Im hellen Morgenlicht wirkte die junge Frau menschlicher und weniger ätherisch. Seit Tristran aufgewacht war, hatte sie jedoch noch kein Wort gesprochen.
Er nahm sein Messer und schnitt aus einem herabgefallenen Ast eine Y-förmige Krücke zurecht, während das Mädchen unter einer Platane saß und ihn von dort aus mit grimmigen Blicken bedachte. Er schälte die Rinde von einem grünen Zweig und wickelte sie um die Gabel des Y.
Sie hatten noch nicht gefrühstückt, und Tristran hatte einen Bärenhunger; sein Magen knurrte laut bei der Arbeit. Das Sternmädchen äußerte sich nicht dazu, ob sie etwas essen wolle. Sie starrte ihn nur an, erst vorwurfsvoll, dann mit unverhohlenem Haß.
Tristran zog die Rinde fest, fädelte das Ende unter der letzten Lage durch und straffte das Band erneut. »Ich meine das wirklich nicht persönlich«, sagte er zu der jungen Frau und zu dem Wäldchen, in dem sie sich befanden. Unter den Sonnenstrahlen glitzerte sie kaum noch, außer an den Stellen, die ganz im Schatten lagen.
Das Sternmädchen fuhr mit einem bleichen Finger über die Silberkette, mit der sie an Tristran gefesselt war, strich auf und ab, um ihr Handgelenk herum, antwortete aber nichts.
»Ich habe das aus Liebe getan«, fuhr Tristran fort. »Und du bist meine einzige Hoffnung. Ihr Name – ich meine, der Name meiner Liebsten – ist Victoria Forester. Und sie ist das hübscheste, klügste und süßeste Mädchen auf der ganzen weiten Welt.«
Nun brach die junge Frau doch ihr Schweigen – mit einem verächtlichen Schnauben sagte sie: »Und dieses kluge, süße Wesen hat dich hierhergeschickt, um mich zu quälen?«
»Nun, so kann man es nicht sagen. Weißt du, sie hat mir alles versprochen, was ich mir wünsche – sei es, daß ich sie heiraten könne oder sie küssen dürfe –, wenn ich ihr den Stern bringe, der in der besagten Nacht vom Himmel gefallen ist. Ich dachte«, gestand er, »eine Sternschnuppe würde wahrscheinlich aussehen wie ein Diamant oder ein Stein. Eine junge Frau wie dich habe ich ganz und gar nicht erwartet.«
»Nachdem du nun also eine junge Frau gefunden hast, hättest du ihr da nicht helfen oder sie einfach in Ruhe lassen können? Warum mußt du sie in diese ganze alberne Geschichte mit hineinziehen?«
»Aus Liebe«, erklärte er.
Sie sah ihn an mit ihren Augen, die so blau waren wie der Himmel. »Ich hoffe, du erstickst daran«, sagte sie mit unbewegter Stimme.
»Das werde ich bestimmt nicht«, entgegnete Tristran überzeugter und fröhlicher, als ihm zumute war. »Hier. Versuch das mal.« Damit reichte er ihr die Krücke, bückte sich und wollte ihr beim Aufstehen behilflich sein. In seinen Händen kribbelte es durchaus nicht unangenehm, als seine Haut die ihre berührte. Aber sie saß auf dem Boden wie ein Holzklotz und machte keine Anstalten, sich zu erheben.
»Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich alles tun werde, um deine Pläne zu durchkreuzen«, meinte sie. Dann blickte sie sich um. »Wie langweilig die Welt am Tag aussieht. So glanzlos.«
»Stütz dich einfach auf mich und die Krücke«, sagte Tristran. »Du kannst hier doch nicht einfach liegen bleiben.« Er zog an der Kette, und widerwillig begann die Sternfrau aufzustehen, wobei sie sich anfangs an Tristran lehnte und dann auf die Krücke, als wäre ihr seine Nähe unangenehm.
Aber dann sog sie scharf die Luft ein und taumelte zurück ins Gras, wo sie mit verzerrtem Gesicht liegen blieb und leise Schmerzenslaute von sich gab. Tristran kniete sich neben sie. »Was ist?« fragte er.
Ihr blauen Augen blitzten auf, aber sie waren voller Tränen. »Mein Bein. Ich kann nicht darauf stehen. Offenbar ist es wirklich gebrochen.« Ihre Haut war so weiß geworden wie eine Wolke, und sie zitterte.
»Das tut mir leid«, meinte Tristran, was natürlich rein gar nichts brachte. »Ich kann dir eine Schiene basteln. Das hab’ ich schon oft für die Schafe gemacht. Dann geht’s bestimmt.« Er drückte aufmunternd ihre Hand. Er ging hinunter zum Bach, tunkte sein Taschentuch hinein und gab es der Sternfrau, damit sie sich die Stirn abtupfen konnte.
Mit dem Messer machte er sich an einem anderen herabgefallenen Holzstück zu schaffen. Kurz entschlossen zog er erst sein Wams, dann sein Hemd aus und riß letzteres in Streifen. Damit band er die zurechtgeschnittenen Stöcke so fest wie möglich um ihr verletztes Bein. Während er am Werk war, gab die Sternschnuppe keinen Laut von sich, aber als er den letzten Knoten zuzog, glaubte er, ein leises Wimmern zu hören.
»Wir sollten uns nach einem richtigen Arzt für dich umsehen«, meinte er. »Ich bin kein Chirurg oder dergleichen.«
»Nein?« fragte sie trocken. »So eine Überraschung.«
Sie ruhte sich eine Weile in der Sonne aus. Dann meinte er: »Laß es uns noch mal versuchen«, und zog sie auf die Füße.
Hinkend verließ sie mit ihm das Wäldchen; die Sternfrau lehnte schwer auf ihrer Krücke und auf Tristrans Arm und verzog bei jedem Schritt das Gesicht. Jedesmal wenn sie zusammenzuckte oder eine Grimasse schnitt, bekam Tristran ein schlechtes Gewissen und kam sich wieder vor wie ein Tölpel, aber er beruhigte sich, indem er an Victoria Foresters graue Augen dachte. So folgten sie einem Wildwechsel durch die Haselsträucher, wobei Tristran – der beschlossen hatte, es sei vielleicht besser, sich mit der Sternfrau zu unterhalten – sie fragte, wie lange die junge Frau denn schon ein Stern sei, ob es Spaß mache, ein solcher zu sein, und ob alle Sterne Frauen seien. Er erzählte ihr, daß er immer gedacht hätte, Sterne seien Bälle aus brennendem Gas, viele Meilen im Durchmesser, wie die Sonne, nur weiter weg. Das hätte Mrs. Cherry ihren Schülern beigebracht.
Sie antwortete auf keine seiner Fragen und reagierte auch nicht im geringsten auf seine Erklärungen.
