KAPITEL 1
In dem wir das Dorf Wall kennenlernen und erfahren, was dort alle neun Jahre Merkwürdiges passiert

Es war einmal ein junger Mann, der sehnte sich danach, daß sich sein Wunschtraum erfüllte.

Obgleich dies kein ungewöhnlicher Anfang für eine Geschichte ist (denn jede Geschichte über einen jungen Mann, ob in der Vergangenheit oder der Zukunft, könnte auf ähnliche Weise beginnen), war an dem jungen Mann und seinen Erlebnissen doch viel Seltsames, das nicht einmal er selbst jemals in vollem Umfang begriff.

Die Geschichte begann – wie viele andere Geschichten – in Wall.

Der kleine Ort Wall liegt heute wie seit sechshundert Jahren auf einem hohen Granitfelsen mitten in einem kleinen Waldgebiet. Die Häuser von Wall sind alt und robust, aus grauem Stein, mit dunklen Schieferdächern und hohen Schornsteinen. Um auf dem Felsen jeden Zentimeter Platz zu nutzen, kuscheln sie sich eng aneinander, eins dicht an das andere gebaut, mit hier und dort einem Busch oder Baum, der aus einer Gebäudemauer wächst.

Aus Wall heraus führt nur eine Straße, ein verschlungener Pfad, der vom Wald her steil ansteigt, gesäumt von Felsbrocken und Steinen. Folgt man ihm weit genug nach Süden, aus dem Wald heraus, wird aus dem Pfad eine richtige asphaltierte Straße; noch ein Stück weiter verbreitert sie sich abermals, und auf ihr drängen sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Autos und Lastwagen, die es eilig haben, von einer Stadt zur anderen zu kommen. Irgendwann schließlich gelangt man auf der Straße nach London, aber dafür ist man von Wall aus eine ganze Nacht lang unterwegs.

Die Einwohner von Wall sind ein wortkarges Völkchen, das sich grob in zwei Typen unterteilen läßt: zum einen leben hier die Ureinwohner, groß und robust wie der Granit, auf dem ihr Städtchen erbaut wurde, und zum anderen die Zugewanderten, die sich im Lauf der Jahre in Wall niedergelassen haben, samt ihren Nachfahren.

Unterhalb von Wall im Westen liegt der Wald; im Süden befindet sich ein trügerisch friedlicher See, gespeist von den Bächen aus den Hügeln im Norden des Dorfes. Auf den Weiden der Hügel grasen Schafe, und im Osten erstreckt sich ebenfalls Wald.

Unmittelbar östlich von Wall erhebt sich eine hohe graue Steinmauer, von der das Dorf seinen Namen hat. Diese Mauer ist sehr alt, aus grob behauenen Granitbrocken aufgeschichtet; sie kommt aus dem Wald und fuhrt wieder in ihn zurück.

In dieser Mauer gibt es nur eine einzige Lücke: eine knapp zwei Meter breite Öffnung, ein Stückchen nördlich vom Dorf.

Durch den Spalt in der Mauer blickt man auf eine große grüne Wiese, hinter der Wiese liegt ein Bach, hinter dem Bach sieht man Bäume. Von Zeit zu Zeit kann man zwischen den Bäumen in der Ferne Gestalten erkennen. Riesige, seltsame Gestalten und kleine, schimmernde Erscheinungen, die aufblitzen und leuchten und dann plötzlich wieder verschwunden sind. Obwohl es hervorragendes Weideland ist, hat noch nie ein Dorfbewohner sein Vieh auf der Wiese jenseits der Mauer grasen lassen. Auch hat niemand sie je als Ackerland benutzt.

Vielmehr werden seit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren Wachen auf beiden Seiten der Öffnung postiert, und ansonsten geben sich die Dorfbewohner alle Mühe, nicht an den Mauerdurchgang zu denken.

Auch heute noch stehen zwei Männer auf beiden Seiten des Durchgangs, Tag und Nacht, in Achtstundenschichten. Sie tragen gewaltige Holzknüppel und bewachen die dem Dorf zugewandte Seite der Lücke.

Die Hauptaufgabe der Wächter ist es, die Dorfkinder davon abzuhalten, durch die Öffnung auf die Wiese oder womöglich noch weiter hinauszulaufen. Gelegentlich muß auch ein einsamer Wanderer oder einer der seltenen Besucher daran gehindert werden, durch die Maueröffnung zu schlüpfen.

Bei den Kindern reicht es meist aus, mit dem Knüppel zu drohen. Bei Wanderern und Besuchern müssen die Wachen manchmal etwas einfallsreicher vorgehen; körperliche Gewalt wird jedoch nur angewendet, wenn ein Hinweis auf neu eingesätes Gras oder einen gefährlichen Stier nicht fruchtet.

In ganz seltenen Fällen kommt jemand nach Wall, der offensichtlich genau weiß, was es mit dem Mauerdurchgang auf sich hat, und bisweilen werden solche Leute durchgelassen. Sie haben dann diesen gewissen Ausdruck in den Augen, der jeden Irrtum ausschließt.

Im ganzen zwanzigsten Jahrhundert gibt es keinen einzigen den Dorfleuten bekannten Fall von Schmuggel über die Mauer, und darauf ist man im Dorf sehr stolz.

Nur einmal alle neun Jahre am Maitag wird die Wache abgezogen, denn da findet auf der Wiese ein Jahrmarkt statt.


* * *


Die nun folgenden Ereignisse haben sich vor vielen Jahren unter der Regentschaft von Königin Victoria zugetragen. Damals war sie noch nicht die schwarzgekleidete Witwe von Windsor – sie hatte runde Apfelbäckchen, einen energischen, schwungvollen Gang, und Lord Melbourne mußte die junge Königin wegen ihrer Flatterhaftigkeit des öfteren sanft ermahnen.

Mr. Charles Dickens veröffentlichte seinen Roman Oliver Twist in Fortsetzungen; Mr. Draper machte die ersten Fotografien vom Mond und bannte das blasse Rund auf kaltes Papier; Mr. Morse hatte der Öffentlichkeit vor kurzem eine Methode vorgestellt, wie man Botschaften durch Metalldrähte übermitteln konnte.

Hätte man einem dieser Männer etwas von Magie oder einem Feenland erzählt, hätten sie dafür lediglich ein herablassendes Lächeln übrig gehabt, mit Ausnahme von Dickens vielleicht, der damals noch ein junger, bartloser Mann war. Wahrscheinlich hätte er nur ein versonnenes Gesicht gemacht.

In diesem Frühjahr trafen viele Leute auf den Britischen Inseln ein. Sie kamen einzeln, zu zweit, gingen in Dover an Land, in London oder in Liverpool – Männer und Frauen, deren Haut so blaß war wie Papier, so dunkel wie Vulkangestein, rötlich braun wie Zimt, Menschen, die sich in einer Vielfalt von Sprachen verständigten. Den ganzen April über kamen sie, und sie reisten mit dem Zug, zu Pferde, in Wohnwagen oder Karren, und manche gingen zu Fuß.

Zu dieser Zeit war Dunstan Thorn achtzehn Jahre alt und in keiner Weise romantisch veranlagt.

