah, dass Conrad immer noch weit unten war und sich mit einer Hand hochzuziehen versuchte. Die andere Hand im blutigen Druckverband war nicht zu gebrauchen. Wasser sprudelte um seine Füße. In Serena stieg Panik auf.

»Conrad!«, rief sie.

Sie stützte sich mit den Beinen an der Schachtwand ab und griff nach seinem rechten Arm. Ächzend zog sie ihn hoch, aber seine Hand rutschte weg, und sie hörte, wie es platschte.

»Nimm das hier«, rief er ihr zu und wedelte mit einer langen roten Bandage. Es war sein Verband, den er abgewickelt hatte.

Sie wand das eine Ende um ihr Handgelenk und streckte dann den Arm aus, sodass Conrad sich das andere Ende um die Hand binden konnte. Ihr schmerzte der Rücken beim Ziehen, und sie schrie vor Anstrengung, aber schließlich hatte sie ihn in den Schacht hochgehievt.

»Danke.« Er atmete schwer. »Los, weiter.«

Am Ende des Schachts war ein Stück blauer Himmel zu sehen. »Ob uns das alles überhaupt etwas bringt?«, sagte sie außer Atem. »Da draußen ist nichts. Kein Funk, nichts, um irgendwie Hilfe zu holen.«

»Es ist unsere einzige Chance. Das geothermische System kommt allmählich zum Stillstand. Die Hitze wird wahrscheinlich alles um uns herum zum Schmelzen bringen und das Wasser durch die hydraulischen Leitungen pumpen. Aber dann wird es gefrieren. Alles wird zu Eis.«

Nun begriff Serena. »Das Mädchen im Eis. So wird es uns auch gehen.«

»Und genau das will ich verhindern. Hier, nimm.« Er gab ihr den blutigen Verband. »Das ist deine Signalflagge. Los jetzt! Ich bin direkt hinter dir.«

Widerstrebend nahm sie den blutigen Fetzen und kletterte dann weiter den Schacht hoch. Conrad fiel weiter zurück. Gelegentlich rief sie nach ihm, und er antwortete, aber das Echo wurde immer schwächer.

Schließlich erreichte sie den Ausstieg. Mit eiskalten Fingern klammerte sie sich an den Rand. Der Wind heulte, und die Temperatur fiel genauso plötzlich, wie sie gestiegen war. Sie zog sich nach oben. Draußen bot sich ihr ein phantastischer, atemberaubender Anblick.

Die gesamte Eisschüssel um die Stadt herum fiel in sich zusammen. Das Eis taute und ergoss sich in einen riesigen See, der die tiefer liegende Stadt überflutete. Noch waren die Spitzen der größeren Tempel und Obelisken zu sehen. Es würde nur noch einige Minuten dauern, bis das Wasser auch sie erreichte.

»Bitte nicht, lieber Gott.« Sie blickte zu Conrad hinunter.

Aber er war nicht mehr da.

»Conrad!«, schrie sie voller Panik.

Keine Antwort.

Sie starrte den dunklen Schacht hinunter und sah etwas flackern: Wasser, das zu ihr hochstieg. Aber keine Spur von Conrad.

***

Conrad, der sich nicht mehr länger halten konnte, rutschte den Schacht zurück in die Sternenkammer der P4, die bis zur Decke mit Wasser gefüllt war. Verzweifelt nach Luft ringend, klammerte er sich im Dunkeln an die Steindecke, bis er wieder eine Schachtöffnung fand. Er spürte, wie das Wasser ihn umschloss.

Ein gewaltiger Sog ergriff seine Beine und zog ihn den großen Gang der Pyramide hinab in eine Art Rohr. Er konnte die Luft nicht mehr länger anhalten, gab nach und spürte sofort, wie ihm das Wasser in die Lunge drang.

Er war drauf und dran, ohnmächtig zu werden, als er gegen ein Steingitter schlug. Das Wasser spülte über ihn und floss in dem Rohr ab.

Völlig durchweicht rang er nach Luft, klammerte sich am Gitter fest und zog sich nach oben. Er raste den Tunnel hinab und versuchte sich zu orientieren, wusste aber, dass es hoffnungslos war. Er war völlig durcheinander und machte sich schreckliche Sorgen um Serena. Ihm tat alles weh. Er schleppte sich durch das Wasser, das ihm bis zu den Knöcheln reichte und immer höher stieg. Dann hörte er, wie hinter ihm etwas rumorte.

Er brauchte sich nicht erst umzudrehen, um zu wissen, was da auf ihn zukam. Er schlang die Arme fest um sich und atmete tief ein. Ein Wasserschwall erfasste ihn und schwemmte ihn einen kleineren Tunnel hinab. Beim Luftholen schluckte er ständig Wasser und fiel in der Strömung immer wieder hin.

Conrad hielt sich, so gut er konnte, merkte aber, dass er kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Er konnte sich nirgends festhalten und gab schließlich alle Versuche auf. Die Dunkelheit überwältigte ihn, und er merkte gerade noch, wie er durch einen Tunnel rauschte.

Plötzlich wurde er ans Tageslicht befördert. Beim Austritt aus der Röhre wurde er von der Wasserfontäne fast 15 Meter in die Luft geschleudert. Mit voller Wucht landete er auf dem bebenden Boden. Wasser und Wind zerrten an ihm. Unfähig, sich zu bewegen, wurde er von den Erschütterungen und dem ohrenbetäubenden Krachen der Eisberge, die auf die Stadt herabstürzten, erfasst.

