Mit jedem Schritt rückte der Oktober ein Stück weiter weg; Tristran hatte das Gefühl, mitten in den Sommer hinein zu wandern. Durch den Wald führte ein Pfad, der auf einer Seite von einer hohen Hecke gesäumt war; diesem Weg folgte er. Hoch über ihm schimmerten die Sterne, und der Erntemond schien auf ihn herab, goldgelb wie reifes Korn. Im Mondschein sah Tristran wilde Rosen an der Hecke.
Allmählich wurde er schläfrig. Eine Zeitlang kämpfte er dagegen an, doch schließlich zog er den Mantel aus, stellte die Tasche ab – eine große Ledertasche von der Art, die später als Gladstone Bag bekannt wurde –, legte den Kopf darauf und deckte sich mit dem Mantel zu.
Er blickte zu den Sternen empor, und es kam ihm vor, als tanzten sie, getragen und anmutig, einen Tanz von unendlicher Vielfalt. Er stellte sich die Gesichter der Sterne vor: Blaß waren sie, und sie lächelten, als hätten sie so lange den Freuden und Mühen der Menschen unten auf der Erde zugesehen, daß sie sich nur noch amüsieren konnten, wenn sich wieder einmal irgendein kleines unbedeutendes menschliches Wesen für das Zentrum seiner Welt hielt, wie wir das alle tun.
Tristran schlief ein und träumte, er ginge in sein Schlafzimmer, das gleichzeitig das Klassenzimmer der Schule von Wall war. Mrs. Cherry klopfte auf die Wandtafel und mahnte ihre Schüler zur Ruhe, und Tristran blickte auf seine Schiefertafel, um zu sehen, worum es im Unterricht ging, aber er konnte nicht lesen, was er geschrieben hatte. Dann forderte Mrs. Cherry – die Tristrans Mutter so ähnlich sah, daß er sich fragte, warum ihm noch nie aufgefallen war, daß sie ein und dieselbe Person waren – Tristran auf, der Klasse die Regierungszeiten der Könige und Königinnen von England zu sagen…
»‘Tschuldigung«, sagte da eine dünne, rauhe Stimme an seinem Ohr, »aber würde es Euch was ausmachen, ein klein bißchen leiser zu träumen? Euer Traum schwappt dauernd in meinen über, und wenn ich mit irgendwas noch nie was anfangen konnte, dann sind es Daten. Wilhelm der Loderer, Zehnsechsundsechzig, weiter komm’ ich nicht, und das würd’ ich auch jederzeit gegen eine Tanzmaus eintauschen.«
»Hmmm?« machte Tristran.
»Behaltet Euren Traum für Euch«, sagte die Stimme. »Wenn’s möglich wäre.«
»Tut mir leid«, erwiderte Tristran, und danach träumte er nur noch von der Dunkelheit.
* * *
»Frühstück«, sagte die Stimme an seinem Ohr. »Es gibt Pillse, in Butter gebacken, mit wildem Knoblauch.«
Tristran schlug die Augen auf: Helles Tageslicht schien durch die Hecke und zauberte goldene und grüne Flecken aufs Gras. Und es roch himmlisch.
»Schmale Kost«, fuhr die Stimme fort. »Das heißt, Landkost. Nichts für vornehme Leute, aber meinesgleichen weiß einen guten Pills durchaus zu würdigen.«
Tristran blinzelte, griff in die Blechschüssel und fischte mit Daumen und Zeigefinger einen großen Pilz heraus. Er war heiß. Vorsichtig biß Tristran hinein und spürte, wie der Saft in seinen Mund rann – es war das Leckerste, was er je gegessen hatte, und nachdem er gekaut und geschluckt hatte, brachte er diese Meinung zum Ausdruck.
»Das ist äußerst freundlich von Euch«, sagte die kleine Gestalt, die auf der anderen Seite eines spärlichen Feuers hockte, das in der Morgenluft knisterte und qualmte. »Sehr freundlich, da gibt’s kein Vertun. Aber wie wir beide wissen, handelt es sich lediglich um gebratene Feldpillse und nichts auch nur annähernd Besonderes… «
»Gibt’s noch mehr davon?« fragte Tristran, der jetzt erst merkte, wie hungrig er war.
»Ah, das sind mir Manieren«, meinte die kleine Gestalt, die einen großen Schlapphut und einen weiten Schlabbermantel trug. »Gibt’s noch mehr davon! fragt er, als wären es pochierte Wachteleier und geräucherte Gazelle mit Trüffeln, nicht einfach bloß Pulse, die mehr oder minder schmecken wie irgendwas, was schon tagelang tot ist und nicht mal mehr die Katze anrühren würde. Wirklich, das nenn’ ich Manieren.«
»Ich hätte aber wirklich, ganz ehrlich gern noch einen Pilz«, sagte Tristran, »wenn’s nicht zuviel Mühe macht.«
Der kleine Mann – falls die Gestalt ein Mann war, was Tristran eher unwahrscheinlich vorkam – seufzte traurig, stocherte mit dem Messer in der Pfanne herum, die über dem Feuer brutzelte, und schnippte zwei große Pilze in Tristrans Blechschüssel.
Tristran blies eine Weile darauf und aß sie dann mit den Fingern.
»Seht Euch nur an«, rief die kleine haarige Person, und aus ihrer Stimme war eine Mischung aus Stolz und Trübsinn zu hören, »da eßt Ihr tatsächlich diese Pillse, als würden sie Euch wunder wie lecker schmecken, als wären sie nicht Sägemehl und Wermut und Reue in Eurem Mund.«
Tristran leckte sich die Finger und versicherte seinem Wohltäter, daß es wirklich die köstlichsten Pilze waren, die er jemals das Vergnügen gehabt hatte zu verzehren.
»Das sagt Ihr jetzt«, meinte die kleine Gestalt mit düsterer Genugtuung, »aber schon in einer Stunde werdet Ihr das nicht mehr sagen. Sie werden zweifellos mit Eurer Verdauung genauso hadern wie das Fischweib, das wegen der Meerjungfrau mit seinem Mann Streit angefangen hat. Das konnte man hören von Garamond bis nach Stormhold. Und was für Worte da fielen! Blaue Ohren konnte man davon kriegen, jawohl.« Wieder seufzte das kleine haarige Wesen tief. »Wo wir schon von Eurem Verdauungssystem sprechen«, fuhr es dann fort, »ich werde mich um das meinige hinter dem Baum da drüben kümmern. Würdet ihr mir die Ehre erweisen und mein Gepäck da drüben im Auge behalten? Ich wäre Euch sehr zu Dank verpflichtet.«
»Selbstverständlich«, antwortete Tristran.
Der kleine haarige Mann verschwand hinter einer Eiche; ein paarmal hörte Tristran ihn grunzen, dann tauchte sein neuer Freund wieder auf. »So, das war’s. Ich kannte mal einen Mann in Paphlagonien, der hat jeden Morgen nach dem Aufstehen eine lebendige Schlange verschluckt. Auf diese Weise könne er sicher sein, daß ihm den ganzen übrigen Tag nichts Schlimmeres passierte, hat er immer gesagt. Später hat man ihn dann gezwungen, eine ganze Schüssel mit haarigen Tausendfüßlern zu essen, bevor man ihn gehängt hat, also war seine Behauptung vielleicht doch ein wenig vorschnell.«
Nun war es an Tristran, sich zu entschuldigen. Er urinierte gegen den Stamm der Eiche, neben dem ein kleiner Haufen Exkremente lag, der ganz bestimmt nicht von einem menschlichen Wesen stammte. Sie sahen aus wie kleine Kügelchen oder wie Kaninchenköttel.
»Mein Name ist Tristran Thorn«, sagte Tristran, als er zurückkam. Sein Frühstücksgefährte hatte inzwischen die Utensilien ihres Mahls weggeräumt und in seinem Tornister verschwinden lassen.
