Zum Buch

Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf »Unterleuten« irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …

Mit »Unterleuten« hat Juli Zeh einen großen Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit geschrieben, der sich hochspannend wie ein Thriller liest. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des Eigeninteresses? Woran glauben wir? Und wie kommt es, dass immer alle nur das Beste wollen und am Ende trotzdem Schreckliches passiert? Mehr zum Roman auf www.unterleuten.de.

Zur Autorin

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium inPassau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis, (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015). Mehr über die Autorin auf www.julizeh.de.

JULI ZEH

UNTER

LEUTEN

Roman











Luchterhand

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Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

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9. Auflage

© 2016 Luchterhand Literaturverlag, München


in der Verlagsgruppe Random House GmbH


Neumarkter Straße 28, 81673 München


Umschlaggestaltung: buxdesign | München


Satz: Uhl + Massopust, Aalen


Alle Rechte vorbehalten.


ISBN 978-3-641-16729-5


V003


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Für Ada






»Alles ist Wille.«

Manfred Gortz






Teil I


Geliebte Babys



Unterleuten ist ein Gefängnis.


Kathrin Kron-Hübschke



1 Fließ


»Das Tier hat uns in der Hand. Das ist noch schlimmer als Hitze und Gestank.« Jule schaute auf. »Ich halte das nicht mehr aus.«

»Es bringt nichts, sich aufzuregen, Liebes.« Gerhard bemühte sich, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben. Je hysterischer Jule wurde, desto fester klammerte er sich an die Vernunft. »Wenn man jemanden hasst, stört einen alles, was diese Person tut.«

»Du meinst, ich soll versuchen, das Tier zu lieben? Und dann wäre es in Ordnung, dass es unser Leben zerstört?«

»Ich meine, dass du dich nicht reinsteigern sollst. Durch die Aufregung schadest du nur dir selbst, und …«

Er kämpfte auf verlorenem Posten. Jule war in sich zusammengesunken und hatte zu weinen begonnen, so dass ihm nichts übrig blieb, als sich neben sie zu setzen und ihr einen Arm um die Schultern zu legen. Auf dem Schoß hielt sie die kleine Sophie, die sich in ihren Armen wand und unentwegt quengelte. Das Baby fand keine Ruhe und wachte auch nachts ständig auf, was bei der Hitze im Haus kein Wunder war. Dass Jule die Kleine ständig an die Brust presste, machte die Sache nicht besser. Seit die Feuer brannten, raubten sie sich gegenseitig den letzten Nerv.

Mit einem Hemdzipfel trocknete sich Gerhard das Gesicht. Die Haut spannte über den Knochen. In letzter Zeit vermied er den Blick in den Spiegel. Jule sah erschöpft aus, aber sein eigener Anblick war verheerend. Das lag an den zwei Jahrzehnten, die er ihr voraushatte, und an der Hagerkeit, die ihm jede Anstrengung scharf ins Gesicht schnitt.

Als Jule vor fünf Jahren zum ersten Mal in einem seiner Seminare an der Humboldt-Universität aufgetaucht war, hatte er bei ihrem Anblick spontan »Willkommen!« gesagt und nicht nur die Lehrveranstaltung, sondern gleich sein ganzes Leben gemeint. Ruhig hatte Jule zwischen den anderen Studenten gesessen, rothaarig, hellhäutig und wie von Licht umgeben, was außer ihm niemand zu bemerken schien. Ihre offenen Haare und das fließende Kleid schienen von Woodstock zu erzählen und weckten in Gerhard die Sehnsucht nach einer Epoche, die er verpasst hatte. Statt mit Blumen im Haar auf Sommerwiesen zu liegen, hatte er als junger Mensch in kommunistischen Arbeitskreisen gesessen und sich Sorgen um den Zustand der Welt gemacht. Die Frauen in seiner Umgebung waren nicht halb nackt und auf LSD, sondern steckten in dunklen Rollkragenpullovern, trugen Brillen und rauchten Kette, während sie über den Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Endphase diskutierten. Vor der Kulisse dieser Erinnerung erschien Jule als Abgesandte aus einer anderen Welt.

Jetzt blickte er auf ihren gebeugten Nacken und die bebenden Schultern und wünschte, er könnte Hitze und Gestank einfach in sich einsaugen, alle Last auf sich nehmen, um Jule und Sophie zu befreien. Es war Hochsommer, 32 Grad im Schatten, und sie saßen seit vier Tagen eingesperrt im Haus, ohne Möglichkeit, in den Garten zu gehen oder auch nur ein Fenster zu öffnen. Nicht einmal bei Nacht konnten sie lüften, weil Schaller, den Jule nur noch »das Tier« nannte, die Feuer auch nach Sonnenuntergang nicht ausgehen ließ. Wenn Gerhard sich ausmalte, wie das Tier nachts alle zwei Stunden aus dem Bett kroch, um die Feuer in Gang zu halten, begannen seine Hände vor Hass zu zittern.

»Bald kommt die Mauer, Liebes.«

Seit das Tier auf dem Nachbargrundstück eine »Autowerkstatt« betrieb – ein Begriff, der sich angesichts von Schallers Müllhalde nur in Anführungszeichen denken ließ –, hörte sich Gerhard immer häufiger mit der Stimme eines Nahost-Diplomaten reden. Jule hob das verweinte Gesicht.

»Wann?«

»Sobald das Genehmigungsverfahren abgeschlossen ist.«

»Du meinst, wenn die Scheißämter zur Vernunft gekommen sind.« Jule wurde lauter. »Wenn sie einsehen, dass sie nicht dem Tier einen Schrottplatz erlauben und uns den Sichtschutz verbieten können!«

Gerhard schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, auf diese Weise darüber zu reden. Tatsache war, dass von der geplanten Mauer seit Monaten nicht mehr als ein metertiefer Schacht entlang der Grenze zu Schallers Grundstück existierte. In Anflügen von schwarzem Humor nannten Gerhard und Jule die brachliegende Baustelle ihren Schützengraben. Auf dem Wall entlang des Grabens wuchsen bereits Gras und Robiniensprösslinge. Die Mauer hätte ihnen den Anblick von Schallers zugemülltem Hof ersparen und die Privatheit des Gartens wiederherstellen sollen. Um effektiven Sichtschutz zu bieten, musste sie 2,40 Meter hoch sein. Das Bauamt war der Meinung, dass zwei Meter genügten. Obwohl Gerhard durch seinen neuen Job beim Vogelschutzbund über gute Beziehungen zu den Behörden verfügte, war es ihm nicht gelungen, das Verfahren zu beschleunigen.

»Gegen den Gestank würde die Mauer sowieso nicht helfen«, sagte er leise.

In den vergangenen vier Tagen hatte sich der Rauch im gesamten Garten verteilt. Die Schwaden zogen über den Schützengraben, hingen in den Himbeersträuchern, fuhren in kleinen Wirbeln durch die drei jungen Tannen, die mit der Zeit zu einem Nadelwald anwachsen würden, weil Jule jedes Jahr einen Weihnachtsbaum im Topf kaufte und ihn im Frühling in die Ecke hinter dem Geräteschuppen pflanzte. Der Rauch stieg sogar bis in die Kronen der Robinien, die das Dach um mehrere Meter überragten. Ihr kleines Paradies hatte sich mit giftigen Dämpfen vollgesogen. Trotz geschlossener Fenster und Türen war der Gestank auch in die Räume gedrungen. Es gab Momente, in denen Gerhard zu wünschen begann, sie hätten dieses Haus nicht gekauft und sich stattdessen eine einsame Jagdhütte im Wald gesucht, auf einer Lichtung, kühl, gut belüftet, ohne Nachbarn. Menschen brauchten Abstand voneinander. Gerhard hatte lange genug in Berlin gelebt, um das zu wissen. Nicht gewusst hatte er, dass selbst ein Dorf mit zweihundert Einwohnern zu eng sein konnte.

»Du weißt doch, wie die Leute hier sind. In der DDR gab es eben keine Umweltbewegung. Jeder verbrennt seinen Müll, wie es ihm passt.«

»Was der da drüben macht, ist keine Müllverbrennung«, unterbrach ihn Jule.

»Jeder bohrt Brunnen hinterm Haus, zapft das Grundwasser an, baut Schuppen im Außenbereich.« Gerhard versuchte die Flucht ins Allgemeine. »Niemand will einsehen, dass er die Unterleutner Heide nicht als Galoppstrecke für Pferde oder als Motocrossbahn benutzen kann. Dass dort Kampfläufer brüten, interessiert die Leute überhaupt nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass der Naturschutz …«

»Es geht hier ausnahmsweise nicht um deine Kampfläufer!«, rief Jule. »Es geht darum, dass das Tier meine Tochter vergiftet!«

Weil Jule die Stimme hob, ging Sophies Quengeln erneut in Geschrei über, woraufhin Jule aufsprang und im Zimmer hin und her zu wandern begann. Gerhard konnte es nicht leiden, wenn sie »meine Tochter« sagte. Sophie war genauso seine Tochter, auch wenn er noch immer nicht begriff, wie es ihm gelungen war, etwas so Reizendes hervorzubringen. Obwohl die Kleine in vielerlei Hinsicht sein Gegenteil verkörperte, schaffte sie es trotzdem, ihm ähnlich zu sehen. Sie war eine winzige weibliche Variante seiner selbst.

»Soll ich sie mal nehmen?«

Statt zu antworten, drückte Jule das Baby noch fester an die Brust, als könnte Gerhard versuchen, es zu entführen. Auch ohne Schallers Giftfeuer war Jule in letzter Zeit schwierig gewesen. Seit Sophies Geburt vor knapp sechs Monaten litt sie unter einer Art nervöser Geistesabwesenheit. Wenn Gerhard danach fragte, antwortete sie stets, es gehe ihr gut. Dabei stand sie offensichtlich neben sich, hörte manchmal nicht, wenn er sie ansprach, schaute erst auf, wenn er lauter wurde, und blickte ihn an wie einen Fremden. Nicht, dass er ihr das übel genommen hätte. Das Stillen brachte es mit sich, dass Jule unter massivem Schlafentzug litt. In Lagern der CIA wurden Häftlinge gefoltert, indem man sie in unregelmäßigen Abständen weckte. Außerdem hatte Gerhard im Internet gelesen, dass Väter nicht selten nach der Geburt eines Babys von den Müttern zurückgewiesen würden und dass sich dieses Syndrom nach einiger Zeit von alleine gebe. An dieser These hielt er sich fest. Eines Tages würde Jule mit Stillen aufhören und wieder wie früher werden. Sie würde mit unbekümmertem Lachen abstreiten, überhaupt irgendwie »komisch« gewesen zu sein. Auf diesen Augenblick freute er sich. Gerhard liebte Sophie abgöttisch, aber er war nicht bereit, seine Frau an das Baby zu verlieren.

»Lass uns einen Ausflug machen«, sagte Gerhard. »Wir packen Sophie ein und fahren zum See. Einfach raus hier, an die frische Luft.«

»Am See sind zu viele Mücken.«

»Dann eben woandershin.«

»Und wohin?«

»Ist doch egal! In den Wald! Spazieren!«

»Auf den unbefestigten Wegen kann man den Kinderwagen nicht schieben.«

»Herrgott, Jule!«

Sie kam zurück zur Couch, setzte sich und hob das T-Shirt, um Sophie die Brust zu geben. Mit einem Schlag kehrte Ruhe ein, eine Stille, die in den Ohren brauste. Gerhard betrachtete Sophies winziges Gesicht, die zornige Miene beim Milchtrinken, die an den Wangen geballten Fäuste, mit der ganzen Kraft eines kleinen Körpers ans Leben geklammert. Einige Strähnen von Jules langen Haaren hatten sich aus dem Zopf gelöst und fielen über die nackten Beine des Babys. Jule weinte immer noch lautlos. Gelegentlich landete eine Träne auf Sophies Rücken. Der Anblick schnitt Gerhard ins Herz.

»Jule«, sagte er sanft. »Ich lasse euch ein paar Minuten allein, verschwinde in der Küche und mache uns ein schönes Ginger Ale. Einverstanden?«

Jule nickte, ohne den Kopf zu heben. Gerhard küsste sie auf den Scheitel und stand auf. Wenn sich eine Dreißigjährige entschied, ihr Leben mit einem Fünfzigjährigen zu teilen, sollte sich der Fünfzigjährige wenigstens Mühe geben.

Auf dem Weg in die Küche nahm er sich ein paar Sekunden, um das Federn der Dielen unter seinen Füßen zu genießen. Das alte Kiefernholz gab ein sattes Knarzen von sich, als hätte es hundert Jahre lang die Geräusche sämtlicher Schritte in sich bewahrt. Die Erinnerung an seinen ersten Besuch in diesem Haus stand Gerhard deutlich vor Augen. Er hatte den Flur betreten, Jule und den Makler hinter sich, und wollte gerade die Tür zum Wohnzimmer öffnen, als er plötzlich stehen blieb.