»Warum bist du heruntergefallen?« fragte er schließlich. »Bist du über irgendwas gestolpert?«
Abrupt blieb sie stehen, drehte sich zu ihm und starrte ihn an, als betrachte sie aus großer Entfernung etwas äußerst Abstoßendes.
»Ich bin nicht gestolpert«, sagte sie endlich. »Etwas hat mich getroffen. Das hier.« Damit griff sie in ihr Kleid und zog einen großen gelblichen Stein heraus, der an einer doppelten Silberkette hing. »Ich hab’ einen blauen Fleck an der Seite, wo er mich erwischt und vom Himmel geschubst hat. Jetzt muß ich diesen Stein mit mir rumtragen.«
»Warum?«
Zuerst hatte es den Anschein, als wollte sie antworten, aber dann schüttelte sie den Kopf, machte den Mund wieder zu und schwieg. Rechts neben ihnen plätscherte und hüpfte ein Bach, als wollte er mit ihnen Schritt halten. Über ihren Köpfen schien die Mittagssonne, und Tristran wurde immer hungriger. Er holte den trockenen Kanten Brot aus seiner Tasche, befeuchtete ihn im Bach und teilte ihn in zwei Teile.
Die Sternfrau inspizierte das Brot angeekelt, machte aber keine Anstalten, es in den Mund zu stecken.
»Du wirst verhungern«, warnte Tristran.
Sie antwortete nicht und reckte trotzig das Kinn vor.
Sie gingen weiter durch den Wald, kamen aber nur sehr langsam voran. Mühsam stiegen sie einen schmalen Pfad am Hang eines Hügels empor, mußten über umgestürzte Bäume klettern, und schließlich wurde der Weg so steil, daß die stolpernde Sternfrau und ihr Begleiter abzurutschen drohten. »Gibt es denn keinen einfacheren Weg?« fragte die junge Frau. »Irgendeine Straße oder eine gerodete Fläche?«
Sobald die Frage gestellt war, wußte Tristran die Antwort. »Eine halbe Meile in diese Richtung gibt es eine Straße und da drüben, hinter dem Dickicht, liegt eine Lichtung«, erklärte er und deutete in die entsprechenden Richtungen.
»Das wußtest du?«
»Ja. Nein. Na ja, ich wußte es, als du mich danach gefragt hast.«
»Dann laß uns zu der Lichtung gehen«, sagte sie, und die beiden schlugen sich so gut es ging durchs dichte Unterholz. Dennoch brauchten sie beinahe eine Stunde, bis sie die Lichtung erreichten, aber dort war der Untergrund wenigstens eben und flach wie ein Sportfeld. Allem Anschein nach war der Wald hier aus einem bestimmten Grund gerodet worden, auch wenn Tristran sich einen solchen nicht vorstellen konnte.
Mitten auf der Lichtung, ein Stück von ihnen entfernt, lag auf dem Gras eine kunstvoll gearbeitete goldene Krone, die in der Nachmittagssonne glitzerte. Sie war mit roten und blauen Steinen verziert: Rubine und Saphire, dachte Tristran. Gerade wollte er sich ihm nähern, da legte das Sternmädchen ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Warte. Hörst du die Trommeln?«
Auf einmal nahm er das Geräusch wahr, ein leises, dumpfes Grollen aus allen Richtungen um sie herum, nah und fern, in den Hügeln widerhallend. Aus dem Wald auf der anderen Seite der Lichtung erscholl ein lautes Krachen und ein hoher, wortloser Schrei. Dann erschien ein riesiges weißes Pferd; seine Flanken waren voller Wunden und blutüberströmt. Es galoppierte mitten auf die Lichtung, drehte sich dort um, senkte den Kopf und bot seinem Verfolger die Stirn – der jetzt auf die Lichtung stürzte, mit einem Knurren, das Tristran eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Es war ein Löwe, aber das Tier ähnelte kaum dem Löwen, den Tristran bei einem Jahrmarkt im Nachbardorf gesehen hatte und der ein räudiges, zahnloses, verschnupftes Tier gewesen war. Dieser Löwe war riesig, sein Fell hatte die Farbe von dunklem Sand. Mit einem Satz war der Löwe auf der Lichtung und fauchte das weiße Pferd an.
Das Pferd war außer sich vor Angst. In seiner Mähne mischte sich Schweiß mit Blut, die Augen blickten gehetzt in die Runde. Außerdem entdeckte Tristran ein langes, elfenbeinernes Horn in der Mitte seiner Stirn. Wiehernd und schnaubend bäumte es sich auf und erwischte den Löwen mit einer seiner scharfen, unbeschlagenen Hufe an der Schulter. Das Raubtier jaulte auf wie eine Katze, die sich verbrannt hat, und machte einen Satz nach hinten. Wachsam und in sicherer Entfernung umkreiste der Löwe das Einhorn, die goldenen Augen unablässig auf das scharfe Horn gerichtet, das stets in seine Richtung wies.
»Geh dazwischen«, flüsterte das Sternmädchen. »Sonst töten sie einander.«
Der Löwe knurrte das Einhorn an, was sich zuerst nur wie ein unheilverkündendes Brummen eines fernen Donners anhörte, sich dann aber zu einem ohrenbetäubenden Brüllen steigerte und die Felsen des Tals und den Himmel erschütterte. Dann setzte der Löwe zum Sprung an, und das Einhorn brach unter der Wucht des Angriffs zusammen; ein Wirbel von Gold und Silber und Rot erfüllte die Lichtung, und plötzlich war der Löwe auf dem Rücken des Einhorns, die Klauen in dessen Flanken gekrallt, das Maul eng an seinem Hals, während das Einhorn laute Klagelaute ausstieß und sich heftig aufbäumte, um das Raubtier abzuwerfen. Vergeblich schlug es mit den Hufen nach seinem Peiniger und versuchte sein Horn auf ihn zu richten.
»Bitte, tu doch etwas. Der Löwe wird es umbringen«, flehte das Mädchen immer dringlicher.
Tristran hätte ihm erklären können, daß er, wenn er sich der wütenden Bestie näherte, im Handumdrehen aufgespießt, getreten, zerfetzt und aufgefressen werden würde; weiterhin hätte er argumentieren können, daß er, selbst wenn er wie durch ein Wunder überlebte, nichts tun konnte, da er nicht mal einen Eimer Wasser dabei hatte – was in Wall die traditionelle Methode war, um kämpfende Tiere auseinanderzubringen. Doch bis ihm alle diese Gedanken durch den Kopf gegangen waren, stand er bereits im Zentrum der Lichtung, nur um Armeslänge von den beiden Tieren entfernt. Der Geruch des Löwen war durchdringend, schrecklich, und Tristran war ihm nahe genug, um den flehentlichen Ausdruck in den schwarzen Augen des Einhorns zu erkennen…
Der Löwe und das Einhorn kämpften um die Krone, dachte Tristran, dem der alte Kinderreim einfiel.