Er war völlig durchnässt, konnte aber nirgends Schutz finden, weder draußen noch drinnen: Alles, was nicht mindestens zwei Meilen aus der Ebene emporragte, wurde überschwemmt und war im Begriff, zu Eis zu werden. Mit Schrecken musste er an die Eisleichen denken, die er beim Abstieg in die P4 gesehen hatte. So wollte er auf keinen Fall enden.

Irgendwie schaffte er es, auf alle viere zu kommen und durch das steigende Wasser zu kriechen. Er war noch nicht weit gekommen, da spürte er, wie die Temperatur bei dem peitschenden Wind sank. In der kalten, feuchten Luft zitterte er vor Kälte.

Er bewegte sich langsamer und sah eine aufgedunsene, blau angelaufene Leiche auf sich zutreiben. Als sie an ihm vorbeikam, erkannte Conrad, dass es sich um Colonel O'Dell von der Eisstation Orion handelte. Der Schrecken im Gesicht des leblosen Körpers motivierte ihn, wieder schneller zu machen.

Jetzt ging ihm das Wasser schon bis zu den Knien. Die Berge um die Stadt herum schoben sich unter dem ungeheueren Druck wie Blechdosen zusammen. Die Schulter tat immer mehr weh, bis die stechenden Schmerzen schier unerträglich wurden. Mit der heilen Hand stützte er sich ab und kam taumelnd auf die Beine. Im Wasser sah er etwas Farbiges.

Es war ein zerstörter roter Hägglunds, ein Relikt der Eisstation Orion. Zum Fahren war er nicht mehr zu gebrauchen, aber vielleicht bot ihm das Führerhaus ja den zum Überleben notwendigen Schutz.

Plötzlich neigte sich der Boden gefährlich, und Conrad schlug mit dem Kopf voraus längelang hin. Er blickte hoch und sah eine 15 Meter hohe Wasserwand auf sich zudonnern. Mit offenem Mund ergab er sich dem Schauspiel. Vor einer solchen Naturgewalt konnte man sich einfach nicht in Sicherheit bringen. Ihm wurde klar, dass es an der Zeit war, zu sterben. Er musste an Serena denken, und mit letzter Kraft streckte er den Arm nach der Tür des Hägglunds aus und drehte den schwarzen Griff, bis sich die Luke öffnete.

Dann kam das Wasser. Zunächst waren es nur ein paar Rinnsale. Dann ein wahrer Sturzbach.

Er hievte sich hinein und schaffte es gerade noch, den Sicherheitsgurt anzulegen und die Tür zu schließen, bevor die Wand auf den Hägglunds einstürzte und das Fahrzeug sich in einem Kessel voll strudelndem Eiswasser verlor.

Tagesanbruch 37 plus 1 Stunde

Serena befand sich an der Öffnung des südlichen Sternenschachts. Ihr Blick von der Spitze der P4 richtete sich auf den stürmischen Himmel. Ein Whiteout drohte. In der Ferne lagen dichte Schneewolken über der Eiswüste, und am fernen Horizont leuchteten Blitze auf.

Über sich hörte sie ein bekanntes Surren. Sie konnte es nicht fassen, aber im stürmischen Himmel über ihr schwebte ein Black-Hawk-Hubschrauber des US-Militärs. Sie wedelte wild mit den Armen.

Wie aus einem Traum kam eine Strickleiter herunter, und sie klammerte sich sofort daran fest. Sie blickte noch einmal den dunklen Schacht hinab und sah ein Schimmern. Sie stutzte und schaute genauer hin. Es war Wasser, das wie in einem Geysir nach oben drängte. Sie zerrte an der Strickleiter und wurde fortgetragen, da schoss auch schon ein Wasserstrahl in die Höhe und verfehlte den Hubschrauber nur knapp.

Ein amerikanischer Soldat hievte sie in den Black Hawk hinein. An den Mienen erkannte sie, dass die Besatzung ziemlich verblüfft war, ›Mutter Erde‹ zu sehen. Fast so geschockt wie beim Anblick der Trümmer unter ihnen. Der Oberbefehlshaber stellte sich als Admiral Warren vor und rief dem Piloten gegen das Maschinengeheul und das tosende Wasser etwas zu.

»Fliegen Sie hier raus!«, befahl Warren.

»Nein«, sagte Serena mit klappernden Zähnen. »Wir müssen erst Conrad finden, Doktor Conrad Yeats. Er ist noch da unten.«

Warren starrte sie an. »Meinen Sie etwa General Griffin Yeats?«

»Nein, seinen Sohn.«

Warren blickte zum Piloten hinüber, aber der schüttelte nur den Kopf. »Glauben Sie mir, jetzt ist niemand mehr da unten.«

Der Black Hawk drehte ab.

»Nein!« Serena versuchte nach vorn zu gelangen und das Steuer zu greifen, aber vier Soldaten hielten sie zurück und schoben sie zu dem Arzneikasten hin. Sie wollte wieder aufstehen, aber nun verließen sie ihre Kräfte. Der Arzt gab ihr eine Spritze in den Arm.