»Was ist«, hatte der Makler gefragt, »geht die Tür nicht auf?«

Gerhard hatte die Türklinke angestarrt, ein schönes Stück aus Messing, geschwungen und mit einer schneckenförmigen Verzierung am Ende. Die Klinke musste weit über hundert Jahre alt sein, und diese Erkenntnis lähmte ihn wie ein Schock. Als die Klinke an der Tür befestigt wurde, hatten die Leute, die das bezahlten, noch nichts von zwei bevorstehenden Weltkriegen gewusst. Sie hatten sich gefreut, ein frisch gebautes Haus mit allem Komfort zu beziehen. Der Türklinke hatten sie vermutlich keine besondere Beachtung geschenkt. Niemand hatte darüber nachgedacht, dass die Klinke ihre Besitzer spielend überleben würde. Für sämtliche Bewohner des Hauses war der Augenblick gekommen, in dem sie diese Klinke zum allerletzten Mal berührten. Plötzlich wollte Gerhard, dass es ihm genauso erginge. Auch er wollte eine Phase im Leben der Klinke sein, die sich nach seinem Tod immer noch an ihrem Platz befinden würde. Er wusste jetzt, dass er dieses Haus erwerben musste. Einen Neubau, in dem alles jünger war als er selbst, hätte er nicht ertragen. Er wollte kein Haus, in dem jede Scheuerleiste seinem persönlichen Gestaltungswillen folgte. Wo die Gegenstände seine Herrschaft anerkennen mussten, weil er für ihre Existenz verantwortlich war. Er wollte der Welt nichts Neues hinzufügen, sondern das Vorgefundene erhalten. Denn darin bestand die heilige Aufgabe dieser hektischen Epoche: das Bestehende gegen die psychotischen Kräfte eines überdrehten Fortschritts zu verteidigen. Als der Makler an ihm vorbeigriff, um die Wohnzimmertür zu öffnen, war Gerhards Entscheidung bereits gefallen.

Er betrat die Küche, nahm die Kanne mit Ingwer-Sud aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Anrichte. Die Aussicht vom Küchenfenster ging Richtung Westen. Weil ihr Anwesen das letzte im Dorf war, traf der Blick kein weiteres Haus, keinen Zaun, auch keinen Strommast oder Hochstand, überhaupt kein Anzeichen menschlicher Zivilisation, abgesehen von der Straße, die eine leichte Anhöhe hinauflief, bevor sie, schon einen guten Kilometer entfernt, im Wald verschwand. Man konnte minutenlang aus dem Fenster schauen, ohne dass der Wald ein Auto ausspuckte und auf das Dorf zurollen ließ. Am meisten liebte Gerhard die langen Reihen von Birnbäumen zu beiden Seiten der Fahrbahn. Wie man es in der Gegend häufig sah, wuchsen die Stämme nicht senkrecht, sondern nach links und rechts den Feldern zugeneigt. »Aufgeklappte Alleen« hatte Jule das Phänomen auf ihrer ersten Fahrt nach Unterleuten genannt. Bis heute hatte ihnen niemand die Frage beantworten können, ob die Bäume von der sich aufwölbenden Asphaltdecke nach außen gedrückt wurden oder ob man sie absichtlich so gepflanzt hatte, damit weniger Früchte auf die Fahrbahn fielen.

Auf der anderen Seite des Waldstücks ging die Birnenallee weiter, vernetzte sich mit anderen Straßen, Apfelalleen, Pflaumenalleen, Kirschalleen, Mirabellenalleen, und so reiften im ganzen Landkreis abertausend Tonnen Obst heran, wurden prächtig und schwer, bis sie im Herbst herunterfielen und an den Straßenrändern verrotteten, weil es der Natur gleichgültig war, ob der Mensch ihre Produkte brauchte oder nicht. Noch waren die Birnen klein und grün, aber es war abzusehen, dass die Bäume in zwei Monaten unter der Last ihrer Früchte schier zusammenbrechen würden. Im April und Mai hatte es viel geregnet; nun herrschte seit Wochen Trockenheit, die Hitze lag wie ein unsichtbarer Deckel auf der Landschaft. Der Weizen stand hoch und wurde vom leichten Wind in Wellen bewegt wie die Oberfläche eines Sees. In Unterleuten ging fast immer ein leichter Wind. Er stand im Osten, also dort, wo sich Schallers Grundstück befand. Wo die Feuer brannten.

Gerhard füllte zwei Gläser zur Hälfte mit Ingwer-Sud. Er nahm Eiswürfel aus dem Gefrierschrank und schnitt eine Orange in Scheiben.

Mit Jule war er sich schnell einig gewesen. Auch ihr hatte der einstöckige Ziegelbau mit grünen Fensterläden und großem Dach sofort gefallen. Dazu die Randlage, fünftausend Quadratmeter Gartenland, eine alte Linde, die den Eingang überschattete. Der günstige Preis hatte sie überrascht. Berlin lag nur eine Stunde entfernt und war doch weiter weg als der Mond. Die Angst, das urbane Leben zu vermissen, geriet bald in Vergessenheit, ebenso wie Jules Pläne, dreimal pro Woche in die Stadt zu pendeln, um eine Promotion über die destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glücksversprechens zu schreiben. Stattdessen stürzte sich Jule in die Aufgabe, die bröckelnde Idylle in eine blühende Landschaft zu verwandeln. Während sich Gerhard in seine neue Rolle als Vogelschützer einfand und die Kollegen vom Naturschutz langsam überzeugte, dass ein habilitierter Soziologe vielleicht überqualifiziert, aber nicht komplett unfähig war, rodete Jule in abgeschnittenen Jeans und verschwitztem T-Shirt den Garten mit einer Sense.

Ihr gemeinsamer Plan, die Stadt zu verlassen, war relativ spontan entstanden und hatte sich doch schon vor Jahren abgezeichnet. Für Gerhard hatte der Umzug aufs Land eine Kündigungserklärung dargestellt. Er kündigte nicht nur seinen Job, sondern auch die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft, in der es nur noch darum ging, beim großen Ausverkauf der Werte die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Als früher Anhänger der Umweltbewegung hatte Gerhard politisches Engagement immer als natürlichen Zustand empfunden. In Gorleben hatte er zu den Aktivisten der ersten Stunde gehört. Er hatte volle 33 Tage in der neu ausgerufenen »Republik Freies Wendland« verbracht und sich von Helmut Schmidts Polizisten vom besetzten Gelände tragen lassen. Er fuhr zur Gründung der Grünen nach Karlsruhe, zog nach der Wende sofort nach Berlin und verpasste keinen Castor-Transport. Er hatte eine Feministin geheiratet, die keine Kinder wollte und sich bald wieder von ihm scheiden ließ. Er hatte über die »Topographie des Aufstands« habilitiert, auf den Ruf in irgendeine kleine Universitätsstadt verzichtet und lieber zwanzig Jahre lang als unterbezahlter Dozent am Berliner Institut für Sozialwissenschaften gearbeitet, wo er junge Leute auf ihrem Weg zum kritischen Bewusstsein unterstützen wollte.

An seinem 45. Geburtstag schien es Gerhard, als stünde er allein auf einem Schlachtfeld, das alle anderen verlassen hatten, um für den nächsten Stadtmarathon zu trainieren. Umweltschutz war eine Angelegenheit für Unternehmensberater geworden, und die restliche Politik wurde zwischen Sachzwangverwaltung und Spektakeljournalismus zerrieben. Mit zunehmender Fassungslosigkeit blickte er in die Gesichter seiner Studenten, in denen sich Angst und Erwartung zu seltsamer Leere paarten. Der Bologna-Prozess hatte aus der Universität ein Trainingscamp für Menschen gemacht, die sich bereits seit dem Kindergarten um das Design ihrer Lebensläufe sorgten. Gerhards Kollegen waren freundlich, sportlich und stets mit allem einverstanden. Sie hatten Familien, aßen mittags Salat und tranken auf Abendveranstaltungen höchstens ein Glas Bier, bevor sie um halb elf nach Hause gingen.

Wenn Gerhard bei solchen Gelegenheiten versuchte, ein politisches Gespräch in Gang zu bringen, wurde er misstrauisch beäugt wie ein verwirrter Greis. Am liebsten sprach er davon, dass das Drama der modernen Politik im fanatischen Streben der Menschen nach Veränderung liege. Die Menschen von heute konnten nichts lassen, wie es war, auch das Gute nicht. Wenn etwas funktionierte, machten sie es mit ihrer Änderungswut kaputt, bis es wieder Probleme gab, mit deren Lösung sie sich profilieren konnten. Sein berühmtes Mephisto-Zitat, pflegte Gerhard zu rufen, habe Goethe schlichtweg falsch herum formuliert. Das Teuflische des Menschen liege zweifellos in jener Kraft, die stets das Gute will und dann das Böse schafft.

Während seinen Zuhörern das Unbehagen in die Gesichter geschrieben stand, redete sich Gerhard in Rage. Ein Universitätssystem, auf das die ganze Welt neidisch gewesen war? Abgeschafft für ein paar Credits und Exzellenzinitiativen! Das große Projekt der europäischen Versöhnung? Eingetauscht gegen eine Zentralmacht mit Demokratiedefizit, die den kleinen Bauern das Saatgut verbot und den Finanzmärkten das Spekulieren erlaubte. Flughäfen mussten zusammengelegt, Bahnhöfe saniert, Städte untertunnelt und freie Flächen in Einkaufscenter verwandelt werden. Alles sollte immerzu wachsen und streben, auch wenn niemand mehr wusste, in welche Richtung es eigentlich ging. Das dritte Glas Rotwein in der Hand, verkündete Gerhard, man brauche heutzutage keine Helden des Umsturzes, sondern Helden der Bewahrung, die sinnlose Veränderungen bekämpften.

Spätestens an dieser Stelle begann die Gruppe, die ihm zuhörte, zu erodieren. Wenn Gerhard fragte, ob man nicht hier und jetzt eine Aktionsgruppe gegen die Studienreform gründen wolle, trug der letzte Zuhörer sein Mineralwasser in einen anderen Raum.

Außer Gerhard schien niemand mehr zu glauben, dass Glück im gemeinsamen Kampf für eine gute Sache liege. Stattdessen suchten alle ihr Heil im Training von Körper und Geist. Gerhard fühlte sich umgeben von Athleten. Bildungsathleten, Berufsathleten, Liebesathleten, Lebensathleten. Im Kampf hatte man sich stets als Teil einer Gruppe gefühlt; das Training machte einsam. Immerzu gingen die Menschen nach Hause, zur Familie, zum Sport, zu ihrem Facebook-Profil. Gerhard fühlte sich zurückgelassen, mit hängenden Armen zuschauend, wie alle anderen in verschiedene Richtungen auseinanderliefen.

An seine letzten Uni-Jahre erinnerte er sich mit Schaudern. Während er jetzt in seiner Küche stand und Orangen und Eiswürfel zu einer knirschenden Masse zerstampfte, dachte er daran, wie er damals an der eigenen Fakultät, in der eigenen Stadt, im eigenen Land zum Fremden geworden war. Die Anstrengungen anderer Menschen waren ihm erst übertrieben, dann lächerlich und schließlich gefährlich erschienen. Er hatte aufgehört, sich anzustrengen. Auf der Arbeit hatte er nicht mehr versucht, erfolgreich zu sein, in der Kneipe nicht, sich zu amüsieren, und im Theater nicht, das gezeigte Stück zu mögen. Kollegen und Freunde fanden ihn seltsam. Gerhard wusste, dass ihm nur die Wahl zwischen Verbitterung und Neuanfang blieb. Mit Verbitterung begann er sich auszukennen. Wie ein Neuanfang funktionieren sollte, war ihm schleierhaft. Dann kam Jule.

Einen Augenblick lauschte Gerhard ins Wohnzimmer hinüber und registrierte erleichtert, dass noch immer kein Laut zu hören war. Das war ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass Sophie trank. Wenn das Baby die Brust verweigerte, geriet Jule endgültig außer sich. Gerhard verteilte Orangen und Eis auf die Gläser und füllte den verbleibenden Platz mit Selters. Als die fertigen Getränke vor ihm standen, verspürte er plötzlich solchen Durst, dass er beide hinunterstürzte und mit der Zubereitung noch einmal von vorn begann.

In der dritten Semesterwoche war Jule nach dem Gesellschaftsdiagnosen-Seminar auch noch in Gerhards Transparenz-Workshop aufgetaucht, hatte sich für die verspätete Einschreibung entschuldigt und gefragt, ob sie noch teilnehmen könne. Sie kam in seine Sprechstunde, um ein Referatsthema abzustimmen. Sie ging in die gleiche Cafeteria wie er, saß am Nebentisch und grüßte mit einem Nicken.

Bei einem öffentlichen Vortrag des ewigen Münkler entdeckte er sie im Publikum und traf sie anschließend in einer Gruppe wieder, die noch auf einen Absacker gehen wollte. In der Kneipe saß Jule neben ihm und erklärte, dass Münkler nicht nur hoffnungslos überschätzt, sondern ein veritabler Vollidiot sei. Spätestens in diesem Augenblick wusste Gerhard, dass sie die Frau seines Lebens war. Als Jule den Tisch verließ und auf die winzige Tanzfläche ging, verzichtete er darauf, sie zu begleiten und zwischen lauter Studenten gegen seine fünfzig Jahre anzuzappeln. Einer Frau wie Jule musste er nichts beweisen. Er konnte in Frieden sitzen bleiben und zusehen, wie sie sich bewegte, mit geschlossenen Augen und dezenten Gesten, die nicht dazu gedacht waren, einem Publikum zu gefallen.