Der Löwe jagt’ das Einhorn
Quer durch die ganze Stadt.
Er schlägt’s einmal
Er schlägt’s zweimal
Mit seiner ganzen Kraft.
Er schlägt es auch ein drittes Mal
Will erhalten seine Macht.
Und mit diesem Gedanken hob Tristran die Krone aus dem Gras auf; sie war schwer und glatt wie Blei. Dann ging er zu den Tieren und sprach mit dem Löwen, wie er früher mit den übellaunigen Widdern und den aufgeregten Mutterschafen auf den Weiden seines Vaters gesprochen hatte. »Ganz ruhig, na komm… ganz ruhig… schau, hier ist deine Krone.«
Der Löwe schüttelte das Einhorn wie eine Katze den Wollschal und warf Tristran einen vollkommen verwirrten Blick zu.
»Hallo«, sagte Tristran. In der Mähne des Löwen hatten sich Kletten und Blätter verfangen. Tristran hielt dem großen Biest die Krone hin. »Du hast gewonnen. Laß das Einhorn in Frieden ziehen.« Wieder trat er einen Schritt näher und setzte mit zitternden Händen dem Löwen die Krone auf den Kopf.
Langsam stieg der Löwe vom Rücken des gestürzten Einhorns und begann dann hoch erhobenen Hauptes auf der Lichtung umherzuschreiten. Als er den Waldrand erreichte, blieb er einige Minuten stehen, um sich mit seiner roten Zunge die Wunden zu lecken; dann schlüpfte er, leise brummend wie ein fernes Erdbeben, in den Wald hinein und verschwand.
Die Sternfrau hinkte zu dem verwundeten Einhorn hinüber und ließ sich neben ihm ins Gras sinken, ungelenk, das gebrochene Bein zur Seite von sich weggestreckt. Sie streichelte den Kopf des Tieres. »Du armes, armes Wesen«, sagte sie leise. Da schlug das Einhorn die Augen auf, legte den Kopf in ihren Schoß und schloß die Augen wieder.
Am Abend verzehrte Tristran den letzten Rest des harten Brots. Die Sternfrau aß nichts. Sie hatte darauf bestanden, neben dem Einhorn sitzen zu bleiben, und Tristran hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr diesen Wunsch zu verweigern.
Inzwischen war es auf der Lichtung dunkel geworden. Der Himmel über ihnen füllte sich mit Tausenden glitzernden Sternen. Auch die Sternfrau glitzerte, als hätte die Milchstraße sie gestreift, während das Einhorn in der Dunkelheit sanft schimmerte, wie der Mond hinter den Wolken. Tristran legte sich neben den mächtigen Körper des Einhorns und spürte die Wärme, die von ihm ausging. Auf der anderen Seite des Tieres lag die Sternfrau, und es hörte sich an, als sänge sie ganz leise ein Lied für das Einhorn. Tristran hätte gern mehr davon gehört. Die Bruchstücke der Melodie, die er mitbekam, waren fremd und faszinierend, aber sie sang so leise, daß nicht viel davon zu hören war.
Seine Finger berührten die Kette, die sie miteinander verband: Kalt wie Schnee war sie, zart wie Mondlicht auf dem Mühlteich oder das Schimmern des Lichts auf den Silberschuppen der Forelle, wenn sie in der Dämmerung nach Futter schnappt.
Und bald darauf war er eingeschlafen.
* * *
Die Hexenkönigin steuerte ihren Wagen einen Waldweg entlang; wenn die Geißböcke Anzeichen von Ermüdung zeigten, bekamen sie die Peitsche zu spüren. Schon ungefähr eine halbe Meile vorher entdeckte sie das kleine Kochfeuer neben dem Pfad, und sie erkannte an der Farbe der Flammen, daß es von jemandem ihresgleichen angezündet worden war, denn Hexenfeuer brennen in bestimmten ungewöhnlichen Farben. Sie zügelte ihre Ziegenböcke, als sie den farbenfroh angemalten Zigeunerwagen, das Feuer und die grauhaarige Frau erreichten, die neben dem Feuer saß und sich um den Spieß kümmerte, auf dem ein Hase briet. Fett triefte aus seinen Eingeweiden, daß das Feuer brutzelte und zischte; ein durchdringender Geruch nach bratendem Fleisch und Holzrauch ging von ihm aus.
Neben dem Fahrersitz des Wagens hockte ein vielfarbiger Vogel auf einer hölzernen Stange. Er plusterte sich auf und stieß einen Warnschrei aus, als er die Hexenkönigin entdeckte, aber er war auf der Stange festgebunden und konnte nicht wegfliegen.
»Ehe du was sagst«, meinte die grauhaarige Frau, »sollte ich dir mitteilen, daß ich bloß eine arme alte Blumenverkäuferin bin, eine harmlose alte Vettel, die noch nie jemandem was getan hat, und daß der Anblick einer so prächtigen und ehrfurchtgebietenden Lady wie dir mich mit Respekt und Furcht erfüllt.«
»Ich werde dir nichts zuleide tun«, entgegnete die Hexenkönigin.
Die Alte kniff die Augen zusammen und musterte die Dame im roten Gewand vom Scheitel bis zur Sohle. »Das sagst du so«, meinte sie. »Aber woher soll ich wissen, daß es wirklich so ist, ein liebes naives Dummchen wie ich, das vor Furcht zittert wie Espenlaub? Womöglich planst du, mich in der Nacht auszurauben oder noch was Schlimmeres.« Sie stocherte mit einem Stock im Feuer, daß die Flammen hoch aufloderten. Der Geruch des bratenden Fleischs hing in der stillen Abendluft.
»Ich schwöre«, begann die Dame im roten Gewand, »bei den Regeln und Vorschriften der Schwesternschaft, zu der du und ich gehören, bei der Macht der Lilim und bei meinen Lippen, meinen Brüsten und meiner Jungfräulichkeit, daß ich dir nichts Böses will und dich behandeln werde, als wärst du mein eigener Gast.«
»Das genügt mir, Schnuckelchen«, erwiderte die alte Frau, und auf ihrem Gesicht erschien ein breites Lächeln. »Komm her und setz dich. Das Abendessen ist gleich fertig, schneller als ein Lamm zweimal mit dem Schwanz wackelt.«
»Aber gern«, sagte die Dame im roten Gewand.