»Beruhigen Sie sich, Schwester. Sie haben einiges mitgemacht«, sagte Warren und legte ihr eine Jacke um den zitternden Körper. Sie fühlte sich schwindelig und wie benommen.

Sie strich sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah zum Fenster hinaus. Das strudelnde Wasser hatte die Stadt fast verschluckt. Nur die Spitze der P4 ragte noch aus der dunklen Tiefe empor. Als Kind hatte sie sich oft vorgestellt, wie es gewesen sein musste, als sich das Rote Meer für die Kinder Israels geteilt hatte, und wie es später wieder zusammenkam, um die Pferde und Wagen des Pharaos zu ertränken. Genau dieses Bild hatte sie jetzt vor Augen.

Sie betete zu Gott, Conrad möge sich in Sicherheit befinden, obwohl sie wusste, dass dem nicht so war. In ihrem Delirium stellte sie sich vor, wie sie nach ihm suchte: Sie würden ihn entdecken, er würde durch die Eistrümmer stolpern, er hätte auf wundersame Weise überlebt. Er würde aus dem Nebel, weißer als Schnee, auftauchen, seine Augenbrauen und Haare wären ganz weiß, fast leuchtend, als käme er gerade aus dem glänzenden Schleier des Heiligsten aller Heiligtümer. Die Amerikaner müssten landen. Sie würde auf Conrad zulaufen und ihn umarmen. Er ginge mit ihr zum wartenden Hubschrauber zurück, seine Vergangenheit für immer hinter sich lassend. Sie würden sich ganz fest halten, und Schneeflocken fielen wie Sterne um sie herum.

Aber Conrad war nicht da, stellte sie bitter fest. Und Gott erhörte ihre Gebete nicht immer so, wie sie es wollte. Als der Hubschrauber wegflog, sah sie hinab auf die flache Spitze der P4, die kaum noch aus dem Wasser ragte. Es war, als würden sie jetzt über die Südsee fliegen. Keine Spur von einer Stadt – oder von Conrad. Alles verschwunden, wie weggefegt, als wäre es niemals da gewesen.

Warren rief wieder irgendetwas. Bei dem Krach der Rotoren und dem Heulen des Windes konnte sie nicht viel davon aufschnappen. Dann hing er plötzlich in der offenen Tür. Er deutete auf etwas. Der Black Hawk schwenkte in die angegebene Richtung ein.

Serena sprang sofort hoch, hielt sich an Warren fest und blickte hinaus. Oben auf der P4 stand eine einsame Gestalt. Der Mann, der wie wild mit den Armen wedelte, trug eine UN-Uniform.

»Das ist er!«, schrie sie, so laut sie konnte.

»Runter!«, befahl Warren dem Piloten, der gegen den Sturm zu kämpfen hatte.

Serena griff nach Warrens Fernglas. Der Hubschrauber sank, und als sie nur noch zehn Meter entfernt waren, blickte der Mann zu ihnen auf. Bestürzt stellte sie fest, dass es nicht Conrad war. Es war einer der Ägypter, der eine Maschinenpistole im Anschlag hatte.

»Zurück, Admiral!«, rief sie.

»Wir kriegen ihn, keine Sorge«, sagte Warren. Serena blickte sich um und sah zwei Scharfschützen, die ihre Gewehre auf den Mann richteten. »Ich will ihn lebendig.«

Serena spürte einen Luftzug an ihrem Ohr und sah gleich darauf, wie der Ägypter von einer Kugel in die Schulter getroffen wurde und ins Wasser klatschte.

Warren nickte zufrieden. »Dichter ran.«

Als der Hubschrauber jedoch näher kam, richtete sich der Ägypter im Wasser wieder auf und fing an, wie wild um sich zu schießen.

Eine Kugel erwischte Warren, der an der offenen Luke stand, im Genick, und er fiel auf Serena; er war tot. Nur mit Mühe konnte sie seinen schweren Körper wegstoßen. Sie rief um Hilfe, aber als sie über die Schulter blickte, sah sie einen der amerikanischen Soldaten umfallen. Auch er war getroffen worden. Gleichzeitig hatten die Schüsse aus dem Maschinengewehr das Cockpit durchlöchert. Serena hörte den Piloten aufschreien.

Der Black Hawk machte einen Ruck nach vorn. Serena hielt sich an den Spanten fest. Dann gewann der Hubschrauber abrupt an Höhe, und sie wurde durch die offene Luke hinausbefördert. Sie spürte, wie sie ins Leere flog. Dann klatschte sie oben auf der P4 auf.

Sie rollte sich auf den Rücken und sah hoch. In zehn Meter Höhe versuchte sich der Black Hawk zu fangen, drehte scharf nach links und explodierte dann in einem riesigen Feuerball. Brennende Trümmerteile stoben wie Granatsplitter durch die Luft und nahmen ihr jegliche Hoffnung auf Rettung.

Bis auf die Knochen durchweicht, rappelte sie sich auf. Sie stand dem verletzten Ägypter gegenüber. Blut spritzte aus seiner Schulter. Er war der letzte Überlebende aus Zawas Armee. Die auf sie gerichtete Kalaschnikow in seiner Hand zitterte.

Sie hob nicht einmal die Arme, als er mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck auf sie zukam. Oder blickte er über ihre Schulter hinweg auf etwas anderes?