Sie hatten sich nie als »Professor und Studentin« gefühlt, obwohl sie natürlich genau das waren. Innerhalb des kleinen Universums der Universität bildeten sie einen wandelnden Skandal – der scharfzüngige, etwas kantige, aber immer noch gutaussehende Dozent und die junge, weiche, rothaarige Schöne. Aber darum ging es nicht. Sie hatten im wörtlichen Sinn etwas füreinander übrig. Für Jule war Gerhards Furor ein Mittel gegen die drohende Informationsnarkose des frühen 21. Jahrhunderts. Für Gerhard war Jule der lebende Beweis, dass Begreifen keine Voraussetzung für Lieben darstellte. Gemeinsam konnten sie tun, wovon andere nur träumten: die Dinge hinter sich lassen, statt an ihnen zu verzweifeln. Und eine große Summe von Dingen – das war die Stadt.

Als Gerhard durch einen ehemaligen Kollegen und Hobby-Ornithologen, der regelmäßig zum Beobachten der Kampfläufer in die Unterleutner Heide fuhr, von einer offenen Stelle beim Vogelschutz hörte, hatte er gleich gewusst, dass dies sein letzter Weckruf war. Der Umzug aufs Land stellte kein Problem, sondern die Lösung dar. Auch der Name des Orts, in dem sich die Vogelschutzstation befand, war Programm: Seelenheil. Von Unterleuten fuhr man kaum zehn Minuten mit dem Auto.

Zwei Jahre später hatten die neuen Himbeersträucher im Garten bereits reichlich getragen. An allen vier Hausecken blühten Glyzinien, und Gerhard hatte ein Gemüsebeet angelegt, in dem ein paar Reihen Bohnen, Zwiebeln und Möhren gegen die gärtnerische Ahnungslosigkeit ihrer Besitzer kämpften. Als der Garten begann, einer Ecke des Paradieses zu gleichen, wurde Jule schwanger. Wenn sie abends vor dem Haus saßen, sprachen sie manchmal über die Idee, auch noch das angrenzende Grundstück zu erwerben. Es wurde nur durch einen wackeligen Drahtzaun von ihrem eigenen Garten getrennt und beherbergte einen kleinen, seit langer Zeit leer stehenden Hof, ein würfelförmiges Wohnhaus mit halb verfallenen Nebengebäuden. Das Grundstück besaß wenig Charme, aber Jule mochte den Gedanken, die Gebäude abzureißen und auf diese Weise den Garten zu erweitern. Ein Mensch konnte niemals genug Land besitzen – so viel hatte sie ihre neue Existenz im provinziellen Paralleluniversum bereits gelehrt. Gerhard hatte nichts dagegen. Erst das Baby, dann expandieren, sagte er, und sie lachten.

Jules Bauch wölbte sich schon, als Gerhard eines Abends während der Gartenarbeit sah, wie drüben ein Mann im Hof umherging, Zigaretten rauchte und die Kippen auf den Boden warf. Der Mann war fett, aber nicht schwammig, jede Bewegung verriet, dass sein voluminöser Körper Kraft besaß. Gerhards vorsichtigen Gruß erwiderte er erst nach sekundenlangem dumpfem Starren, als müsste er überlegen, was eine erhobene Hand zu bedeuten hatte. Arme und Rücken waren stark behaart. Zwei Wochen später fuhr ein schäbiger Transporter mit Anhänger vor und kehrte immer wieder zurück, mehrmals täglich, viele Tage hintereinander, auch am Wochenende. Der dicke Kerl lud Unmengen von Schrott aus, den er nach einem unergründlichen System im Hof verteilte. Mehr als knappes Nicken und widerwilliges Knurren war ihm nicht zu entlocken. Gerhard und Jule fragten sich, ob er vielleicht nicht recht bei Sinnen sei. Wenn er nicht gerade seinen Schrott sortierte, saß er auf einer Planke, die quer über zwei Ölfässern lag, trank Bier aus der Dose und sah vor sich hin.

Schon nach wenigen Tagen verlor Jule die Lust, in den Garten zu gehen.

»Der hockt da drüben und starrt mich an«, pflegte sie zu sagen. Auch wenn Gerhard immer wieder versicherte, dass der neue Nachbar keinerlei Interesse an Jule oder Gerhard zeige, dass er gewiss nur ins Leere blicke, vielleicht sogar extrem kurzsichtig sei, hörte Jule nicht auf, sich beobachtet zu fühlen. Umgekehrt war der Anblick des Nachbargrundstücks kaum zu ertragen, er folterte die Sinne wie ein anhaltender schriller Schrei. Ein bizarres Durcheinander aus Wrackteilen, rostigen Ölfässern, Plastikplanen, Schläuchen, Werkzeugen, Kanistern und leeren Bierflaschen. Am Boden in den Schlamm getretenes Gras. Dazwischen erinnerten undefinierbare Kleidungsstücke, vom Regen aufgeweicht und von der Sonne zu Häufchen getrocknet, an totgefahrene Tiere. Draußen entlang der Straße parkte eine Reihe von wechselnden Autos, das eine ohne Kotflügel, das andere ohne Räder, die meisten mit polnischen Kennzeichen. Gelegentlich war auch ein fabrikneuer Audi ohne Zulassung dabei.

Schaller war eine Katastrophe. Er war Gerhards und Jules persönliches Armageddon. Trotzdem glaubte Gerhard, dass es das Beste war, sich möglichst wenig aufzuregen. In den fünfzig Jahren seines Lebens hatte er gelernt, dass Kampf niemals zum Frieden führte. Schaller war ein Schicksal, das man akzeptieren musste, bevor man beginnen konnte, es vorsichtig zu domestizieren.

So weit die Theorie. Die Praxis war schwer zu ertragen.

Im Wohnzimmer begann Sophie wieder zu jammern. Gerhard blieb im Flur stehen, ein Glas Ginger Ale in jeder Hand, schloss die Augen und unterdrückte den Impuls, die Getränke zurück in die Küche zu bringen und das Haus durch die Hintertür zu verlassen. Obwohl er sich für den Rest der Woche frei genommen hatte, um Jule beizustehen, verspürte er unbändige Lust, zur Arbeit zu gehen. Es gab immer etwas zu tun; er konnte die Beobachtungstürme kontrollieren, einen Fachaufsatz über das Brutverhalten der Kampfläufer überarbeiten, Ordnung in die Datenbanken mit den Bestandsinformationen bringen oder überprüfen, ob der Brief mit der Abmahnung an die Pferdezüchter schon zugestellt worden war. Sehnsüchtig dachte er an die Stille seines Büros, an die geöffneten Fenster, an das Klappern der Störche, die den Turm der leer stehenden Kirche anflogen, um drei Jungvögel mit Nahrung zu versorgen. Der Job in Seelenheil, Naturschutzbehörde Plausitz, Unterabteilung Vogelschutz, Außenstelle Unterleutner Heide, hatte sich in jeder Hinsicht als Glücksfall erwiesen. Im Wesentlichen hatte Gerhard 33 Kampfläufer zu betreuen, paläarktische Schnepfenvögel, die in Deutschland bis auf den hiesigen Bestand praktisch ausgestorben waren. Zwar hatte er anfangs keine Ahnung vom Vogelschutz gehabt; dafür war er in zwei Jahrzehnten an einem geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl zum Experten im Beantragen von Fördermitteln geworden. Als die neuen Kollegen erkannten, mit welcher Leichtigkeit er EU-Dokumente ausfüllte und Antragsbegründungen formulierte, hatten sie schnell begonnen, ihn zu lieben. Außerdem hatte er unter www.vogelschutzbund-unterleuten.de eine Website ins Leben gerufen und pflegte sie regelmäßig. Vor allem aber traf sich die Berufspraxis auf wundersame Weise mit Gerhards politischen Neigungen. Bauvorhaben in der Region besaßen grundsätzlich naturschutzrechtliche Relevanz. Jede Errichtung einer Biogasanlage, jeder Ausbau einer Straße, die Abholzung von Waldstücken, Planung von Tankstellen, Sportflughäfen oder Schweineställen – alles ging über die Schreibtische der Naturschutzbehörde. Wurde ein Vorhaben nicht offiziell gemeldet, bekam Gerhard auf andere Weise Wind davon und konnte sich einschalten, um das Schlimmste zu verhindern. Im Auftrag der Kampfläufer und der gewaltigen Populationen von ziehenden Gänsen und Kranichen, die zweimal im Jahr in der Unterleutner Heide Station machten, setzte Gerhard der fatalen Fortschritts- und Wachstumsideologie etwas entgegen. Er war stolz darauf, in den ersten drei Jahren als Vogelschützer siebzehn Bauvorhaben verhindert und elf weitere mit einschränkenden Auflagen versehen zu haben. Schallers »Autowerkstatt« hätte er auch dann zur Anzeige gebracht, wenn sie sich nicht auf dem Nachbargrundstück befunden hätte. Leider konnten auch gute Beziehungen zu den Ämtern nichts daran ändern, dass es sich bei Unterleuten um sogenanntes Mischgebiet handelte, das den Betrieb von Kleingewerben erlaubte. Das Naturschutzgebiet begann erst hinter dem Ortsschild. Erst als Schaller begonnen hatte, das Dach seiner Scheune abzudecken, hatte Gerhard ihn drangekriegt.

Sophies Weinen im Wohnzimmer steigerte sich von Unzufriedenheit über Wut bis zur schieren Verzweiflung. Gerhard seufzte, gab sich einen Ruck und ging, ein Glas Ginger Ale in jeder Hand, den Flur hinunter. Die angelehnte Tür stieß er mit der Schulter auf. Jule war von der Couch aufgestanden, ging mit Sophie vor dem Fenster auf und ab und machte »sch-sch«, während sie das Baby rhythmisch in den Armen hüpfen ließ, was die Kleine offensichtlich nicht im Geringsten beruhigte. Gerhard zwang sich, mit ruhigen Schritten durch den Raum zu gehen und die Gläser auf dem Couchtisch abzustellen. Dann trat er auf Jule zu.

»Wir sollten sie ins Bettchen legen«, sagte er. »Sie ist total übermüdet.«

»Sie schreit, weil ihre Schleimhäute gereizt sind von den giftigen Dämpfen. Sie reibt sich die Augen! Ihre Nase läuft! Sie ist ganz rot!«

»Das kommt vom Weinen«, sagte er. »Die Luft hier drin ist nicht so schlimm.«

Gerhard trat Jule in den Weg und streckte die Arme aus.

»Gib sie mir mal.«

»Lass.«

»Komm. Ich trage sie ein bisschen.«

»Das mach ich doch schon. Siehst du das nicht? Ich trage sie. Hin und her. Nicht nur jetzt, sondern auch, während du weg bist. Glaubst du, dass du sie besser tragen kannst?«

»Natürlich nicht, Jule.«

»Du gehst in dein Büro, öffnest die Fenster und setzt dich an den Schreibtisch. Oder machst einen schönen Rundgang durchs Naturschutzgebiet. Ich bin den ganzen Tag hier. Mit Sophie. In dieser Sauna. Ich trage sie. Tag und Nacht. Verstehst du?«

»Du lässt dir ja nicht helfen!«

»Ach so! Sophie ist meine Zuständigkeit, und du hilfst von Zeit zu Zeit ein bisschen?«

»Ich formuliere neu: Du lässt mich nichts tun.«

»Du kannst gern etwas tun.«

»Und was?«

»Ruf die Polizei.«

Gerhard schüttelte den Kopf.

»Das haben wir doch schon hinter uns.«

Am zweiten Tag der Befeuerung, als langsam klar wurde, dass es sich nicht um vorübergehende Müllverbrennung, sondern um eine gezielte Aktion handelte, hatte Gerhard seinen Vorgesetzten bei der Naturschutzbehörde in Plausitz angerufen. Der hatte ihn ans Ordnungsamt verwiesen, wo man erklärte, dass man unterbesetzt sei und nicht jederzeit einen Beamten in die Außengebiete schicken könne. Als Nächstes versuchte Gerhard es bei der Polizei, die ihn zurück ans Ordnungsamt verwies. Er wurde wütend, verlangte sofortiges Eingreifen und drohte mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde.

Gegen acht am Abend hatte es plötzlich an der Tür geklingelt. Vor dem Haus parkte ein Streifenwagen, zwei picklige Jungen in Uniform standen auf der Fußmatte. Gerhard blickte zur Grundstücksgrenze. Dort brannte kein Feuer. Nicht der kleinste Funken war zu sehen. Das Problem habe sich wohl bereits gelöst, sagten die Jungen und tippten sich an die Mützen. Gerhard stammelte einen Dank und sah dem abfahrenden Streifenwagen hinterher. Das Fahrzeug war noch nicht außer Sichtweite, als Schaller nebenan mehrere Autoreifen zur Grundstücksgrenze trug. Kurz darauf hantierte er mit einem Benzinkanister.