Er hatte nußbraunes Haar, braune Augen und Sommersprossen. Er war mittelgroß und nicht sehr redegewandt. Doch er lächelte gern und oft, und dieses Lächeln brachte sein Gesicht von innen heraus zum Strahlen. Wenn er tagsüber auf den Weiden seines Vaters seinen Phantasien nachhing, träumte er davon, das Dorf Wall, in dem man vor Überraschungen nicht sicher war, zu verlassen und nach London zu ziehen, nach Edinburgh oder Dublin oder in eine andere große Stadt, wo man nicht darauf achten mußte, aus welcher Richtung der Wind blies.

In diesem April kamen Leute nach Wall, die den Jahrmarkt besuchen wollten, aber Dunstan mochte sie nicht. Mr. Bromios’ Gasthaus, genannt Zur siebenten Elster, normalerweise ein Labyrinth leerer Räume, war schon seit einer Woche ausgebucht, und jetzt suchten die Fremdlinge Unterkunft in Bauernhöfen und Privathäusern, bezahlten mit ausländischen Münzen, mit Kräutern und Gewürzen und sogar mit Edelsteinen.

Je näher der Markttag rückte, desto höher stieg die Spannung. Die Menschen wurden früher wach, zählten die Tage, die Minuten. Die Wachen am Mauerdurchgang waren rastlos. Gestalten und Schatten regten sich in den Bäumen am Rand der Wiese.

Im Wirtshaus Zur siebenten Elster kam es wegen Bridget Comfrey, die allgemein als das schönste Küchenmädchen seit Menschengedenken galt, zu Reibereien zwischen Tommy Forester, mit dem man sie das letzte Jahr über hatte ausgehen sehen, und einem großen Mann mit dunklen Augen und einem kleinen schnatternden Äffchen. Der Mann sprach nur gebrochen englisch, aber er lächelte jedesmal sehr vielsagend, wenn Bridget vorbeikam.

In der Schankstube drängten sich die Einheimischen neben den fremdländischen Besuchern.

»Es ist ja nur alle neun Jahre«, redeten sie sich gut zu. »Man sagt, in der alten Zeit sei jedes Jahr Markt gewesen, immer an Mittsommer.«

»Fragt doch Mr. Bromios, der wird es wissen.«

Mr. Bromios war groß, hatte olivfarbene Haut, eng am Kopf anliegende schwarze Locken und grüne Augen. Wenn die Dorfmädchen zu Frauen heranwuchsen, erweckte er ihr Interesse, aber er erwiderte ihre Aufmerksamkeit nicht. Man erzählte sich, er sei vor sehr langer Zeit ins Dorf gekommen; zuerst befand er sich nur auf der Durchreise, aber dann war er im Dorf geblieben. Nun, sein Wein war gut, da waren alle einer Meinung.

Im Gastsraum der Schenke brach ein lauter Streit zwischen Tommy Forester und dem dunkeläugigen Mann aus, der anscheinend Alum Bey hieß.

»Man muß sie zur Vernunft bringen! Um Himmels willen! Schluß damit!« rief Bridget. »Sie gehen nach draußen und wollen sich meinetwegen prügeln.« Als sie den Kopf zurückwarf, schimmerten ihre vollkommenen blonden Locken im Schein der Öllampe wunderhübsch.

Aber niemand gebot den Männern Einhalt; im Gegenteil, einige Dorfbewohner und Neuankömmlinge begaben sich vielmehr vors Haus, um zu gaffen.

Tommy Forester zog das Hemd aus und hob die Fäuste. Der Fremdling lachte, spuckte ins Gras, packte blitzschnell die rechte Hand seines Gegners und schleuderte ihn zu Boden, wo Tommy hart mit dem Kinn aufschlug. Mühsam rappelte er sich wieder auf und wollte sich auf den Fremden stürzen. Doch kaum hatte er die Wange des Mannes auch nur mit der Faust gestreift, da lag er auch schon wieder mit dem Gesicht nach unten im Dreck und schnappte nach Luft. Alum Bey aber saß auf ihm und sagte lachend etwas auf arabisch.

So rasch und einfach war der Kampf vorüber.

Dann gab Alum Bey Tommy frei, stolzierte zu Bridget hinüber, verbeugte sich tief und grinste sie an, daß seine weißen Zähne nur so blitzten.

Aber Bridget schenkte ihm keine Beachtung, sondern rannte zu Tommy. »Oh, was hat er dir nur angetan, mein Süßer?« rief sie empört, während sie ihm mit der Schürze den Schlamm vom Gesicht tupfte und ihn mit allerlei Kosenamen bedachte.

Unterdessen kehrte Alum Bey mit den Schaulustigen in den Gastraum zurück und kaufte eine Flasche von Mr. Bromios’ Chablis, die er Tommy freundlich überreichte, als dieser kurze Zeit später ebenfalls wieder hereinkam. Keiner wußte so recht, wer nun eigentlich verloren und wer gewonnen hatte.

Dunstan Thorn verbrachte diesen Abend nicht im Wirtshaus Zur siebenten Elster, er war ein praktisch denkender junger Mann und hatte die letzten sechs Monate Daisy Hempstock, einer ebenso praktisch veranlagten jungen Frau, den Hof gemacht. Bei schönem Wetter unternahmen sie abends gern einen Spaziergang ums Dorf, sprachen über die Theorie des Fruchtwechsels, über das Wetter und andere unverfängliche Themen.

Auf diesen Spaziergängen, bei denen ihnen unweigerlich Daisys Mutter und ihre kleine Schwester in einem Abstand von sechs Schritten folgten, blickten sie sich von Zeit zu Zeit liebevoll in die Augen.

Am Ende blieb Dunstan an der Tür der Hempstocks stehen, verbeugte und verabschiedete sich.

Daisy Hempstock trat ins Haus, legte ihr Häubchen ab und sagte: »Ich wünsche mir so sehr, Mister Thorn würde sich endlich dazu durchdringen, mir einen Antrag zu machen. Papa hätte bestimmt nichts dagegen.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, meinte Daisys Mama an diesem Abend genau wie an jedem anderen, während sie sich ihres eigenen Häubchens und ihrer Handschuhe entledigte und ihre Töchter in den Salon führte, wo ein sehr hochgewachsener Gentleman mit einem sehr langen schwarzen Bart saß und seinen Reisesack durchwühlte. Daisy, ihre Mutter und ihre Schwester knicksten vor dem Gentleman, der sehr wenig Englisch sprach und erst vor wenigen Tagen eingetroffen war. Der Gast seinerseits stand auf, verneigte sich und wandte sich dann wieder seinem Bündel mit allerlei hölzernen Gegenständen zu, die er sortierte, arrangierte und polierte.


* * *


Der April war kühl und wechselhaft, wie es für das englische Frühjahr leider oft typisch ist.

Die Besucher kamen von Süden auf der engen Straße durch den Wald; sie belegten die Gästezimmer und kampierten in Kuhställen und Scheunen. Einige schlugen farbige Zelte auf, manche trafen in eigenen Wohnwagen ein, gezogen von mächtigen grauen Pferden oder kleinen struppigen Ponys.

Der Waldboden war mit einem Teppich aus Anemonen bedeckt.

Am Morgen des 29. April hatte Dunstan Thorn Wachdienst am Mauerdurchgang, zusammen mit Tommy Forester. Sie standen zu beiden Seiten der Öffnung und warteten.

Dunstan hatte schon oft Wache geschoben, aber bisher hatte die Aufgabe nur darin bestanden, dazustehen und gelegentlich Kinder zu verscheuchen.