Sie drehte sich um und sah einen anderen Hubschrauber auf sie einschwenken. Die Maschine wies die Zeichen der Vereinten Nationen auf. Schüsse aus schweren Maschinengewehren flogen durch die Luft, und die Kugeln peitschten das Wasser auf, sodass der Ägypter rückwärts über den Rand der P4 in die Wassermassen stürzte.

Der Helikopter drehte eine Runde, dann wurde eine Leiter hinuntergelassen. Serena packte die erste Sprosse und kletterte hoch. Oben half ihr eine starke Hand hinein. Sie sah direkt in Oberst Zawas' Gesicht. In der rechten Hand hielt er eine Automatik, die er auf sie gerichtet hatte. Serena war ganz benommen von dem Schock, aber Zawas lächelte, während ihm der Wind die Kappe vom Kopf wehte.

»Sie halten, was Sie versprechen, Schwester Serghetti.« Er hielt ihre grüne Thermosflasche hoch. »Jetzt, wo ich die Sonchis-Karte besitze, wird mich nichts mehr davon abhalten, eines Tages zurückzukommen, um mein Werk zu beenden. Wie ich schon erwähnte, wird die Geschichte von den Siegern geschrieben.«

Und wenn schon, dachte sie. Mit einem Blick stellte sie fest, dass sich nur Zawas und der Pilot an Bord befanden. »Also, Oberst, haben Sie die Thermosflasche im Uhrzeigersinn oder entgegen zugeschraubt?«

»Im Uhrzeigersinn.« Zawas sah sie misstrauisch an. »Warum?«

Sie lächelte und sagte: »Ach, nichts.«

Zawas war sichtlich verunsichert. Er senkte seine Pistole, um die Flasche aufzudrehen. Serena nutzte die Ablenkung, um ihm die Waffe aus der Hand zu treten. Sie verfehlte die Pistole, traf aber seinen Arm. Ein Schuss löste sich. Der Helikopter schwenkte hoch und warf Zawas aus dem Gleichgewicht. In der Absicht, sie zu töten, schoss Zawas noch zwei weitere Kugeln, die aber nur die Windschutzscheibe trafen.

Serena sah zum Piloten hinüber und stellte fest, dass er getroffen worden war. Sie machte einen Satz nach vorn, schob den Mann zur Seite und übernahm das Steuer. Sie blickte nach hinten und sah gerade noch, wie sich der wütende Zawas wieder aufrichtete.

»Oberst!«, rief sie. »Können Sie einen Hubschrauber fliegen?«

Zawas runzelte die Stirn. »Natürlich.«

»Ich auch.«

Sie ging abrupt in die Querlage, und Zawas stürzte aus der Türöffnung. Er fiel wie ein Stein, wobei er wie wild mit den Armen fuchtelte, bis er auf das strudelnde Wasser auftraf, wo er sofort verschwand.

Serena holte tief Luft und brachte den Hubschrauber wieder ins Gleichgewicht. Eine schnelle Überprüfung der Cockpitanzeigen sagte ihr, dass sie mit ein bisschen Glück genügend Treibstoff hatte, um in Funknähe zur Station McMurdo auf festem Eis zu landen. Allerdings wollte sie unbedingt noch einen letzten Blick nach unten werfen, bevor sie weiterflog. Sie suchte das Eis unter sich ab, während sie mit den Tränen kämpfte. Die Stadt war verschwunden, und ihr Treibstoffpegel sank stetig.

Als sie im stürmischen Himmel über das gefrierende Wasser kreiste, betete sie für Conrad Yeats' Seele. Dann schwenkte sie in Richtung McMurdo, der Station auf dem Ross-Schelfeis, ein und flog los.

38 Der Tag danach

Um sechs Uhr Weltzeit (UTC) führte Major General Lawrence Baylander, ein kampferprobter Neuseeländer, seinen Hägglunds-Konvoi mit den UNACOM-Waffeninspekteuren um eine Spalte im Eis herum ins Zielgebiet.

Auf dem windgepeitschten Terrain würden sie keinerlei Spuren von amerikanischen Atomtests finden. Radioaktivität, unterirdische Anlagen und Ähnliches würde man nur durch Strahlungs- und Wärmemessungen und mittels seismischer Geräte erfassen können. Selbst dann würden sie im Eiskern Probebohrungen durchführen müssen, dachte er. Hätten sie doch nur mehr Zeit.

Aber Baylander hatte seine Such- und Rettungsmannschaften längst zu weit vordringen lassen, stellte er fest, und Vorräte und Zeit wurden allmählich knapp. Er war schon zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Kettenfahrzeuge zurücklassen mussten, um dann zurückzufliegen, sobald die Unterstützung aus der Luft da war. So wie es um die Geldmittel in der internationalen Politik stand, war ihm klar, dass sie nie in dieses Ödland zurückkehren würden. Das Einzige, was er aus dieser Eishölle würde herausziehen können, war die bittere Genugtuung, dass die Amerikaner eine gehörige Tracht Prügel von den Vereinten Nationen einstecken würden.

Er merkte, wie ihm die Gelegenheit, die Amerikaner dranzukriegen, zwischen den Fingern zerrann. Erschöpft und gereizt stand er schon kurz davor, ans Basislager zu funken, dass sein Team zur Umkehr bereit sei, als der Konvoi auf ein Hindernis stieß.