»Erinnerst du dich an unseren kleinen Katalog mit Unterleutner Verhaltensregeln?«, fragte Gerhard. »Eins: Wenn du auf eine Party mit fünfzig Gästen kommst, gib jedem einzelnen die Hand. Zwei: Wenn dich jemand beleidigt, ist das nett gemeint. Drei: Probleme löst man nicht mit der Polizei.«

»Dann verklag das Tier!«

»Bis wir eine Unterlassungsverfügung kriegen, sind wir halb erstickt. Die Verfügung wird zugestellt, Schaller schmeißt sie weg. Sie verhängen ein Ordnungsgeld, Schaller zahlt nicht. Der Gerichtsvollzieher kommt. Es gibt nichts zu pfänden. Schaller wird …«

»Stopp!«

Jule schrie so laut, dass Sophie vor Schreck verstummte. Mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung blickte sie ihre Mutter an und schob drei Finger in den Mund, um daran zu lutschen. Trotz allem musste Gerhard lächeln. Er fasste Jule am Ellenbogen und führte sie zur Couch. Als sie saß, drückte er ihr ein Glas Ginger Ale in die Hand und wartete, bis sie widerwillig mit ihm anstieß. Obwohl die Flüssigkeit eiskalt war, wärmte der Ingwer Mund und Rachen. Gerhard mochte den Effekt.

Eine Weile schwiegen sie, Zeit, die Jule brauchte, um einzusehen, dass er recht hatte. Dörfer wie Unterleuten hatten die DDR überlebt und wussten, wie man sich den Staat vom Leibe hielt. Die Unterleutner lösten Probleme auf ihre Weise. Sie lösten sie unter sich.

Ein leises Schnarchgeräusch unterstrich die Tatsache, dass seit mindestens zwei Minuten kein Kindergeschrei zu hören war. Sophie hing rücklings über Jules Arm, die kleinen Fäuste neben den Wangen geballt, das Gesicht rot und verschwitzt vom Weinen. Eingeschlafen im Zustand äußerster Erschöpfung. Auch Jule war tiefer in die Kissen gerutscht, sie lag mehr auf dem Sofa, als dass sie saß. Gerhard beugte sich über sie, hob ihre Füße auf die Couch, löste das Zopfgummi, so dass sich das rötliche Haar auf den Polstern ausbreiten konnte, und bettete ihren Kopf auf die Armlehne. Aus glasigen Augen sah sie zu ihm herauf.

»Es kann nicht sein, dass wir nichts tun können«, murmelte sie.

Gerhard nickte und strich ihr beruhigend über die Stirn.

»Keine Sorge, Liebes. Wir werden etwas tun.«

Dass die Polizei nicht in Frage kam und Schaller für Gespräche nicht zur Verfügung stand, hieß noch lange nicht, dass es keine Möglichkeit gab, sich zu wehren. Als Soziologe hatte sich Gerhard von Anfang an für die dörflichen Beziehungen interessiert, und drei Jahre waren lang genug, um etwas darüber zu lernen. Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarchische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei. Ein gesellschaftstheoretisches, nein, gesellschaftspraktisches Paralleluniversum. Geld spielte eine geringere Rolle als die Frage, wer wem einen Gefallen schuldete. Um in diesem System etwas zu bewegen, musste man Teil des Systems werden. Gerhard brauchte Verbündete. Mit anderen Worten: Schuldner. Heute Abend war Dorfversammlung. Ungewöhnlicherweise hatte Bürgermeister Arne auf dem Einladungsschreiben den Gegenstand des Treffens mit keinem Wort erwähnt. 18 Uhr, Märkischer Landmann, das war alles. Das Treffen war sogar auf www.maerkischer-landmann-unterleuten.de angekündigt, allerdings auch ohne nähere Informationen. Gleichgültig, worum es ging – Gerhard würde nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sein Problem zur Sprache zu bringen.

»Weißt du, was?«

Jule schlief schon halb, sie hatte die Augen geschlossen, ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. Gerhard beugte sich über sie, um zu verstehen, was sie sagte.

»Was, mein Schatz?«

»Am besten, du bringst das Tier einfach um.«



2 Franzen


Früh um sieben fiel das Sonnenlicht bereits mit voller Kraft in die Küche. Der Garten stand reglos, als wäre der Wind noch nicht erfunden. Hoch über den Kronen der alten Bäume flitzte eine Armee von Schwalben am blauen Himmel. Es regnete so selten in Unterleuten, dass Linda sich manchmal fragte, ob ihr das gute Wetter irgendwann auf die Nerven gehen würde. Die Tage waren trocken, die Nächte sternenklar. Selbst im Juli, wenn die Nächte einen hellen Rand besaßen, war es völlig normal, die Milchstraße zu sehen.

Linda stand an der wackligen Spüle und löffelte Kaffeepulver in eine große Tasse. Auf einem Hocker summte der Wasserkocher. Die Kücheneinrichtung hatten Frederik und sie in Kategorie C eingestuft. A bedeutete »dringend anschaffen«. B hieß »möglichst in diesem, spätestens im nächsten Jahr«. C-Sachen gehörten in eine Zukunft, die in abstrakter Ferne lag. Momentan gab es eine Mikrowelle, zwei Camping-Kochplatten und einen funktionierenden Kühlschrank mit Gefrierfach. Weder Linda noch Frederik waren jemals begabte Köche gewesen. Ihr Überleben verdankten sie Bofrost.

Lindas Unterarm zitterte, als sie den Wasserkocher anhob, um den Kaffee in der Tasse aufzugießen. Wie jeden Morgen steckte ihr Körper in einem Korsett aus Muskelkater, das die kleinste Bewegung zu einer Herausforderung machte. Als hätten Putzabschlagen und Fensterschleifen sämtliche Sehnen im Leib verkürzt. Der Schmerz machte ihr nichts aus, im Gegenteil begrüßte sie ihn als Beweis dafür, dass sie das Richtige tat, und zwar mit vollem Einsatz. Außerdem war er ein Ansporn, denn er verschwand, sobald sie sich wieder an die Arbeit machte.

Die erste halbe Stunde des Tages verbrachte sie damit, ihren Kaffee zu trinken und auf den Postboten zu warten. Weil Unterleuten die erste Station auf seiner Rundreise über die Dörfer darstellte, erschien er regelmäßig um halb acht an der Tür. Meistens hatte er ein Paket für Linda dabei, für das er eine Unterschrift brauchte. Amazon schickte große Pappkartons voller Handtücher, Farbdosen, Blumentöpfe oder Schleifpapier, einen in Popcorn verpackten Staubsauger oder eine elend schwere Lieferung Schrauben und Nägel in verschiedenen Größen. Das nächste Einkaufszentrum mit Drogerie und Baumarkt lag vierzig Autominuten entfernt.

Der Postbote war nicht älter als dreißig und trug eine Irokesenfrisur. Während Linda im Türrahmen lehnte und darauf wartete, dass er ihren Namen in den kleinen Computer tippte, warf er verstohlene Blicke auf ihre nackten Beine und das karierte Hemd, das sie mit über der Brust verschränkten Armen zusammenhielt.

»Ausgeschlafen?«, fragte er jedes Mal, wenn er ihr das Display entgegenhielt, und Linda sagte »ja«, weil sie es grundsätzlich mochte, Fragen mit Ja zu beantworten.

»Heute spür ich wieder die Bandscheiben«, sagte er zum Abschied und fügte, schon im Gehen, hinzu: »Aber irgendwas ist ja immer.«

Weil Frederik es hasste, um diese Uhrzeit geweckt zu werden, hatte Linda sich angewöhnt, das Knirschen der Reifen auf dem Schotter der Einfahrt abzuwarten und an der Tür zu sein, bevor der Postbote klingeln konnte.

Sie goss etwas Milch in den Kaffee, blies auf die Oberfläche, damit sich die Schwebeteilchen schneller senkten, und trug die Tasse ins Wohnzimmer, in dem sich außer einer Couch aus grünem Samt und einem alten Schaukelpferd keine Möbel befanden. Schräg fiel die Morgensonne durch vier hohe Fenster. Die alten Dielen glänzten wie vollgesogen mit Licht. Unter der Dachtraufe nisteten Spatzen. Um aus ihren Nestern zu kommen, ließen sie sich wie Steine vor den Fenstern herabfallen, bevor sie die Flügel ausbreiteten und sich in die Luft schwangen. In der halben Stunde, bevor der Postbote kam, saß Linda einfach nur da und dachte nach, bevor sich der Tag in einen Rausch aus Aktivitäten verwandelte. Auch Manfred Gortz, dessen Schriften sie ihr geistiges Fitnessprogramm entnahm, empfahl gezielte Ruhepausen. Wer sich zwischendurch auf die wichtigen Dinge besann, konnte den Rest des Tags frei von Zweifeln verbringen.

Drei Jahre war es nun her, dass Frederiks Bruder Timo den Sitz seiner Firma nach Berlin verlegt hatte. Frederik hatte nicht darauf gebrannt, das beschauliche Oldenburg zu verlassen, aber der Job bei Timo ließ ihm keine Wahl. Diese Entwicklung hatte Linda in ein Dilemma gestürzt. Dass eine Distanzbeziehung an ihrem ungeduldigen Pragmatismus scheitern würde, war ihr sofort klar gewesen. Fehlte ihr etwas, suchte sie Ersatz. Und sie wollte Frederik nicht ersetzen, ausgerechnet in dem Moment, da sie Spaß daran fand, mit ihm zusammenzuleben. Ihm nach Berlin zu folgen bedeutete aber, ihren wichtigsten Besitz in Oldenburg zurückzulassen. Der Schatz hieß Bergamotte, war ein vierjähriger Hengst und für Linda gewissermaßen der Sinn des Lebens. Gleich zu Beginn ihrer Ausbildung zur Pferdewirtin hatte sie miterlebt, wie das Hengstfohlen zum Ärger seines Züchters mit krummen Vorderbeinen zur Welt kam und eingeschläfert werden sollte. Sie bettelte um Bergamottes Leben, bis der Züchter ihr das Eigentum an dem Fohlen überließ; die Kosten für Futter und Unterbringung zog man ihr vom mageren Lehrlingsgehalt ab. Tagsüber schuftete Linda auf dem Gestüt, die Nächte verbrachte sie im Stutenstall. Alle drei Stunden hob sie Bergamotte, der nicht aufstehen konnte, aus dem Stroh und hielt ihn zum Trinken unter das Euter seiner Mutter. Acht Wochen und unzählige Streckverbände später stand er zum ersten Mal zitternd auf seinen stark gespreizten Beinen. Mit einem Jahr gewann er eine Prämierung auf der Oldenburger Fohlenschau. Wenn Frederik scherzhaft davon sprach, dass er wohl lernen müsse, im Schatten eines Pferds zu leben, widersprach Linda nicht.

Die Reitställe in Berliner Stadtnähe stellten für einen künftigen Zuchthengst keine angemessene Umgebung dar. Unter einer Bedingung hatte sich Linda bereit erklärt, in die Hauptstadt zu ziehen und Bergamotte auf dem Oldenburger Gestüt zurückzulassen: Sie würden so bald wie möglich eine Gelegenheit finden, das Pferd nachzuholen, und Frederik würde sie dabei unterstützen.

Da Linda in Berlin nicht auf Anhieb einen Job als Bereiterin fand, bekämpfte sie Langeweile und die Sehnsucht nach Bergamotte mit einer Geschäftsidee. Wie sich herausstellte, gab es im Berliner Raum massenhaft Problempferde, besser gesagt, Problempferdebesitzer, die keine Ahnung hatten, wie sie mit ihren vor Verwirrung schon halb gestörten Vierbeinern umgehen sollten. Kurzerhand druckte Linda Visitenkarten, auf denen sie sich »Equidentrainerin« nannte, ließ eine Homepage erstellen, fuhr die Reitställe der Umgebung ab und heftete Flyer an Schwarze Bretter. Den Rest erledigte die Mund-zu-Mund-Propaganda. Der Kundenstamm wuchs rasant, und binnen kürzester Zeit war aus der Idee eine Vollzeitbeschäftigung und aus Linda eine Pferdeflüsterin geworden.

Wenn sie abends allein in der Berliner Wohnung saß, weil sie in der Stadt keine Freunde hatte und Frederik noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war, surfte sie auf Immobilienseiten, wo sie nach alten Häusern und verlassenen Höfen Ausschau hielt. Manchmal schickte sie Frederik eine besonders interessante Anzeige, und dann sendete er einen Smiley zurück, der heftig nickte und grinste.

An einem Wochenende überraschte er sie mit Ausflugsplänen, hatte den Picknickkorb gepackt und verriet nicht, wohin sie fahren würden. Unterwegs sahen sie Hasen, Füchse und Rehe auf den Feldern. Das Haus erkannte Linda sofort. Das war Nummer 108, eins ihrer Lieblingsobjekte auf ImmobilienScout24. Hölzerner Wintergarten, Stuck über den Fenstern, dazu ein seltsam geformtes Dach. Verwilderter Garten, alte Bäume. Ein Haus wie aus dem Märchen, verwunschen und fast ein bisschen bedrohlich.

Nachdem sie das Gebäude umrundet hatten, verlangte Linda, auf Frederiks Schultern gehoben zu werden, um durch die hoch gelegenen Fenster zu sehen. Sie hielt sich an der Hauswand fest, während er sich mühsam aufrichtete. Frederik war groß, aber das Gegenteil eines Sportlers. Gemeinsam mit Timo hatte er Kindheit und Jugend vor dem Computer verbracht.

Sie hatte beide Hände gegen die schmutzige Fensterscheibe gelegt und in jenen Raum geblickt, in dem sie jetzt mit ihrer Kaffeetasse saß. Während sie daran dachte, erwartete sie beinahe, ihr eigenes Gesicht am Fenster auftauchen zu sehen, wie es zwischen gewölbten Händen hereinspähte. Komischerweise war das keine unangenehme Vorstellung.