Die Ziegen schnupperten und zupften am Gras und an den Blättern neben dem Wagen, wobei sie die angebundenen Maultiere, die den Zigeunerwagen zogen, argwöhnisch betrachteten. »Feine Ziegen«, meinte die Alte. Die Hexenkönigin neigte den Kopf und lächelte bescheiden, während der Feuerschein auf der kleinen scharlachroten Schlange schimmerte, die sich als Armband um ihr Handgelenk schlang.
»Nun, meine Liebe«, fuhr die Alte fort, »meine Augen sind leider nicht mehr das, was sie mal waren, aber gehe ich recht in der Annahme, daß einer der beiden feinen Gesellen das Leben auf zwei Beinen begonnen hat, nicht auf vier?«
»So etwas hat man schon gehört«, räumte die Hexenkönigin ein. »Beispielsweise auch über den wunderschönen Vogel, den du da bei dir sitzen hast.«
»Dieser Vogel hat eines meiner besten Stücke weggegeben, hat es vor fast zwanzig Jahren an einen Taugenichts verhökert. Und was die kleine Schlampe mir danach noch für Ärger gemacht hat, kann man sich kaum vorstellen. Deshalb bleibt sie dieser Tage ein Vogel, es sei denn, sie hat Arbeit zu erledigen oder ich brauche sie am Blumenstand. Wenn ich einen guten starken Sklaven finden könnte, der keine Angst vor ein bißchen harter Arbeit hat, na, dann würde sie für immer ein Vogel bleiben.«
Der Vogel piepste traurig auf seiner Stange.
»Man nennt mich Madame Semele«, erklärte die Alte.
Man hat dich Straßengraben-Sal genannt, als du noch ein junges Würstchen warst, dachte die Hexenkönigin, aber sie sagte es nicht laut. »Mich kannst du Morwanneg nennen«, verkündete sie statt dessen. Was, überlegte sie, eigentlich ein Witz war, denn Morwanneg bedeutet Meereswoge, und ihr wahrer Name war vor langer Zeit unwiederbringlich vom kalten Ozean verschlungen worden.
Madame Semele stand auf, ging ins Innere des Wagens und kam mit zwei bemalten Holzschalen wieder zum Vorschein; außerdem brachte sie zwei Messer mit Holzgriff und einen kleinen Topf mit Kräutern, getrocknet und zu einem grünen Pulver zerstoßen. »Eigentlich wollte ich mit den Fingern von einem Teller aus frischen Blättern essen«, sagte sie und reichte der Frau im scharlachroten Kleid eine der Schalen, auf die unter einer Staubschicht eine gemalte Sonnenblume zu erkennen war. »Aber ich dachte, na ja, wie oft hab’ ich schon solch feinen Besuch? Da ist das Beste gerade gut genug. Kopf oder Hinterteil?«
»Entscheide du«, antwortete der feine Besuch.
»Dann bekommst du den Kopf, mit den leckeren Augen und dem köstlichen Gehirn und den knusprigkrossen Ohren. Und ich nehme den Rumpf, an dem es weiter nichts zu knabbern gibt als langweiliges fasriges Fleisch.« Während sie sprach, hob sie den Spieß vom Feuer, zerlegte den Braten mit den beiden Messern, die sie so flink handhabte, daß man nur funkelnde Klingen wahrnahm, schnitt das Fleisch von den Knochen und verteilte es ziemlich gleichmäßig auf die beiden Schalen. Dann reichte sie ihrem Gast den Kräutertopf. »Leider habe ich kein Salz, meine Gute, aber wenn du das hier drüberstreust, hat es die gleiche Wirkung. Ein wenig Basilikum, ein wenig Thymian – mein eigenes Rezept.«
Die Hexenkönigin nahm ihre Portion Hasenbraten und eins der Messer. Dann streute sie ein wenig von der Kräutermischung auf den Braten, spießte einen Bissen mit der Messerspitze auf und verzehrte ihn mit Genuß, während ihre Gastgeberin mit ihrer eigenen Portion herumspielte und ausgiebig darauf blies, so daß der Dampf in Schwaden vom knusprigen braunen Fleisch aufstieg.
»Wie schmeckt es?« fragte die alte Frau.
»Hervorragend«, antwortete die Dame ehrlich.
»Das liegt an den Kräutern«, erklärte die Alte.
»Ich kann Basilikum und Thymian herausschmecken«, stellte die Besucherin fest, »aber da ist noch ein Geschmack, den finde ich schwieriger zu identifizieren.«
»Ah«, machte Madame Semele nur und knabberte an einem Stück Fleisch.
»Ein sehr ungewöhnlicher Geschmack.«
»Ganz richtig. Das ist ein Kraut, das nur in Garamond wächst, auf einer Insel mitten in einem großen See. Es paßt hervorragend zu allen möglichen Fleisch- und Fischgerichten und erinnert mich im Geschmack an Fenchelblätter, mit einem Hauch Muskat. Die Blüten haben eine wunderschöne orangene Färbung. Es ist gut bei Blähungen und Fieber und außerdem ein mildes Schlafmittel, mit dem eigenartigen Nebeneffekt, daß man mehrere Stunden, nachdem man es zu sich genommen hat, nur die Wahrheit sagen kann.«
Die Dame im scharlachroten Gewand ließ ihre Schale auf den Boden fallen. »Limbusgras?« fragte sie. »Du hast es gewagt, mir Limbusgras zu verabreichen?«
»So sieht’s aus, Liebchen«, meinte die Alte kichernd und gackernd. »Also, sag mir, Mistress Morwanegg, falls das dein Name ist, wohin bist du unterwegs in deinem schicken Wagen? Und warum erinnerst du mich an eine Frau, die ich vor langer Zeit einmal kannte?… Denn Madame Semele vergißt nichts und niemanden.«
»Ich bin auf der Suche nach einem Stern«, antwortete die Hexenkönigin, »einem Stern, der im großen Wald auf der anderen Seite von Mount Belly vom Himmel gefallen ist. Und wenn ich die Sternfrau finde, dann nehme ich mein großes Messer und schneide ihr bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust, solange es noch ihr gehört. Denn das Herz eines lebenden Sterns ist ein unübertroffenes Mittel gegen all die üblen Fallstricke von Alter und Zeit. Meine Schwestern erwarten meine Rückkehr.«
Madame Semele johlte, schlang die Arme um sich und schaukelte vor und zurück, die knochigen Finger in die Seiten gekrallt. »Das Herz eines Sterns, ja? He he! Das wird eine schöne Kostbarkeit für mich. Ich werde davon genügend kosten, daß meine Jugend zurückkehrt, meine Haare nicht mehr grau sind, sondern golden, daß meine Titten schwellen und fest und hoch werden. Das, was übrigbleibt, nehme ich mit zum Großen Markt in Wall. Hee!«
»Das wirst du nicht tun«, sagte ihre Besucherin sehr ruhig.