Doch heute fühlte er sich äußerst wichtig mit seinem hölzernen Knüppel. Wenn einer der Fremdlinge aus dem Dorf zum Mauerdurchgang kam, erklärte ihm entweder Dunstan oder Tommy: »Morgen, morgen. Heute kommt hier noch niemand durch, ihr guten Herren.«

Dann zogen sich die Fremden ein Stück zurück und starrten durch die Lücke auf die eigentlich ganz unauffällige Wiese hinaus, auf die gar nicht außergewöhnlichen Bäume und den ziemlich langweiligen Wald dahinter. Einige versuchten die beiden Wächter in ein Gespräch zu verwickeln, aber die jungen Männer gingen – sich ihrer Aufgabe stolz bewußt – nicht darauf ein, sondern begnügten sich damit, den Kopf gerade zu halten, die Lippen zusammenzupressen und ganz allgemein einen bedeutenden Eindruck zu machen.

Um die Mittagszeit brachte Daisy Hempstock ihnen ein Eintopf-Gericht vorbei, und hinter ihr erschien Bridget Comfrey mit zwei Krügen gewürztem Bier.

Als die Dämmerung hereinbrach, wurden sie von zwei anderen kräftigen jungen Männern aus dem Dorf abgelöst, die jeder eine Laterne trugen, und so wanderten Tommy und Dunstan hinunter zum Gasthaus, wo Mr. Bromios jedem einen Humpen seines besten Biers kredenzte – und das war wirklich gutes Bier! –, sozusagen als Belohnung für den Wachdienst. Das Wirtshaus, in dem sich mehr Menschen drängten, als man für möglich gehalten hätte, summte förmlich vor Aufregung. Es wimmelte von Gästen aus aller Herren Länder, oder jedenfalls schien es Dunstan so. Jenseits des Waldes, der Wall umgab, war er noch nie gewesen, daher hatte er kein Gefühl für die unterschiedlichen Entfernungen. So betrachtete er den großen Gentleman aus London, der am Nebentisch saß und einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf trug, mit dem gleichen ehrfürchtigen Staunen wie den noch größeren ebenholzfarbenen Gentleman im weißen Gewand, der mit ihm zu Abend aß.

Dunstan wußte, daß es unhöflich war zu glotzen und daß er sich als Einwohner von Wall diesen Fremdlingen durchaus überlegen fühlen durfte. Aber es stiegen ihm so ungewohnte Düfte in die Nase, und er hörte Männer und Frauen in so vielen verschiedenen Sprachen miteinander reden, daß er nicht anders konnte, als begierig alles in sich aufzunehmen.

Der Mann mit dem schwarzen Seidenzylinder hatte bemerkt, daß Dunstan ihn beobachtete, und winkte den Jungen zu sich heran. »Mögt Ihr Karamelpudding?« erkundigte er sich unvermittelt, sozusagen als Einleitung. »Mutanabbi mußte gehen, und soviel Pudding kann ein Mensch unmöglich allein bewältigen.«

Dunstan nickte. Der Karamelpudding dampfte einladend auf dem Teller.

»Na, dann bedient Euch«, forderte sein neuer Freund Dunstan auf und reichte ihm eine saubere Porzellanschale sowie einen Löffel. Das ließ sich Dunstan nicht zweimal sagen und machte sich über den Pudding her.

»Nun, junger Mann«, meinte der große Gentleman mit dem schwarzen Seidenzylinder zu Dunstan, als sowohl die Puddingschüsseln als auch der Teller geleert waren, »wie es aussieht, gibt es im Gasthaus kein Zimmer mehr, und auch im Dorf ist alles besetzt.«

»Ach wirklich?« fragte Dunstan, allerdings wenig überrascht.

»Ja, wirklich«, entgegnete der Mann mit dem Zylinder. »Und nun habe ich mich gefragt, ob Ihr vielleicht eine Idee hättet, wo es eventuell noch ein Zimmer geben könnte.«

Dunstan zuckte die Achseln. »Mittlerweile sind bestimmt alle Zimmer weg«, sagte er. »Ich weiß noch, als ich neun war, haben meine Eltern mich eine ganze Woche lang zum Schlafen in den Kuhstall geschickt, weil sie mein Zimmer an eine orientalische Lady mit Familie und Dienerschaft vermietet hatten. Als Dankeschön hat sie mir einen Drachen geschenkt, den ich auf der Wiese hab’ steigen lassen, bis eines Tages die Schnur gerissen und der Drachen in den Himmel geflogen ist.«

»Wo wohnt Ihr denn jetzt?« fragte der Gentleman mit dem Zylinder.

»Ich habe eine Hütte auf dem Land meines Vaters«, antwortete Dunstan. »Es war unsere Schäferhütte, bis der Schäfer gestorben ist, vor zwei Jahren um die Zeit des Erntefests. Da haben meine Eltern die Hütte mir überlassen.«

»Bringt mich dorthin«, sagte der Gentleman mit dem Hut, und Dunstan kam nicht mal auf den Gedanken, es ihm abzuschlagen.

Der Frühlingsmond schien hell vom Himmel, die Nacht war klar. Sie wanderten zum Wald unterhalb des Dorfes, an der Familienfarm der Thorns vorüber – wo eine Kuh, die auf der Wiese lag und im Schlaf schnaubte, den Gentleman mit dem Zylinder fürchterlich erschreckte –, und immer weiter, bis sie schließlich Dunstans Hütte erreichten.

Die Hütte bestand aus nur einem Raum mit einem offenen Kamin. Der Fremde nickte. »Das gefällt mir durchaus«, meinte er. »Kommt, Dunstan Thorn, ich miete Eure Hütte für die nächsten drei Tage.«

»Was gebt Ihr mir dafür?«

»Einen goldenen Sovereign, einen silbernen Sixpence, einen Kupferpenny und einen frischen, glänzenden Farthing«, antwortete der Mann.

Nun war ein Goldsovereign für zwei Nächte ein mehr als angemessener Preis in jener Zeit, in der ein Farmarbeiter in einem guten Jahr hoffen konnte, um die fünfzehn Pfund zu verdienen. Dennoch zögerte Dunstan. »Wenn Ihr gekommen seid, um zum Markt zu gehen, dann handelt Ihr mit Wundern und Zauberei«, sagte er dem großen Mann.

Dieser nickte. »Ihr seid also auf Wunder und Zauberei aus, ja?« Noch einmal schaute er sich in Dunstans Hütte um. In diesem Augenblick begann es zu regnen, und sie hörten ein leises Rieseln auf dem Strohdach über ihnen.

»Nun gut«, sagte der große Gentleman, ein klein wenig unwirsch, »ein Wunder soll es also sein, ein wenig Zauberei. Morgen wird sich Euer Wunschtraum erfüllen. So, hier ist Euer Geld«, fügte er hinzu und zog die Münzen mit einer lässigen Bewegung aus Dunstans Ohr. Dunstan berührte damit den Eisennagel an der Tür, um zu überprüfen, ob es sich nicht um Feengold handelte, dann verbeugte er sich tief vor dem Gentleman und marschierte hinaus in den Regen. Die Münzen band er in sein Taschentuch.

Durch den strömenden Regen wanderte er zum Kuhstall, kletterte auf den Heuboden und war bald tief und fest eingeschlafen.

