In den Bergen graute der Morgen. Die Stürme der letzten Tage waren weitergezogen, die Luft war frisch und kalt.
Lord Septimus von Stormhold, großgewachsen und krähenartig, wanderte den Bergpaß empor, wobei er sich suchend umblickte, als hätte er etwas verloren. Mit sich führte er ein zottiges kleines Bergpony. Als der Paß breiter wurde, blieb er stehen, als hätte er das Gesuchte gefunden: Ein kleiner, ziemlich mitgenommener Zweispänner, wenig größer als ein Ziegenkarren, der auf die Seite gekippt war. Ganz in der Nähe lagen zwei Leichen. Eins war ein Ziegenbock mit blutüberströmtem Kopf. Prüfend trat Septimus mit dem Fuß gegen die tote Ziege, um den Kopf besser sehen zu können; das Tier hatte eine tiefe tödliche Wunde an der Stirn, genau in der Mitte zwischen den Hörnern. Neben dem Ziegenbock lag ein junger Mann, das Gesicht im Tod ebenso dumpf wie es vermutlich auch im Leben gewesen war. An ihm war keine tödliche Wunde zu entdecken, nur ein graublauer Fleck an der Schläfe.
Ein paar Meter von diesen Toten entfernt, halb versteckt hinter einem Felsen, stieß Septimus auf die Leiche eines Mannes mittleren Alters, mit dem Gesicht nach unten, schwarz gekleidet. Er war sehr blaß, und sein Blut hatte auf dem Felsboden unter ihm eine große Lache gebildet. Septimus ging neben ihm in die Hocke und hob den Kopf mit spitzen Fingern an den Haaren hoch. Die Kehle des Mannes war aufgeschlitzt, offensichtlich von geübter Hand, von einem Ohr zum anderen. Verwundert starrte Septimus die Leiche an. Er kannte diesen Mann, und doch…
Und dann lachte er, hart und bellend. »Dein Bart«, sagte er zu dem Toten. »Du hast deinen Bart abrasiert. Als würde ich dich ohne Bart nicht erkennen!«
Primus, der nun grau und geisterhaft neben seinen anderen Brüdern stand, sagte: »Natürlich hättest du mich erkannt, Septimus. Aber es hätte mir vielleicht ein paar Sekunden Vorsprung verschafft, in denen ich dich schon gesehen, du aber noch überlegt hättest.« Aber die Stimme des Toten war nur wie die Morgenbrise, die durch den Dornbusch fuhr.
Septimus erhob sich. Unterdessen ging die Sonne über dem östlichsten Gipfel des Mount Belly auf und strahlte auf ihn herab. »Also werde ich der zweiundachtzigste Lord von Stormhold sein«, sagte er zu der Leiche am Boden und zu sich selbst, »und außerdem noch Herrscher über die High Crags, Seneschall der Felsgipfelstädte, Hüter der Zitadelle, Lord Wächter von Mount Huon und so weiter und so fort.«
»Nicht ohne die Macht von Stormhold um deinen Hals, Bruder«, gab Quintus in scharfem Ton zu bedenken.
»Und da ist auch noch die Sache mit der Rache«, ergänzte Secundus mit der Stimme des Winds, der durch den Paß heulte. »An allererster Stelle mußt du dich am Mörder deines Bruders rächen, das ist Blutgesetz.«
Als hätte er ihn gehört, schüttelte Septimus den Kopf. »Warum hättest du nicht noch ein paar Tage warten können, Bruder Primus?« fragte er den Toten zu seinen Füßen. »Dann hätte ich dich selbst getötet. Ich hatte so einen schönen Plan, wie du sterben solltest. Als ich bemerkte, daß du nicht mehr auf der Traumherz warst, habe ich nicht viel Zeit verschwendet, sondern schnell das Beiboot gestohlen und deine Fährte aufgenommen. Aber jetzt muß ich deine traurigen Überreste rächen, und das alles um der Ehre und unserer Blutsverwandtschaft willen, und für Stormhold.«
»Dann wird jetzt also Septimus der zweiundachtzigste Lord von Stormhold«, sagte Tertius.
»Es gibt ein Sprichwort, in dem eine deutliche Warnung dagegen ausgesprochen wird, den numerischen Wert noch nicht ausgeschlüpfter Küken zu kalkulieren«, entgegnete Quintus.
Septimus entfernte sich ein Stück von der Leiche seines Bruders, um gegen einen grauen Felsen zu pissen. Dann ging er zu ihr zurück. »Wenn ich dich umgebracht hätte, könnte ich dich jetzt einfach hier liegen und verfaulen lassen«, sagte er. »Aber weil dieses Vergnügen einem anderen zuteil wurde, muß ich dich jetzt ein Stück mitnehmen und dich auf die hohen Klippen betten, als Fraß für die Adler.« Damit hob er den blutverklebten Körper, vor Anstrengung grunzend, hoch und legte ihn dem Pony über den Rücken. Dann fummelte er noch am Gürtel des Toten herum und holte das Säckchen mit den Runen hervor. »Danke sehr, Bruder«, sagte er und klopfte dem Toten auf die Schulter.
»Mögest du an ihnen ersticken, wenn du mich nicht an dem Miststück rächst, das mir die Gurgel durchgeschnitten hat«, sagte Primus mit der Stimme der Bergvögel, die erwachten und den neuen Tag begrüßten.
* * *
Sie saßen nebeneinander auf einer dicken, weißen Haufenwolke von der Größe einer Kleinstadt. Es wurde kälter, je weiter man in die Wolke hineinsank. Und Tristran steckte seine verbrannte Hand so tief er konnte in die seltsame Masse, die ihm einen leichten Widerstand entgegensetzte, seine Hand aber annahm. Das Innere der Wolke fühlte sich schwammig und kühl an, real und substanzlos zugleich. So stillte sie den Schmerz wenigstens ein bißchen, und Tristran konnte etwas klarer denken.
»Nun«, sagte er nach einiger Zeit, »ich furchte, ich habe einen ziemlichen Schlamassel angerichtet.«
Die Sternfrau saß neben ihm auf der Wolke, in dem Bademantel, den die Frau im Gasthaus ihr geschenkt hatte, das gebrochene Bein vor sich in den dichten Nebel gestreckt. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie schließlich. »Stimmt’s?«
»Vermutlich schon, ja.«
»Ich hasse dich«, sagte sie. »Ich habe dich schon vorher gehaßt, aber jetzt hasse ich dich noch viel mehr.«
Tristran bewegte seine verbrannte Hand vorsichtig in der kühlen Wolke. »Aus einem bestimmten Grund?«
»Weil«, begann sie mit angespannter Stimme, »weil du jetzt, nachdem du mir das Leben gerettet hast, nach dem Gesetz meines Volkes für mich verantwortlich bist. Wohin du auch gehst, ich muß dir folgen.«
»Oh«, meinte Tristran, »das ist doch nicht so schlimm, oder?«
»Ich würde meine Tage lieber an einen gemeinen Wolf oder ein stinkendes Schwein oder einen Moorgoblin gekettet verbringen«, erklärte sie rundheraus.