Damals hatte der Raum wie ein Gemälde gewirkt. Einsam hatte die grüne Couch auf der weiten Dielenfläche gestanden, als wartete sie seit Jahren auf die Rückkehr ihrer Besitzer. Das Schaukelpferd hatte Linda erst auf den zweiten Blick entdeckt. Es befand sich mehrere Meter entfernt in der anderen Zimmerecke. Der weiße Stoff, der seinen Körper überzog, war fadenscheinig und vergilbt, der rote Sattel zerschlissen. Aber die bernsteinfarbenen Glasaugen leuchteten wie bei einem lebendigen Tier.

Über die Entdeckung des Schaukelpferds war Linda schier außer sich geraten. Sie sprang von Frederiks Schultern und wies ihn an, einen Klimmzug am Sims zu machen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Ein Pferd, verstehst du! Das ist ein Zeichen.

Mit einem Mal stand alles fest, und Linda begriff, dass das Leben wichtige Entscheidungen ohne Rücksprache traf. Man wurde nicht gefragt. Die Freiheit des Menschen bestand in der Möglichkeit, sich zu widersetzen, um auf diese Weise wenigstens für das eigene Unglück verantwortlich zu sein. Aber Linda zog es vor, dem Schicksal zu gehorchen und glücklich zu werden. Was sie soeben durchs Fenster gesehen hatte, war ihr Schaukelpferd in ihrem Wohnzimmer in ihrem Haus. Sie musste nur noch Frederik überzeugen, ein mittelgroßes Vermögen für die Sanierung auszugeben.

Nach dem Blick durchs Fenster hatten sie noch einen Spaziergang über das Grundstück unternommen. Es gab einige Nebengebäude, die sie ausgiebig besichtigten. Getreidespeicher, Hühner- und Schweinestall, Geräteschuppen. Sie freuten sich über verrostete Eggen, Futterkrippen, Teile eines ausgeschlachteten DDR-Traktors. Linda redete ununterbrochen. Den Getreidespeicher konnte man ausbauen, hier die Box von Bergamotte, da die Sattelkammer, dort der Laufstall für die Fohlen. Dahinten der Stutentrakt. Hinter der Gartengrenze einfach nur Land, Land, Land bis zum Horizont. Vielleicht gehörte ein Teil schon dazu, wenn nicht, konnte man es kaufen oder pachten. Frederik behauptete, die majestätischen Bäume zu mögen, die respektvoll Abstand zueinander hielten. Eiche, Buche, Birke, Robinie, Ahorn. Linda stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, weil sie wusste, dass er sich nicht im Entferntesten für Bäume interessierte. Frederik hasste die Natur, solange sie sich nicht in sanften Farben auf dem Bildschirmhintergrund seines Computers befand.

In den folgenden Wochen telefonierte Linda mit ihren Eltern, Großeltern sowie verschiedenen Tanten und Onkeln und holte sich eine Abfuhr nach der anderen für ihr angeblich völlig versponnenes Projekt. Nach weiteren Anrufen bei sieben verschiedenen Banken stand der Finanzierungsplan auch ohne Eigenkapital. Trotz Finanzkrise und historisch niedrigem Zinsniveau langte die Bank bei den Zinsen ordentlich zu. An ihrem Abenteuer würden Frederik und Linda dreißig Jahre zu tragen haben.

Natürlich hätte Frederik seinen kleinen Bruder fragen können. Timo hätte sie in seine atemberaubend große, atemberaubend unordentliche Wohnung gebeten, ein paar Flaschen Club-Mate serviert und beim Zuhören die Stirn gerunzelt, nicht aus Ärger, sondern weil das bei ihm einen Ausdruck höchster Konzentration darstellte. Hin und wieder hätte er genickt und »Das ist ja schön« oder »Kann ich gut verstehen« gesagt. Am Ende hätte er, anders als Lindas Familie, nicht gefragt, ob sie verrückt geworden sei. Er hätte es nicht als größte Schnapsidee des Jahrhunderts bezeichnet, eine Bruchbude im Niemandsland zu erwerben. Stattdessen hätte er gesagt, wie sehr er sich freue, dass sie einen Ort gefunden hatten, der ihnen gefiel. Dann hätte er wissen wollen, was die Sache kosten sollte.

Linda wusste, dass er ihnen das Geld gegeben hätte. Anstandslos und aufgerundet. Damit sie sich besser fühlten, hätte er von seinen Anwälten einen Kreditvertrag aufsetzen lassen, in dem ein symbolischer Zinssatz notiert war. Ob er die Summe wiederbekam oder nicht, wäre ihm völlig gleichgültig gewesen. Es wäre niemals zu Verstimmungen gekommen; niemals hätte er ihnen Vorhaltungen gemacht, Ansprüche erhoben oder die Leihgabe auch nur erwähnt. Die meisten Menschen besaßen komplizierte Persönlichkeiten; Timo war einfach nur nett. Außerdem verfügte er über haufenweise Geld, das ihm peinlich war. Er liebte Frederik, und Frederik liebte ihn. Ihr Leben lang hatten sie sich kaum gestritten. Trotzdem hätte es Frederiks Selbstwertgefühl endgültig in Schutt und Asche gelegt, seinen jüngeren Bruder um Hilfe zu bitten.

Frederik war neunzehn gewesen und hatte sich fürstlich in seinem Informatikstudium an der Uni Oldenburg gelangweilt, als Timo und sein bester Freund Ronny, beide gerade siebzehn geworden, eines Tages zu ihm kamen. Sie hatten die Idee zu einem Browserspiel entwickelt und wollten eine Firma gründen, um das Spiel selbst zu vertreiben. Frederik hörte lange zu, sah sich die selbstgebastelte Demo-Version an, äußerte ein paar spontane Vorschläge zur Ausgestaltung. Die Idee fand er nicht schlecht. In all den Jahren der autodidaktischen Streifzüge durch die Welt des Programmierens war ihm Timo stets dicht auf den Fersen geblieben, und Frederik musste zugeben, dass sein jüngerer Bruder im Begriff stand, ihn zu überholen. Seine Gratulation war ernst gemeint.

»Und bist du dabei?«, fragte Timo.

»Wobei?«, fragte Frederik.

»Bei unserer Firma. Als dritter Gesellschafter.«

Da erklärte Frederik von der Höhe seiner neunzehn Jahre herab, warum es sich bei der anvisierten Firma nur um ein Luftschloss handeln könne. Die großen Konzerne hätten den Markt längst unter sich aufgeteilt. Es sei undenkbar, dass sich ein paar Jugendliche mit ihren Plänen ernsthaft durchsetzen sollten, ganz egal, wie enthusiastisch sie waren. Er schloss seine Ausführungen mit dem verhängnisvollen Satz:

»Am Ende seid ihr halt nur ein paar Kinder, die gerne daddeln.«

Enttäuscht zogen Timo und Ronny davon, holten sich Vollmachten bei ihren Eltern und gründeten eine GmbH, die sie Weirdo nannten, Frederik zu Ehren, denn das war immer sein Spielername gewesen.

Zwei Jahre später landete Weirdo mit »Traktoria« einen weltweiten Erfolg. Als eins der ersten populären Browsergames gewann das Spiel binnen eines Jahres über 13 Millionen Spieler und sprengte sämtliche Statistiken. Kurzzeitig katapultierte Traktoria die Firma unter die erfolgreichsten Browserspiel-Hersteller der Welt, der Umsatz stieg auf 20 Millionen Euro im Jahr. Frederik verließ die Uni ohne Abschluss und nahm eine Stelle als Entwickler bei Weirdo an. Das Gehalt war in Ordnung. Es entsprach exakt dem, was die anderen Entwickler verdienten. Frederik hätte sich lieber ein Bein abgeschnitten, als Almosen von seinem jüngeren Bruder zu akzeptieren. Keine Gehaltserhöhung, keine Firmenanteile und schon gar keinen Kredit, den man in Wahrheit nicht zurückzahlen musste.

Linda respektierte das. Sie hatte ihm nicht einmal vorgeschlagen, mit Timo zu reden. Inzwischen war sie sogar stolz darauf, dass sie es alleine schaffen würden, aus eigener Kraft, ohne Timos Hilfe. Noch vor wenigen Monaten hatte sie nicht gewusst, was eine Dampfsperre ist. Heute war sie in der Lage, ein ganzes Dach zu dämmen.

Wenn sie doch einmal schwächelte, wenn sie verzweifelt meinte, dass der Berg von Arbeit immer größer statt kleiner werde, musste sie nur die Augen schließen und an Bergamotte denken, wie er in vorschriftsmäßiger Haltung stand, den Hals aufgewölbt, die Ohren gespitzt, das rechte Hinterbein einen halben Schritt zurückgestellt. Das cremefarbene Fell glänzte wie Lack. Der Gedanke an Bergamotte heilte Muskelkater und Frustration. Linda hatte einen Auftrag, der darin bestand, ein Stück Welt abzuzäunen. Bergamotte brauchte nicht nur einen Platz zum Leben, sondern auch die Möglichkeit, seine Schönheit an möglichst viele Nachkommen weiterzugeben. Überhaupt ging es um das Herstellen von Schönheit, im Haus, im Garten, auf den Weiden. Pferde unter Obstbäumen, Pferde im hohen Gras, Pferde im Licht der untergehenden Sonne. Dieser Traum war Lindas Zukunft, und nur weil er einer Postkartensammlung glich, hieß das noch lange nicht, dass er sich nicht realisieren ließ. Manfred Gortz sagte, das Wichtigste im Leben sei Freiheit, und Freiheit bedeute zu entscheiden, wer man sein wolle. Linda war eine Pferdezüchterin in spe.

Im oberen Stock rauschte die Klospülung, als flösse ein Wasserfall durch die Innereien des Hauses. Frederik war aufgestanden; für seine Verhältnisse ziemlich früh. Das konnte bedeuten, dass die nächtliche Arbeit schlecht gelaufen war oder dass der Hahn der Nachbarn ihn geweckt hatte. Bis er die Treppe herunterkommen würde, blieb genug Zeit, noch einmal Kaffeewasser aufzusetzen und sich im Bad vor dem Spiegel das Haar zum Pferdeschwanz zu binden.

Linda saß schon wieder auf der Couch und hielt eine zweite Tasse Kaffee bereit, als Frederiks schlaksige Gestalt im Türrahmen erschien, gekleidet in Boxershorts und ein ausgeleiertes T-Shirt. Das schulterlange Haar hing ihm ins Gesicht, von der Nase in zwei Hälften geteilt. Er ließ sich auf die Couch fallen und nahm den Kaffee entgegen.

»Wann kommt der Spekulant?«

»Nicht vor Mittag.«

»Dann können wir ja vorher noch das Dach neu decken, ein zweites Bad einbauen und im Garten nach Öl bohren.«

»Fährst du heute nicht in die Firma?«

»Das Meeting wurde gecancelt. Timos Sekretariat hat gerade angerufen.«

»Deshalb bist du schon wach.«

»Und du? Keine Problempferde heute?«

»Alles auf morgen verschoben. Der Spekulant geht vor.«

Linda konnte sehen, wenn Frederik an Sex dachte. Irgendetwas passierte mit seinem Blick. Als schaute er plötzlich direkt in sie hinein.

»Dann gehen wir doch einfach wieder ins Bett«, schlug er vor.

»Du gehst auf den Dachboden und machst weiter mit Entrümpeln, ich kümmere mich um die Fenster.«

Er verdrehte die Augen.

»Oui.«

»Oui quoi?«

»Oui, mon Général.«

Linda musste lachen. Manchmal konnte sie es kaum fassen, dass sie tatsächlich hier mit ihm saß, mit dem Mann, von dem sie immer behauptet hatte, sie würde sich nicht einmal für ihn interessieren, wenn er der letzte Mensch im Universum wäre. Frederiks Bruder Timo war in Lindas Klasse gegangen, ein netter, aber sterbenslangweiliger Nerd, der mit seinem Computer verheiratet war und mit seinem Nerd-Freund Ronny bei jeder Gelegenheit Technikgespräche führte. Frederik ging in eine höhere Klasse, war genauso computerverrückt und genauso langweilig wie sein jüngerer Bruder, gehörte aber zur Clique eines Jungen namens Marc, dem Linda zu dieser Zeit restlos verfallen war. Sie folgte Marc wie ein Hund, über den Schulhof, zum Sport und auf jede Party. Während Marc im Wohnzimmer irgendeines sturmfreien Einfamilienhauses mit anderen Mädchen tanzte, saß Linda mit Frederik draußen auf der Eingangstreppe, betrachtete den Mond, der wie ein Teller Milchsuppe am Himmel stand, und machte »hm-hm« und »na klar«, wenn Frederik etwas sagte. Trotz seines Computerfimmels sah er vorzeigbar aus. Dies und die Tatsache, dass er älter war, machten es möglich, seine Anwesenheit zu ertragen, obwohl sein Marktwert erheblich unter ihrem lag.