Mitten in der Nacht merkte er, wie es donnerte und blitzte, doch er wachte nicht ganz auf. Erst im frühen Morgengrauen schreckte er hoch, weil jemand über seine Füße stolperte.

»Tut mir leid«, sagte eine Stimme. »Besser gesagt, entschuldigt bitte.«

»Wer ist da?« fragte Dunstan.

»Bloß ich«, antwortete die Stimme. »Ich bin zum Markt hier. Eigentlich hab’ ich in einem hohlen Baum geschlafen, aber der Blitz hat ihn umgeschmissen, hat ihn zermatscht wie ein Ei, jawoll, zerbrochen wie ein Zweiglein, und der Regen lief mir in den Kragen und hätte fast meinen Tornister durchnäßt, und da sind Sachen drin, die müssen trocken bleiben wie Staub, und ich hab’ sie gehütet wie meinen Augapfel auf dem Weg hierher, obwohl es da so feucht war wie im…«

»Im Wasser?« schlug Dunstan vor.

»Ganz recht«, fuhr die Stimme in der Dunkelheit fort. »Da hab’ ich mich gefragt«, fuhr sie fort, »ob es Euch wohl was ausmacht, wenn ich mich hier unter Eurem Dach einniste, denn ich bin ja nicht so groß, und ich würd’ Euch nicht stören und niemandem und nichts zur Last fallen.«

»Dann tritt aber bitte auch nicht auf mich drauf«, seufzte Dunstan.

In diesem Moment erhellte ein Blitz den Kuhstall, und da sah Dunstan eine kleine haarige Gestalt mit einem großen Schlapphut in der Ecke sitzen. Dann herrschte wieder Dunkelheit.

»Ich hoffe, ich störe Euch nicht«, sagte die Stimme, die genauso haarig klang, wie das Männchen aussah.

»Aber nein«, antwortete Dunstan, der hundemüde war.

»Das ist fein«, sagte die kleine Gestalt, »denn ich möchte Euch wirklich nicht stören.«

»Bitte«, flehte Dunstan, »laßt mich jetzt schlafen. Bitte.«

Daraufhin war noch ein Schnüffeln zu hören, das jedoch rasch in ein leises Schnarchen überging.

Dunstan drehte sich im Heu auf die andere Seite. Das Wesen, wer oder was immer es sein mochte, furzte, kratzte sich ausgiebig und schnarchte weiter.

Dunstan lauschte dem Regen auf dem Stalldach und dachte an Daisy Hempstock; in seiner Phantasie gingen sie zusammen spazieren, und sechs Schritte hinter ihnen schritt ein großer Mann mit einem Zylinder sowie eine kleine, pelzige Kreatur, deren Gesicht Dunstan nicht erkennen konnte. Sie waren unterwegs, zu Dunstans Wunschtraum…


* * *


Helles Sonnenlicht schien ihm ins Gesicht, und der Kuhstall war leer. Dunstan wusch sich das Gesicht und ging hinüber zum Farmhaus.

Dort zog er seine beste Jacke an, sein allerbestes Hemd und seine allerbeste Kniehose. Mit dem Taschenmesser kratzte er den Schmutz von seinen Stiefeln. Dann ging er in die Küche, küßte seine Mutter auf die Wange und nahm sich einen Bauern-Laib sowie ein Stück frisch geschlagene Butter.

Sein Geld ins feine Sonntagstaschentuch aus Kambrik gebunden, wanderte er hinauf ins Dorf Wall und wünschte den Wachen am Tor einen guten Morgen.

Durch die Öffnung in der Mauer konnte er sehen, wie bunte Zelte errichtet, Buden aufgestellt und Flaggen gehißt wurden; Menschen eilten emsig hin und her.

»Vor Mittag lassen wir niemanden durch«, verkündete die Wache.

Dunstan zuckte die Achseln und ging zum Wirtshaus, wo er sich überlegte, was er von seinen Ersparnissen (einer blitzenden Half-Crown und einem glückbringenden Sixpence, den er durchbohrt hatte und an einem Lederband um den Hals trug) sowie den zusätzlichen Münzen in seinem Taschentuch kaufen könnte. Im Augenblick hatte er vollkommen vergessen, daß ihm gestern abend noch mehr versprochen worden war. Schlag zwölf Uhr mittags marschierte er zur Mauer und schritt nervös, als bräche er das größte Tabu, durch die Öffnung. Neben sich bemerkte er den Gentleman mit dem Zylinder.

»Aha, mein Vermieter«, begrüßte der Mann ihn. »Und wie geht es Euch heute, Sir?«

»Sehr gut«, antwortete Dunstan.

»Kommt mit«, schlug der andere vor. »Gehen wir gemeinsam über den Markt.«

So schlenderten sie über die Wiese zu den Zelten.

»Wart Ihr schon einmal hier?« fragte der große Mann.

»Ich war auf dem letzten Markt, vor neun Jahren. Damals war ich noch ein kleiner Junge«, antwortete Dunstan.

»Nun«, meinte sein Mieter, »dann denkt daran, immer höflich zu sein und keine Geschenke anzunehmen. Vergeßt nicht, daß Ihr hier der Gast seid. Und jetzt werde ich Euch noch den letzten Teil der Miete zukommen lassen, den ich Euch schulde. Denn ich habe einen Eid geschworen. Und meine Gaben sind äußerst dauerhaft. Sie sind für Euch und für Euer erstgeborenes Kind und wiederum für das erstgeborene Eures Kindes Kind gedacht… Ein Geschenk, das gilt, solange ich lebe.«

»Und was ist es, Sir?«

»Euer Wunschtraum, erinnert Ihr Euch nicht?« antwortete der Gentleman mit dem Zylinder. »Euer Wunschtraum.«

Dunstan verbeugte sich, und sie gingen weiter in Richtung Markt.

»Augen, Augen! Neue Augen für alte!« rief eine winzige Frau an einem Tisch, auf dem Flaschen und Gläser mit Augen jeder Art und Farbe aufgebaut waren.

»Musikinstrumente aus hundert Ländern!«

»Pfeifen für ‘nen Penny! Lieder für zwei! Choräle für drei!«

»Wer will sein Glück versuchen? Tretet näher! Wer ein einfaches Rätsel beantwortet, gewinnt eine Windblume!«

»Immergrüner Lavendel! Akeleituch!«

»Eingemachte Träume, ein Shilling die Flasche!«

»Mäntel der Nacht! Mäntel des Zwielichts! Mäntel der Morgendämmerung!«

»Glücksschwerter! Mächtige Zauberstäbe! Ringe der Ewigkeit! Gnadenkarten! Nur zu, nur zu, immer hereinspaziert!«

»Salben und Tinkturen, Liebestränke, Geheimarzneien aller Art!«

Dunstan blieb vor einer Bude mit kunstvoll geformten Kristallgegenständen stehen, inspizierte die winzigen Tierfiguren und überlegte, ob er für Daisy Hempstock eine kaufen sollte. Vorsichtig nahm er eine Kristallkatze, die nicht größer war als sein Daumennagel, in die Hand, doch als sie ihm vielsagend zuzwinkerte, ließ er sie vor Schreck fallen. Doch genau wie eine echte Katze richtete sich die Figur im Fallen auf und landete sicher auf allen vier Pfoten. Dann stolzierte sie in die Ecke der Bude und begann sich zu putzen.