Jetzt nahm er den Hut ab, drückte ihn an die Brust und blickte zu Tristran empor. »Verzaubert«, sagte er und tippte dabei auf die Seite seines Tornisters, auf dem stand: VERZAUBERT, VERHEXT, VERWÜNSCHT UND VERWORREN. »Früher war ich verworren«, gestand er, »aber Ihr wißt ja, wie es einem manchmal so geht.«
Damit machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Tristran ging hinter dem kleinen haarigen Mann her. »He, hört mal?« rief Tristran nach kurzem. »Macht bitte ein wenig langsamer, ja?« Denn trotz des riesigen Tornisters (der Tristran an Christians Last in Eines Christen Reise nach der Seeligen Ewigkeit erinnerte, aus dem Mrs. Cherry jeden Montag morgen vorgelesen und immer gesagt hatte, obwohl es von einem Kesselflicker geschrieben war, sei es dennoch ein gutes Buch) huschte der kleine Mann – war Verzaubert tatsächlich sein Name? – flink wie ein Eichhörnchen vor ihm her.
Das kleine Wesen machte sofort kehrt und eilte zu Tristran zurück. »Stimmt was nicht?« fragte es.
»Ich komme nicht mit«, gestand Tristran. »Ihr seid so verflixt schnell.«
Der kleine haarige Mann drosselte bereitwillig das Tempo. »Enthuldigung, Enthuldigung«, sagte er, während Tristran hinter ihm her stolperte. »Das kommt, weil ich soviel allein bin, da geh’ ich immer so schnell ich kann.«
Von nun an gingen sie Seite an Seite, im golden-grünen Licht der Sonne, die durch die frischen Blätter strahlte. Ein solches Licht kannte Tristran ansonsten nur vom Frühling, und er fragte sich, ob sie den Sommer inzwischen ebenso weit hinter sich gelassen hatten wie den Oktober. Von Zeit zu Zeit sah Tristran in einem Baum oder Busch etwas Buntes aufblitzen, und wenn er seinen Begleiter darauf aufmerksam machte, antwortete der kleine haarige Mann mit Informationen wie: »Eisvogel. Mr. Halcyon haben sie ihn immer genannt. Hübscher Vogel«, oder: »Purpurner Kolibri. Trinkt Nektar aus den Blüten, schwirrt in der Luft«, oder: »Distelfink. Der hält immer einen Sicherheitsabstand, aber spürt ihm bloß nicht nach oder sucht Ärger mit ihm, denn den kriegt man garantiert mit dem kleinen Scheißkerl.«
Mittags machten sie zum Essen Rast an einem Bach. Tristran holte das Bauernbrot hervor, die reifen roten Äpfel und den Käse – hart, scharf und bröselig –, all das, was seine Mutter für ihn eingepackt hatte. Und obgleich der kleine Mann die Sachen argwöhnisch beäugte, verschlang er sie gierig, leckte sich Käse- und Brotkrümel von den Fingern und schmatzte genüßlich, während er den Apfel aß. Danach füllte er einen Kessel mit Wasser aus dem Bach und machte Tee.
»Wie wär’s, wenn Ihr mir verratet, was Ihr vorhabt?« sagte der kleine Mann, als sie nebeneinander auf der Erde saßen und ihren Tee tranken.
Tristran dachte ein paar Augenblicke nach, aber schließlich antwortete er: »Ich komme aus dem Dorf Wall, wo eine junge Dame namens Victoria Forester lebt, die unter den Frauen ihresgleichen sucht, und ihr, ihr ganz allein habe ich mein Herz geschenkt. Ihr Gesicht ist…«
»Die übliche Mischung von Einzelteilen?« unterbrach die Kreatur. »Augen? Nase? Zähne? Wie üblich?«
»Selbstverständlich.«
»Nun, dann könnt Ihr diesen Teil getrost überspringen«, sagte der kleine haarige Mann. »Wir tun einfach so, als hättet Ihr’s gesagt. Zu welch alberner Torheit hat diese junge Dame Euch denn verleitet?«
Beleidigt stellte Tristran seine hölzerne Teetasse ab und stand auf.
»Wie kommt Ihr nur auf die absurde Idee, meine Angebetete hätte mich dazu gebracht, eine Dummheit zu begehen?«
Der kleine Mann starrte aus tiefschwarzen Knopfaugen zu ihm empor. »Weil das der einzige Grund ist, weshalb ein Bursche wie du so dumm sein würde, die Grenze ins Feenland zu überqueren. Die einzigen, die jemals aus deinem Land hierherkommen, sind Dichter, Verliebte und Irre. Ihr seht mir weder aus wie ein Dichter, noch seid Ihr verrückt, sondern – Pardon, daß ich das sage junge, aber es ist wahr – so normal wie Käsekrümel. Also ist es die Liebe, würd’ ich sagen, wenn Ihr mich fragt.«
»Denn jeder Verliebte ist in seinem Herzen ein Verrückter und im Kopf ein Dichter«, verkündete Tristran.
»Ach wirklich?« fragte der kleine Mann zweifelnd. »Ist mir noch nie aufgefallen. Es gibt also eine junge Dame. Hat sie Euch hergeschickt, um Euer Glück zu machen? Das war früher mal sehr populär. Da sind die jungen Kerle hier überall rumgeschwirrt und haben nach dem Goldschatz gesucht, den irgendein armer Lindwurm oder ein Monster in jahrhundertelanger mühsamer Arbeit angehäuft hatte.«
»Nein, ich suche nicht mein Glück. Es handelt sich eher darum, daß ich meiner Angebeteten ein Versprechen gegeben habe. Ich… wir haben uns unterhalten, ich habe ihr alles mögliche versprochen, und da haben wir eine Sternschnuppe gesehen, und ich habe meiner Geliebten versprochen, ihr den Stern zu bringen, der heruntergefallen ist, und zwar…« er gestikulierte mit dem Arm in die Richtung eines Gebirgszuges irgendwo in Richtung des Sonnenaufgangs »… und zwar da drüben.«
Der kleine haarige Mann kratzte sich am Kinn, beziehungsweise an der Schnauze – ja, man konnte es durchaus eine Schnauze nennen. »Wißt Ihr, was ich an Eurer Stelle tun würde?«
»Nein«, antwortete Tristran hoffnungsvoll, »was denn?«
Der kleine Mann wischte sich mit der Hand die Nase ab. »Ich würde ihr sagen, sie kann mit ihrem Gesicht im Schweinestall verschwinden, und dann würde ich losziehen und eine andere suchen, die Euch küssen will, ohne dafür gleich zu verlangen, daß man ihr die ganze Welt zu Füßen legt. Ihr werdet eine finden, ohne jeden Zweifel. Man kann ja kaum ‘nen halben Backstein werfen, ohne eine zu treffen, in dem Land, wo Ihr herkommt.«
»Es gibt für mich aber kein anderes Mädchen«, entgegnete Tristran fest.
Der kleine Mann schnüffelte, und ohne weitere Diskussion packten sie ihre Sachen zusammen und brachen auf.
»Habt Ihr das eigentlich ernst gemeint?« fragte der kleine Mann nach einer Weile. »Mit dem Stern?«
»Ja«, antwortete Tristran.
»Naja, ich würde das lieber nicht so rumposaunen an Eurer Stelle«, meinte der kleine Mann. »Es gibt nämlich gewisse Subjekte, die könnten an einer solchen Information ein ungesundes Interesse zeigen. Da ist es besser, den Mund zu halten. Aber lügen solltet Ihr auch nicht.«
»Was soll ich dann sagen?«
»Hmm«, antwortete das Männchen nachdenklich, »beispielsweise, wenn jemand fragt, wo Ihr herkommt, könntet Ihr sagen: ›Von dort hinten‹, und wenn Euch einer fragt, wo Ihr hinwollt: ›Immer der Nase nach‹.«
»Aha«, sagte Tristran.