»Ich bin aber ehrlich nicht so übel«, sagte er, »wenn du mich erst besser kennst. Sieh mal, die Sache mit dem Anketten tut mir leid. Vielleicht könnten wir ja noch mal von vorn anfangen und so tun, als wäre das alles nie passiert. Also, mein Name ist Tristran Thorn, es freut mich, Euch kennenzulernen.« Damit streckte er ihr seine nicht verbrannte Hand entgegen.
»Mondmutter, bewahre mich!« rief die Sternfrau. »Ich würde eher die Hand eines…«
»Ja sicher, ich weiß«, unterbrach Tristran sie rasch, denn er legte keinen Wert darauf zu erfahren, welch wenig schmeichelhaften Vergleiche er diesmal über sich ergehen lassen mußte. »Ich habe gesagt, es tut mir leid. Fangen wir von vorn an. Ich bin Tristran Thorn. Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.«
Sie seufzte.
Die Luft war dünn und kalt hier oben, aber die Sonne schien warm, und die Wolkenformen um sie herum erinnerten Tristran an eine Phantasiestadt oder einen erdfremden Ort. Weit, weit unten konnten sie das Feenland sehen: Wie das Sonnenlicht jeden winzigen Baum hervorhob und jeden Fluß in eine silberne Schlange verzauberte, die sich schimmernd durch die Landschaft wand.
»Nun?« fragte Tristran.
»Na gut«, meinte die Sternfrau. »Es ist schon irgendwie komisch, nicht wahr? Wo du hingehst, muß auch ich hingehen. Selbst wenn es mich das Leben kostet.« Sie ließ die Hand in der Wolke herumwirbeln und verursachte kleine Wellen im Nebel. Dann berührte sie für einen kurzen Moment Tristrans Hand. »Meine Schwestern haben mich Yvaine genannt«, erklärte sie ihm. »Denn ich war ein Abendstern.«
»Sieh uns nur an«, sagte Tristran. »Ein hübsches Paar. Du mit deinem gebrochenen Bein, ich mit meiner Hand…«
»Zeig mir deine Hand.«
Vorsichtig zog er sie aus der kühlenden Wolke: Die Hand war rot, überall, wo die Flammen an ihr geleckt hatten, waren dicke Brandblasen.
»Tut es weh?« fragte sie.
»Ja«, antwortete er. »Ehrlich gesagt, sogar sehr.«
»Gut«, meinte Yvaine.
»Wenn meine Hand nicht verbrannt wäre, würdest du wahrscheinlich jetzt nicht mehr leben«, gab er zurück. Ein wenig beschämt schlug sie die Augen nieder. »Weißt du«, fuhr er fort und wechselte das Thema, »ich habe meine Tasche im Haus der wahnsinnigen Wirtin gelassen. Jetzt stehen wir da und haben nichts mehr außer den Kleidern, die wir am Leib tragen.«
»Nein, wir sitzen«, verbesserte ihn die Sternfrau.
»Es gibt hier nichts zu essen, kein Wasser, wir sind ungefähr eine halbe Meile über der Erde, ohne eine Möglichkeit, hinunterzukommen oder zu bestimmen, wohin die Wolke segelt. Und wir sind beide verletzt. Habe ich irgend etwas ausgelassen?«
»Du hast vergessen darauf hinzuweisen, daß Wolken sich gelegentlich in Nichts auflösen und einfach verschwinden«, sagte Yvaine. »Das tun sie nämlich. Ich hab’s selbst gesehen. Noch einen Sturz würde ich nicht überleben.«
Tristran zuckte die Achseln. »Nun«, meinte er, »dann ist unser Schicksal vermutlich besiegelt. Aber wir könnten uns ebensogut ein wenig umsehen, wo wir schon mal hier oben sind.«
Er half Yvaine auf die Beine, und ungeschickt machten sie beide ein paar Stolperschritte über die Wolke. Doch Yvaine setzte sich gleich wieder hin. »Das bringt nichts«, sagte sie. »Geh du und schau dich um. Ich warte hier auf dich.«
»Versprochen?« fragte er. »Diesmal läufst du nicht weg?«
»Ich schwöre. Bei meiner Mutter Mond«, meinte Yvaine traurig. »Du hast mir das Leben gerettet.«
Und damit mußte Tristran sich vorerst zufriedengeben.
* * *
Inzwischen war ihr Haar fast gänzlich ergraut, ihr Gesicht schlaff, mit Falten am Hals und um die Augen und Mundwinkel. Die Haut war farblos, das Kleid jedoch immer noch knallrot, aber mit Blutflecken übersät; an der Schulter klaffte ein breiter Riß, und darunter sah man eine tiefe Narbe, wulstig und abstoßend. Der Wind zerzauste ihr die Haare, während sie die schwarze Kutsche weiter durchs Ödland steuerte. Oftmals stolperten die vier Hengste: Schweiß triefte von ihren Flanken, blutiger Schaum stand vor ihren Mäulern. Dennoch donnerten ihre Hufe den schlammigen Weg durchs Ödland, wo nichts wächst und gedeiht.
Die Hexenkönigin, Älteste der Lilim, zügelte die Pferde neben einem spitzen Felsen, der aus dem sumpfigen Boden des Ödlands emporragte wie eine Nadel, und dessen Farbe an Grünspan erinnerte. Dann stieg sie vom Kutschbock auf die nasse Erde herunter, gemächlich, wie es sich für eine Dame gehört, die ihre erste und eigentlich auch schon ihre zweite Jugend hinter sich hat.
Langsam ging sie um die Kutsche herum und öffnete die Tür. Der Kopf des Einhorns, in dessen kaltem Augapfel noch immer ihr Dolch steckte, baumelte schlaff herunter. Die Hexe versuchte das Maul des Einhorns zu öffnen, aber da die Totenstarre bereits eingesetzt hatte, war dies kein leichtes Unterfangen, und es dauerte eine Weile, bis sie es geschafft hatte. Dann biß die Hexenfrau sich so heftig auf die Zunge, daß sie einen stechenden Schmerz im Mund verspürte und sie ihr eigenes Blut schmeckte. Sie mischte es im Mund mit Spucke (dabei bemerkte sie, daß einige ihrer Vorderzähne sich lockerten) und spuckte kräftig auf die gescheckte Zunge des toten Einhorns. Blutspritzer bedeckten ihre Lippen und ihr Kinn. Schließlich brummte sie ein paar Silben, die hier nicht widergegeben werden sollen, drückte das Maul des toten Einhorns wieder zu und befahl: »Raus aus der Kutsche mit dir.«
Steif und unbeholfen hob das Einhorn den Kopf. Dann bewegte es die Beine wie ein neugeborenes Fohlen oder ein Rehkitz, das seine ersten Schritte wagt, rappelte sich auf alle viere und taumelte, halb kletternd, halb fallend, durch die Kutschentür hinunter in den Schlamm, wo es stehenblieb. Seine linke Seite, auf der es in der Kutsche gelegen hatte, war geschwollen und dunkel von Blut. Das tote Einhorn stolperte weiter zu der grünen Felsnadel, bis zu der Vertiefung an deren Basis, wo es die Vorderbeine einknicken ließ, was aussah wie eine makabre Parodie auf ein Gebet.