Dunstan ging weiter durch das Marktgedränge.

Es wimmelte hier von Menschen – alle Fremden, die letzte Woche nach Wall gekommen waren, aber auch viele Einwohner des Ortes waren inzwischen eingetroffen. Mr. Bromios hatte ein Erfrischungszelt aufgebaut und verkaufte Wein und Pastetchen an die Dorfleute. Zwar fanden diese die Eßwaren der Leute von jenseits der Mauer sehr verlockend, aber sie kauften nichts davon. Nicht umsonst war ihnen von ihren Großeltern (die das gleiche von ihren Großeltern gehört hatten) eingeschärft worden, die Finger von Nahrungsmitteln und Früchten aus dem Feenland zu lassen und keinesfalls Feenwasser oder Feenwein anzurühren – das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Alle neun Jahre baute nun das Volk von jenseits der Mauer und über dem Hügel seine Stände auf; einen Tag und eine Nacht lang beherbergte die Wiese den Feenmarkt, und es gab Handel zwischen den Nationen – einen Tag und eine Nacht lang, einmal alle neun Jahre.

Es gab Wunder zu kaufen, Mirakel und Sensationen; Dinge wurden feilgeboten, die sich niemand träumen ließ, unerklärlich und phantastisch. Welche Verwendung könnte wohl jemand für sturmgefüllte Eierschalen haben? überlegte Dunstan. Er ließ das Geld in seinem Taschentuch klimpern und hielt Ausschau nach etwas Kleinem und Preiswertem, mit dem er Daisy eine Freude machen konnte.

Da drang ein leises Klingeln an sein Ohr, kaum hörbar im Marktlärm, und er ging dem Geräusch nach.

Unterwegs kam er an einer Bude vorbei, in der fünf riesenhafte Männer zu den melancholischen Klängen einer Drehleier tanzten, die von einem bekümmert dreinblickenden schwarzen Bären bedient wurde; dann passierte er einen Stand, an dem ein Mann mit schütterem Haar in einem farbenfrohen Kimono Porzellanteller zertrümmerte und sie in eine brennende Schüssel warf, von der bunter Rauch aufstieg, wobei er den Passanten pausenlos seine Sprüche zurief.

Das Klimpern und Klingeln wurde lauter.

Als er zu dem Stand kam, von dem das Gebimmel ausging, konnte er dort niemanden entdecken. Alles war mit Blumen geschmückt: Akelei und Fingerhut, Glockenblumen und Osterglocken, aber auch Veilchen und Lilien, winzige purpurrote Heckenröschen, blasse Schneeglöckchen, blaue Vergißmeinnicht und eine Fülle anderer Gewächse, deren Namen er nicht kannte. Sie waren aus Kristall oder Glas gefertigt, ob geblasen oder geschliffen, konnte Dunstan nicht beurteilen, doch alle waren sie ein perfektes Abbild der Natur, sie klingelten und bimmelten wie ferne Glasglocken.

»Hallo?« rief Dunstan.

»Seid mir gegrüßt an diesem schönen Marktmorgen«, rief die Standinhaberin und kletterte von dem bunt bemalten Wohnwagen, der hinter der Bude geparkt war. Sie lächelte ihn an, daß die weißen Zähne in dem dunklen Gesicht blitzten. Ganz eindeutig gehörte sie zum Volk von jenseits der Mauer, das erkannte Dunstan sofort an ihren Augen und ihren Ohren, die unter den schwarzen Locken hervorschauten. Die Augen waren tiefviolett, die Ohren ähnelten denen einer Katze, sanft geschwungen und von einem feinen dunklen Pelz überzogen. Die junge Frau war sehr schön.

Dunstan nahm eine Blume vom Stand. »Diese hier ist hübsch«, sagte er. Es war ein Veilchen, und es klimperte und sang in seiner Hand, was sich in etwa so anhörte, wie wenn man mit dem nassen Finger auf dem Rand eines Weinglases entlangstreicht. »Wieviel kostet sie?«

Die Feenfrau zuckte anmutig mit den Schultern.

»Ich fange einen Handel niemals mit dem Preis an«, erklärte sie ihm. »Womöglich würde ich viel mehr verlangen, als Ihr zu zahlen bereit seid, und dann würdet Ihr auf dem Absatz kehrtmachen und gehen, wodurch wir beide etwas verloren hätten. Laßt uns etwas allgemeiner über die Ware sprechen.«

Dunstan überlegte. In diesem Augenblick kam der Gentleman mit dem Zylinder am Stand vorbei. »Bitte sehr«, murmelte Dunstans Mieter. »Hiermit ist meine Schuld an dich beglichen, meine Miete bezahlt.«

Dunstan schüttelte den Kopf, als wollte er aus einem Traum erwachen, ehe er sich wieder an die junge Lady wandte. »Woher kommen die Blumen denn nun?« fragte er.

Sie lächelte geheimnisvoll. »Am Hang des Mount Calamon befindet sich ein Glasblumenhain. Die Reise dorthin ist gefährlich, die Reise zurück noch gefährlicher.«

»Und welchem Zweck dienen diese Blumen?« fragte Dunstan.

»In erster Linie dekorativen und ästhetischen Zwecken; sie bringen Freude, man kann sie einem geliebten Menschen als Unterpfand der Bewunderung und Zuneigung zum Geschenk machen, und der Laut, den sie hervorbringen, ist wohltuend fürs Ohr. Außerdem bricht sich das Licht so wunderschön in ihnen.« Sie hielt eine Akelei empor, aber Dunstan dachte, daß die Farbe des Sonnenlichts, welches durch den violetten Kristall glitzerte, es weder im Farbton noch in der Schattierung mit ihren Augen aufnehmen konnte.

»Verstehe«, sagte er laut.

»Man verwendet sie außerdem für bestimmte Bannsprüche und Zauberformeln. Sollte der Herr ein Magier sein…?«

Dunstan schüttelte den Kopf. Die junge Frau hatte zweifellos etwas höchst Bemerkenswertes an sich.

»Ah. Trotzdem sind die Blumen wunderschön«, sagte sie und lächelte wieder.

Dunstan bemerkte, daß vom Handgelenk der schönen Frau eine dünne Silberkette hinunter zum Fußgelenk lief und dann in dem Wohnwagen hinter ihr verschwand.

Dunstan erkundigte sich danach.

»Die Kette? Sie fesselt mich an den Stand. Ich bin die persönliche Sklavin der Hexenfrau, der diese Bude gehört. Vor vielen Jahren schon hat sie mich gefangen – als ich an den Wasserfällen auf dem Land meines Vaters spielte, hoch oben in den Bergen. Da lockte sie mich in Gestalt eines hübschen Frosches immer weiter fort, stets gerade so weit von mir entfernt, daß ich glaubte, sie greifen zu können – bis ich schließlich das Land meines Vaters verlassen hatte, ohne es zu merken. Daraufhin nahm sie ihre wahre Gestalt an und stopfte mich in einen Sack.«

»Und Ihr seid jetzt für immer ihre Sklavin?«

»Nicht für immer«, antwortete das Feenmädchen und lächelte. »Ich werde frei sein an dem Tag, an dem der Mond seine Tochter verliert, falls dies in einer Woche geschieht, in der zwei Montage zusammenkommen. Bis dahin tue ich das, was man mir sagt, und bewahre mir meine Träume. Möchtet Ihr mir denn nun eine Blume abkaufen, junger Herr?«

»Mein Name ist Dunstan.«

»Was für ein ehrbarer Name«, meinte sie mit einem schelmischen Grinsen. »Habt Ihr auch eine Kneifzange, Master Dunstan, wie Euer heiliger Namensvetter? Wollt Ihr den Teufel bei der Nase packen?«

»Und wie lautet Euer Name?« fragte Dunstan und wurde puterrot.