Der Pfad war immer schwerer zu erkennen. Eine kalte Brise zerzauste Tristrans Haar, und er fröstelte. Sie gelangten in einen grauen Wald aus dünnen, bleichen Birken.
»Glaubt Ihr, es ist weit?« fragte Tristran. »Zu dem Stern, meine ich.«
»Wie weit ist es nach Babylon?« erwiderte das Männchen rein rhetorisch. »Als ich das letzte Mal hier war, gab es diesen Wald übrigens noch nicht.«
»Wie weit ist es nach Babylon«, rezitierte Tristran vor sich hin, während sie den grauen Wald durchquerten.
»Sechzig Meilen und zehn
Komm ich dort hin bei Kerzenschein?
Ja, selbst zurück kannst du gehn.
Ja, wenn deine Füße sind flink und fein
Kommst du dort hin bei Kerzenschein.«
»So geht das also«, meinte das haarige Männchen und wackelte mit dem Kopf, als wäre er ein wenig zerstreut oder nervös.
»Das ist bloß ein Reim für Kinder«, entgegnete Tristran.
»Bloß für Kinder…? Meiner Treu, auf dieser Seite der Mauer würd’ manch einer sieben Jahre schuften für so einen kleinen Zauberspruch. Und dort, wo Ihr herkommt, sagt man es den Kindern auf, in einem Atemzug mit Dingen wie: ›Schlaf, Kindchen, schlaf‹, oder ›Eiapopeia‹, ohne drüber nachzudenken… Ist Euch kalt, Junge?«
»Jetzt, wo Ihr’s sagt – mir ist tatsächlich ein wenig kühl, ja.«
»Schaut Euch um. Seht Ihr einen Weg?«
Tristran blinzelte. Der graue Wald verschluckte Licht und Farbe und nahm ihm das Gefühl für Entfernungen. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, sie folgten einem Weg, doch nun, da er ihn zu entdecken versuchte, erschien und verschwand er wie eine optische Täuschung. Diesen Baum und jenen Baum und den Stein da drüben hatte er als Wegzeichen genommen… aber es gab gar keinen Weg, nur das fahle Zwielicht und die bleichen Bäume. »Dumm gelaufen«, sagte das haarige Männchen leise.
»Sollen wir lieber abhauen?« Tristran nahm seinen Bowler ab und hielt ihn vor sich.
Doch der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Hat keinen Zweck«, erklärte er. »Wir sind in die Falle gegangen, und da kommen wir nicht raus, auch nicht, wenn wir rennen.«
Er ging zum nächsten Baum, einem großen, bleichen, birkenartigen Stamm und trat dagegen, mit aller Kraft. Trockene Blätter schwebten herab, dann fiel etwas Weißes mit einem trockenen Flüstern zu Boden.
Tristran betrachtete es neugierig: Es war ein Vogelskelett, sauber, weiß und trocken.
Der kleine Mann schauderte. »Ich könnte rochieren«, erklärte er Tristran, »aber es gibt keinen, mit dem ich rochieren könnte, der hier besser dran wäre als wir… Fliegen bringt offenbar auch nichts, wenn man sich das hier ansieht.« Mit seinem pfotenartigen Fuß schubste er das Skelett ein Stück weg. »Und die Art Leute, zu denen Ihr gehört, haben nicht gelernt, sich zu verbuddeln – obwohl uns das jetzt wohl kaum was nützen würde…«
»Vielleicht könnten wir uns bewaffnen«, schlug Tristran vor.
»Uns bewaffnen?«
»Bevor sie kommen.«
»Bevor sie kommen? Aber sie sind doch hier, Schwachkopp! Es sind die Bäume. Wir sind in einem Sengwald.«
»Einem Sengwald?«
»Es ist meine Schuld – ich hätte besser aufpassen sollen, wo wir hingehen. Eines Tages wird irgendein armer Kerl, der sich im Wald verlaufen hat, unsere Skelette finden, sauber abgenagt und verdorrt, und das war’s dann.«
Tristran blickte sich um. Im Dämmerlicht schienen die Bäume sich ihnen zu nähern, obwohl er keine Bewegung wahrnehmen konnte. Er fragte sich, ob der kleine Mann Unsinn redete oder unter Halluzinationen litt.
Plötzlich spürte er einen Stich in der linken Hand. Er schlug danach und erwartete, ein Insekt zu sehen, aber es war ein blaßgelbes Blatt, das jetzt mit einem leisen Rascheln zu Boden schwebte. Auf Tristrans Handrücken war ein Riß, aus dem dickes rotes Blut quoll. Um sie her wisperten die Bäume.
»Können wir denn gar nichts tun?« fragte Tristran.
»Nicht daß ich wüßte. Wenn wir nur den richtigen Weg nicht verloren hätten… nicht mal ein Sengwald kann den richtigen Weg zerstören, sondern nur vor uns verbergen und uns von ihm weg locken…« Der kleine Mann seufzte und zuckte die Achseln.
Tristran rieb sich mit der Hand die Stirn. »Aber ich… ich weiß doch, wo der Weg ist«, sagte er. »Da drüben!«
Die schwarzen Knopfaugen des kleinen Mannes leuchteten auf. »Seid Ihr sicher?«
»Aber ja. Durch das Gestrüpp dort hinten und ein kleines Stück rechts.«
»Woher wißt Ihr das?« fragte der Mann.
»Ich weiß es eben«, antwortete Tristran.
»Gut. Na, dann mal los!« Damit nahm der kleine Mann seinen Tornister und rannte los, aber in gemäßigtem Tempo, so daß Tristran einigermaßen Schritt halten konnte, obwohl ihm die schwere Ledertasche gegen die Beine schlug, das Herz klopfte und ihm das Luftholen sehr schwerfiel.
»Nein, nicht dorthin. Mehr nach links!« rief Tristran. Zweige und Dornen rissen und zerrten an seinen Kleidern. Schweigend liefen die beiden Flüchtenden weiter.
Nun schienen sich die Bäume zu einer Mauer formiert zu haben. Blätter wirbelten in Massen um sie herum, stachen und kratzten, wo sie Tristrans Haut berührten, schnitten und ritzten in seine Kleider. Er kletterte den Hügel hinauf, schlug mit der freien Hand nach den Blättern und mit der Tasche nach Zweigen und Ästen.
Ein lautes Jammern durchbrach die Stille. Es war der kleine haarige Mann. Er war wie angewurzelt stehengeblieben, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und heulte den Himmel an.
»Reißt Euch zusammen«, rief Tristran. »Wir sind fast da.« Er packte die freie Hand des kleinen Mannes mit seiner großen Pranke und zog ihn weiter.
Dann standen sie auf dem richtigen Weg: eine Grasnarbe, die den grauen Wald durchschnitt. »Sind wir hier in Sicherheit?« fragte Tristran keuchend und blickte sich besorgt um.
»Solange wir auf dem Weg bleiben, sind wir sicher«, antwortete der kleine haarige Mann, setzte seinen Tornister ab, ließ sich ins Gras fallen und starrte in die Bäume empor.
Die bleichen Bäume bebten, obwohl kein Wind ging, und es kam Tristran vor, als bebten sie vor Wut.
Auch sein Gefährte hatte angefangen zu zittern, und seine Finger strichen unruhig durch das grüne Gras. Dann blickte er zu Tristran empor. »Ihr habt nicht zufällig eine Flasche Hochprozentiges dabei? Oder vielleicht eine Kanne heißen, süßen Tee?«
»Nein«, antwortete Tristran, »tut mir leid.«
Der kleine Mann schniefte und fummelte am Schloß seines riesigen Tornisters. »Dreht Euch um«, sagte er zu Tristran.