Die Hexenkönigin bückte sich und zog den Dolch aus dem Auge des Tieres und schlitzte damit seine Kehle auf. Nur ganz langsam quoll noch Blut aus dem Riß. Sie ging zurück zur Kutsche, holte das Hackmesser und begann damit auf den Nacken des Einhorns einzuschlagen, bis sie ihn vom Körper getrennt hatte und der Kopf in das Felsenloch fiel, das sich jetzt mit dunkelrotem ekligen Blut füllte.
Schließlich holte sie den Kopf am Horn wieder heraus und legte ihn neben den Körper auf den Felsen. Anschließend betrachtete sie mit ihren kalten grauen Augen den roten Pfuhl. Zwei Gesichter starrten daraus hervor: zwei Frauen, beide noch wesentlich älter als sie selbst jetzt wirkte.
»Wo ist sie?« fragte das erste Gesicht verdrießlich. »Was hast du mit ihr angestellt?«
»Sieh dich bloß an!« sagte die zweite der Lilim. »Du hast die letzte Jugend verbraucht, die wir aufgehoben hatten – ich habe sie selbst aus der Brust der Sternfrau gerissen, vor langer, langer Zeit, obwohl sie geschrien und sich gewunden und Wunder wie angestellt hat. Nach deinem Aussehen zu urteilen, hast du schon so gut wie alles davon verschwendet.«
»Ich war so nah dran«, antwortete die Hexenfrau ihren Schwestern in der Blutpfütze. »Aber sie hatte ein Einhorn, das sie beschützte. Zumindest habe ich jetzt aber den Kopf des Einhorns, und den bringe ich zurück, denn es ist lange genug her, daß wir frisches gemahlenes Einhorn-Horn hatten.«
»Ach, Einhorn-Horn kann mir gestohlen bleiben«, entgegnete ihre jüngste Schwester. »Was ist mit dem Stern?«
»Ich finde ihn einfach nicht. Es ist fast, als wäre er nicht mehr im Feenland.«
Eine Pause trat ein.
»Nein«, sagte eine der Schwestern. »Die Sternfrau ist noch im Feenland. Aber sie ist unterwegs zum Markt in Wall, und das ist zu nahe an der Welt jenseits der Mauer. Wenn sie erst einmal dorthin gelangt, ist sie für uns verloren.«
Denn sie wußten alle, wenn die Sternfrau die Mauer durchquerte und die Welt der realen Dinge betrat, würde sie sich in einen Klumpen metallischen Steins verwandeln, der vor einiger Zeit vom Himmel gefallen war – sie wäre dann kalt und tot und für sie vollkommen nutzlos.
»Dann werde ich nach Diggory’s Dyke gehen und auf sie warten, denn da müssen alle vorbei, die nach Wall wollen.«
Die Spiegelbilder der beiden alten Frauen glotzten mißbilligend aus dem Tümpel. Die Hexenkönigin fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Der da oben fällt wahrscheinlich noch heute abend raus, dachte sie, so, wie der wackelt. Dann spuckte sie kräftig in die Blutpfütze. Kleine Wellen breiteten sich aus und vertrieben jede Spur der Lilim; jetzt spiegelten sich in der Pfütze nur noch der Himmel über dem Ödland und die fernen weißen Wolken weit über ihnen.
Die Hexenfrau trat gegen das tote Einhorn, so daß es auf die Seite rollte. Dann nahm sie den Kopf und schleppte ihn mit sich zum Fahrersitz. Dort legte sie ihn neben sich, griff in die Zügel und peitschte die widerspenstigen Pferde zu einem müden Trott.
* * *
Tristran saß auf der Spitze des Wolkenbergs und fragte sich, warum die Helden der Groschenromane, die er in Wall so begierig verschlungen hatte, nie hungrig waren.
Sein Magen jedenfalls knurrte, und seine Hand tat schrecklich weh.
Abenteuer sind ja schön und gut, dachte er, aber es spricht doch einiges für regelmäßige Mahlzeiten und Vermeidung von Schmerzen.
Trotzdem – er war noch am Leben, der Wind zerzauste ihm die Haare, und die Wolke schwebte über den Himmel wie eine Galeone unter vollen Segeln. Während er so von oben auf die Welt hinabschaute, konnte er sich nicht erinnern, sich jemals so lebendig gefühlt zu haben. Er empfand die Existenz des Himmels so intensiv wie nie und kostete jeden Moment aus, wie er es nie zuvor getan hatte.
Er erkannte, daß er in gewisser Weise über seinen Problemen stand, so, wie er über der Welt schwebte. Selbst der Schmerz in seiner Hand schien weit weg. Wenn er über seine Erlebnisse und Abenteuer nachdachte, über die Reise, die noch vor ihm lag, so erschien ihm alles auf einmal ganz klein und klar. Er stellte sich hoch oben auf den Wolkenberg und rief mehrmals so laut er konnte: »Hallo!« Obwohl er sich dabei ein wenig albern vorkam, schwenkte er sogar ein paarmal seine Tunika über den Kopf. Dann kletterte er wieder hinunter; drei Meter vom Boden der Wolke entfernt verlor er den Halt und fiel in die neblig-weiche Masse.
»Warum hast du denn so geschrien?« fragte Yvaine.
»Damit die Leute merken, daß wir hier sind«, erklärte Tristran.