Anscheinend war der rote Hägglunds, der da aus dem Eis ragte, mit blockierten Ketten in eine Spalte gerutscht. Der Transporter stand mit zerstörtem Führerhaus in leichter Schräglage da.

Baylander fluchte und teilte den Konvoifahrzeugen über Funk mit, dass sie anhalten sollten. Während er sich seine maßgefertigten Plastikschneeschuhe anlegte, beschloss er, den Motor laufen zu lassen. Mit einem Ruck riss er dann die Kabinentür auf, sprang nach draußen und bahnte sich mit weit ausholenden Schritten einen Weg durch den hüfthohen Schnee.

Mit grimmiger Miene lief er einmal um das Wrack herum und inspizierte es. Hinter der zersprungenen, beschlagenen Windschutzscheibe erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Er beugte sich vor, um es genauer zu betrachten. Im Inneren befand sich eine wie im Mutterleib zusammengerollte Gestalt. Ein Erfrorener. Wenn es ein Amerikaner war, hätte er endlich den Beweis. Baylander richtete sich wieder auf und lief zum Führerhaus.

Ihm war klar, dass der Türgriff nicht funktionieren konnte, aber er versuchte es trotzdem. Er war wie vermutet festgefroren. Mit seinem Metallstab schlug Baylander das Seitenfenster ein und kletterte dann vorsichtig hinein.

Der Mann lag quer über den Ledersitzen. Baylander drehte ihn auf den Rücken. Das kreidebleiche Gesicht hatte einmal einem relativ jungen, gut aussehenden Mann gehört. Baylander starrte eine Weile auf die geisterhafte Erscheinung und beugte sich dann vor, um zu horchen, ob der Mann noch atmete. Er hörte nichts.

Baylander knüpfte den Mantel der Leiche auf, worauf eine UNACOM-Uniform zum Vorschein kam. Verdammter Mist, dachte er. Das muss einer von uns sein, von der Mannschaft, die zuerst hier war. Er konnte allerdings nichts finden, was den Mann identifiziert hätte.

Um den Todeszeitpunkt festzustellen, sah er sich den Toten genauer an. Lange konnte er noch nicht tot sein, stellte er fest, höchstens 24 Stunden, weil der Körper gerade erst anfing, sich blau zu färben. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass er schon eine ganze Zeit lang hier liegen musste. Das Führerhaus hatte dem Inspekteur wohl ausreichend Schutz vor Wind und Wetter geboten. Jedenfalls hatte er weit länger, als Baylander angenommen hätte, überlebt. Er vermutete, dass die letzten Stunden des Mannes eine Mischung aus halber Bewusstlosigkeit, Delirium und dem langsamen Versagen der lebenswichtigen Organe gewesen war. Alles in allem musste es ein ziemlich unangenehmes Ende gewesen sein.

Baylander zog seine dicken Handschuhe aus und legte zwei Finger auf die Halsschlagader des Mannes. Zu seiner Verwunderung spürte er einen ganz schwachen Pulsschlag.

39 2. Tag danach

Am Nachmittag darauf erwachte Conrad Yeats in einem Einzelzimmer der Krankenstation von McMurdo. Lange Zeit lag er ruhig da und wurde sich erst nach und nach bewusst, dass seine Hände bandagiert waren und seine Schulter sich in einer Schlinge befand. Und in seinem Kopf dröhnte es wie von Paukenschlägen. Mit einer verbundenen Hand betätigte er den Klingelknopf, aber die Navy-Krankenschwester, die hereinkam, beschied ihm lediglich, er solle still liegen bleiben.

Also blieb er liegen und rekonstruierte Stück für Stück die Geschehnisse des Tags zuvor bis zum Vormittag. Er nahm einen Stift in seine bandagierte Hand und fertigte eine Zeichnung an. Danach schlief er wieder ein. Als er erneut aufwachte, saß eine Frau an seinem Bett. Sie lächelte.

Er sah sie eindringlich an. »Genau wie in den Krankenzimmern früher – ein Bett und eine Schwester«, sagte er und versuchte zu lächeln, was aber ziemliche Schmerzen verursachte. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Wie lange sitzt du schon da?«

»Erst seit ein paar Minuten«, sagte Serena mit einem warmen Lächeln.

Conrad wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Als er mitten in der Nacht einmal aufgewacht war, hatte er gesehen, wie sie im Sessel schlief. Er hatte gedacht, es wäre ein Traum gewesen. »Du lebst.« Er hielt ihr die Hand hin, und sie berührte seinen Verband.

»Und du auch, Conrad.«

»Und was ist mit den anderen?«

»Alles in Ordnung.« Eine Träne glänzte auf ihrer Wange. »Das haben wir dir zu verdanken.«

»Was ist mit Yeats?«

Sie schien sich anzuspannen. »Er dürfte schon am Pluto vorbei sein, könnte ich mir denken.«

»Glaubst du, dass das, was er über mich gesagt hat, verrückt war?« Conrad suchte ihren Blick.