Tristran wandte sich ab.
Ein Wühlen und Kramen war zu hören. Dann klickte das Schloß wieder zu, und der kleine Mann sagte: »Ihr könnt Euch wieder umdrehen, wenn Ihr möchtet.« In der einen Hand hielt er eine Emailleflasche, an deren Stöpsel er vergeblich zog.
»Soll ich Euch vielleicht helfen?« Tristran hoffte, daß er den kleinen Mann mit seinem Angebot nicht beleidigte. Doch da drückte ihm sein Gefährte die Flasche schon bereitwillig in die Hand.
»Bitte sehr«, sagte er. »Ihr habt die richtigen Finger dafür.«
Tristran zog und zerrte den Stöpsel aus der Flasche. Ein berauschender Geruch schlug ihm entgegen, wie von Honig gemischt mit Holzrauch und Nelken. Er gab dem kleinen Mann die Flasche zurück.
»Es ist ein Verbrechen, etwas so Rares und Wertvolles aus der Flasche zu trinken«, meinte dieser. Rasch löste er die kleine Holztasse von seinem Gürtel und goß mit zitternder Hand eine kleine Portion der bernsteinfarbenen Flüssigkeit hinein, roch daran, trank und lächelte breit, so daß man seine kleinen scharfen Zähne sah.
»Ahhhh. Jetzt geht’s schon besser.«
Er reichte Tristran die Tasse.
»Trinkt langsam«, riet er ihm. »Diese Flasche ist ein Vermögen wert. Hat mich zwei große weißblaue Diamanten gekostet, eine mechanische Singdrossel und eine Drachenschuppe.«
Tristran nippte an dem Gebräu. Sofort durchlief es ihn warm bis hinunter in die Zehen, und er hatte das Gefühl, sein Kopf wäre gefüllt mit winzigen Luftbläschen.
»Gut, was?«
Tristran nickte.
»Viel zu gut für Leute Euren oder meines Schlags, fürchte ich. Trotzdem. In Notzeiten erfüllt es hundertprozentig seinen Zweck, und jetzt ist eindeutig eine solche. Machen wir, daß wir aus diesem Wald rauskommen«, sagte der kleine haarige Mann. »Welche Richtung…?«
»Hier lang«, sagte Tristran und zeigte nach links.
Der kleine Mann verkorkte die Flasche und steckte sie wieder ein, setzte den Tornister auf, und dann wanderten sie zusammen auf dem grünen Pfad durch den grauen Wald.
Mehrere Stunden später wurden die weißen Bäume spärlicher, bald hatten sie den Sengwald hinter sich und gingen zwischen zwei niedrigen Steinmauern auf einer hohen Böschung entlang. Als Tristran zurückschaute, war der Wald gänzlich verschwunden; hinter ihnen erstreckten sich rötliche, heidekrautbewachsene Hügel.
»Hier können wir haltmachen«, meinte Tristrans Gefährte. »Wir müssen uns über ein paar Dinge unterhalten. Setzt Euch.«
Er legte seinen riesigen Tornister ab und kletterte darauf, so daß er auf Tristran herabsah, der sich auf einem Stein neben dem Weg niedergelassen hatte. »Da ist was, das versteh’ ich nicht recht. Also, erklärt es mir. Woher kommt Ihr?«
»Aus Wall«, antwortete Tristran. »Das hab’ ich Euch doch schon gesagt.«
»Wer sind Eure Eltern?«
»Mein Vater heißt Dunstan Thorn. Meine Mutter ist Daisy Thorn.«
»Hmmm. Dunstan Thorn… Hmmmm. Ich bin Eurem Vater einmal begegnet. Er hat mir eine Nacht Unterschlupf gewährt. Kein übler Bursche, obwohl er einen manchmal nicht zum Schlafen kommen läßt.« Er kratzte sich an der Schnauze. »Aber das erklärt noch lange nicht… in Eurer Familie gibt es nichts Ungewöhnliches, oder?«
»Meine Schwester Louisa kann mit den Ohren wackeln.«
Abschätzig ließ der kleine Mann seine eigenen großen, pelzigen Ohren spielen. »Nein, nicht so was«, sagte er. »Ich hab’ da eher an eine Großmutter gedacht, die eine große Verführerin war, oder einen Onkel, der ein berühmter Zauberer war, oder irgendwo im Stammbaum ein paar Feen.«
»Nicht daß ich wüßte«, gestand Tristran.
Der kleine Mann probierte es anders. »Wo ist das Dorf Wall?« fragte er. Tristran deutete in eine Richtung. »Wo sind die Bestreitbaren Hügel?« Wieder deutete Tristran ohne Zögern. »Wo sind die Catavarischen Inseln?« Jetzt zeigte Tristran nach Südwesten. Bis der kleine Mann sie erwähnte, hatte er weder von der Existenz der Bestreitbaren Hügel noch der Catavarischen Inseln gehört, aber er war ganz sicher, wo sie lagen, genauso, wie er wußte, wo sich sein linker Fuß oder die Nase in seinem Gesicht befanden.
»Hmmm. Also wißt Ihr auch, wo sich Seine Unermeßlichkeit des Freemartin Muskish aufhält?«
Tristran schüttelte den Kopf.
»Wißt Ihr, wo die Durchleuchtende Zitadelle Seiner Unermeßlichkeit des Freemartin Muskish liegt?«
Ohne Zögern zeigte Tristran in eine Richtung.
»Und was ist mit Paris? In Frankreich?«
Einen Moment dachte Tristran nach. »Na ja, wenn Wall da drüben ist, liegt Paris vermutlich irgendwie in derselben Richtung, oder?«
»Na so was«, sagte der kleine haarige Mann, ebenso zu sich selbst wie zu Tristran. »Ihr könnt also Orte im Feenland finden, aber nicht in Eurer Welt, außer Wall, und das ist ein Grenzfall. Leute findet Ihr nicht… aber… sagt mal, Junge, wißt Ihr, wo der Stern liegt, den Ihr sucht?«
Sofort zeigte es ihm Tristran und sagte: »In dieser Richtung.«
»Hmmm. Das ist gut. Aber es erklärt immer noch nix. Habt Ihr Hunger?«
»Ein wenig. Außerdem bin ich ganz schön zugerichtet«, meinte Tristran und fingerte an den riesigen Löchern in seiner Hose und seinem Mantel herum, wo die Zweige und Dornen nach ihm gegriffen und die Blätter ihn im Laufen gestochen hatten. »Und seht Euch bloß meine Stiefel an…«
»Was ist noch in Eurer Tasche?«
Tristran öffnete die Gladstone-Tasche. »Äpfel. Käse. Ein halbes Bauernbrot. Eine Dose Fischpaste. Mein Taschenmesser. Außerdem eine Garnitur frische Unterwäsche, zwei Paar Wollsocken. Wahrscheinlich hätte ich mehr Kleidung mitnehmen sollen…«
»Behaltet die Fischpaste«, unterbrach ihn sein Reisegefährte und verteilte die verbliebenen Eßsachen gerecht auf zwei gleiche Häufchen.
»Ihr habt mir geholfen«, sagte er, während er einen knackigen Apfel mampfte, »und so was vergeß’ ich nicht. Zuerst mal kümmern wir uns um Eure Kleidung, dann machen wir uns auf den Weg zu Eurem Stern.«
»Das ist äußerst freundlich von Euch«, sagte Tristran nervös und legte sich eine Scheibe Käse auf seinen Brotkanten.
»Gut«, meinte der haarige kleine Mann. »Dann suchen wir Euch erst mal eine Decke.«
* * *
Bei Morgengrauen fuhren die drei Herren von Stormhold in einer mit sechs schwarzen Pferden bespannten Kutsche die holprige Bergstraße hinunter. Die Pferde trugen wallenden schwarzen Federschmuck, die Herren waren in Trauerkleidung.