»Welche Leute denn?«
»Man kann nie wissen«, meinte er. »Besser, ich rufe Leute, die nicht da sind, als daß Leute, die da sind, uns nicht bemerken, weil ich nicht gerufen habe.«
Darauf wußte sie keine Antwort.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Tristran, »und bin auf folgendes gekommen: Wenn wir meine Aufgabe erfüllt haben – also wenn ich dich nach Wall gebracht und Victoria Forester geschenkt habe –, vielleicht könnten wir dann etwas für dich tun.«
»Für mich?«
»Naja, du möchtest doch zurück, oder nicht? Wieder hinauf an den Himmel. Nachts leuchten und so. Darum könnten wir uns dann kümmern.«
Sie blickte zu ihm empor und schüttelte den Kopf. »Wenn ein Stern erst mal vom Himmel gefallen ist, kann er nicht mehr zurück.«
»Du könntest die erste sein, der das gelingt«, entgegnete er. »Aber du mußt daran glauben. Sonst passiert es nicht.«
»Das wird es sowieso nicht«, beharrte sie. »Genausowenig wie dein Geschrei jemanden auf uns aufmerksam machen wird hier oben, wo sowieso niemand hinkommt. Es spielt keine Rolle, ob ich es glaube oder nicht, so ist es eben. Wie geht’s deiner Hand?«
»Tut weh«, antwortete er achselzuckend. »Aber nicht mehr ganz so schlimm.«
»Ahoi!« erscholl da plötzlich eine Stimme von oben. »Ahoi da unten! Braucht ihr Hilfe?«
Über ihnen schimmerte golden ein kleines Schiff im Sonnenlicht, mit geblähten Segeln, und ein rotes Gesicht mit Schnurrbart spähte über den Rand zu ihnen herunter. »Warst du das, junger Mann, der da eben so rumgehüpft und rumgesprungen ist?«
»Ja«, antwortete Tristran. »Und ich glaube, wir brauchen tatsächlich Hilfe, ja.«
»In Ordnung«, sagte der Mann. »Dann macht euch bereit für die Leiter.«
»Meine Freundin hat leider ein gebrochenes Bein«, rief Tristran, »und ich hab’ mir die Hand verletzt. Ich glaube kaum, daß wir eine Leiter hochklettern können.«
»Kein Problem. Wir ziehen euch hoch.« Mit diesen Worten ließ er eine lange Strickleiter zu ihnen herab. Tristran fing sie mit seiner heilen Hand auf und hielt sie fest, während Yvaine sich mühsam ein paar Stufen hochhangelte. Dann stellte er sich hinter sie aufs Ende der Leiter. Nun verschwand das rote Gesicht, und Tristran und Yvaine baumelten unbeholfen am Ende der Leiter.
Der Wind erfaßte das Luftschiff, so daß die Leiter von der Wolke hochgezogen wurde und Tristran und Yvaine sich langsam in der Luft drehten.
»Los geht’s – hebt an!« riefen mehrere Stimmen gleichzeitig, und Tristran spürte, wie er und Yvaine sich mehrere Fuß in die Lüfte erhoben. »Hebt an! Hebt an! Hebt an!« Mit jedem Ruf wurden sie ein wenig höher gezogen. Inzwischen war die Wolke, auf der sie gesessen hatten, nicht mehr unter ihnen; statt dessen tat sich zu ihren Füßen ein Abgrund auf, den Tristran auf etwa eine Meile schätzte. Er hielt das Seil ganz fest, den Ellbogen über seiner verletzten Hand sicher in die Strickleiter gehakt.
Noch ein Ruck nach oben, und Yvaine befand sich auf Höhe der Schiffsreling. Jemand hob sie behutsam darüber und stellte sie aufs Deck, dann kletterte auch Tristran ins Schiff.
Der rotbackige Mann streckte ihnen die Hand entgegen. »Willkommen an Bord«, sagte er. »Dies ist das Freie Schiff Perdita, unterwegs auf Blitzjagd-Expedition. Kapitän Johannes Alberic, stets zu Diensten.« Er hustete tief in der Brust. Ehe Tristran antworten konnte, erspähte der Kapitän die verletzte Hand und rief: »Meggot! Meggot! Verflixt, wo steckst du denn? Hierher! Da sind Passagiere, die versorgt werden müssen. Komm, mein Junge, Meggot wird sich um deine Hand kümmern. Wir essen um sechs Glasen. Ihr sitzt an meinem Tisch.«
Kurz darauf erschien eine etwas aufgedrehte Frau mit einer roten, einem Wischmop nicht unähnlichen Mähne – Meggot – und begleitete sie unter Deck, wo sie eine dicke grüne Salbe auf Tristrans Hand strich, die angenehm kühlte und den Schmerz deutlich linderte. Dann wurden sie in die Messe geführt, einen kleinen Speisesaal neben der Küche, die zu Tristrans großer Freude tatsächlich wie in seinen Groschenromanen »Kombüse« genannt wurde.
Sie nahmen am Tisch des Kapitäns Platz; allerdings befanden sich gar keine anderen Tische in der Messe. Außer dem Kapitän und Meggot gab es noch weitere fünf Besatzungsmitglieder, ein buntes Häufchen, das die Konversation gern Kapitän Alberic überließ, wozu dieser nicht lange gebeten werden mußte. Den Bierhumpen in der einen Hand, in der anderen abwechselnd die kurze Pfeife oder den gefüllten Löffel, plauderte er munter daher.
Die Mahlzeit bestand aus einer dicken Suppe mit Gemüse, Bohnen und Gerste; Tristran fühlte sich gesättigt und zufrieden. Zu trinken gab es das klarste, kälteste Wasser, das er je geschmeckt hatte.
Der Kapitän stellte keine Fragen, wie sie auf die Wolke gekommen waren, und Tristran und Yvaine gaben von sich aus auch keine Erklärungen ab. Tristran bekam die Koje neben Oddness, dem ersten Maat, einem ruhigen Zeitgenossen mit großen Flügeln, der furchtbar stotterte, während Yvaine in Meggots Kabine untergebracht wurde und Meggot in eine Hängematte umzog.
Während seiner weiteren Reise durch das Feenland erwischte Tristran sich oft dabei, daß er sich an seine Zeit auf der Perdita als eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens erinnerte. Die Besatzung ließ ihn beim Segelsetzen helfen, und gelegentlich durfte er sogar das Steuerrad bedienen. Manchmal segelte das Schiff über dunklen, berghohen Gewitterwolken dahin. Dann fischte die Besatzung mit einer kleinen Kupferkiste nach Blitzen. Regen und Wind wuschen das Schiffsdeck sauber, und Tristran lachte oft laut vor Vergnügen, wenn ihm der Regen übers Gesicht rann, und er hielt sich mit seiner unversehrten Hand in der Seilreling fest, damit der Sturm ihn nicht über Bord beförderte.
Meggot, die ein wenig größer und dünner war als Yvaine, hatte ihr ein paar Kleider geliehen, welche die Sternfrau voller Erleichterung trug. Sie freute sich über die Abwechslung und zog jeden Tag ein anderes an. Bisweilen kletterte sie trotz des gebrochenen Beins auf die Galionsfigur hinaus, wo sie lange saß und die Welt unter sich betrachtete.
* * *
»Wie geht es deiner Hand?« fragte der Kapitän.
»Viel besser, danke«, sagte Tristran. Zwar glänzte die narbige Haut, und er hatte kaum Gefühl in den Fingern, aber dank Meggots Salbe waren die Schmerzen so gut wie weg, und der Heilungsprozeß ging ungleich schneller voran. Nun saß er auf Deck, ließ die Beine über die Seite baumeln und sah hinaus.
»In einer Woche werfen wir Anker, um Vorräte und ein wenig Fracht aufzunehmen«, sagte der Kapitän. »Vielleicht ist es am besten, wenn wir euch dann aussteigen lassen.«
»Oh. Dankeschön«, antwortete Tristran.