»Auch nicht verrückter als eine verlassene Stadt unter dem Eis.«

Conrad überlegte. »Heißt das, ja, es ist verrückt, oder heißt das, nein, es stimmt?«

»Es gibt keine Stadt, Conrad«, sagte sie. »Die ganze Angelegenheit ist abgeschlossen. Ein für alle Mal. Vorbei. Klar?«

»Nicht ganz«, sagte er. »Ich habe eine Wahnsinnsentdeckung gemacht, Serena. Schau dir das mal an.«

Er zeigte ihr die grobe Skizze, die er von der Sonnenbarke angefertigt hatte.

Serena runzelte die Stirn. Sie sah dabei wunderschön aus.

»Sag mir jetzt bloß nicht, dass ich das erfunden habe, Serena.«

»Nein, Conrad. Ich habe das schon einmal gesehen. Das Washington Monument sah auf der zweihundert Jahre alten Originalzeichnung genauso aus, einschließlich des Rundbaus unten. Der fehlt heutzutage allerdings.«

Conrad starrte auf seine Skizze und stellte fest, dass Serena Recht hatte.

Er beschloss, möglichst bald nach Washington zu gehen. Der Nachlass seines Vaters befand sich dort, und außerdem würde er ein paar Dinge klären können. Eines dieser ungeklärten Dinge war zum Beispiel die Sache mit den Pentagon-Akten von den DARPA-Behörden.

In Conrads Kopf nahm schon eine neue Reise Gestalt an, aber Serena schien das gar nicht zu gefallen.

»Conrad, hör mal gut zu«, sagte sie sanft, fast verführerisch. »Du bist ein großartiger Archäologe, aber in allem anderen bist du ein lausiger Amateur. Du wirst nichts veröffentlichen. Überhaupt nichts. Weil es ganz einfach nichts zu veröffentlichen gibt. Kein Zepter des Osiris. Nichts. Das einzige Andenken an unser Wahnsinnsunternehmen ist die Sonchis-Karte, und die werde ich nach Rom mitnehmen, wo sie auch hingehört.«

Conrad blickte auf seinen Nachttisch. »Wo ist meine Kamera?«

»Welche Kamera?«

Er schwieg. »Was ist mit uns?«

»Uns wird es nicht geben. Das ist unmöglich. Verstehst du das denn nicht?« Ein schmerzlicher Ausdruck lag in ihrem Gesicht. »Du wirst gar nichts berichten. Du hast keinerlei Beweise. Die Stadt ist verschwunden. Das Einzige, was bleibt, ist unser Wort. Wenn du unbedingt reden willst, wird dir niemand glauben, außer vielleicht ein paar Freunde von Zawas im Nahen Osten, und die werden dann auf dich Jagd machen. Du wärst das Opfer deines eigenen Größenwahns. Du kannst froh sein, dass du am Leben bist.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich bin eine der Direktoren der Australian Antarctica Preservation Society und Beraterin bei der United Nations Antarctica Commission und untersuche die Verletzungen der Umweltvereinbarungen des internationalen Antarktisvertrags.«

»Ist das alles?«

»Mein Team hat dich im Eis gefunden«, fuhr sie fort. »Da du der einzige Augenzeuge der angeblichen Ereignisse bist, ist alles, woran du dich erinnerst, höchst willkommen. Ich werde es in meinem Bericht für die Generalversammlung aufnehmen.«

»Du sollst also den Bericht schreiben?« Conrad konnte nur müde lächeln. Natürlich. Wer sonst hatte schon das internationale Ansehen oder Engagement bezüglich der Erhaltung dieses riesigen, unberührten weißen Kontinents?

Serena erhob sich, um zu gehen. Sie blickte liebevoll auf ihn hinab, aber ihre Körperhaltung drückte Entschlossenheit aus. »Du Glückspilz.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Backe. »Du hast einen Schutzengel gehabt.«

»Bitte, geh nicht weg.« Er meinte es wirklich. Er fürchtete, sie nie wiederzusehen.

Sie hatte die Hand bereits an der Türklinke, drehte sich aber noch einmal um. »Lass dir von Mutter Erde einen guten Rat geben, Conrad«, sagte sie tapfer. Er merkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Geh in die Staaten zurück, vögele mit ein paar von deinen Studentinnen und bleibe bei deinen Uni-Vorträgen und bei deinem billigen Touristenspuk. Vergiss alles, was du hier gesehen hast. Vergiss mich.«

»Einen Teufel werde ich tun«, sagte er, als sie die Tür hinter sich schloss.

Er blickte ins Leere. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er dachte über Serena nach.

Dann kam eine Schwester herein, und der Bann war gebrochen. »Ein Telefongespräch für Sie. Ach ja, der Arzt hat gesagt, dass sie ruhig Kaffee trinken können, wenn Sie wollen. Ich habe ewig gebraucht, bis ich Ihre Thermosflasche gefunden habe.«

»Sie hat ausschließlich nostalgischen Wert«, sagte er, als die Schwester die grüne Flasche auf seinen Nachttisch stellte. »Nett, dass Doktor Serghetti sie für mich aufgehoben hat. Ich hoffe, Sie haben sie so wie besprochen ersetzt.«

»Ja, ich habe ihr wieder genau so eine eingepackt und dazu das kleine Geschenk von Ihnen hineingesteckt«, sagte sie. »Ich komme gleich mit dem Kaffee zurück.«

»Danke«, sagte er, als die Krankenschwester hinausging.