Frederik selbst schien sich über Marktfragen keine Gedanken zu machen. Linda wusste nicht einmal, was er von ihr wollte. Nie unternahm er den Versuch, sie zu küssen. Anscheinend reichte es ihm, gelegentlich auf dem Schulhof mit ihr zu plaudern und ihr zu helfen, wann immer sie Probleme mit ihrem Computer hatte. Er war ein Mensch, der Dinge tat, ohne sie in Frage zu stellen. Auf Partys gehen, auf Treppen sitzen, Linda nach Hause fahren, während sie aus dem Fenster seines Polos kotzte. Computerviren unschädlich machen, braune Socken tragen, Fünfen schreiben und trotzdem das Abitur bestehen.

Als zwei Jahre später auch Linda mit der Schule fertig war, hörte sie von Timo, dass Frederik einen Mitbewohner für seine Studentenwohnung suchte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Marc einer seiner vielen Freundinnen ein Kind gemacht und war ohne Abschluss von der Schule gegangen. Linda zog bei Frederik ein, und weil es sich anbot, schliefen sie gelegentlich miteinander.

Während Frederik die Uni schwänzte, schuftete Linda auf ihrer Lehrstelle als Bereiterin, kam abends völlig erschlagen nach Hause und erfüllte die Wohnung mit Pferdegestank. Manchmal war er noch wach, wenn sie morgens aufstand, und sie tranken einen Kaffee zusammen. Sie hatte Affären mit einem Hufschmied, einem Tierarzt und einem Reitlehrer. Er traf eine Graphikdesignerin, eine Unternehmensberaterin und eine Friseuse. Es dauerte eine Weile, bis Linda begriff, dass Frederik zu den seltenen Menschen gehörte, die ihr nicht auf die Nerven gingen. Sie lachten viel und stritten nie. Linda begann, neue Merksätze zu formulieren, wenn sie über ihr Verhältnis zu Frederik nachdachte. Verliebtheit verfliegt, Freundschaft bleibt. Wer seine Träume selbst verwirklicht, braucht keinen Prinzen. Überhaupt gab es laut Manfred Gortz nur zwei Kategorien von Dingen auf der Welt – solche, die funktionierten, und den großen Rest. Frederik funktionierte. Eines Tages erfuhr sie, dass auch er einen Merksatz über sie hatte. Er lautete: Ich habe diese Frau vom ersten Augenblick an geliebt. Dass sie ihn dafür auslachte, störte ihn nicht.

»Und wie läuft das nachher ab mit dem Spekulanten?«

»Der Spekulant«, sagte Linda, »trifft auf zwei sympathische junge Menschen an der Schwelle zu einer glücklichen Zukunft. Das erweicht sein Spekulantenherz.«

»Welches Kleid ziehst du an?«

»Arschloch.«

Er gähnte und legte die langen Beine über Lindas Schoß, damit sie ihm die Füße massieren konnte.

»Was ist das eigentlich für einer?«

»Geschäftsmann in Standardausführung. Ich hab ihm von Bergamotte erzählt, und er wollte wissen, wie viel man mit Pferdezucht verdient.«

»Vielleicht steht er nicht auf Pferdemädchen.«

»Dann machst du die Hilf-mir-Kumpel-du-weißt-doch-wie-die-Frauen-sind-Nummer.«

»Oui.«

»Oui quoi?«

»Oui, mon Général.«

Linda lockerte seine Fußgelenke durch rotierende Bewegungen, danach drückte sie jede seiner Zehen sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Vor dem Fenster stritten zwei Spatzen in der Luft, wobei einer mehrfach mit den Flügeln gegen die Scheibe stieß. Linda dachte, dass die Temperaturen heute die Dreißig-Grad-Marke übersteigen würden.

»Nervös?«

Sie zuckte die Achseln.

»Hey.« Frederik setzte sich auf und stupste ihr einen Finger auf die Nase. »Wir kriegen das Land. Versprochen. Schon allein, damit Bergamotte nicht eines Tages zwischen uns im Bett liegt.«

Sie nickte, gab seinen Füßen einen Klaps und erhob sich. Bevor der Spekulant auftauchte, wollte sie unbedingt noch eins der Fenster schaffen, die sie im Obergeschoss ausgebaut und zum Abschleifen in den ehemaligen Schweinestall getragen hatte. Frederik nutzte den frei gewordenen Platz auf der Couch, um sich ganz auszustrecken, und sah träge zu ihr hoch.

»Mir tut der Rücken weh. Ich glaube, ich mache heute mal gar nichts.«

Linda nickte und ermahnte sich, keinen Ärger aufkommen zu lassen. Als sie sich entschieden hatten, das Haus zu kaufen, hatte Frederik unmissverständlich klargestellt, dass er nicht zum Heimwerker mutieren würde. Dafür zahlte er den Löwenanteil der Kreditraten. Sein Job war in der Stadt, seine Freunde im Internet, seine Heimat ein weiß möbliertes Büro mit Hochleistungsrechner, das bislang den einzigen voll eingerichteten Raum des Hauses darstellte. Wenn er Lust verspürte, einen Dachboden zu entrümpeln, konnte er das tun. Wenn nicht, war es sein gutes Recht, den ganzen Tag auf der Couch zu liegen.

Die Reifen des Postautos erzeugten ein harsches Geräusch im Schotter vor dem Haus. Linda verließ das Wohnzimmer und ging über den Flur. Der frisch gereinigte Fliesenboden war kühl unter den Füßen, jeder Schritt ein kleiner Triumph. Stunde um Stunde hatte sie auf den Knien liegend in diesem Flur verbracht und mit einem Spachtel Klebstoffreste von den Fliesen geschabt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Restaurierung von Objekt 108 bestand darin, die untergegangene DDR von Wänden und Böden zu kratzen. Als Linda und Frederik das Linoleum im Flur herausgerissen hatten, war der alte Kachelboden zum Vorschein gekommen, mit filigranen Rankenmustern verziert, auf die Linda jetzt ihre nackten Füße setzte.

Sie betrat den Wintergarten und sah von dort aus zu, wie der Postbote einen Brief in den Kasten neben dem linken Torpfosten warf. Als er sie entdeckte, schüttelte er den Kopf zum Zeichen, dass heute kein Päckchen gekommen war, stieg wieder ins Auto und fuhr davon.

Der Holzboden des Wintergartens fühlte sich warm an unter den Füßen, wie der Rücken eines Tiers; die Steinstufen der Treppe waren wieder kalt. Linda genoss die kleinen Explosionen unter der Schädeldecke, während sie auf nackten Sohlen über den Schotter der Einfahrt zum Briefkasten ging. Ein einzelner Brief lag darin. Der Umschlag aus Umweltpapier, längliches Format mit Sichtfenster. Nur Behördenangestellte waren in der Lage, ein Blatt Papier so zu falten, dass es in diese Sorte Umschlag passte.

Lindas Laune sank, ein innerer Temperatursturz. Behördenpost verhieß niemals etwas Gutes. Der Staat verschickte keine Briefe, in denen er sich bei seinen Bürgern für gesetzestreues Verhalten, braves Steuerzahlen oder die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen bedankte. Der Staat war wie ein falscher Freund, der sich nur meldete, wenn er etwas wollte. Geld eintreiben, Maßregeln verhängen, Verbote erlassen. Der Anblick des Briefs erzeugte ein flaues Gefühl im Magen, aber Linda war nicht der Typ, der einem Gegner ausweicht. Barfuß auf dem Schotter zerfetzte sie den Umschlag in der Luft und ließ die Teile zu Boden fallen.

In Händen hielt sie ein einzelnes Blatt. Oben prangte ein dilettantisch erstelltes Logo, ein Paar Vogelschwingen, in deren Mitte die Buchstaben »VoSchuWa« zu lesen waren. Darunter eine Webadresse: www.vogelschutzbund-unterleuten.de. Der Rest des Briefkopfs informierte Linda darüber, dass die Vogelschutzwarte Unterleutner Heide eine Außenstelle der Naturschutzbehörde Plausitz darstellte und in einem Ort namens Seelenheil ansässig war.

Sie begann zu lesen. Sie kannte keinen Gerhard Fließ. Sie hatte nichts gegen Vögel, im Gegenteil. Sie fand es toll, dass man die letzten Kampfläufer schützte. Sie wollte nur ein paar Pferdeboxen und eine Weide.

Die Wut stieg vom Magen her die Wirbelsäule hoch, verteilte sich wie heiße Flüssigkeit im ganzen Körper, ließ die Kehle eng und den Mund trocken werden. Der Brief war nicht lang, er bestand im Wesentlichen aus zwei nummerierten Absätzen und einer Unterschrift. Als Linda zu Ende gelesen hatte, spürte sie, wie ihr die Tränen kamen.

Sehr geehrte Frau Franzen,

heute teilen wir Ihnen das Folgende mit:

1.) Der Vogelschutzwarte Unterleutner Heide liegen Hinweise vor, dass Sie beabsichtigen, am Rand der Unterleutner Heide ein Nebengebäude umzunutzen. Die Unterleutner Heide gehört zum europäischen Vogelschutzreservat Unterleuten, in dem sich die letzten Brutstätten der Kampfläufer befinden. Von baulichen Veränderungen in ihrem Sichtfeld können sich die Kampfläufer gestört fühlen. Hiermit teilen wir Ihnen heute schon mit, dass wir das genannte Bauvorhaben beim Bauamt Plausitz zur Anzeige bringen werden.

2.) Weiterhin liegen uns Hinweise vor, dass Sie in der Unterleutner Heide die Errichtung großräumiger Einzäunungen planen. Zaunanlagen im Landschaftsschutzgebiet Unterleutner Heide sind genehmigungspflichtig. Die Unversehrtheit der Landschaft ist zu wahren. Zudem besteht die Gefahr, dass sich Singvögel in oder an den Zaunanlagen tödlich verletzen. Wir bringen auch dieses Vorhaben zur Anzeige und weisen Sie heute schon darauf hin, dass wir der Naturschutzbehörde Plausitz anraten werden, ihre obligatorische Einwilligung im betreffenden Genehmigungsverfahren nicht zu erteilen.

Mit freundlichen Grüßen,


Gerhard Fließ



3 Meiler


Als Mizzie noch verlangt hatte, dass nach drei Stunden am Steuer eine Pause einzulegen sei, pflegte Meiler trotz Hunger, Müdigkeit oder voller Blase so lange aufs Gas zu drücken, bis sie ihr Ziel ohne Unterbrechung erreichten. Seit Mizzie – er hatte noch immer kein Wort dafür, denn sie war weder tot noch krank noch in einen anderen Mann verliebt – seit Mizzie also nicht mehr auf dem Beifahrersitz saß, hielt er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und beachtete die Drei-Stunden-Vorschrift. Konrad Meiler mochte Regeln, solange er sich selbst aussuchen konnte, welche er befolgte.

An einer Raststätte bei Gera trank er Milchkaffee, bei Magdeburg aß er einen Rostbraten mit Rotkohl und Kartoffeln, der gar nicht übel schmeckte. Während er das Fleisch kaute, schaute er durch die Scheibe auf bunte Spielgeräte, an denen die Kinder gestresster Urlauber turnten. Die vielen staubigen Kombis mit Dachboxen und Fahrradträgern auf dem Parkplatz ließen Meilers silbern glänzenden Mercedes Roadster wie einen Fremdkörper wirken. Die Außentemperatur wurde mit 32 Grad angegeben. Ab 30 Grad gönnte er sich mittags ein Weizen.

Als er am Morgen in Ingolstadt aufgebrochen war, hatte er sich vorgenommen, bis Bayreuth zu wissen, was er hier tat. Bei Leipzig hatte er noch keine Ahnung gehabt, und jetzt saß er ohne einen blassen Schimmer in der Nähe von Magdeburg. Dass er im Auto nach Berlin fuhr, um einen Kunden zu treffen, war nichts Besonderes. Er stand lieber im Stau, als in einem überheizten oder unterkühlten ICE auf das Beheben einer Signalstörung zu warten. Aber das Kundengespräch war erst für den kommenden Vormittag angesetzt, und Meiler war nicht der Typ, der einen Tag früher in die Hauptstadt reiste, um ins Theater zu gehen. Das Navigationsgerät nannte als Zielort den Namen eines gottverlassenen Nests in der Prignitz. Dort lebte eine Frau, mit der er eigentlich nichts zu tun haben wollte.

Während der letzten Etappe seiner Fahrt sah Konrad Meiler dabei zu, wie die Landschaft sich selbst abschaffte. Wälder zogen sich zurück, Hügel ebneten sich ein, Flüsse versandeten, Farben bleichten aus. Er hasste Preußen. In Bayern gab es Berge und Täler, Wälder und Felder, Flüsse und Ufer. Der Himmel war der Himmel, und die Erde war die Erde. In Preußen machte der Sand jede Landschaft unmöglich. Der Sand ließ Anhöhen und Senken ineinanderrutschen. Der Sand verwischte die Horizonte. Der Sand entzog dem Himmel das Blau und den Bäumen das Grün. Er ließ Mauern einsinken und schluckte halbe Dörfer. Der Sand machte die Seen trübe und die Menschen blass. Den Rest erledigten gelbes Steppengras und Kiefern.