Bei Primus war dies eine lange schwarze Robe, eine Art Mönchskutte; Tertius trug die dunkle Kleidung eines trauernden Kaufmanns, während Septimus ein schwarzes Wams und eine schwarze Kniehose anhatte und aussah wie das Abbild eines geckenhaften Attentäters in einem zweitklassigen Elizabethanischen Historienspiel.
Die Herren von Stormhold beäugten einander, einer vorsichtig, einer wachsam, einer ausdruckslos, sprachen jedoch kein Wort miteinander. Wären Allianzen möglich gewesen, hätte sich Tertius vielleicht mit Primus gegen Septimus verbündet. Aber so etwas gab es nicht unter den Brüdern.
Die Kutsche klapperte und rasselte.
Einmal blieb sie stehen, weil alle drei Herren sich erleichtern mußten. Dann ratterte sie weiter bergab. Gemeinsam hatten die drei Herren von Stormhold die sterbliche Hülle ihres Vaters in die Ahnenhalle gebracht. Ihre toten Brüder hatten sie von den Türen der Halle aus schweigend beobachtet.
Gegen Abend rief der Kutscher: »Nottaway!« und zügelte das Gespann vor einem verfallenen Gasthaus, das neben einer Ruine gebaut war, die aussah wie die Hütte eines Riesen.
Die drei Herren von Stormhold stiegen aus und vertraten sich die eingeschlafenen Beine. Durch die Butzenscheiben des Gasthauses starrten ihnen Gesichter entgegen.
Der Gastwirt, ein cholerischer Gnom von gebrechlicher Statur, rief seinen Leuten zu: »Wir brauchen gelüftete Betten und einen Topf Hammeleintopf auf dem Feuer.«
»Wie viele Betten?« fragte Letitia, das Stubenmädchen, aus dem Treppenhaus.
»Drei«, antwortete der Gnom. »Ich vermute, daß sie den Kutscher bei den Pferden schlafen lassen.«
»Also nur drei«, flüsterte Tilly, das Küchenmädchen, Lacey, dem Stallburschen, zu, »wo doch jeder gesehen hat, daß sieben Gentlemen auf der Straße rumstehen.«
Doch als die Herren von Stormhold eintraten, waren sie nur zu dritt, und sie verkündeten, daß der Kutscher im Stall übernachten würde.
Zum Abendessen gab es Hammeleintopf und frisches Brot, das noch dampfte, als sie es anbrachen, und jeder der drei Herren nahm eine ungeöffnete Flasche des feinsten Baragunderweins (denn keiner wollte eine Flasche mit den anderen teilen oder auch nur erlauben, daß der Wein aus der Flasche in einen Krug gegossen wurde). Für den Gnom war das ein Skandal, denn er vertrat die Ansicht – die er allerdings nicht in Hörweite der Gäste äußerte –, daß der Wein atmen mußte.
Der Kutscher aß einen Teller Eintopf, trank zwei Krüge Bier und legte sich zum Schlafen in den Stall. Die drei Brüder zogen sich auf ihr jeweiliges Zimmer zurück und verrammelten die Tür.
Tertius hatte Letitia, dem Stubenmädchen, eine Münze zugesteckt, als diese ihm die Wärmflasche für sein Bett brachte, und deshalb war er nicht überrascht, als er kurz vor Mitternacht leise Schritte an seiner Tür hörte.
Sie trug ein weißes Hemdchen und knickste mit einem scheuen Lächeln, als er die Tür öffnete. In der Hand hielt sie eine Flasche Wein.
Er schloß die Tür hinter sich und führte sie zum Bett, wo er, nachdem er ihr das Hemd ausgezogen, ihr Gesicht und ihren Körper im Kerzenschein betrachtet, ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Brustwarzen, ihren Nabel und ihre Zehen geküßt und die Kerze gelöscht hatte, mit ihr vögelte – wortlos im bleichen Mondlicht.
Nach einiger Zeit grunzte er und lag still.
»Siehst du, Schätzchen, das war doch gut, oder?« fragte Letitia.
»Ja«, antwortete Tertius wachsam, als wäre in ihren Worten eine verborgene Falle. »Das war es.«
»Willst du vielleicht noch mal, ehe ich gehe?«
Statt einer Antwort deutete Tertius zwischen seine Beine. Letitia kicherte. »Oh, den kriegen wir im Handumdrehen wieder groß«, versprach sie, entkorkte die Weinflasche, die sie mitgebracht und neben das Bett gestellt hatte, und reichte sie Tertius.
Er grinste, nahm gierig ein paar Schlucke und zog Letitia an sich.
»Na, das fühlt sich doch gut an«, sagte sie. »Also, Schätzchen, diesmal zeig’ ich dir, wie ich es gern habe… was ist denn jetzt los?« Lord Tertius von Stormhold wand sich mit weit aufgerissenen Augen auf dem Bett und atmete keuchend.
»Der Wein«, japste er. »Woher hast du ihn?«
»Von Eurem Bruder«, antwortete Letty. »Ich bin ihm auf der Treppe begegnet. Er hat mir gesagt, das ist ein gutes Stärkungsmittel und macht schnell wieder groß und steif, so daß uns eine Nacht bevorsteht, die wir nie vergessen werden.«
»Ganz richtig«, hauchte Tertius, zuckte einmal, zweimal, dreimal und lag dann still. Und ward ganz steif.
Tertius hörte Letitia aus weiter Ferne schreien und bemerkte die vertraute Gegenwart von vier Gestalten, die mit ihm im Schatten neben der Wand standen.
»Sie war sehr schön«, flüsterte Secundus, und Letitia glaubte, die Vorhänge rascheln zu hören.
»Septimus geht wirklich sehr effektiv zu Werke«, sagte Quintus. »Das war genau die gleiche Giftmischung, die er mir in den Aal getan hat«, und Letitia meinte, den Wind zu hören, der in den Bergschluchten heulte.
Unterdessen war der ganze Haushalt von ihrem Geschrei erwacht, und man veranstaltete eine Suche nach Lord Septimus, der jedoch nirgends zu finden war. Einer der schwarzen Hengste stand nicht mehr im Stall (in dem der Kutscher schlief und schnarchte und sich nicht aufwecken ließ).
Als Lord Primus am nächsten Morgen aufstand, war er extrem mißgestimmt.
Er lehnte es ab, Letitia hinrichten zu lassen, denn sie sei ebenso Opfer von Septimus’ Machenschaften gewesen wie Tertius. Allerdings ordnete er an, daß sie Tertius’ Leiche zurück nach Schloß Stormhold begleiten solle.
Er hinterließ ihr ein schwarzes Pferd, auf das die Leiche gelegt wurde, und einen Beutel mit Silbermünzen. Das reichte, um einen Bewohner von Nottaway dafür zu bezahlen, mit ihr zu reisen – um zu gewährleisten, daß sich nicht die Wölfe mit dem Pferd und den Überresten seines Bruders davonmachten – und den Kutscher auszubezahlen, wenn er endlich aufwachte.
Dann verließ Lord Primus das Dorf Nottaway, allein in der Kutsche, die jetzt von vier schwarzen Hengsten gezogen wurde, und wesentlich übler gelaunt als bei seiner Ankunft.
* * *
Brevis kam an die Wegkreuzung, ein Seil hinter sich her zerrend, an dessen anderes Ende ein bärtiger Ziegenbock mit großen Hörnern und bitterbösen Augen gebunden war. Brevis wollte ihn zum Markt bringen, um ihn dort zu verkaufen.