»Nein? Du bist mein Gast, meine Liebe. Du hast einen Eid geschworen. Du hast von meinem Essen gekostet. Nach den Gesetzen unserer Schwesternschaft kannst du mir nichts antun.«
»Oh, es gibt viele Dinge, die ich dir antun kann, Straßengraben-Sal, aber ich möchte dich einfach nur darauf hinweisen, daß jemand, der Limbusgras zu sich genommen hat, mehrere Stunden lang nur die Wahrheit sagen kann, und noch etwas…« Wetterleuchten flackerte in ihren Worten, der Wald schwieg, als lauschten jedes Blatt und jeder Baum aufmerksam. »Folgendes: Du hast Wissen gestohlen, nicht verdient, aber das wird dir nichts nützen. Denn du wirst den Stern nicht sehen können, ihn nicht wahrnehmen, berühren, schmecken, finden, töten können. Selbst wenn ein anderer dem Stern das Herz herausschneidet und es dir gibt, würdest du nie und nimmer wissen, was du da in der Hand hältst. Das wollte ich dir nur sagen. Dies sind meine Worte, und sie sind eine Wahrsagung. Und wisse außerdem: Bei der Schwesternschaft habe ich geschworen, dir nichts zuleide zu tun. Hätte ich diesen Schwur nicht geleistet, würde ich dich in eine Küchenschabe verwandeln und dir die Beine ausreißen, eins nach dem anderen, und dich den Vögeln zum Fraß vorwerfen, weil du mich in diese demütigende Lage gebracht hast.«
Madame Semele riß erschrocken die Augen auf und starrte die Dame über die Flammen hinweg unverwandt an. »Wer bist du?« fragte sie.
»Als du mich das letzte Mal gesehen hast«, antwortete die Frau im scharlachroten Gewand, »habe ich mit meinen Schwestern in Carnadine geherrscht, ehe es versunken ist.«
»Du? Aber du bist tot, seit langem schon.«
»Man hat die Lilim schon des öfteren für tot erklärt, aber es war jedesmal gelogen. Das Eichhörnchen hat noch nicht mal die Eichel gefunden, aus dem die Eiche wachsen wird, die das Holz für die Wiege des Kindes liefert, das mich erschlagen wird.«
Silbern loderten die Flammen empor, während sie sprach.
»Dann bist du es also tatsächlich. Und du hast deine Jugend zurückgewonnen.« Madame Semele seufzte. »Und jetzt werde auch ich wieder jung sein.«
Die Frau im scharlachroten Gewand erhob sich und stellte die Schale, in der ihre Portion Hasenbraten gewesen war, ins Feuer. »Du wirst nichts dergleichen sein«, entgegnete sie. »Hast du mir nicht zugehört? In dem Augenblick, wenn ich dich verlasse, wirst du vergessen, daß du mich jemals gesehen hast. Du wirst alles vergessen, selbst den Fluch, obgleich das Wissen darüber immer an dir nagen und dich irritieren wird, wie ein Jucken an einem längst amputierten Glied. Mögest du in Zukunft deine Gäste freundlicher und mit mehr Respekt behandeln.«
Da fing die Holzschale Feuer, und eine riesige Stichflamme schnellte empor, die die Blätter der Eiche hoch über ihnen versengte. Madame Semele stieß die geschwärzte Schale mit einem Stock aus dem Feuer und stampfte im hohen Gras darauf herum. »Was ist bloß in mich gefahren, daß ich die Schale ins Feuer fallen lasse?« rief sie laut. »Und sieh nur, eins meiner hübschen Messer, es ist angekokelt und kaputt. Was hab’ ich mir nur dabei gedacht?«
Sie erhielt keine Antwort. Ein Stück weiter die Straße hinunter war ein Klappern zu hören, das gut von den Hufen von Ziegen hätte stammen können, die durch die Nacht preschten. Madame Semele schüttelte den Kopf, als wollte sie Staub und Spinnweben entfernen. »Ich werde anscheinend alt«, sagte sie zu dem farbenfrohen Vogel, der auf seiner Stange neben dem Fahrersitz hockte und alles gesehen und nichts davon vergessen hatte. »Ja, ich werde alt. Und dagegen kann man nichts machen.« Unbehaglich rutschte der Vogel auf der Stange herum.
Zögernd hoppelte ein Eichhörnchen ins Licht des Feuers. Es nahm eine Eichel, hielt sie einen Moment in seinen handartigen Pfoten, als wollte es beten. Dann rannte es davon, um die Nuß zu vergraben und zu vergessen.
* * *
Scaithes Ebb ist ein kleines auf Granitfels gebautes Hafenstädtchen; hier wimmelt es von Händlern, Schreinern und Segelmachern, von alten Matrosen mit fehlenden Fingern und Gliedmaßen, Seeleuten, die ihre eigenen Grog-Kneipen aufgemacht haben und ihre Tage dort verbringen, die letzten verbliebenen Haare zu langen Zöpfen geflochten, auch wenn die Bartstoppeln am Kinn längst weiß geworden sind. In Scaithe’s Ebb gibt es keine Huren, auch keine, die sich als solche ansehen; andererseits hat es schon immer viele Frauen gegeben, die, wenn man ihnen auf den Zahn fühlt, berichten, mit mehreren Männern verheiratet zu sein – mit dem einen auf einem Schiff, das alle sechs Monate im Hafen liegt, und mit noch einem anderen auf einem Kahn, der ungefähr alle neun Monate für ein paar Wochen hier festmacht.
Meist gibt es bei diesen Arrangements keinerlei Probleme; falls aber jemand nicht so gut damit zurechtkommt und ein Mann zu seiner Frau zurückkehrt, während noch einer ihrer anderen Ehemänner bei ihr lebt, nun, dann gibt es einen Kampf – und die Grog-Kneipen als Trost für den Verlierer. Den Seeleuten gefällt das Arrangement, denn sie wissen, daß auf dieses Weise wenigstens ein Mensch merkt, wenn sie nicht von hoher See zurückkommen, und um sie trauert; ihre Frauen begnügen sich mit dem sicheren Wissen, daß ihre Ehemänner ebenfalls untreu sind, denn nichts kann mit der Liebe eines Mannes zur See wetteifern: Sie ist gleichzeitig seine Mutter und seine Geliebte, sie wäscht seine Leiche, wenn die Zeit gekommen ist, verwandelt ihn in Korallen, Elfenbein und Perlen.
So kam denn Lord Primus von Stormhold des Nachts nach Scaithe’s Ebb, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem Bart so dicht wie die Storchennester auf den Schornsteinen der Stadt. Seine Kutsche wurde von vier schwarzen Pferden gezogen. Er mietete ein Zimmer im Gasthaus Seemannsruhe in der Crook Street.