Als das Navigationssystem ihn anwies, die nächste Ausfahrt zu nehmen und sich Richtung Plausitz zu halten, war er so lange überzeugt, dass er einfach auf der Autobahn bleiben und weiter Richtung Berlin fahren würde, bis seine linke Hand dann doch den Blinker setzte, der linke Fuß die Kupplung trat und die rechte Hand vom fünften in den vierten und dann in den dritten Gang schaltete, um den Mercedes sicher durch die enge Kurve zu bringen. Im Grunde blieb ihm nichts anderes übrig. Er hatte sein Kommen zugesagt, und das Einhalten von Verabredungen gehörte zu den vielen Selbstverständlichkeiten in Meilers Leben.

Erst hatte die Frau ihm gemailt, an seine Firmenadresse, die sich über die Homepage von Result International leicht herausfinden ließ. An der Geschwindigkeit, mit der sie von »Sehr geehrter Herr Meiler« und »Mit freundlichen Grüßen« zu »Hallo Konrad« und »Liebe Grüße« überging, erkannte er, dass sie nicht älter als dreißig sein konnte. Vielleicht war sie vierundzwanzigeinhalb. Philipp, sein jüngster Sohn, war vierundzwanzigeinhalb. Meiler staunte, dass er das überhaupt wusste.

Dann rief sie auf seinem Privatanschluss an, obwohl die Nummer nicht mehr im Telefonbuch stand, seit Philipp zum ersten Mal verschwunden war. Meiler hatte in der Presse gelesen, dass deutsche Behörden Datensätze verkauften, aber das war ihm immer wie eine Übertreibung von Bürgerrechtshysterikern erschienen. Linda Franzen traute er zu, die Handynummer des Papstes herauszufinden, wenn sie die brauchte.

Am Telefon klang ihre Stimme nach einer Frau, die wusste, wie man Charme für eigene Zwecke einsetzt. Meiler war sicher, dass sie überdurchschnittlich gut aussah. Man musste kein Psychologe sein, um Franzens starken Willen hinter dem freundlichen Singsang zu spüren. Obwohl sie zweifellos mit einem festen Freund zusammenlebte, sagte sie nicht, »wir wünschen uns« oder »unser Anliegen wäre«. Sie sagte »ich plane«, »ich brauche«, »ich muss«.

Fragte man Meiler nach dem Geheimnis seines Erfolgs, antwortete er mit zwei Vokabeln: Konsequenz und Konsistenz. Er besaß Prinzipien, hasste Zeitverschwendung und mochte keine Spielchen. Weshalb er auf Linda Franzens Charmeoffensive mit der unverblümten Wahrheit reagierte.

Sein neuerworbener Besitz, erklärte er, umfasse eine Fläche von 250 Hektar. Diese hingen nicht zusammen, sondern verteilten sich in unregelmäßigen Parzellen über den halben Landkreis. Es handele sich um Felder, Wiesen und Wälder; es gebe die unterschiedlichsten Nutzungsarten von Ackerbau bis Streichelzoo, und das bei meist unklaren Grenzverläufen. Mit dem Zuschlag auf der Auktion habe er, Konrad Meiler, eine ganze Armada von neuen Nachbarn erworben, von denen sie, Linda Franzen, nur eine sei. Eins müsse sie sich klarmachen, um die vollständig fehlende Erfolgsaussicht ihrer Anrufe einschätzen zu können: Es sei nicht nur praktisch unmöglich, sich um die Partikularinteressen jedes einzelnen neuen Nachbarn zu kümmern, er habe auch keine Lust dazu und plane nicht einmal, es zu versuchen. Auch nicht ausnahmsweise, auch nicht in Franzens Fall. Das Land habe er aus einem einzigen Grund erworben. Weil er es konnte.

Meiler kam ins Reden. Er merkte es, während es passierte, und wusste, dass Linda Franzen es genau darauf anlegte. Aufhören konnte er trotzdem nicht. Seit Mizzie nur noch sporadisch im gemeinsamen Haus in Ingolstadt auftauchte, gab es niemanden mehr, der ihm zuhörte. Seine älteren Söhne Friedrich und Johannes lebten seit bald fünfzehn Jahren nicht mehr zu Hause, der eine war Anwalt in Würzburg, der andere Urologe in Fürth, und was der Jüngste, Philipp, gerade machte, wollte Meiler lieber gar nicht wissen. Mit Linda Franzen hatte das alles nichts zu tun, aber sie verstand es, ihn mit Fragen nach seiner Geschäftsphilosophie zum Reden zu bringen. Er erzählte ihr, dass er Result International vor bald vierzig Jahren gegründet hatte, zu einer Zeit, als Managementberatung noch als amerikanisches Dienstleistungsmodell galt. Seitdem steuerte er das Firmenschiff durch die Untiefen der Wirtschaftsgeschichte, deutsche Einheit, 9/11, Finanzkrise. Konsequenz und Konsistenz. Er hatte darauf geachtet, die Firma trotz frühem Erfolg nicht zu groß werden zu lassen. Er arbeitete nur für Menschen, deren Witze er verstand. Er hatte den Firmensitz in Ingolstadt belassen, obwohl es ihm und seinen Angestellten in den vergangenen Jahrzehnten viel Zeit gespart hätte, in der Nähe des Frankfurter Flughafens zu wohnen. Trotz aller Zurückhaltung wäre er nicht dorthin gekommen, wo er heute stand, wenn er es nicht verstünde, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Irgendwann hatte Gottfried Wanka, einer von Meilers langjährigen Kunden, beim Abendessen erzählt, dass ein Quadratmeter Land im Umkreis von Berlin nicht mehr kostete als ein Vitalbrötchen beim Bäcker. Weil Meiler ungläubig reagierte, schlug Wanka vor, ihn zu einer Versteigerung mitzunehmen. Meiler sagte zu, mehr aus Faszination für den großen Schlussverkauf von Grundbesitz als aus dem konkreten Wunsch, etwas zu erwerben.

Da Result International nie in der Politikberatung tätig gewesen war, erschien ihm der Vorgang, den Wanka beschrieb, einigermaßen befremdlich. Seit die amerikanische Immobilienkrise die Staatshaushalte unter Druck setzte und sich die Erkenntnis ausbreitete, dass Überschuldung auch für Volkswirtschaften zum Problem werden konnte, machte das Finanzministerium, was jeder Privatmensch auch tun würde: Es verscheuerte zwar nicht das Tafelsilber, wohl aber den großflächigen Ramsch, der bei der Wiedervereinigung in Form von ehemaligem Volkseigentum in das Eigentum der Bundesrepublik gelangt war. Bei der Auktion, die Wanka und Meiler besuchten, brachte die Nachfolgeorganisation der Treuhand 250 Hektar unter den Hammer. Weil der Ausgangspreis geradezu lächerlich war, bot Konrad Meiler mit, und als er einmal damit angefangen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Als die Grenze von zwei Millionen Euro überschritten war, hielt nur noch ein weiterer Bieter dagegen.

Bei 2,3 Millionen stand ein Mann auf, der bislang nur als Zuschauer an der Versteigerung teilgenommen hatte. Man drehte sich nach ihm um; auch der Auktionator hielt inne in Erwartung eines überraschenden Quereinsteigergebots. Wie ein Millionär sah der Kerl allerdings nicht aus. Er mochte Anfang siebzig sein, ein ehemals gut aussehender Mann im Zustand fortschreitender Verwahrlosung. Der Bart war ungepflegt, das Haar strähnig und zu lang. Er hatte seine Windjacke nicht abgelegt, obwohl es ohnehin zu warm war im Raum. Neben seinem Stuhl stand ein großer Rucksack, an dem eine Krücke lehnte. Der Mann streckte einen Arm aus, zeigte auf Meiler und sagte »verdammte Heuschrecke«. Dann setzte er sich wieder hin.

Konrad Meiler gab sein nächstes Gebot ab. Bei 2,5 Millionen gehörte das Land ihm. Er fühlte sich nicht als Sieger. Die Vorstellung, dass da draußen im Mittagslicht Waldstücke lagen, Weizenfelder, Kuhweiden, Obstwiesen und Brachflächen, die nun mit einem Schlag ihm gehörten, hatte etwas Absurdes. Der Garten seiner Villa am Rand von Ingolstadt war ihm immer groß vorgekommen. Er umfasste knapp 2000 Quadratmeter. Meiler versuchte zu schätzen, wie lange er brauchen würde, um seinen neuen Besitz zu Fuß zu umrunden, und stellte fest, dass das eine unmögliche Rechnung war.

Ein gutes Jahr später erzählte er diese Geschichte einer völlig unbekannten Frau am Telefon, obwohl ihm klar war, dass ihr seine Redseligkeit falsche Hoffnungen machen würde. Sie würde ihn für einen einsamen Mann halten und glauben, dass er ihr das Stück Land, das sie so dringend brauchte, irgendwann aus Sympathie überlassen würde. Bestimmt trank Franzen in diesem Augenblick das erste Glas Sekt auf ihren bevorstehenden Erfolg. Zu allem Überfluss hatte er irgendwann zugesagt, sie zu treffen. Bei einem ihrer Telefonate hatte sie ihm das Datum seiner nächsten Geschäftsreise nach Berlin entlockt. Ehe er es sich versah, hatte er versprochen, bei dieser Gelegenheit nach Unterleuten zu kommen. Nicht um über den Verkauf von vier Hektar Land zu verhandeln. Sondern weil es ihn reizte, seine neuen Besitztümer einmal mit eigenen Augen zu sehen.

»Ist mir egal, warum Sie kommen«, sagte Franzen. »Schauen Sie einfach vorbei.«

Immerhin wusste sie genau, woran sie bei ihm war. Meiler entspannte sich und schaltete das Radio an. Ein Mann sang mit sonorer Stimme zu Klavierbegleitung.

»Brandenburg / Wenn man Bisamratten im Freibad sieht / dann ist man im Naturschutzgebiet / Mark Brandenburg.«

Meiler lachte laut. Als das Navi ihn anwies, die Bundesstraße zu verlassen und einer schmalen Allee zu folgen, drosselte er die Geschwindigkeit auf 30 Stundenkilometer, obwohl 60 erlaubt waren. Der Asphalt lag in Wellen wie die Oberfläche eines erstarrten Flusses und war an vielen Stellen aufgerissen, so dass riesige Schlaglöcher zum Slalom zwangen. Der Roadster lag tief auf der Straße, seine Schnauze hob und senkte sich wie die eines Motorboots bei Windstärke sieben.

Schwer zu glauben, wie dünn besiedelt die Gegend war. Die Anzeichen menschlicher Zivilisation waren so selten, dass jeder Strommast auffiel. Ein paar Schilder am Straßenrand: Ferienwohnungen, Kleintransporte, Fußpflege, Hundetraining. Ein Sportflughafen, ein paar Kühe, Maisfelder, in einiger Entfernung die Förderbänder eines Kieswerks. Nirgendwo eine Menschenseele. Hin und wieder drängten sich am Straßenrand ein paar Häuser zusammen, die von Ortsschildern zu Dörfern erhoben wurden. Die Namen klangen wie aus einem surrealen Film, Wassersuppe, Regenmantel, Seelenheil. Auf dem Dach einer Scheune thronte ein Storchennest, groß wie ein Traktorreifen. Meiler bremste für eine Katze und fuhr Schrittgeschwindigkeit hinter drei Ponys, die mit ihren jugendlichen Reiterinnen mitten auf der Straße trotteten. Ihm kam das alles wie ein Paralleluniversum vor. Ein No-man’s-Disneyland. Ein Freilichtmuseum preußischen Versagens beim Versuch der Wiederaufsiedlung wüst gefallener Ländereien. Friedrich der Große würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie das Ergebnis seiner aufwändigen Siedlungspolitik aussah, samt Sumpftrockenlegung und Dorfneubau: drei zwölfjährige Mädchen auf Ponys in einer ansonsten völlig ausgestorbenen Landschaft.

Der Sänger im Radio war zum nächsten Lied übergegangen.

»Du fragst mich, was vor Armut schützt / Die Antwort lautet: Grundbesitz!«

Noch einmal lachte Meiler; anscheinend lief das Liederprogramm nur für ihn.

Ein Stück voraus standen mehrere Autos am Straßenrand. Erst dachte Meiler an einen Unfall, aber als die Ponys und er langsam näher kamen, sah er Menschen unverletzt herumlaufen, auch die Autos schienen unbeschädigt. Mehrere Männer bauten Stative auf. Für eine Polizeikontrolle war das Ganze allerdings zu auffällig. Die Mädchen dirigierten ihre Ponys an den Straßenrand, beschirmten die Augen mit den Händen und schauten aufs Feld hinaus. Während Meiler den Roadster an der Gruppe vorbeizwängte, erkannte er, dass die Männer Kameras mit langen Teleobjektiven auf die Stative schraubten; die Frauen standen daneben und hoben Ferngläser an die Augen. Sosehr er sich auch anstrengte, auf der weitläufigen Wiese etwas Sehenswertes zu entdecken – außer einer Gruppe grau gesprenkelter Vögel in hundert Metern Entfernung gab es nichts zu sehen. Meiler dachte, dass die Wiese, auf die hier alle starrten, möglicherweise ihm gehörte.

Zu keinem Zeitpunkt im Leben hatte er den Wunsch verspürt, Land zu erwerben. Aber seit es geschehen war, fühlte er sich anders. Besser. Er war Großgrundbesitzer. Die Adligen mochten in Deutschland zum Marionettentheater der Boulevardpresse verkommen sein; für ihre Methoden galt das nicht.