Er sah die Thermosflasche nachdenklich an und nahm dann unbeholfen den Hörer zwischen seine verbundenen Hände.

Mercedes, die Produzentin von ›Rätsel des Altertums‹ aus Los Angeles, lachte ins Telefon. Ihre letzte Begegnung in Nazca war vergessen und vergeben. »Ich habe gerade die Nachrichten im Internet gesehen«, sagte sie. »Was ist da unten passiert? Ist alles in Ordnung?«

Conrad drückte den Hörer an seine unversehrte Schulter. Seltsamerweise war er irgendwie zufrieden. »Mir geht's gut, Mercedes.«

»Super. Wann sind Sie wieder einsatzfähig?«

Die Tür ging einen Spalt auf, und Conrad sah, dass draußen zwei Militärpolizisten der Navy Wache standen. »Lassen Sie mir noch ein paar Tage Zeit. Warum fragen Sie?«

»Die Reißer im Fernsehen sind jetzt vorbei, und die Sender brauchen Lückenfüller. Wir haben uns eine Sondersendung direkt auf Ihrer Wellenlänge ausgedacht. ›Luxor‹ – wie hört sich das an?«

Conrad seufzte. »Schon da gewesen, alles abgehakt.«

»Stellen Sie sich doch mal vor, Sie stehen auf den Überresten einer Sklavenstadt«, sagte Mercedes. »Sie enthüllen der Welt, dass der Exodus tatsächlich stattgefunden hat. Als Beweis haben wir sogar eine Statuette von Ramses II. aus der 19. ägyptischen Dynastie. Sie kriegen das doppelte Honorar. Sie müssen nur die Sache mit den Ägyptern wieder ausbügeln. Wann können Sie anfangen?«

Conrad überlegte. »Nächsten Monat«, antwortete er schließlich. »Ich muss erst mal nach Washington.«

»Klasse. Übrigens, diese Antarktis-Geschichte. Kann man da was draus machen?«

»Nein, Mercedes«, sagte Conrad langsam. »Nichts zu holen.«

3. Tag danach 40 Rom

Bei Eintritt der Dunkelheit landete Serenas Maschine aus Sydney in Rom. Sie wurde von Benito mit der schwarzen Limousine abgeholt und zur Berichterstattung beim Papst in den Vatikan gebracht. Fast bis drei Uhr morgens sprachen sie unter vier Augen. Schließlich legte Seine Heiligkeit ihr die zitternden Hände auf die Stirn und sprach ein kurzes Gebet.

»Gut gemacht«, sagte er einfach. »Die Stadt ist verschwunden, die Amerikaner kennen nur die halbe Wahrheit und werden sie für sich behalten. Und die Vereinten Nationen können ihre Kräfte jetzt für produktivere Dinge einsetzen. Da es Oberst Zawas nun nicht mehr gibt, ist das ganze Beweismaterial vernichtet.«

Im Großen und Ganzen stimmte das, dachte Serena. Aber ihre Erinnerung war trotzdem noch da. Sie hatte ihre Zweifel, dass sie die jemals würde auslöschen können.

Der Papst blickte ihr in die Augen. »Und was ist mit Doktor Yeats?«

»Er wird nichts preisgeben. Und wenn, wird ihm niemand glauben. Ich habe seine Digitalkamera und die Sonchis-Karte.«

Serena holte die grüne Thermosflasche aus ihrem Rucksack. Der Papst beugte sich erwartungsvoll nach vorn, als sie die Ummantelung umgriff. Aber sie runzelte auf einmal die Stirn. Es gab keine äußere Hülle. Es war eine andere Thermosflasche.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte der Papst.

Serena dachte an ihren Besuch an Conrads Bett und an den Abschied mit Tränen in den Augen. »Er hat sie gestohlen!«

Ein breites Grinsen legte sich über das kantige Gesicht des Papstes, und er fing laut an zu lachen. So hatte sie ihn noch nie lachen gehört. Er musste sogar husten, weshalb sie ihm behutsam auf den Rücken klopfte.

Serena war unklar, was da so lustig sein sollte. »Ich verspreche, dass ich Mittel und Wege finden werde, um die Karte zurückzuholen.«

Der Papst, der jetzt wieder normal atmete, winkte mit seiner knotigen Hand ab. »Genau das will er doch erreichen, Schwester Serghetti.«

»Schwester?«, wiederholte sie. »Heiliger Vater, ich bin …«

»… wieder aufgenommen, wenn Sie das möchten.«

Serena überlegte. Das war ein unglaubliches Angebot, eine zweite Chance, wie sie sich in ihrem Leben nie wieder ergeben würde.

»Aber warum, Heiliger Vater? Warum ausgerechnet jetzt?«

»Ich lebe nicht mehr lange, Schwester Serghetti. Und ich weiß nicht, wer mein Nachfolger sein wird. Aber solange Gott mich auf Erden behält, werde ich Ihnen alle Privilegien einer solchen Wiedereinsetzung zukommen lassen, einschließlich des freien Zugangs zu den Archiven des Vatikans.«

»Zu den Archiven?«, sagte sie erstaunt. Nur zwei oder drei Menschen – alles Männer – kamen in den Genuss dieses Privilegs. Der Papst war bereit, die in Ehren gehaltenen – und verfluchten – Geheimnisse mit ihr zu teilen. »Sie führen mich in Versuchung, Heiliger Vater. Sie locken mich mit Erkenntnis, genau wie die Schlange im Garten Eden.«

»Ich versichere Ihnen, Schwester Serghetti, das ist keine Versuchung«, sagte der Papst. »Das ist ein Vertrauensbeweis. Ein Geschenk. Und wenn ich Sie wäre, würde ich es annehmen. Mein Nachfolger wird möglicherweise nicht so entgegenkommend sein wie ich.«

Serena verstand, zögerte aber. Offiziell wieder Braut Christi zu sein würde sie für immer und ewig von Conrad fern halten, und die Möglichkeit, ihre Beziehung wieder aufzunehmen, wäre völlig ausgeschlossen.