»Ich habe keinen Namen mehr. Ich bin eine Sklavin, man hat mir meinen Namen weggenommen. Ich höre auf ›He, du!‹ oder ›Mädchen!‹ oder ›Dumme Schlampe!‹ und viele andere Schimpfworte.«

Dunstan sah, wie sich der seidige Stoff ihres Gewandes an ihren Körper schmiegte, sah die sanften Rundungen, spürte den Blick der violetten Augen auf sich ruhen und schluckte schwer.

Rasch steckte er die Hand in die Tasche und zog sein Taschentuch hervor. Er konnte die Frau nicht mehr ansehen. Das Geld kullerte auf den Tisch. »Nehmt Euch, soviel Ihr für das hier haben wollt«, sagte er und griff nach einem makellos weißen Schneeglöckchen.

»Wir nehmen an diesem Stand kein Geld«, entgegnete sie und schob die Münzen über den Tisch zurück.

»Nein? Was nehmt Ihr denn?« Inzwischen war er schrecklich aufgeregt und wollte nur möglichst schnell eine Blume kaufen für… für Daisy, Daisy Hempstock… eine Blume kaufen und dann das Weite suchen, denn offen gesagt brachte ihn die junge Frau zunehmend aus der Fassung.

»Ich könnte die Farbe Eurer Haare nehmen«, antwortete sie, »oder alle Erinnerungen aus der Zeit, bevor Ihr drei Jahre alt wart. Ich könnte das Gehör aus Eurem linken Ohr nehmen – nicht vollständig, nur so viel, daß Ihr Euch nicht mehr an der Schönheit der Musik erfreuen könnt, nicht mehr am rauschenden Fluß oder am seufzenden Wind.«

Dunstan schüttelte den Kopf.

»Oder einen Kuß von Euch. Einen einzigen Kuß, hier, auf meine Wange.«

»Den bezahle ich gern!« rief Dunstan sofort, und schon beugte er sich über den Stand, befand sich inmitten der glitzernden, bimmelnden Kristallblumen und drückte einen keuschen Kuß auf die weiche Wange des Mädchens. Ihr Duft umhüllte ihn, berauschend, magisch, füllte seinen Kopf, seine Brust, seine Gedanken.

»Bitte sehr«, sagte sie und reichte ihm das Schneeglöckchen. Er nahm es entgegen, aber seine Hände erschienen ihm plötzlich riesig und ungeschickt und ganz anders als die zarten und in jeder Hinsicht perfekten Hände des Feenmädchens. »Und heute abend sehe ich dich wieder, Dunstan Thorn, hier, wenn der Mond untergeht. Komm hierher und rufe wie ein Käuzchen. Kannst du das?«

Dunstan nickte und stolperte davon; er brauchte nicht zu fragen, woher sie seinen Nachnamen wußte – sie hatte ihn ihm gestohlen, als sie ihn küßte, samt einigen anderen Dingen, zum Beispiel seinem Herzen. In seiner Hand klimperte das Schneeglöckchen.


* * *


»Oh, da ist ja Dunstan Thorn«, rief Daisy Hempstock, als er ihr bei Mr. Bromios’ Zelt begegnete, wo sie mit ihrer Familie und Dunstans Eltern beisammen saß, leckere braune Würste verspeiste und Porterbier trank. »Was ist denn los mit dir?«

»Ich habe dir ein Geschenk gekauft«, erklärte Dunstan und hielt ihr das klimpernde Schneeglöckchen entgegen, das im Nachmittagssonnenschein glitzerte. Sie nahm es entgegen, verwundert, mit fettglänzenden Fingern. Impulsiv beugte Dunstan sich vor und küßte sie auf ihre hübsche Wange, vor den Augen ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Schwester, vor Bridget Comfrey und Mr. Bromios und allen.

Wie nicht anders zu erwarten, war ein allgemeiner Aufschrei die Folge, aber Mr. Hempstock, der nicht umsonst siebenundfünfzig Jahre an der Grenze zum Feenland, dem Land jenseits der Mauer, gelebt hatte, rief: »Ruhe! Seht euch seine Augen an. Merkt ihr denn nicht, daß der arme Junge völlig benebelt ist, benebelt und verwirrt? Ich wette, er steht unter einem Zauberbann. He! Tommy Forester! Komm her, bring den jungen Dunstan Thorn ins Dorf zurück und behalte ihn im Auge. Laß ihn schlafen, wenn er müde ist, oder laß dir was von ihm erzählen, wenn er das lieber möchte…«

So verließ Tommy mit Dunstan den Markt und kehrte ins Dorf Wall zurück.

»Nun, nun, Daisy«, meinte Mutter Hempstock und strich ihrer Tochter übers Haar, »er ist bloß ein bißchen elfenverrückt, weiter nichts. Kein Grund, um dich da so hineinzusteigern.« Damit zog sie ein Spitzentaschentuch aus ihrem üppigen Dekollete und tupfte ihrer Tochter die Wangen trocken, denn diese waren auf einmal tränennaß.

Daisy blickte zu ihr empor, nahm ihr das Taschentuch ab, schneuzte sich kräftig und schniefte noch ein wenig. Etwas verwundert bemerkte Mrs. Hempstock, daß Daisy durch ihre Tränen hindurch zu lächeln schien.

»Aber Mutter, Dunstan hat mich geküßt!« rief Daisy Hempstock. Sie steckte das kristallene Schneeglöckchen vorn an ihre Haube, wo es bimmelte und schimmerte.

Nach einigem Suchen fanden Mr. Hempstock und Dunstans Vater den Stand mit den Kristallblumen; aber nun stand eine ältere Frau am Verkaufstisch, neben sich einen wunderschönen exotischen Vogel, der mit einer Silberkette an seiner Stange festgebunden war. Mit der Alten ließ sich nicht vernünftig reden, denn als die beiden Männer von ihr wissen wollten, was sich vorhin zugetragen hatte, erzählte sie nur, ein ganz übles Früchtchen habe eins der besten Stücke ihrer Sammlung weggegeben. Und sie jammerte über den Undank der Jugend, über die schlimmen modernen Zeiten und die heutigen Dienstboten.


* * *


Im menschenleeren Dorf (denn wer blieb schon hier während des Feenmarkts?) führte Tommy seinen Freund Dunstan ins Wirtshaus Zur siebenten Elster und ließ ihn auf einer Holzbank Platz nehmen. Dunstan stützte die Stirn in die Hand und starrte ins Nichts; er stieß nur von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer aus, der klang wie das Heulen des Windes.