»Dann seid ihr näher bei Wall, allerdings werdet ihr immer noch gut zehn Wochen dorthin brauchen. Vielleicht auch länger. Aber Meggot sagt, sie habe das Bein deiner Freundin beinahe wieder flott. Sie wird es schon bald wieder belasten können.«
Seite an Seite saßen sie da. Der Kapitän paffte seine Pfeife. Seine Kleider waren von einer dünnen Ascheschicht bedeckt, und wenn er die Pfeife gerade nicht rauchte, kaute er auf ihrem Stiel oder kratzte mit einem scharfen Metallinstrument im Pfeifenkopf herum oder stopfte sie neu.
»Weißt du«, sagte der Kapitän, den Blick zum Horizont gerichtet, »es war kein reiner Zufall, daß wir euch gefunden haben, na ja, es war schon Glück, aber es entspricht auch der Wahrheit, daß ich euch ein bißchen im Auge behalten habe. Ich und auch noch ein paar andere aus der Gegend.«
»Warum?« wollte Tristran wissen. »Und woher wußtet Ihr von mir?«
Statt einer Antwort zeichnete der Kapitän eine Form auf das beschlagene Holz.
»Sieht aus wie ein Schloß«, meinte Tristran.
Der Kapitän blinzelte ihm zu. »Man sollte lieber nicht zu laut darüber sprechen«, sagte er, »selbst hier oben nicht. Stell es dir als eine Art Bruderschaft vor.«
Tristran starrte ihn an. »Kennt Ihr einen kleinen haarigen Mann mit einem Hut und einem riesigen, vollgestopften Tornister?«
Nachdenklich klopfte der Kapitän seine Pfeife am Rand des Luftschiffs aus. Mit einer schnellen Handbewegung hatte er das Bild des Schlosses bereits weggewischt. »Ja. Und er ist nicht das einzige Mitglied der Bruderschaft, das ein Interesse daran hat, daß du wohlbehalten nach Wall zurückkehrst. Wobei mir einfällt, du solltest deiner jungen Dame sagen, wenn sie ihre wahre Identität geheimhalten will, sollte sie gelegentlich wenigstens so tun, als würde sie was essen.«
»Ich habe Wall in Eurer Gegenwart nie erwähnt«, sagte Tristran. »Als Ihr gefragt habt, woher wir kommen, habe ich gesagt ›Von da hinten‹. Und als Ihr mich gefragt habt, wo wir hingehen, habe ich geantwortet: ›Immer der Nase nach‹.«
»So ist’s auch gut«, lobte der Kapitän. »Genau.«
Eine weitere Woche verstrich; am fünften Tag verkündete Meggot, Yvaines Schiene könne abgenommen werden. Sie entfernte die provisorischen Bandagen und den Stock, und Yvaine übte auf Deck vom Bug zum Heck zu gehen, wobei sie sich am Geländer festhielt. Schon bald bewegte sie sich ohne Schwierigkeiten auf dem Schiff umher, wenn auch mit einem leichten Hinken.
Am sechsten Tag gab es einen gewaltigen Sturm, und sie fingen sechs schöne Blitze in der Kupferkiste. Am siebten Tag liefen sie in den Hafen ein. Tristran und Yvaine verabschiedeten sich vom Kapitän und der Besatzung des Freien Schiffs Perdita. Meggot schenkte Tristran einen kleinen Topf mit der grünen Salbe, mit der er seine Hand und Yvaines Bein einreiben konnte. Der Kapitän drückte Tristran eine lederne Schultertasche mit getrocknetem Fleisch, Früchten, Tabak, einem Messer und einer Streichholzschachtel in die Hand. Als Tristran bescheiden abwehrte, sagte der Kapitän: »Oh, das macht doch überhaupt keine Umstände, Junge. Wir nehmen hier sowieso Vorräte auf.« Für Yvaine hielt Meggot ebenfalls ein Geschenk bereit: ein blaues Seidenkleid, über und über mit kleinen Silbersternen und -monden bestickt. »Das sieht an dir nämlich viel besser aus als an mir, Liebes«, erklärte sie ihr.
Das Schiff ging neben einem Dutzend anderer, ähnlich geformter Schiffe vor Anker. Sie alle trafen sich an der Spitze eines riesigen Baumes, der so groß war, daß er Hunderte von Wohnstätten in seinem Stamm beherbergte. Dort lebten Menschen und Zwerge, Gnome und Waldgeister und andere, noch seltsamere Kreaturen. Um den Stamm liefen Stufen, die Tristran und die Sternfrau langsam hinabstiegen. Tristran war erleichtert, wieder festen Boden unter seinen Füßen zu spüren, und doch fühlte er sich, auf eine Art, die er nicht hätte in Worte fassen können, enttäuscht – so als hätte er, als seine Füße den Boden berührten, etwas ganz Besonderes verloren.
Drei Tage wanderten sie, bis der Hafenbaum am Horizont verschwunden war.
Sie gingen nach Westen in Richtung Sonnenuntergang, eine breite, staubige Straße entlang. Zum Schlafen suchten sie Schutz hinter einer Hecke. Tristran aß Früchte und Nüsse von Büschen und Bäumen, und er trank aus klaren Bächen. Nur wenige Leute begegneten ihnen auf der Straße. Wenn es sich ergab, machten sie bei kleinen Farmen halt, wo Tristran den Nachmittag über arbeitete und dafür Essen und Stroh für ein Lager in der Scheune bekam. Manchmal rasteten sie auch in den Städten und Dörfern unterwegs, um sich zu waschen und etwas zu essen – beziehungsweise so zu tun. Wenn sie es sich leisten konnten, nahmen sie auch mal ein Zimmer im örtlichen Gasthaus.
In der Stadt Simcock-Under-Hill trafen sie auf ein Goblin-Preßkommando, eine Begegnung, die schlimm hätte ausgehen können. Ohne Yvaines Geistesgegenwart und ihre scharfe Zunge wäre Tristran womöglich als Söldner verschleppt worden und hätte den Rest seines Lebens im endlosen unterirdischen Krieg der Goblins mitkämpfen müssen. In Berinhed’s Forest wehrte Tristran mutig einen der großen lohfarbenen Adler ab, der sie beide gerne zu seinem Nest getragen und an seine Jungen verfuttert hätte – und der vor nichts Angst hatte außer vor Feuer.
In einer Taverne in Fulkeston erntete Tristran große Bewunderung, weil er Coleridges Kubla Khan, den dreiundzwanzigsten Psalm, den Monolog über die Bedeutung der Gnade aus dem Kaufmann von Venedig sowie ein Gedicht über einen Jungen auf einem brennenden Schiffsdeck auswendig aufsagte. All das hatte er sich in der Schule einprägen müssen, und im stillen dankte er Mrs. Cherry, daß sie ihn dazu gezwungen hatte. Doch dann merkte er plötzlich, daß die Einwohner von Fulkeston beschlossen hatten, er müsse für immer bei ihnen bleiben und ihr neuer Barde werden, und so waren er und Yvaine gezwungen gewesen, sich mitten in der Nacht davonzustehlen. Das schafften sie allerdings nur, weil Yvaine die Hunde der Stadt überredete, nicht zu bellen (wie sie das bewerkstelligte, blieb Tristran jedoch ein Rätsel).