Der Papst schien ihren inneren Konflikt zu spüren. »Sie lieben Doktor Yeats«, sagte er.

»Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern, war aber selbst erschrocken, das Wort aus ihrem Mund zu hören.

»Dann wissen Sie auch, dass er mehr als je zuvor in Gefahr ist.«

Serena nickte. Sie hatte es die ganze Zeit, seit sie die Antarktis verlassen hatte, gespürt.

»Sie werden alle Kräfte des Himmels und der Erde brauchen, um ihn zu beschützen«, sagte der Papst.

»Conrad zu beschützen? Wovor?«

»Alles zu seiner Zeit, Schwester Serghetti, alles zu seiner Zeit. Im Augenblick haben wir dringlichere Aufgaben.«

Was konnte dringlicher sein?, fragte sie sich.

Der Papst zeigte ihr die Titelseite der International Herald Tribune.

»›Vier Nonnen wurden von Hindu-Nationalisten in Sri Lanka vergewaltigt und ermordet. Sie hatten Verbindung zur Regierung‹«, las er ihr vor. »Die Gewalttätigkeiten gegen die Moslems haben jetzt wieder auf Christen übergegriffen. Am Morgen werden Sie als Erstes dorthin fliegen und das tun, was Sie am besten können: unsere Sache vor der Weltöffentlichkeit verteidigen.«

»Aber jetzt ist schon Morgen, Heiliger Vater.«

»Ja, aber Sie sind sicher müde. Ruhen Sie sich noch ein paar Stunden aus.«

Serena nickte. Die Belange der realen Welt waren allzu erschütternd. So erschütternd, dass sie selbst die Gedanken an eine vergangene Kultur unter dem Eis verdrängten. Es gab größere Schlachten, die es zu schlagen galt, stellte sie fest, Schlachten gegen Hass, Armut und Krankheit.

»Ich werde Ihrem Wunsch entsprechen«, sagte sie und überlegte kurz. »Zunächst werde ich nach Sri Lanka fliegen, um die dortigen Gewalttätigkeiten zu dokumentieren. Dann gehe ich nach Washington, wo ich die Angelegenheit vor den amerikanischen Kongress bringen werde, bevor ich mich an die Vereinten Nationen wende.«

»Ausgezeichnet.«

Sie ließ sich von Benito in ihre Wohnung fahren, von wo aus sie über die Piazza del Popolo blicken konnte. Es war ein einfaches Zimmer mit nur einem Bett und einem Nachttisch. Sie fühlte sich in ihrer eigenen Welt, in der sie damals ihr Gelübde abgelegt hatte, wohler.

Neben der Verandatür, die einen blassen Mond einrahmte, hing ein Kruzifix an der Wand. Im frühen Morgenlicht kniete sie sich vor das Kruzifix. Als sie zu der Christusfigur aufsah, gestand sie Gott all ihre Arroganz: dass sie geglaubt hatte, mehr über Leiden und Verlust zu wissen als Er, und sie dankte ihm, dass er durch Jesus die Sünden der Menschheit gesühnt hatte.

Dann trat sie auf den Balkon hinaus und blickte über die Piazza auf den ägyptischen Obelisken, der vor 2.000 Jahren von Kaiser Augustus nach Rom gebracht worden war.

Das Denkmal erinnerte sie an einen anderen Obelisken, an einen, der in der Antarktis in einer Pyramide zwei Meilen unter dem Eis verborgen war. Unwillkürlich fragte sie sich: War es wirklich die erlösende Kraft Jesu am Kreuz gewesen, die den Fluch der alten ›Gottessöhne‹ gebrochen und die Welt gerettet hatte? Oder war es der selbstlose Akt eines Gottlosen wie Conrad gewesen, der seinen eitlen Ehrgeiz aufgegeben und den Obelisken in die Sternenkammer zurückgebracht hatte? Sie gelangte schließlich zu dem Schluss, dass der letzte Schritt ohne den ersten nicht hätte geschehen können.

Wie sie so dem fröhlichen Verkehrslärm der Stadt, die niemals zur Ruhe kam, lauschte, griff sie in ihre Hosentasche und zog eine Haarlocke heraus, die sie ihm abgeschnitten hatte. Irgendwann einmal, wenn sie sich davon trennen konnte, würde sie sie im Labor analysieren lassen.

Einstweilen betete sie für die unsterbliche Seele von Conrad Yeats, wer auch immer er war, und dafür, dass ihr vergeben würde. Im Innersten ihres Herzens wusste sie nämlich, dass sie sich auf die eine oder andere Weise wiedersehen würden.

Загрузка...