Geduldig versuchte Tommy Forester, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. »Na, alter Freund, laß dich nicht so hängen, so ist’s besser, du könntest dir ruhig mal ein Lächeln abringen, ja? Wie wär’s mit was zu essen? Oder zu trinken? Nein? Du siehst wirklich sonderbar aus, Dunstan, alter Kumpel…« Als Dunstan nicht reagierte, bekam Tommy immer mehr Sehnsucht nach dem Markt, wo zweifellos in ebendiesem Moment (er rieb sich das noch immer schmerzempfindliche Kinn) die süße Bridget sich von einem gewissen riesenhaften und beeindruckenden Gentleman in exotischer Kleidung und mit einem kleinen Äffchen auf der Schulter den Hof machen ließ. Nachdem er sich eingeredet hatte, daß sein Freund im leeren Wirtshaus einigermaßen sicher war, eilte Tommy zurück durchs Dorf und auf die andere Seite der Mauer.

Als Tommy den Markt wieder betrat, bemerkte er, daß der Trubel noch größer geworden war – ein wildes Durcheinander von Puppenspielern, Jongleuren und allerlei tanzenden Tieren. Pferde wurden versteigert und alle möglichen und unmöglichen Dinge zum Verkauf oder Tauschhandel feilgeboten.

Später, in der Abenddämmerung, verkündete ein Marktschreier die neuesten Nachrichten auf ähnliche Weise, wie eine moderne Zeitung ihre Schlagzeilen unters Volk bringt – »Herr von Stormhold mysteriös erkrankt!«, »Feuerflügel bis zur Festung Dene vorgedrungen!«

»Einziger Erbe des Squire von Garamond in grunzendes Schwein verwandelt!« Für eine Münze war er bereit, nähere Details der jeweiligen Geschichte preiszugeben.

Die Sonne ging unter, und ein riesiger Frühlingsmond erschien hoch am Himmel. Eine kühle Brise kam auf. Nun zogen sich die Händler in ihre Zelte zurück, und die Marktbesucher fanden sich von allen Seiten umwispert und zu allerlei käuflichen Wundern verlockt.

Als der Mond sich dem Horizont entgegenneigte, erhob sich Dunstan Thorn und durchquerte leise die gepflasterten Straßen des Dorfes Wall. Unterwegs kam er an vielen Feiernden vorüber – Gästen wie Einheimischen –, doch nur wenige nahmen von ihm Notiz.

Er schlüpfte durch die Mauer – sie war sehr dick –, und wie sein Vater vor ihm überlegte er plötzlich, was passieren würde, wenn er oben auf ihr entlangliefe.

Durch die Öffnung kam er hinaus auf die Wiese, und in dieser Nacht spielte Dunstan zum ersten Mal mit dem Gedanken, nicht nur die Wiese, sondern auch den Bach zu überqueren und im Wald dahinter zu verschwinden. Die Vorstellung war ungewohnt, vergleichbar mit dem Gefühl, unerwartete Gäste bewirten zu müssen. Als er sich jedoch seinem Ziel näherte, schob er den Gedanken beiseite, als entschuldigte er sich bei den Gästen mit einer gemurmelten Erklärung, bereits anderweitige Verpflichtungen eingegangen zu sein.

Der Mond ging unter.

Dunstan hob die Hände an den Mund und rief wie ein Käuzchen. Niemand antwortete. Der Himmel über ihm war tiefdunkel – blau vielleicht oder violett, aber nicht schwarz – gesprenkelt mit zahllosen Sternen.

Noch einmal ahmte er den Schrei nach.

»Das klingt überhaupt nicht wie ein Käuzchen«, sagte sie ernst, dicht an seinem Ohr. »Vielleicht wie eine Schnee-Eule oder sogar eine Schleiereule. Wenn ich mir die Ohren zustopfe, könnte ich es möglicherweise für einen Uhu halten. Aber niemals für ein Käuzchen.«

Dunstan zuckte die Achseln und grinste ein wenig dumm. Die Feenfrau saß neben ihm, und aufs neue war er wie berauscht: Er atmete sie ein, spürte sie durch die Poren seiner Haut. Sie beugte sich zu ihm.

»Glaubst du, daß du unter einem Zauberbann stehst, hübscher Dunstan?«

»Ich weiß nicht.«

Sie lachte, und es klang wie ein klarer Bach, der über Stock und Stein hüpft.

»Du stehst unter keinem Zauberbann, hübscher Junge.« Sie legte sich ins Gras zurück und starrte zum Himmel hinauf. »Deine Sterne – wie sind deine Sterne?« fragte sie. Dunstan legte sich neben sie ins kühle Gras und blickte ebenfalls zum Himmel empor. Es ließ sich nicht leugnen, die Sterne sahen anders aus als sonst: Vielleicht hatten sie mehr Farbe, denn sie funkelten wie kleine Edelsteine; vielleicht lag es aber auch an ihrer Zahl, den Konstellationen. Auf alle Fälle waren sie seltsam und wundervoll zugleich. Andererseits…

»Was wünschst du dir vom Leben?« fragte das Feenmädchen.

»Ich weiß nicht«, gestand er. »Ich wünsche mir dich, glaube ich.«

»Ich wünsche mir meine Freiheit«, sagte sie schlicht.

Dunstan faßte nach der Silberkette, die von ihrem Handgelenk zum Knöchel lief und von dort im Gras verschwand. Er zerrte daran. Die Kette war stärker, als sie aussah.

»Mit dem Silber wurden Katzenatem, Fischschuppen und Mondlicht verarbeitet«, erklärte sie ihm. »Die Kette ist unzerreißbar, bis die Bedingungen des Zauberspruchs erfüllt sind.«

»Oh.« Er ließ sich wieder ins Gras sinken.

»Eigentlich dürfte sie mich nicht behindern, denn sie ist sehr, sehr lang. Aber das Wissen um ihre Anwesenheit stört mich, und ich vermisse das Land meines Vaters. Außerdem ist die Hexenfrau keine sehr gute Herrin…«

Sie schwieg. Dunstan beugte sich über sie, berührte mit der Hand ihr Gesicht und spürte dort etwas Nasses, Heißes.

»Oh, du weinst ja.«

Sie erwiderte nichts. Dunstan zog sie an sich und versuchte mit seinen großen Händen die Tränen wegzuwischen – ohne viel Erfolg. Schließlich beugte er sich über sie und küßte sie – unsicher, ob dies unter den gegebenen Umständen das Richtige war – mitten auf den heißen Mund.

Nach einem winzigen Augenblick des Zögerns öffneten sich ihre Lippen, ihre Zunge glitt in seinen Mund. Und auf der Wiese im Feenland unter den seltsamen Sternen war Dunstan nun endgültig und unwiderruflich verloren.

Zwar hatte er schon einige Dorfmädchen geküßt, aber er war nie weitergegangen.

Seine Hand tastete nach ihren kleinen Brüsten unter dem Seidenstoff ihres Kleides, berührte ihre festen Brustwarzen. Sie klammerte sich an ihn, ganz fest, wie eine Ertrinkende, fingerte an seinem Hemd, an seiner Hose herum.

Plötzlich hatte er Angst, ihr weh zu tun, denn sie war so zierlich. Doch sie wand sich unter ihm, heftig atmend, und führte seine Hand.

Sie bedeckte sein Gesicht und seine Brust mit brennenden Küssen, und dann saß sie auf ihm, rittlings, schnaufend und lachend, schwitzend und schlüpfrig wie eine Elritze. Er bäumte sich auf, drängte und jubelte, die Gedanken erfüllt von ihr, ihr allein, und hätte er ihren Namen gewußt, hätte er ihn laut herausgeschrien.