In der Sonne wurde Tristrans Gesicht nußbraun, und seine Kleider nahmen eine rostbraune und staubgraue Färbung an. Yvaine dagegen blieb bleich wie der Mond, und sie hörte auch nicht auf zu hinken, ganz gleich, wie viele Meilen sie zurücklegten.
Als sie eines Abends am Waldrand kampierten, hörte Tristran etwas, was ihm noch nie zu Ohren gekommen war: eine wunderschöne Melodie, getragen und fremdartig. Sie füllte sein Herz mit Visionen und sein Herz mit Ehrfurcht und Freude. Die Musik ließ ihn an einen Raum ohne Grenzen denken, an riesige Kristallbälle, die unsäglich langsam durch die unermeßlichen Hallen der Lüfte kreisten. Die Melodie hob ihn empor, über sich selbst hinaus.
Nach einer Zeit, die mehrere Stunden oder auch nur ein paar Minuten hätte sein können, trat Stille ein, und Tristran seufzte. »Das war wunderbar«, sagte er.
Unwillkürlich verzog sich der Mund der Sternfrau zu einem Lächeln, und ihre Augen strahlten. »Danke«, sagte sie. »Mir war bis jetzt nie nach Singen zumute.«
»So etwas habe ich noch nie gehört.«
»In manchen Nächten haben meine Schwestern und ich zusammen gesungen«, sagte sie. »Lieder wie dieses hier, über die Mondfrau, unsere Mutter, über die Natur der Zeit, über die Freude des Leuchtens und die Einsamkeit.«
»Es tut mir leid«, sagte Tristran.
»Es braucht dir nicht leid zu tun«, entgegnete sie. »Wenigstens lebe ich noch. Ich hatte Glück, daß ich im Feenland abgestürzt bin. Und wahrscheinlich hatte ich auch Glück, daß ich dir begegnet bin.«
»Danke«, sagte Tristran.
»Bitte sehr«, sagte die Sternfrau. Dann seufzte auch sie und starrte durch die Bäume hinauf zum Himmel.
* * *
Tristran suchte etwas zum Frühstück. Er hatte ein paar junge Boviste gefunden und einen Pflaumenbaum, der voller lilafarbener Früchte hing, die gereift und fast zu Dörrpflaumen getrocknet waren. Da entdeckte er den Vogel im Unterholz.
Er versuchte nicht, ihn zu fangen. (Vor ein paar Wochen hatte er nämlich einen schlimmen Schock erlitten, als ein graubrauner Hase, den er als Abendessen ausersehen hatte, ihm um Haaresbreite entwischte, am Waldrand aber innehielt, Tristran einen verächtlichen Blick zuwarf und rief: »Tja, hoffentlich bist du jetzt stolz auf dich.« Dann verschwand er im hohen Gras.) Aber der Vogel faszinierte ihn. Es war ein bemerkenswerter Vogel, groß wie ein Fasan, aber mit Federn in allen Farben: grelle Rottöne, schillerndes Gelb und leuchtendes Blau. Vielleicht hatte er sich aus den Tropen hierher verirrt, denn er wirkte gänzlich fehl am Platz in diesem grünen, farnbewachsenen Wald. Als Tristran sich dem Vogel näherte, zuckte dieser ängstlich zusammen, fing an, ungeschickt umherzuhüpfen und stieß laute Klagelaute aus.
Tristran ging auf die Knie und redete ihm beruhigend zu. Dann streckte er die Hand nach dem Vogel aus. Dessen Notlage war eindeutig: Am Fuß des Vogels war eine silberne Kette befestigt, die sich in einem Wurzelfortsatz verfangen hatte; da hing der Vogel nun fest und kam nicht mehr von der Stelle.
Behutsam entwirrte Tristran die Silberkette, während er mit der linken Hand das Gefieder des Vogels streichelte. »Da haben wir’s«, sagte er. »Du kannst heimfliegen.« Doch der Vogel machte keine Anstalten, sich zu entfernen. Statt dessen starrte er Tristran mit schiefgelegtem Kopf ins Gesicht. »Hör mal«, sagte Tristran, der sich seltsam und etwas gehemmt fühlte, »wahrscheinlich wartet irgendwo irgend jemand auf dich.« Damit bückte er sich und wollte den Vogel hochheben.
Da traf ihn ein Schlag; obwohl er still gestanden hatte, war es ein Gefühl, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Er taumelte und wäre beinahe umgefallen.
»Dieb!« rief eine heisere Stimme. »Ich verwandle deine Knochen zu Eis und röste dich im Feuer. Ich kratz’ dir die Augen aus und binde das eine an einen Hering und das andere an eine Möwe, damit der Anblick von Meer und Himmel dich in den Wahnsinn treibt! Ich verwandle deine Zunge in einen Wurm und deine Finger in Rasiermesser, und Feuerameisen sollen deine Haut kitzeln, und wenn du dich kratzt…«
»Es besteht keine Notwendigkeit, Euch weiter so aufzuregen«, sagte Tristran zu der alten Frau. »Ich wollte Euren Vogel nicht stehlen. Seine Kette hatte sich an einer Wurzel verfangen, und ich habe ihn gerade befreit.«
Argwöhnisch glotzte sie ihn unter ihren grauen Wuschelhaaren an. Dann schlurfte sie näher heran und hob den Vogel auf. Sie hielt ihn hoch, flüsterte ihm etwas zu, und er antwortete mit einem seltsamen musikalischen Zwitschern. Die alte Frau kniff die Augen zusammen. »Nun, vielleicht ist an dem, was du sagst, tatsächlich ein Körnchen Wahrheit«, räumte sie äußerst widerwillig ein.
»Es ist die volle Wahrheit«, erwiderte Tristran, aber die alte Frau und ihr Vogel hatten die Lichtung schon halbwegs überquert; also sammelte er seine Boviste und seine Pflaumen und ging zurück zu der Stelle, wo Yvaine auf ihn wartete.
Sie saß neben dem Weg und rieb sich die Füße. Die Hüfte tat ihr weh, ihr Bein ebenfalls, und ihre Füße wurden von Tag zu Tag empfindlicher. Manchmal hörte Tristran sie nachts leise vor sich hin weinen. Er hoffte, die Mondfrau würde ihnen noch ein Einhorn schicken, wußte aber, daß dies höchst unwahrscheinlich war.
»Also das war wirklich seltsam«, sagte Tristran zu Yvaine. Dann erzählte er ihr, was er gerade erlebt hatte, in der festen Überzeugung, damit sei die Sache erledigt.