Am Morgen hatte Brevis’ Mutter einen einzelnen Rettich vor ihn auf den Tisch gelegt und gesagt: »Brevis, mein Sohn, dieser Rettich war alles, was ich heute aus der Erde holen konnte. Alles, was wir angepflanzt haben, ist eingegangen, wir haben nichts mehr zu essen und zum Verkaufen nur noch den Ziegenbock. Deshalb möchte ich, daß du ihn an einen Strick bindest, zum Markt bringst und ihn einem Bauern verkaufst. Und mit dem Geld, das du für den Bock bekommst – und nimm mindestens einen Florin für das Tier! –, kauf eine Henne und Korn und Rüben. Dann werden wir vielleicht nicht verhungern.«
Also hatte Brevis seinen Rettich gekaut, der holzig war und auf der Zunge brannte, und den Rest des Vormittags damit zugebracht, den Ziegenbock in seinem Stall herumzujagen. Dabei holte er sich einen blauen Fleck an der Rippe und einen Biß in den Oberschenkel, bis er schließlich mit Hilfe eines zufällig vorbeikommenden Kesselflickers den Ziegenbock soweit gebändigt hatte, daß er ihm die Leine umlegen konnte. Während seine Mutter sich um die Wunden kümmerte, die sich der Kesselflicker im Kampf mit dem Ziegenbock zugezogen hatte, machte sich Brevis auf den Weg und schleppte das Tier zum Markt.
Manchmal setzte der Bock es sich in den Kopf vorauszupreschen, und Brevis wurde mitgeschleift, während die Absätze seiner Stiefel im getrockneten Schlamm am Straßenrand entlangschleiften, bis das Tier stehenblieb – plötzlich und ohne Vorwarnung und aus keinem für Brevis ersichtlichen Grund. Dann rappelte er sich wieder auf und mußte das Vieh wieder ziehen.
Schließlich erreichte er die Wegkreuzung am Waldrand, den störrischen Geißbock im Schlepptau. Mitten auf der Kreuzung stand eine große Frau. Ein Silberreif hielt die knallrote Kopfbedeckung, die ihr dunkles Haar umrahmte, und ihr Kleid war ebenso scharlachrot wie ihre Lippen.
»Wie nennt man dich, Junge?« fragte sie mit einer Stimme wie schwerer brauner Honig.
»Man nennt mich Brevis, Ma’am«, antwortete er, und bemerkte hinter der Frau etwas Seltsames: einen kleinen Karren, zwischen dessen Deichseln jedoch kein Tier eingespannt war. Brevis überlegte, wie der Karren hierher gelangt war.
»Brevis«, schnurrte die Frau. »So ein schöner Name. Möchtest du mir deine Ziege verkaufen, mein Junge?«
Brevis zögerte. »Meine Mutter hat mir gesagt, ich soll den Ziegenbock auf den Markt bringen«, antwortete er. »Und ich soll ihn verkaufen und dafür eine Henne, etwas Getreide, ein paar Rüben und das Wechselgeld nach Hause bringen.«
»Wieviel sollst du für den Ziegenbock nehmen?« fragte die Frau im scharlachroten Gewand.
»Mindestens einen Florin«, antwortete er.
Die Frau lächelte und hielt eine Hand auf. Etwas glitzerte gelb darin. »Nun, ich gebe dir diese Goldguinee«, meinte sie, »genug, um einen ganzen Stall voller Hühner zu kaufen und hundert Scheffel Rüben.«
Der Junge sah sie ungläubig an.
»Abgemacht?«
Sprachlos nickte Brevis und streckte der Frau die Hand hin, in der er den Strick des Ziegenbocks hielt. »Hier«, konnte er nur sagen, während in seinem Kopf Bilder von grenzenlosem Reichtum und unzähligen Rüben vorüberzogen.
Die Dame nahm den Strick. Dann berührte sie mit einem Finger den Geißbock an der Stirn, direkt zwischen den gelben Augen, und ließ das Seil los.
Brevis erwartete, daß der Ziegenbock sofort in den Wald oder eine der Straßen hinunter fliehen würde, aber er blieb, wo er war, als wäre er zur Salzsäule erstarrt. Brevis streckte abermals die Hand aus, um die goldene Guinee entgegenzunehmen.
Die Frau musterte ihn von den Sohlen seiner verdreckten Füße bis zu seinem verschwitzten, kurz geschnittenen Haar und lächelte erneut.
»Weißt du«, meinte sie, »ich glaube, ein Pärchen wäre noch eindrucksvoller als nur einer. Findest du nicht auch?«
Brevis wußte nicht, was sie meinte, und machte schon den Mund auf, um ihr das mitzuteilen. Aber in diesem Moment streckte sie einen Finger aus und berührte seinen Nasenrücken, gerade zwischen den Augen, und er brachte kein Wort mehr heraus.
Sie schnippte mit den Fingern, und schon hasteten Brevis und der Ziegenbock zur Deichsel. Zu seiner Überraschung stellte Brevis fest, daß er auf allen vieren ging und nicht größer zu sein schien als das Tier neben ihm.
Doch die Hexenfrau ließ die Peitsche knallen, und ihr Karren rumpelte die schlammige Straße hinunter, gezogen von einem Paar gehörnter Ziegenböcke.
* * *
Der kleine haarige Mann hatte Tristrans zerrissenen Mantel, seine löchrige Weste und Hose genommen, ihn selbst mit einer Decke zurückgelassen und war in das Dorf gegangen, das sich in das Tal zwischen den heidekrautbedeckten Hügeln schmiegte.
Tristran saß unter der Decke und wartete; der Abend war warm.
Direkt hinter ihm flackerten Lichter im Weißdorngebüsch. Er hielt sie für Glühwürmchen oder Leuchtkäfer, aber bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich als winzige Leute, die von Ästchen zu Ästchen flitzten.
Tristran hüstelte höflich. Eine Menge winziger Äuglein starrten auf ihn herab. Mehrere der kleinen Kreaturen verschwanden. Andere zogen sich in den Weißdornbusch zurück, während eine Handvoll besonders mutiger Gestalten auf Tristran zukamen.
Mit hohen, glockenklaren Stimmchen begannen sie zu lachen, zeigten auf Tristran mit seinen kaputten Stiefeln und seiner Decke, in Unterwäsche und mit dem Bowler auf dem Kopf. Tristran errötete und zog die Decke enger um sich.
Eines der kleinen Wesen sang:
Heißa hopsassa Junge mit Decke,
er geht jetzt auf große Jagd und will finden einen Stern.
Ganz unbestreitbar
Reist er durchs Feenland
Nimm ab die Decke
Wir wollen sehn, wer du bist.
Und ein anderes trällerte:
Tristran Thorn
Tristran Thorn
Weiß nicht, warum er ist geborn.
Hat einen dummen Eid geschworn
Hose und Mantel und Hemd sind verlorn
Deshalb sitzt er hier im Dorn
Bald blüht ihm seiner Liebsten Zorn
Wistran
Bistran
Tristran
Thorn.
»Fort mit euch, ihr albernen Gesellen«, rief Tristran, aber sein Gesicht brannte, und weil er nichts anderes zur Hand hatte, warf er seinen Bowler nach den kleinen Wesen.
Als der kleine haarige Mann vom Dorf Jubeltrubel zurückkehrte (niemand wußte, warum es so hieß, denn es war seit Menschengedenken ein düsterer, melancholischer Ort), fand er Tristran denn auch in seine Decke gewickelt und niedergeschlagen neben dem Weißdornbusch sitzen und den Verlust seines Hutes betrauern.
»Sie haben gemeine Dinge über meine Angebetete gesagt«, erklärte Tristran. »Über Miss Victoria Forester. Wie können sie das wagen?«
»Das kleine Volk schreckt vor nichts zurück«, meinte sein Freund. »Und sie reden eine Menge Unsinn. Andererseits reden sie aber auch eine Menge gescheites Zeug. Man hört ihnen auf eigene Gefahr zu, aber man ignoriert sie auch auf eigene Gefahr.«
»Sie haben gesagt, mir würde bald der Zorn meiner Liebsten blühen.«
»Ach ja?« Der kleine haarige Mann legte verschiedene Kleidungsstücke auf der Wiese aus. Selbst im Mondschein konnte Tristran sehen, daß sie keinerlei Ähnlichkeit mit den Sachen aufwiesen, die Tristran vorher ausgezogen hatte.