Dort nahm man seine Bedürfnisse und Wünsche mit einer gewissen Befremdung zur Kenntnis, denn er trug sein eigenes Essen und Trinken auf sein Zimmer, eingeschlossen in eine hölzerne Truhe, die er nur öffnete, um sich einen Apfel, ein Stück Käse oder ein Glas Pfefferwein zu genehmigen. Er bewohnte das oberste Zimmer in der Seemannsruhe, einem schmalen hohen Gebäude, das auf einen Felsvorsprung gebaut war, um das Schmuggelgeschäft zu erleichtern.
Lord Primus bestach eine Reihe ansässiger Straßenkinder, ihm Bescheid zu sagen, sobald auf dem Land- oder Seeweg ein Unbekannter in der Stadt einträfe; vor allem sollten sie Ausschau halten nach einem sehr großen, vierschrötigen dunkelhaarigen Burschen, mit einem gierigen Gesicht und ausdruckslosen Augen.
»Allem Anschein nach hat Primus endlich gelernt, vorsichtig zu sein«, sagte Secundus zu seinen fünf anderen toten Brüdern.
»Nun, du weißt ja, was man sagt«, wisperte Quintus im wehmütigen Ton der Toten, der an jenem Tag klang wie das ferne Plätschern der Wellen an einem Kiesstrand. »Ein Mann, der Septimus nicht ständig im Auge behält, ist lebensmüde.«
Am Morgen unterhielt sich Primus mit den Kapitänen, deren Schiffe in Scaithes Ebb vor Anker lagen, spendierte ihnen großzügig Grog, aß und trank selbst aber nie mit ihnen. Nachmittags inspizierte er dann die Schiffe in den Docks.
Schon bald hatten die Klatschmäuler von Scaithe’s Ebb (von denen es mehr als genug gab) die Sache durchschaut: Der bärtige Gentleman wollte sich nach Osten einschiffen. Auf diese Geschichte folgte rasch die nächste, daß er nämlich unter Kapitän Yann auf der Traumherz ausfahren wollte, einem Schiff mit schwarzen Verzierungen und einem blutrot gestrichenen Deck, von mehr oder minder anständiger Reputation (das heißt, es beschränkte seine seeräuberischen Aktivitäten auf ferne Gewässer), und zwar sobald der Gentleman dies wünschte.
»Guter Herr!« sagte ein Gassenjunge zu Lord Primus. »Es ist ein Mann in die Stadt gekommen, auf dem Landweg. Er wohnt bei Mistress Pettier, ist dünn und einer Krähe nicht unähnlich, und ich hab’ ihn im Meeresbrausen gesehen, wo er jedem Gast einen Grog ausgegeben hat. Er sagt, er ist ein Seemann in Not, der eine Unterkunft sucht.«
Primus tätschelte dem verdreckten Jungen den Kopf und drückte ihm eine Münze in die Hand. Dann wandte er sich wieder seinen Vorbereitungen zu, und noch an diesem Nachmittag hörte man, die Traumherz werde in drei Tagen auslaufen.
Am Tag bevor die Traumherz Segel setzte, wurde beobachtet, wie Primus seine Kutsche und die vier Pferde an den Stallmeister in der Warble Street verkaufte; dann marschierte er den Kai hinunter und verteilte kleine Münzen an die Gassenkinder. Schließlich begab er sich in seine Kabine auf der Traumherz, mit der strikten Anweisung, er wolle von niemandem gestört werden, ganz gleich aus welchem Grund, bis das Schiff mindestens eine Woche unterwegs war.
An diesem Abend hatte einer der Matrosen, die für die Takelung der Traumherz zuständig waren, einen Unfall.
Er stürzte im Vollrausch auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster der Revenue Street und brach sich die Hüfte. Glücklicherweise stand schon ein Ersatzmann bereit: der Matrose, mit dem der Verunglückte den ganzen Abend lang gebechert hatte und der sich von diesem einen besonders komplizierten Tanzschritt auf den nassen Steinen hatte zeigen lassen. Und eben dieser Matrose unterschrieb in dieser Nacht die Schiffspapiere mit einem Kringel. Als das Schiff am nächsten Tag im Morgennebel den Hafen verließ, war er auf Deck. Die Traumherz segelte ostwärts.
Lord Primus von Stormhold aber beobachtete frisch rasiert von der Klippenspitze, wie das Schiff davonsegelte und schließlich verschwand. Dann wanderte er hinunter zur Warble Street, wo er dem Stallknecht das Geld mit einem kleinen Bonus zurückgab. Dann nahm er die Küstenstraße nach Westen, in einer dunklen Kutsche, gezogen von vier schwarzen Pferden.
Die Lösung war naheliegend. Schließlich war das Einhorn schon fast den ganzen Morgen hinter ihnen her gelaufen, wobei es die Sternfrau gelegentlich in die Schulter geknufft hatte. Die Wunden auf seinen scheckigen Flanken, tags zuvor unter den Klauen des Löwen grell wie rote Blumen, waren nun getrocknet und mit Schorf bedeckt.
Die Sternfrau hinkte und humpelte und stolperte, und Tristran trottete neben ihr her, sein Handgelenk mit der kalten Kette an das ihre gefesselt.
Einerseits hatte Tristran fast das Gefühl, es wäre ein Sakrileg, auf dem Einhorn zu reiten. Schließlich war es ja kein Pferd und hatte daher auch nichts mit der uralten Übereinkunft zwischen Mensch und Pferd zu schaffen. In seinen schwarzen Augen funkelte es wild, sein Gang hatte etwas Unberechenbares an sich, etwas Gefährliches und Ungezähmtes. Andererseits spürte Tristran immer mehr, daß das Einhorn Mitgefühl für die Sternfrau empfand und ihr helfen wollte, auch wenn er dies nicht mit Worten hätte beschreiben können. Deshalb sagte er schließlich: »Sieh mal, ich weiß ja, daß du mit jedem Schritt meine Pläne durchkreuzen willst, aber wenn das Einhorn dazu bereit ist, würde es dich vielleicht ein Stückchen auf dem Rücken tragen.«
Die Sternfrau erwiderte nichts.
»Nun?«
Sie zuckte die Achseln.
Tristran wandte sich an das Einhorn und blickte ihm fest in die tiefschwarzen Augen. »Kannst du mich verstehen?« fragte er. Das Einhorn schwieg. Er hatte gehofft, es würde mit dem Kopf nicken oder mit dem Huf aufstampfen, wie er es einmal bei einem Dressurpferd auf dem Dorfanger gesehen hatte, als er noch klein war. Aber das Einhorn erwiderte nur stumm Tristrans Blick. »Trägst du die Dame? Bitte?«
Zwar sagte das Tier kein Wort, es nickte oder stampfte auch nicht, aber es ging zu der Sternfrau hinüber und kniete vor ihr nieder.