Natürlich irrte er sich. Etliche Stunden später wanderten Tristran und die Sternfrau den Waldweg entlang, als sie von einem bunt bemalten Zigeunerwagen überholt wurden, der von zwei grauen Maultieren gezogen wurde. Vorn saß die alte Frau, die gedroht hatte, Tristrans Knochen in Eis zu verwandeln. Als sie die beiden sah, zügelte sie die Maultiere und winkte Tristran mit ihrem knochigen Finger zu sich. »Komm her junge«, sagte sie.
Vorsichtig näherte er sich. »Ja, Ma’am?«
»Sieht aus, als müßte ich mich bei dir entschuldigen«, sagte sie. »Offenbar hast du die Wahrheit gesagt. Ich hab’ voreilige Schlüsse gezogen.«
»Ja«, antwortete Tristran.
»Laß mich dich ansehen«, sagte sie und stieg auf den Weg herab. Ihr kalter Finger berührte Tristran unter dem Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. Seine nußbraunen Augen starrten in ihre alten grünen Augen. »Du siehst einigermaßen ehrlich aus«, stellte sie fest. »Du kannst mich Madame Semele nennen. Ich bin unterwegs nach Wall, zum Markt. Ich hab’ mir gedacht, ich könnte gut einen Jungen für meinen kleinen Blumenstand brauchen – ich verkaufe Glasblumen, weißt du, die hübschesten, die du je zu Gesicht bekommen hast. Du wärst ein feiner Marktjunge, und ich könnte dir einen Handschuh für deine kaputte Hand geben, damit du die Kunden nicht vergraulst. Was sagst du dazu?«
Tristran überlegte. »Entschuldigt mich einen Moment«, sagte er schließlich und ging zu Yvaine, um sich mit ihr zu beraten. Zusammen kamen sie zu der alten Frau zurück.
»Guten Tag«, sagte die Sternfrau. »Wir haben über Euer Angebot gesprochen und denken, daß…«
»Nun?« drängte Madame Semele, den Blick ausschließlich auf Tristran gerichtet. »Steh nicht rum, als wärst du stumm! Sprich! Sprich! Sprich!«
»Ich habe nicht den Wunsch, für Euch auf dem Markt zu arbeiten«, antwortete Tristran schließlich, »denn ich habe dort selbst einiges zu erledigen. Doch wenn wir mit Euch fahren könnten, würden meine Gefährtin und ich Euch dafür entlohnen.«
Madame Semele schüttelte den Kopf. »Das bringt mir nichts. Ich kann selbst mein Brennholz sammeln, und du wärst nur zusätzliches Gewicht für Faithless und Hopeless. Ich nehme keine Fahrgäste auf.« Damit kletterte sie wieder auf den Kutschbock.
»Aber ich würde Euch bezahlen«, wiederholte Tristran sein Angebot.
Die Alte lachte wiehernd und zornig. »Es gibt nichts, was du mir als Fahrpreis anbieten könntest. Also, wenn du nicht für mich auf dem Markt in Wall arbeiten willst, dann scher dich weg!«
Tristran griff ans Knopfloch seiner Weste und fühlte dort die Glasblume, so kühl und perfekt wie immer. Jetzt zog er sie heraus und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger der alten Frau entgegen. »Ihr verkauft Glasblumen, habt Ihr gesagt. Hättet Ihr Interesse an dieser hier?«
Es war das Schneeglöckchen aus grünem und weißen Glas, wunderbar gearbeitet, wie frisch gepflückt, als läge noch der Tau auf seiner Blüte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden die Augen der Frau ganz schmal, während sie die grünen Blätter und die weiße Blüte musterte, dann stieß sie ein lautes Kreischen aus, das klang wie der Schrei eines verzweifelten Raubvogels. »Woher hast du das?« rief sie. »Gib es mir! Gib es sofort her!«
Doch Tristran schloß die Finger um das Schneeglöckchen und trat ein paar Schritte zurück. »Hmmm«, sagte er laut. »Mir scheint, daß ich sehr an dieser Blume hänge, denn mein Vater hat sie mir geschenkt, als ich auf diese Reise ging. Vermutlich ist sie von großer persönlicher und familiärer Bedeutung. Sicher hat sie mir Glück gebracht. Vielleicht sollte ich sie lieber behalten und zusammen mit meiner Gefährtin zu Fuß nach Wall gehen.«
Madame Semele wußte offensichtlich nicht, ob sie ihrem ersten Impuls nachgeben und mit Drohungen ihren Willen durchsetzen oder es lieber erst mit Schmeichelei versuchen sollte, und die beiden Gefühle zeigten sich so unverhohlen auf ihrem Gesicht, daß dieses fast zu vibrieren schien vor Anstrengung, die Fassung wiederzugewinnen. Endlich riß sie sich am Riemen, aber ihre Stimme war heiser vor lauter Selbstbeherrschung, als sie sagte: »Immer mit der Ruhe. Kein Grund, etwas zu überstürzen. Ganz bestimmt können wir uns einigen.«
»Oh, das bezweifle ich«, erwiderte Tristran. »Ihr müßtet mir schon ein sehr gutes Angebot unterbreiten, mit bestimmten Garantien für unsere Sicherheit und der Gewißheit, daß Ihr mich und meine Gefährtin in Worten und Taten stets mit Wohlwollen behandelt.«
»Laß mich das Schneeglöckchen noch einmal ansehen«, bettelte die alte Frau.
In diesem Augenblick flatterte der bunte Vogel, die Silberkette um den Fuß, aus der offenen Wagentür, um zu sehen, was hier vor sich ging.
»Das arme gefesselte Ding«, sagte Yvaine. »Warum laßt Ihr es nicht frei?«
Aber die alte Frau schenkte ihr keine Beachtung, sondern antwortete auf Tristrans Frage: »Ich nehme dich mit nach Wall, und ich schwöre bei meiner Ehre und meinem wahren Namen, daß ich dir auf der Reise keinen Schaden zufügen werde, weder mit Worten noch mit Werken.«
»Und auch nicht dadurch, daß Ihr etwas unterlaßt oder durch eine indirekte Handlung.«
»Wie du es sagst.«
Tristran überlegte einen Moment. Der Alten konnte man ganz gewiß nicht trauen. »Ich möchte, daß Ihr schwört, daß wir in Wall in der gleichen Verfassung ankommen, in der wir uns jetzt befinden, und daß Ihr uns unterwegs Kost und Logis zur Verfügung stellt.«
Die alte Frau schnalzte mit der Zunge und nickte schließlich. Noch einmal stieg sie vom Wagen herab, räusperte sich und spuckte in den Sand. Dann deutete sie auf den Schleimpfropf. »Jetzt du«, sagte sie. Tristran spuckte daneben. Mit dem Fuß rieb die alte die beiden nassen Flecken ineinander. »So«, sagte sie, »eine Abmachung ist eine Abmachung. Gib mir die Blume.«
Die Gier in ihren Augen war überdeutlich, und Tristran wurde klar, daß er bestimmt noch mehr hätte herausschlagen können, aber er gab der alten Frau die Blume seines Vaters. Als sie das Schneeglöckchen entgegennahm, verzog sich ihr Gesicht zu einem breiten, zahnlückigen Grinsen. »Ich glaube gar, die hier ist noch schöner als die Blume, die das verflixte Balg vor fast zwanzig Jahren weggegeben hat. Nun, verrate mir, junger Mann«, fuhr sie fort und musterte Tristran mit ihren scharfen alten Augen, »weißt du überhaupt, was du da im Knopfloch getragen hast?«
»Eine Blume. Eine Glasblume.«
Da lachte die alte Frau plötzlich so laut los, daß Tristran schon glaubte, sie würde ersticken. »Das ist ein gefrorener Zauberspruch«, sagte sie endlich. »Ein Instrument der Macht. In den richtigen Händen kann so ein Ding Wunder und Mirakel bewirken. Sieh her.« Sie hielt das Schneeglöckchen über ihren Kopf und senkte es langsam, bis es Tristrans Stirn berührte.