Im Dorf Wall trugen die Männer Braun, Grau und Schwarz, und selbst das röteste Halstuch, das der rotbackigste Farmer sich umband, verbleichte bald unter der Sonne und dem Regen zu einem weniger auffälligen Farbton. Nun blickte Tristran auf das knallrote und grellgelbe und rostbraune Tuch herab, auf Kleider, die mehr wie Kostüme von durchreisenden Spielleuten aussahen oder wie der Inhalt von Cousine Joans Verkleidungskiste, und sagte: »Sollen das meine Kleider sein?«
»Jawohl, das sind jetzt Eure Kleider«, antwortete der kleine haarige Mann stolz. »Ich hab’ sie eingetauscht. Das Zeug ist von bester Qualität – seht her, wie reißfest und robust es ist – und weder zerfetzt noch löchrig. Außerdem stecht Ihr dann weniger als Fremdling ins Auge. So etwas tragen die Leute hier in der Gegend, wißt Ihr.«
Einen Augenblick lang spielte Tristran mit der Idee, den Rest seines Abenteuers in eine Decke gehüllt zu bestehen, wie ein unzivilisierter Eingeborener aus einem seiner Schulbücher. Doch dann zog er seufzend die Stiefel aus, ließ die Decke ins Gras sinken und war mit Hilfe des kleinen haarigen Mannes, der sich über die Ungeschicklichkeit des jungen Mannes wunderte, bald in seine neuen Sachen gekleidet.
Die neuen Stiefel paßten ihm besser, als es die alten je getan hatten.
Und die Kleider waren wirklich von sehr guter Qualität. Obwohl der Spruch »Kleider machen Leute« entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung nicht stimmt und feine Federn noch lange keinen feinen Vogel machen, so sorgt entsprechende Kleidung doch gelegentlich für einen gewissen Pfiff. In Knallrot und Kanariengelb war Tristran Thorn nicht derselbe wie in seinem biederen Mantel und dem Sonntagsanzug. Vorher war sein Gang nicht so stolz, seine Bewegungen nicht so beschwingt gewesen. Jetzt aber reckte sich sein Kinn nach vorn, statt auf die Brust zu sinken; auch hatten unter dem Bowler seine Augen nicht so gefunkelt.
Als sie die Mahlzeit eingenommen hatten, die der kleine haarige Mann aus Jubeltrubel mitgebracht hatte und die aus Räucherforelle, einer Schüssel frisch entschoteter Erbsen, etlichen kleinen Rosinenkuchen und einer Flasche Bier bestand, fühlte sich Tristran in seiner neuen Aufmachung bereits pudelwohl.
»Nun denn«, sagte der kleine haarige Mann. »Ihr habt mir das Leben gerettet dort hinten im Sengwald, und Euer Vater hat mir damals vor Eurer Geburt auch einen Gefallen getan, und ich möchte nicht, daß jemand von mir behauptet, ich würde meine Schulden nicht bezahlen…« Tristran brummte etwas in dem Sinne, sein Freund habe mehr als genug für ihn getan, aber der kleine haarige Mann ignorierte ihn und fuhr fort: »… da hab’ ich mir folgendes gedacht: Ihr wißt, wo der Stern ist, nicht wahr?«
Ohne Zögern deutete Tristran zum dunklen Horizont.
»Nun, wie weit ist es zu Eurem Stern? Wißt Ihr das auch?«
Bislang hatte Tristran dieser Frage noch keinen Gedanken gewidmet, aber nun hörte er sich antworten: »Auch wenn ein Mann nur zum Schlafen Rast machte, so würde der Mond doch ein halbes Dutzend Mal über ihm zu- und wieder abnehmen, bevor er über trügerische Berge und brennendheiße Wüsten die Stelle erreicht, auf die der Stern gefallen ist.«
Die Worte klangen selbst für ihn fremd aus seinem Mund, und er blinzelte überrascht.
»Hab’ ich mir’s doch gedacht«, sagte der kleine haarige Mann, ging zu seinem Tornister und beugte sich darüber, damit Tristran nicht sehen konnte, wie man ihn öffnete. »Und es ist auch nicht so, daß Ihr der einzige seid, der danach sucht. Erinnert Ihr Euch noch daran, was ich Euch gesagt habe?«
»Daß ich ein Loch graben und meine Ausscheidungen darin verbuddeln soll?«
»Nein, nicht das.«
»Daß ich keinem meinen richtigen Namen und mein Ziel verraten soll?«
»Das auch nicht.«
»Was dann?«
» Wie weit ist es nach Babylon?« zitierte der kleine Mann.
»Ach das. Ja.«
»Komm ich dort hin bei Kerzenschein? Ja, selbst zurück kannst du gehn. Aber es liegt am Kerzenwachs. Mit den meisten Kerzen geht es nicht. Nach der hier hab’ ich ewig gesucht.« Er zog einen Kerzenstummel von der Größe eines Holzapfels hervor und überreichte ihn Tristran.
Dieser konnte nichts Außergewöhnliches daran entdecken. Es war eine Wachskerze, viel benutzt und geschmolzen, mit einem verkohlten, schwarzen Docht.
»Was soll ich damit anfangen?« fragte er.
»Eins nach dem anderen«, entgegnete der haarige kleine Mann und kramte noch etwas aus seinem Tornister. »Nehmt das hier auch noch. Ihr werdet es brauchen.«
Das Geschenk des kleinen Mannes schimmerte im Mondlicht. Tristran nahm es an sich: Eine dünne Silberkette mit einer Schlaufe an jedem Ende, kalt und glitschig. »Was ist das?«
»Das Übliche. Katzenatem und Fischschuppen und Mondlicht am Mühlteich, geschmolzen und geschmiedet von den Zwergen. Auch das werdet Ihr brauchen, wenn Ihr Euren Stern zurückbringen wollt.«
»Wirklich?«
»O ja.«
Tristran ließ die Kette in seine Hand gleiten: Sie fühlte sich an wie Quecksilber. »Wo soll ich sie aufbewahren? In diesen Kleidern gibt es keine einzige Tasche.«
»Wickelt sie Euch ums Handgelenk, bis Ihr sie braucht. So ist’s recht. Aber Ihr habt auch eine Tasche in der Tunika, da unten, seht Ihr?«
Tatsächlich entdeckte Tristran eine verborgene Tasche. Darüber befand sich ein kleines Knopfloch, in das er das Schneeglöckchen steckte, die Glasblume, die sein Vater ihm als Glücksbringer mit auf den Weg gegeben hatte, als er Wall verließ. Er fragte sich, ob es ihm wirklich Glück bringen würde.
Dann stand er auf, die Ledertasche fest in der Hand.
»Nun denn«, sagte der kleine haarige Mann. »Folgendes müßt Ihr tun. Nehmt die Kerze in die rechte Hand; ich zünde sie für Euch an. Und dann geht zu Eurem Stern. Die Kette benutzt Ihr, um den Stern hierher zu bringen. Es ist nicht mehr viel vom Docht übrig, also solltet Ihr sparsam damit umgehen und rasch ausschreiten – wenn deine Füße sind flink und fein, Ihr wißt ja…«
»Ich… ich denke schon«, stammelte Tristran.
Erwartungsvoll stand er da. Der kleine haarige Mann bewegte die Hand über der Kerze, und schon brannte eine Flamme, die oben gelb und unten blau war. Ein Windstoß ergriff sie, aber sie flackerte nicht das kleinste bißchen.