Am Ende wollte er sich zurückziehen, aber sie hielt ihn in sich, schlang die Beine um ihn und drückte sich so heftig an ihn, daß er das Gefühl hatte, mit ihr zu verschmelzen, so, als nähmen sie beide denselben Platz im Universum ein. Als wären sie für einen machtvollen, alles verschlingenden Augenblick lang das gleiche Wesen, gebend und nehmend, während die Sterne allmählich in der heraufziehenden Morgendämmerung verblaßten.

Danach lagen sie nebeneinander, Seite an Seite.

Die Feenfrau zupfte ihr Kleid zurecht, bis sie wieder anständig bedeckt war. Voller Bedauern zog Dunstan die Hose hoch. Er drückte ihre kleine Hand.

Als der Schweiß auf seiner Stirn trocknete, fühlte er sich plötzlich kalt und einsam.

In der Morgendämmerung konnte er sie deutlich sehen. Um sie herum begannen die Tiere sich zu regen: Pferde stampften, Vögel begannen schlaftrunken den Morgen herbeizusingen, und auch in den Zelten auf der Marktwiese standen die Leute allmählich auf. »Nun aber fort mit dir«, sagte sie leise und sah ihn an, halb bedauernd, mit Augen so violett wie die Federwolken hoch oben am Morgenhimmel. Dann küßte sie ihn sanft auf den Mund, und ihre Lippen schmeckten wie zerdrückte Brombeeren. Schließlich erhob sie sich und ging zurück in den Zigeunerwagen hinter ihrem Stand.

Allein und benommen wanderte Dunstan über den Markt; er fühlte sich um vieles älter als achtzehn Jahre.

Im Kuhstall angekommen, zog er die Stiefel aus und schlief, bis die Sonne hoch am Himmel stand.

Am folgenden Tag ging der Markt zu Ende, aber Dunstan kehrte nicht auf die Wiese zurück. Die Fremden verließen das Dorf, und in Wall kehrte wieder der Alltag ein, wenn er sich vielleicht auch etwas anders gestaltete als in den meisten anderen Dörfern – insbesondere wenn der Wind aus der falschen Himmelsrichtung kam.


* * *


Zwei Wochen nach dem Markt machte Tommy Forester Bridget Comfrey einen Heiratsantrag, den sie annahm. Eine Woche darauf besuchte Mrs. Hempstock am Morgen Mrs. Thorn.

»Ein Segen, dieser Forester-Junge«, meinte Mrs. Hempstock, als sie sich im Salon niedergelassen hatten.

»So ist es«, bestätigte Mrs. Thorn. »Sicher ist Eure Daisy Brautjungfer.«

»Das nehme ich an«, entgegnete Mrs. Hempstock, »falls sie es erlebt.«

Beunruhigt blickte Mrs. Thorn auf. »Aber sie ist doch nicht krank, Mrs. Hempstock, nicht wahr?«

»Sie will nicht essen, Mrs. Thorn. Sie wird immer schwächer. Nur ein wenig Wasser nimmt sie von Zeit zu Zeit zu sich.«

»Ach herrjemine!«

»Gestern abend habe ich endlich den Grund dafür erfahren«, fuhr Mrs. Hempstock fort. »Es ist Euer Dunstan.«

»Dunstan? Er hat doch nicht…« Mrs. Thorn hob die Hand zum Mund.

»Aber nein«, entgegnete Mrs. Hempstock kopfschüttelnd und spitzte die Lippen, »nichts dergleichen. Er ignoriert sie. Seit Tagen hat er sich nicht bei ihr blicken lassen. Jetzt hat Daisy sich in den Kopf gesetzt, daß er sie nicht mehr mag. Sie hält das Schneeglöckchen fest, das er ihr geschenkt hat, und weint.«

Mrs. Thorn gab Tee aus der Dose in die Kanne und fügte heißes Wasser hinzu. »Um die Wahrheit zu sagen«, gestand sie, »Thorney und ich, wir machen uns auch ein wenig Sorgen um Dunstan. Er träumt und geistert herum, schafft seine Arbeit nicht. Thorney meint, der Junge muß endlich vernünftig werden. Wenn er sich niederlassen und eine Familie gründen würde, sagt Thorney, würde er dem Jungen die gesamten westlichen Wiesen überlassen.«

Mrs. Hempstock nickte langsam. »Hempstock hätte bestimmt nichts dagegen, unsere Daisy glücklich zu sehen. Sicherlich würde er dem Mädchen eine Schafherde mitgeben.« Die Schafe der Hempstocks waren bekanntermaßen die besten der Umgebung: Sie hatten einen dicken Pelz, waren (für Schafe) recht intelligent und wiesen schön geschwungene Hörner und harte Hufe auf. Mrs. Hempstock und Mrs. Thorn nippten ihren Tee. Und so wurde die Sache geregelt.

Im Juni heirateten Dunstan Thorn und Daisy Hempstock. Auch wenn der Bräutigam etwas geistesabwesend schien, war zumindest die Braut so strahlend und schön, wie es sich gehört.

Ihre Väter diskutierten die Pläne für das Farmhaus, das sie für die Frischvermählten auf der westlichen Wiese bauen wollten. Die Mütter waren einhellig der Meinung, daß Daisy wunderhübsch aussah. Allerdings bedauerten sie es, daß Dunstan sie daran gehindert hatte, das Schneeglöckchen, das er ihr beim Markt Ende April geschenkt hatte, am Brautkleid zu tragen.

Und hier verlassen wir die beiden in einem Wirbel von vielfarbigen Rosenblättern – nur soviel sei noch erwähnt…

Das Paar lebte in Dunstans Hütte, bis sein kleines Farmhaus fertiggestellt war, und die beiden waren sicherlich einigermaßen glücklich; mit den täglichen Pflichten der Schafzucht, dem Hüten und Scheren und Füttern, verschwand allmählich auch der ferne Blick aus Dunstans Augen.

Zuerst kam der Herbst, dann der Winter. Ende Februar, in der Lammsaison, als die Welt kalt war und ein eisiger Wind über die Moore und durch die Wälder heulte, als frostiger Regen in ständig wiederkehrenden Schauern aus bleiernen Wolken fiel, wurde um sechs Uhr abends, nachdem die Sonne untergegangen und der Himmel dunkel geworden war, ein Weidenkörbchen durch die Öffnung in der Mauer geschoben. Zuerst bemerkten die Wachen auf beiden Seiten des Durchgang nichts. Schließlich blickten sie in die entgegengesetzte Richtung, es war dunkel und feucht, so daß sie genug damit zu tun hatten, mit den Füßen zu stampfen und voller Sehnsucht zu den Lichtern des Dorfs zu starren.

Doch dann erscholl ein hoher, durchdringender Klageschrei.

Die Wachen sahen sich um und entdeckten den Korb zu ihren Füßen. In ihm lag ein kleines Bündel, ein Bündel aus geölten Seidentüchern und wollenen Decken, aus denen ein rotes Gesichtchen hervorschaute, mit zusammengekniffenen Äuglein und einem weit aufgesperrten, lauthals Hunger äußernden Mund.

An der Decke des Babys war mit einer silbernen Nadel ein Stück Pergament befestigt, auf dem mit einer eleganten, wenn auch etwas altertümlichen Schrift geschrieben stand:


Tristran Thorn.

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