Tristran half der jungen Frau auf den Rücken des Einhorns. Mit beiden Händen griff sie in die zerzauste Mähne und streckte im Damensitz das gebrochene Bein von sich. Auf diese Weise kamen sie nun schneller voran.
Tristran trabte neben den beiden her; seine Tasche baumelte am einen Ende der Krücke, die er sich über die Schulter gelegt hatte. Für ihn war das Vorwärtskommen jetzt, da das Einhorn den Stern trug, mindestens ebenso beschwerlich wie zuvor. War er vorher gezwungen gewesen, langsam zu gehen und sich dem hinkenden Gehumpel des Sterns anzupassen, mußte er sich jetzt beeilen, um mit dem Einhorn Schritt zu halten, immer voller Sorge, daß er zu weit zurückfiel und die Kette, die ihn mit der Sternfrau verband, diese vom Rücken des Einhorns zerren könnte. Sein Magen knurrte beim Gehen, und ihm war aufs unangenehmste bewußt, wie hungrig er war. Bald dachte er nur noch ans Essen. Er bestand nur noch aus Hunger, fühlte sich, als würde sein Körper notdürftig zusammengehalten von Haut und Muskeln, und es war kein Ende abzusehen.
Schließlich geriet er ins Stolpern und merkte, daß er gleich hinfallen würde.
»Halt an, bitte!« japste er.
Das Einhorn verlangsamte seine Schritte und blieb stehen. Die Sternfrau blickte auf Tristran herab. Dann verzog sie das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Du solltest am besten auch aufsteigen«, sagte sie. »Wenn das Einhorn dich läßt. Sonst wirst du irgendwann in Ohnmacht fallen und mich mit auf die Erde zerren. Und wir müssen unbedingt irgendwo etwas zu essen für dich finden.«
Dankbar nickte Tristran.
Das Einhorn schien nichts gegen den Vorschlag zu haben und wartete geduldig, als Tristran auf seinen Rücken zu klettern versuchte. Doch er scheiterte ebenso, als hätte er eine glatte Felswand erklimmen wollen. Zu guter Letzt führte Tristran das Tier zu einer umgestürzten Buche, die vor einigen Jahren von einem Sturm oder einem schlechtgelaunten Riesen entwurzelt worden war. Dann kletterte er mit seiner Tasche und der Krücke auf den Stamm und von dort auf den Rücken des Einhorns.
»Auf der anderen Seite des Hügels liegt ein Dorf«, sagte Tristran. »Wahrscheinlich kriegen wir dort etwas zu essen.« Mit der freien Hand tätschelte er dem Einhorn die Flanken, und das Tier setzte sich in Bewegung. Tristran legte den Arm um die Taille der Sternfrau, um etwas Halt zu haben. Er fühlte den dünnen Seidenstoff ihres Kleides und darunter die dicke Kette mit dem Topas.
Auf dem Einhorn ritt es sich ganz anders als auf einem Pferd; das Einhorn bewegte sich nicht wie ein Pferd, sondern wilder und fremdartiger. Das Einhorn wartete, bis Tristran und die Sternfrau es sich auf seinem Rücken bequem gemacht hatten, dann nahm es langsam aber sicher Tempo auf.
Die Bäume sausten wie im Flug an ihnen vorüber. Der Stern beugte sich vor, die Finger in der Mähne des Einhorns vergraben; Tristran umklammerte die Flanken des Tieres mit den Knien – sein Hunger war vor lauter Angst vergessen – und betete nur noch, daß er nicht von einem Ast heruntergefegt wurde, der ihnen zufällig in die Quere kam. Doch bald schon begann er den Ritt zu genießen. Für jene, denen es vergönnt ist, auf einem Einhorn zu reiten, ist es ein einmaliges Erlebnis – aufregend, berauschend, wunderbar.
Die Sonne ging unter, als sie das Dorf erreichten. Auf einer leicht hügeligen Wiese, unter einer Eiche, blieb das Einhorn stehen und weigerte sich weiterzugehen. Tristran stieg ab und landete mit einem dumpfen Schlag im Gras. Sein Allerwertester tat weh, aber da die Sternfrau ohne zu klagen auf ihn herunterblickte, wagte er nicht, ihn zu reiben.
»Hast du denn keinen Hunger?« fragte er sie.
Sie antwortete nicht.
»Ich bin kurz vor dem Verhungern«, erklärte er. »Ich weiß nicht, wovon du dich ernährst – ob Sterne überhaupt essen und falls ja, was.« Fragend blickte er sie an. Sie starrte schweigend weiter auf ihn herab, aber dann füllten sich ihre blauen Augen plötzlich mit Tränen. Sie wischte sich übers Gesicht und hinterließ dabei eine Schmutzspur auf ihren Wangen.
»Wir essen nur Dunkelheit«, antwortete sie Tristran, »und wir trinken Licht. Deshalb bin ich nicht huh-hungrig. Ich habe Angst und fühle mich allein und eh-elend und wie eine Gefangene, aber ich bin nicht huh-hungrig.«
»Wein doch nicht«, sagte Tristran. »Sieh mal, ich gehe jetzt ins Dorf und hole was zu essen. Du wartest hier. Das Einhorn wird dich beschützen, falls jemand kommt.« Damit streckte er die Arme aus und hob die Sternfrau behutsam vom Rücken des Einhorns. Das Tier schüttelte die Mähne, dann begann es zufrieden auf der Wiese zu grasen.
Der Stern schniefte. »Hier warten?« fragte sie und hielt die Kette hoch.
»Oh«, sagte Tristran. »Gib mir deine Hand.«
Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er fummelte an der Kette herum, aber sie wollte nicht aufgehen. »Hmmm«, brummte er, versuchte es an seinem eigenen Handgelenk, aber auch da blieb die Kette fest. »Anscheinend bin ich genauso an dich gefesselt wie du an mich«, stellte er fest.
Die Sternfrau warf die Haare zurück, schloß die Augen und seufzte tief. Dann schlug sie die Augen wieder auf und sagte mit gefaßter Stimme: »Vielleicht gibt es ein Zauberwort oder so etwas.«
»Ich kenne keine Zauberworte«, sagte Tristran. Er hielt die Kette empor, die im Licht der untergehenden Sonne rot und purpurn glänzte. »Bitte?« sagte er zögernd. Ein Zittern durchlief die Kette, und seine Hand war frei.
»Siehst du«, sagte er und reichte der Sternfrau das andere Ende der ehemaligen Fessel. »Ich werde versuchen, nicht zu lange wegzubleiben. Und wenn einer vom kleinen Volk dir seine albernen Lieder vorsingt, dann wirf um Himmels willen nicht deine Krücke nach ihm, sonst stiehlt er sie bloß.«
»In Ordnung«, antwortete sie.