Tristran nahm die Kerze in die Hand und marschierte los. Das Licht erhellte die Umgebung, jeden Baum, jeden Busch, jeden Grashalm.
Bald stand Tristran an einem See, und das Kerzenlicht ergoß sich übers Wasser. Dann wanderte er durch die Berge, über einsame Felsgipfel, wo das Kerzenlicht in den Augen der Schneekreaturen reflektierte, dann durch die Wolken, die zwar nicht wirklich Substanz hatten, ihn aber dennoch angenehm stützten. Schließlich gelangte er – die Kerze noch immer fest in der Hand – unter die Erde, wo das Licht auf den feuchten Höhlenwänden schimmerte. Anschließend ging er wieder in die Berge, weiter auf einer Straße durch einen dichten Wald, wo er einen Blick auf einen von zwei Geißböcken gezogenen Wagen erhaschte, gelenkt von einer Frau in einem roten Kleid, wie Bodicea auf den Bildern in seinem Geschichtsbuch. Dann befand er sich plötzlich in einem grünen, weiten Tal, hörte das Murmeln des Wassers, das sich sprudelnd und singend in einen kleinen Bach ergoß.
Hohe Farne, Ulmen und Fingerhut wucherten hier in Massen; am Himmel war inzwischen der Mond untergegangen. Er hob die Kerze und sah sich nach einer Sternschnuppe um, vielleicht sah sie ja aus wie ein Felsen oder ein Edelstein, aber er konnte nichts dergleichen entdecken.
Da hörte er etwas zwischen dem Plätschern, ein Schniefen und angestrengtes Schlucken. Ein Geräusch, als ob jemand das Weinen unterdrückt.
»Hallo?« rief Tristran.
Das Schniefen verstummte. Doch Tristran war sicher, daß er ein Licht unter dem Haselnußbusch sah, und ging darauf zu.
»Entschuldigung«, sagte er, in der Hoffnung, das, was da unter dem Busch saß, wohlwollend zu stimmen. Wenn es nur nicht wieder die kleinen Leute waren, die seinen Hut gestohlen hatten! »Ich suche einen Stern.«
Als Antwort flog ein Klumpen feuchte Erde unter dem Busch hervor und klatschte Tristran mitten ins Gesicht. Es piekte ein bißchen, Krümel rutschten in seinen Kragen und unter seine Kleider.
»Ich tu’ dir nichts«, versprach er laut.
Als der nächste Dreckklumpen auf ihn zuflog, duckte er sich, und das Wurfgeschoß traf eine Ulme hinter ihm. Er machte einen Schritt nach vorn.
»Geh weg«, sagte eine Stimme, heiser und erstickt, als hätte ihre Besitzerin gerade geweint, »geh weg und laß mich in Ruhe.«
Eine weibliche Gestalt kauerte in einer äußerst unbequemen Stellung unter dem Busch und blickte unfreundlich zu Tristran empor. Drohend zielte sie mit einem weiteren Dreckklumpen auf ihn, warf aber nicht.
Ihre Augen waren rot und entzündet, ihr Haar hell, fast weiß, ihr Kleid aus blauer Seide, die im Kerzenlicht schimmerte. Sie glitzerte am ganzen Körper. »Bitte bewirf mich nicht mehr«, bat Tristran. »Hör zu, ich wollte dich nicht belästigen. Es ist nur so, daß hier irgendwo ein Stern herumliegt, und ich muß ihn finden, ehe meine Kerze erlischt.«
»Ich hab’ mir das Bein gebrochen«, erklärte die junge Frau.
»Das tut mir natürlich leid«, erwiderte Tristran. »Aber ich brauche den Stern.«
»Ich hab’ mir das Bein gebrochen«, wiederholte sie traurig, »als ich runtergefallen bin.« Und damit schleuderte sie den Klumpen auf Tristran. Glitzerstaub fiel von ihren Armen, als sie sich bewegte.
Der Klumpen traf Tristran auf die Brust.
»Geh weg«, schluchzte das Mädchen und verbarg das Gesicht in den Armen. »Geh weg und laß mich in Ruhe.«
»Du bist der Stern«, sagte Tristran, dem allmählich ein Licht aufging.
»Und du bist ein Dummkopf«, entgegnete sie bitter, »und ein Trottel, ein Einfaltspinsel, ein Esel und ein Narr.«
»Ja«, sagte Tristran kleinlaut, »vermutlich hast du recht.« Er wickelte das lose Ende der Silberkette ab und ließ es über das schlanke Handgelenk des Mädchens gleiten. Dabei spürte er, daß sich die Schlaufe der Kette, die sein eigenes Handgelenk umschloß, fester zuzog.
Zornig blickte sie zu ihm empor. »Was machst du denn da?« fragte sie mit einer Stimme, aus der plötzlich jede Empörung, jeder Haß gewichen war.
»Ich nehme dich mit nach Hause«, antwortete Tristran. »Ich habe nämlich ein Versprechen abgelegt.«
Da begann der Kerzenstummel zu zischen, und der letzte Rest Docht schwamm in einem See aus Wachs. Einen Augenblick loderte die Flamme hoch auf, tauchte das Tal, das Mädchen und die Kette, die von ihrem Handgelenk zu Tristrans lief, in helles Licht.
Dann erlosch die Kerze.
Tristran starrte den Stern – das Mädchen – an und schaffte es nur mit größter Anstrengung, nichts weiter zu ihm zu sagen.
Komm ich dort hin bei Kerzenschein? dachte er. Ja, selbst zurück kannst du gehn. Aber der Kerzenschein war nicht mehr da, und er würde sechs Monate brauchen, um nach einer noch dazu beschwerlichen Reise das Dorf Wall wieder zu erreichen.
»Ich möchte dir nur sagen«, erklärte das Mädchen kühl, »daß ich dir, ganz gleich, wer du bist und was du mit mir vorhast, in keiner Weise helfen oder dich unterstützen werde – im Gegenteil: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um deine Pläne zu vereiteln.« Nach einer kurzen Pause fügte es aus tiefstem Herzen hinzu: »Idiot!«
»Hmm«, brummte Tristran nachdenklich. »Kannst du laufen?«
»Nein«, antwortete es. »Mein Bein ist gebrochen. Bist du auch noch taub, nicht nur dumm?«
»Schlafen Sterne manchmal?« fragte er.
»Selbstverständlich. Aber nicht nachts. Da scheinen wir.«
»Nun, ich werde jetzt erst einmal ein bißchen schlafen«, sagte er. »Ich weiß sonst nichts zu tun. Es war ein langer Tag für mich, und ein ziemlich ereignisreicher obendrein. Vielleicht solltest du dich auch ausruhen. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Inzwischen begann der Morgen zu dämmern. Tristran legte den Kopf auf seine Ledertasche und bemühte sich, die Beleidigungen und Beschimpfungen des Mädchens im blauen Kleid am Ende der Silberkette zu überhören.
Er überlegte, was der kleine haarige Mann tun würde, wenn Tristran nicht zurückkehrte.
Er dachte darüber nach, was Victoria Forester wohl gerade machte, und kam zu dem Schluß, daß sie wahrscheinlich in ihrem Zimmer im Haus ihres Vaters in ihrem Bett lag und schlief.
Er überlegte, daß sechs Monate eine lange Reise waren, und fragte sich, was sie unterwegs essen sollten.
Und womit Sterne sich ernährten…
Dann war er eingeschlafen.
»Schwachkopf, Doofbirne, Blödian«, sagte die Sternfrau.
Dann seufzte sie und machte es sich so bequem wie unter den gegebenen Umständen eben möglich. Der Schmerz in ihrem Bein war dumpf, aber beständig. Vorsichtig untersuchte sie die Kette, aber die war fest und eng und ließ sich weder abstreifen noch zerreißen. »Dämlicher verlauster Hornochse«, knurrte sie.
Und dann schlief sie ebenfalls ein.