Einen Herzschlag lang fühlte er sich äußerst sonderbar, als flösse dicker schwarzer Sirup anstelle von Blut durch seine Adern; dann veränderte sich die Welt um ihn herum. Alles wurde riesig und ragte hoch über ihm auf. Plötzlich war die alte Frau eine Riesin, und er sah alles verschwommen und durcheinander.
Zwei riesige Hände näherten sich ihm und hoben ihn vorsichtig auf. »Der Wagen ist ja nicht der größte«, sagte Madame Semele langsam und dröhnend. »Und ich werde meinen Schwur buchstabengenau einhalten, denn es wird dir kein Leid geschehen, und du wirst Kost und Logis bekommen auf der Reise nach Wall.« Damit steckte sie die Haselmaus in ihre Schürzentasche und kletterte zurück auf den Fahrersitz.
»Und was wollt Ihr mit mir machen?« fragte Yvaine, war aber nicht sonderlich überrascht, als die Hexe nicht antwortete. So folgte sie der Alten unaufgefordert ins dunkle Wageninnere, das nur aus einem einzigen Raum bestand. An einer Wand stand ein langer Kasten aus Leder und Kiefernholz mit hundert Fächern, und in eins davon, das mit weicher Disteldaune ausgepolstert war, legte sie das Schneeglöckchen. An der anderen Wand war ein kleines Bett, darüber ein Fenster, daneben ein großer Schrank.
Madame Semele bückte sich und holte einen hölzernen Käfig unter dem Bett hervor, nahm die blinzelnde Haselmaus aus der Tasche und setzte sie hinein. Dann holte sie eine Handvoll Nüsse und Beeren und Samen aus einer Holzschüssel und streute sie in den Käfig, den sie anschließend an einer Kette in die Mitte des Wohnwagens hängte.
»So, da haben wir’s – Kost und Logis«, meinte sie zufrieden.
Yvaine hatte sich alles interessiert von ihrem Platz aus auf dem Bett der alten Frau angesehen. »Wäre es angemessen«, fragte sie höflich, »wenn ich aufgrund Eures Verhaltens – weder habt Ihr mich angesehen, Eure Augen sind einfach über mich hinweggeglitten, noch habt ihr ein Wort mit mir gesprochen oder mich mit einer ähnlichen Verwandlung bedacht wie meinen Gefährten – den Schluß ziehe, daß Ihr mich weder sehen noch hören könnt?«
Die Hexe antwortete nicht, sondern setzte sich auf den Fahrersitz und nahm die Zügel in die Hand. Der exotische Vogel hüpfte neben sie und zwitscherte einmal kurz und neugierig.
»Natürlich habe ich meinen Schwur gehalten – auf den Buchstaben genau«, sagte die Frau, als würde sie dem Vogel antworten. »Er wird auf der Marktwiese wieder zurückverwandelt, also bevor er nach Wall kommt. Und nachdem ich ihn zurückverwandelt habe, werde ich auch dir die menschliche Gestalt zurückgeben, denn ich muß immer noch einen besseren Diener finden als dich, du Schlampe. Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn er den lieben langen Tag hier herumgeschnüffelt und Fragen gestellt hätte, deshalb mußte ich ihm diesen Handel aufdrängen.« Sie schlang die Arme um sich und schaukelte langsam vor und zurück. »Oh, wer mich übers Ohr hauen will, muß schon verdammt früh aufstehen. Und ich glaube wirklich, die Blume dieses Bauerntölpels ist noch schöner als die, um die du mich gebracht hast vor all den Jahren.«
Wieder schnalzte sie mit der Zunge, schüttelte die Zügel, und die Maultiere setzten sich in Bewegung.
Während die Hexe so durch den Wald fuhr, ruhte Yvaine sich auf dem staubigen Bett aus. Der Wohnwagen ruckelte und zuckelte. Als er anhielt, erwachte sie und stand auf. Solange die Hexe schlief, setzte Yvaine sich aufs Dach und blickte zu den Sternen empor. Hin und wieder kam der Vogel der Hexe zu ihr, und sie streichelte ihn und spielte mit ihm, denn es tat gut, jemanden zu haben, der ihre Existenz zur Kenntnis nahm. Aber sobald die Hexe wieder auftauchte, strafte auch der Vogel Yvaine mit Nichtachtung.
Yvaine kümmerte sich auch um die Haselmaus, die die meiste Zeit des Tages verschlief, zusammengerollt, den Kopf zwischen den Pfoten. Wenn die Hexe unterwegs war, um Feuerholz zu sammeln oder Wasser zu holen, öffnete Yvaine den Käfig, streichelte die Maus, sprach mit ihr, und ein paarmal sang sie ihr etwas vor, obwohl sie nicht sicher war, ob etwas von Tristran in der Haselmaus geblieben war. Das Tier starrte sie mit ruhigen, verschlafenen Augen an, die aussahen wie kleine schwarze Tintenkleckse; sein Fell war weicher als Daunen.
Nun, da sie nicht mehr zu Fuß unterwegs war, schmerzte ihre Hüfte nicht mehr, und auch die Füßen taten nicht mehr so weh. Yvaine wußte, daß sie für immer hinken würde, denn Tristran war kein Arzt, der gebrochene Knochen richtig zusammenfügen konnte; dennoch hatte er sein Bestes getan, dieser Ansicht war auch Meggot gewesen.
Wenn sie jemandem begegneten, was nicht oft geschah, versteckte sich die Sternfrau so gut es ging. Aber die Hexe war blind und taub für Yvaines Anwesenheit, selbst wenn diese sich unter ihrer Nase mit jemandem unterhielt – oder wenn jemand, wie es ein Holzfäller einmal tat, auf sie deutete und sich nach ihrer Herkunft erkundigte. Offenbar konnte die Hexe nicht einmal hören, wenn jemand von der Sternfrau sprach.
So verstrichen die Wochen im Wohnwagen der Hexe, klappernd und ratternd, für die Hexe, den Vogel, die Haselmaus und den gefallenen Stern.