»Ich vertraue auf deine Sternenehre, daß du nicht wegläufst«, fügte er hinzu.
Sie legte die Hand auf ihr geschientes Bein. »Ich werde noch einige Zeit nicht laufen können«, entgegnete sie spitz. Und damit mußte Tristran sich zufriedengeben.
Er wanderte die halbe Meile bis zum Dorf. Es gab kein Gasthaus, da die Ansiedlung zu weit ab von den großen Straßen lag, so daß keine Reisenden vorbeikamen, aber die stämmige alte Frau, die ihm dies erklärte, bestand darauf, daß er sie in ihre Hütte begleitete, wo sie ihm eine Schüssel voll Gerstenbrei mit Karotten vorsetzte und dazu einen kleinen Krug Bier. Tristran tauschte sein Kambriktaschentuch gegen eine Flasche Holunderbeerlikör, ein Rad grünen Käse und einige ihm unbekannte Früchte ein: Sie waren weich und pelzig wie Aprikosen, aber lilafarben wie Trauben, und sie rochen ein bißchen wie reife Birnen. Außerdem überließ ihm die Frau einen kleinen Ballen Heu für das Einhorn.
Schließlich wanderte Tristran zurück zu der Wiese, wo er das Mädchen und das Einhorn zurückgelassen hatte. Unterwegs verzehrte er eine Frucht, die saftig, knackig und sehr süß schmeckte. Ob der Stern wohl auch eine versuchen wollte, und falls ja, ob sie ihr schmecken würde? Hoffentlich freute sie sich über das, was er mitbrachte.
Als Tristran zu der Stelle kam, an der er die Sternfrau und das Einhorn zurückgelassen hatte, lag sie verlassen da.
Zuerst überlegte er, ob er sich vielleicht im Mondlicht verirrt hatte. Aber nein, es war die gleiche Eiche, die, unter der die Sternfrau gesessen hatte.
»Hallo?« rief er. Glühwürmchen und Leuchtkäfer funkelten grün und gelb in den Hecken und in den Ästen der Bäume. Als er keine Antwort bekam, machte sich plötzlich ein äußerst unangenehmes, dummes Gefühl in Tristrans Magen breit. »Hallo?« rief er abermals. Doch dann verstummte er, denn es war sowieso niemand da, der ihm hätte antworten können.
Wütend ließ er den Heuballen fallen und trat mit dem Fuß dagegen.
Sie war in südwestliche Richtung aufgebrochen und kam schneller voran, als er laufen konnte. Er folgte ihr im hellen Mondschein. Im Innern fühlte er sich benommen und töricht, eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Scham und Bedauern bemächtigte sich seiner. Er hätte die Kette nicht lösen dürfen, er hätte das Mädchen an einen Baum binden oder es zwingen sollen, mit ihm ins Dorf zu kommen. Aber auch eine andere Stimme ließ sich vernehmen: Wenn er es vorhin nicht losgemacht hätte, wäre es ein anderes Mal geschehen – dann wäre es eben später weggelaufen.
Er fragte sich, ob er das Sternmädchen jemals wiedersehen würde, und er strauchelte über Baumwurzeln, als der Weg ihn in einen alten Wald führte, immer tiefer und tiefer. Langsam verschwand das Mondlicht unter einem dichten Blätterdach, und nachdem er eine Weile vergeblich in der Finsternis herumgestolpert war, legte er sich unter einen Baum, schob die Tasche unter den Kopf, schloß die Augen und bemitleidete sich selbst, bis er endlich einschlief.
* * *
Auf dem felsigen Bergpaß auf dem Südhang von Mount Belly zügelte die Hexenkönigin ihr Ziegengefährt, hielt an und schnupperte in die kalte Luft.
Über ihr am kalten Himmel hingen Myriaden von Sternen.
Ihre grellroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das so wunderschön war, so strahlend, so rein und vollkommen glücklich, daß euch das Blut in den Adern gefroren wäre, hättet ihr es gesehen. »Dort«, sagte sie leise. »Sie kommt zu mir.«
Und der Wind auf dem Gebirgspaß heulte triumphierend um sie her, als wollte er ihr antworten.
* * *
Primus saß neben der Glut seines Feuers und fröstelte unter seiner dicken schwarzen Robe. Einer der schwarzen Hengste wieherte und schnaubte, ob er träumte oder wach war, konnte er nicht ausmachen; nach einer Weile beruhigte sich das Pferd wieder. Primus’ Gesicht fühlte sich ungewohnt kalt an; er vermißte seinen Bart. Mit einem Stock schubste er eine Lehmkugel aus der Glut, spuckte in die Hände und brach die Lehmhülle behutsam auf. Sofort stieg ihm der süße Duft von Igelfleisch in die Nase, langsam in der Glut gebraten, während er geschlafen hatte.
Gewissenhaft verzehrte er sein Frühstück, spuckte die winzigen Knochen in den Feuerkreis, nachdem er das letzte Restchen Fleisch von ihnen geknabbert hatte. Ein Stück Hartkäse bildete den Abschluß, und mit einem etwas nach Essig schmeckenden Weißwein spülte er sein Mahl hinunter.
Dann wischte er sich die Hände an seiner Robe ab und warf die Runen, um den Verbleib des Topas’ zu ergründen, der die Herrschaft über die Bergdörfer und weitläufigen Herrschaftsgebiete von Stormhold garantierte. Verblüfft starrte er auf die kleinen viereckigen roten Granitplättchen. Dann sammelte er sie noch einmal ein, mischte sie in seinen langen, schmalen Händen, ließ sie auf den Boden fallen und staunte erneut. Schließlich spuckte er in die Glut, die verärgert aufzischte, schob die Steine zusammen und verstaute sie in dem Beutel an seinem Gürtel.
»Er bewegt sich schneller, weiter weg«, brummte Primus vor sich hin.
Zum Abschluß pißte er noch auf die Glut, denn er befand sich in der Wildnis, und da gab es Banditen und Kobolde und noch übleres Gesindel. Die wollte er nicht auf seine Anwesenheit aufmerksam machen. Anschließend spannte er die Pferde vor die Kutsche, schwang sich auf den Kutschbock und trieb die Tiere in Richtung Wald, nach Westen, zum Gebirge, das sich dahinter erhob.
* * *
Das Mädchen klammerte sich an den Hals des Einhorns, das ungestüm durch den dunklen Wald preschte.
Hier zwischen den Bäumen war es zwar finster, doch das Einhorn schimmerte und war umgeben von einem matten Licht, und auch die Sternfrau leuchtete, als gingen viele kleine Strahlen von ihr aus. Und als sie so durch die Bäume brauste, erschien es dem fernen Beobachter vielleicht, als strahlte sie, mal schwächer, mal stärker, wie ein winziger Stern.