Mizzie hatte ihn für verrückt erklärt, als sie endlich ans Handy gegangen war und er ihr von seinem Coup erzählen konnte. Seit sie wegen Philipp die Wohnung in München gemietet hatte, war sie schwerer zu erreichen als ein Topmanager. Wenn er versuchte, sich vorzustellen, womit sie beschäftigt war, sah er schreckliche Bilder. Mizzie, wie sie eine Thermoskanne Tee, Käsebrote und frische Herrenunterwäsche in einen Rucksack packte. Mizzie, die mit uniformierten Mitarbeitern der Bahnhofsmission sprach. Mizzie, die in den Gängen einer U-Bahn-Station die Reihen von am Boden liegenden Menschenbündeln abschritt, immer wieder anhielt, sich hinunterbeugte und ein schmutziges Stück Stoff beiseiteschlug, um einem von ihnen ins Gesicht zu sehen.

Hartnäckig rief Meiler bei ihr an, um von den Ereignissen in seinem Leben zu erzählen, auch wenn er nicht wusste, ob sie das noch interessierte. Sie hörte schweigend zu, während er von der Versteigerung berichtete, und fragte anschließend, ob er den Verstand verloren habe. Noch einmal hatte Meiler seine Argumente wiederholt. Staatsanleihen können absaufen. Börsenkurse fallen. Vermögen von der Inflation gefressen werden. Mizzie blieb bei ihrer Gegenfrage: »Was zur Hölle willst du mit der halben DDR?«

Zwei Monate später meldete Lehman Brothers Konkurs an. Immobilienfonds wie jene, aus denen Meiler sich zurückgezogen hatte, um die Anschaffung seiner neuen Ländereien zu finanzieren, waren plötzlich keinen Pfifferling mehr wert.

Mit seinem Stück Ex-DDR musste Meiler nichts wollen. Er konnte es sich leisten zu warten. Auf Bebauungspläne, die neue Flächen als Bauland auswiesen. Auf eine Supermarktkette, die Land brauchte, um in der Nähe von Unterleuten eine Filiale zu eröffnen. Auf die Ausdehnung des Berliner Speckgürtels. Auf Umgehungsstraßen, Outlet-Center oder die große Energiekrise, die den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen unverzichtbar machen würde. Und solange er wartete, war Konrad Meiler sein eigenes Spekulationsgeschäft.

Am besten gefiel ihm, dass sich sein neues Investitionsmodell als System mit positiver Rückkopplung entpuppte. Ein berühmter Kunstsammler konnte den Wert eines Künstlers dadurch steigern, dass er dessen Werke kaufte und in seine Sammlung aufnahm. Mit Land verhielt es sich ähnlich. Als Meiler nach dem Zuschlag an der Seite von Gottfried Wanka das Gebäude verlassen hatte, in dem die Versteigerungen stattfanden, war er dem Krückenmann wiederbegegnet, der vor dem Eingang auf ihn wartete und offensichtlich noch etwas zu sagen hatte.

»Ist dir eigentlich klar«, sagte der Kerl, »dass Heuschrecken wie du die Bodenpreise ruinieren? Und dass es Leute gibt, die dafür bitter bezahlen?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, spuckte er Meiler vor die Füße und humpelte davon.

Wanka klärte Meiler darüber auf, dass er soeben einen vergleichsweise astronomischen Preis für seine 250 Hektar bezahlt hatte. In Plausitz gab es einen Gutachterausschuss, der den Bodenrichtwert auf Grundlage der im vergangenen Jahr getätigten Transaktionen neu festsetzte. Größere Geschäfte besaßen folglich erheblichen Einfluss auf die Berechnungen, so dass Meiler, indem er teuer kaufte, den Wert des Gekauften in die Höhe trieb. Wie er inzwischen wusste, liefen auch die viel zu billigen Pachtverträge nach und nach aus, so dass bei Neuabschlüssen die Preise angehoben werden konnten. Er stand bereits mit Rudolf Gombrowski in Verhandlung, der auf 900 Hektar in der Region Unterleuten Öko-Weizen und Bio-Milch produzierte und auf einige von Meilers Flächen dringend angewiesen war. Die angepassten Pachtpreise würden erstens eine Rendite von bis zu vier Prozent sichern, was angesichts der aktuellen Situation nicht übel war, und zweitens wiederum wertsteigernden Einfluss auf den Bodenrichtwert nehmen. Meiler mochte gut geölte Maschinen, und diese hier lief dermaßen rund, dass er lächeln musste, wenn er nur daran dachte.

Nachdem er es endlich geschafft hatte, an den Ponys vorbeizukommen, genoss er es, wie ihn die Beschleunigung des Roadsters in den Sitz drückte. Beim zweiten Telefonat hatte Franzen ihn gefragt, ob er Pferde möge. Er hatte erwidert, dass er sich nicht die Bohne für Tiere interessiere. Seine Arbeit habe ihn gelehrt, dass schon die Dressur von Menschen genügend Probleme aufwerfe. Reiten sei ein Sport, bei dem er selbst während der Olympiade umschalte. Außerdem flößten ihm die großen Tiere Respekt ein.

»Wenn Männer Respekt sagen, meinen sie Angst«, hatte Linda Franzen geantwortet.

»Touché!«, hatte Meiler gesagt, obwohl er Männer, die »Touché!« sagten, für schwul hielt.

Es stellte sich heraus, dass Franzen ihren Lebensunterhalt mit Pferden verdiente.

»Sie glauben gar nicht, wie viele Pferdebesitzer keine Ahnung haben, wie man mit diesen Tieren umgeht. Das ist so, als würde jemand, der Kupplung und Bremse nicht unterscheiden kann, einen Formel-1-Wagen kaufen.«

»Die Leute besitzen Pferde und können nicht reiten?«

»Reiten vielleicht schon. Aber in der Pferdesprache sind sie komplette Legastheniker.«

»Und Sie bringen den Menschen Pferdisch bei.«

Er hatte das als Witz gemeint, aber Linda Franzen reagierte in vollem Ernst. Sie hielt ihm einen Vortrag, der mit den Worten »Pferdesprache ist Körpersprache« begann. Als Herden- und Fluchttiere besäßen Pferde eine feine Wahrnehmung für die kleinsten physischen Signale. Unablässig läsen sie in der Körperhaltung des Menschen, deuteten seine Gesten, stellten Spannungsgrade fest, interpretierten Bewegungsmuster, um herauszufinden, wen sie vor sich hätten, Freund oder Feind. Da sich die meisten Menschen ihres eigenen Körpers überhaupt nicht bewusst seien, sendeten sie einen pantomimischen Kauderwelsch aus, der das Pferd permanent verwirre. Und wer verwirrt sei, gerate leicht in Panik.

»Stellen Sie sich mal vor, Sie bestünden aus 700 Kilo Fleisch und liefen durch eine karnivore Welt«, sagte Franzen. »Dann hätten Sie auch ein Faible für klare Verhältnisse.«

Grundsätzlich sei der Mensch für Pferde ohnehin ein verdächtiges Wesen, weil seine Augen so eng beieinanderstünden. Die Fleischfressermiene.

»Jäger fokussieren«, sagte Franzen, »Opfer haben den Rundumblick.«

Beeindruckt beschloss Meiler, sich diesen Satz zu merken, um ihn beim nächsten Consulting zu verwenden. Er wurde nicht müde, seinen Kunden zu erklären, dass Erfolg vor allem Konzentrationsfähigkeit voraussetzte. Man musste sich einer Sache vollständig widmen, statt ständig in alle Richtungen nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten.

Linda Franzen hatte weitergesprochen und führte gerade aus, dass sie in Wahrheit nicht Pferde, sondern Menschen trainiere. Sie bringe den Leuten im wahrsten Sinne des Wortes »Selbst-Bewusstsein« bei. Sie müssten lernen, ihren Körper, ihre Haltung, ihren Adrenalinhaushalt, selbst ihre Gedanken jederzeit zu kontrollieren. Kein unnötiges Schlenkern und Gestikulieren mit den Armen. Ruhige Motorik, gerader Rücken, aufgerichtetes Brustbein. Niemals aufregen, niemals wütend werden. Angst nicht nur verbergen, sondern gar nicht erst empfinden.

»Sie können Menschen beibringen, keine Angst zu haben?«, fragte Meiler und ärgerte sich im gleichen Moment über seinen ungläubigen Tonfall, der ihn endgültig in die Rolle des staunenden Zuhörers drängte. Was auch immer Franzen da gerade machte – sie machte es gut. Ihm war die Ironie abhandengekommen. Er wollte das Telefonat nicht mehr beenden, er wollte hören, was sie zu erzählen hatte.

»Ich bringe den Leuten bei, Chef zu sein«, sagte Franzen. »Wer anderen seinen Willen aufzwingen kann, hat keine Angst.«

»Jetzt bin ich aber gespannt.«

Franzen erklärte ihre Methode: Eine Übersetzung für »Macht« sei die Frage »Wer bewegt wen«. Der Mensch müsse das Pferd bewegen, niemals umgekehrt. Das Pferd habe dem Menschen in jeder Situation zu weichen. Sie zeige ihren Kunden, wie man von vorne auf das Pferd zugehe, so dass es zurücktreten müsse. Nähere man sich von schräg hinten, werde das Pferd vorwärtslaufen, trete man an die Körpermitte des Pferdes heran, weiche es zur Seite. Umgekehrt werde das Pferd dem Menschen automatisch folgen, wenn er ihm Platz mache. Daraus ergebe sich mit etwas Übung ein fein abgestimmter Tanz, und wer den beherrsche, sei eine Führungspersönlichkeit. Nicht nur in der Pferdewelt.

»Aber warum sollte ein Pferd dieses Spiel mitspielen, statt Sie einfach umzurennen?«

Linda Franzen lachte.

»Herr Meiler, Ihr Beruf lässt mich vermuten, dass Sie die Antwort kennen.«

Jetzt hatte sie ihn schon so weit, dass er verlegen schwieg. Er wusste tatsächlich nicht, worauf sie hinauswollte.

»Mit Pferden ist es wie bei Menschen. Die allermeisten haben in Wahrheit überhaupt kein Interesse daran, Chef zu werden. Sie verzichten gern auf eine Beförderung, um sich in Ruhe dem Grasen zu widmen. Pflanzenfresser eben. Die wollen nichts weiter als klare Anweisungen und ein sicheres Umfeld.«

Wenn man zu den seltenen Exemplaren gehöre, die tatsächlich Befehle erteilen wollten, fügte Franzen hinzu, genüge es im Normalfall, die richtigen Signale zu setzen.

»Chapeau«, sagte Meiler, was er noch dämlicher fand als »Touché«.

»Und jetzt kommt’s«, rief Franzen.

Sie sei dabei, ein spezielles Managertraining zu entwickeln, erklärte sie so selbstverständlich, als sei das ein völlig normaler Satz für eine Vierundzwanzigjährige. Beim Umgang mit Pferden lerne man eine Menge über Menschenführung, Hierarchien, nonverbales Kommunizieren, Motivation. Nächstes Jahr wolle sie noch ein Zertifikat in Verhaltenspsychologie erwerben, um seriöser rüberzukommen.

»Was sollen die Seminare kosten?«, fragte Meiler.

An ihrem Zögern merkte er, dass sie sich darüber bislang keine Gedanken gemacht hatte.

»2000 Euro für ein Wochenende pro Person«, sagte sie dann. »Inklusive Unterbringung, Verpflegung und Pferd.«

Meiler antwortete nicht, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm ihr Mut imponierte, ihr Optimismus und die Dreistigkeit, mit der sie nach den Sternen griff. Er fragte sich, warum es nicht Philipp sein konnte, der in ein Telefon sprach, um dem Gründer einer der ältesten deutschen Unternehmensberatungen ein Geschäftskonzept zu erklären, das auf der Idee beruhte, Männer in maßgeschneiderten Anzügen in einen stinkenden Pferdestall zu locken. Wer auch immer du bist, Linda Franzen, dachte er, meinen Respekt hast du.

»Sie könnten in Ihrer Branche ein bisschen Werbung für mich machen«, sagte Franzen. »Dafür biete ich Ihnen einen Kurs zum persönlichen Sonderpreis. Kooperative Dominanz und non-verbal leading. Wie wäre das?«

Mit vollendeter Höflichkeit bedankte sich Meiler für das Angebot und versprach, darüber nachzudenken, welcher seiner Kunden an Franzens Portfolio Interesse haben könnte. Für einen Moment sah er die junge Frau inmitten seiner Stammkunden auf einem staubigen Reitplatz stehen, Wanka, Liotard, Finkbeiner und die anderen, redlich bemüht, die Bewegungen nachzuahmen, die Linda Franzen ihnen vormachte. Daneben stand ein dümmlich glotzendes Pferd.

In den folgenden Monaten blieb Franzen am Ball. Immer wieder fand sie Anlass, um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Eine aktuelle Flurkarte, von der sie ihm eine Kopie zukommen lassen wollte. Eine Tabelle mit Bodenrichtwerten, die bewies, dass die vier Hektar hinter ihrem Haus, aus denen sie Pferdekoppeln machen wollte, nicht mehr als 20000 Euro wert waren. Meiler wiederholte, dass er nicht verkaufen werde. Sie rief trotzdem an, und er begann, sich darüber zu freuen.

Und da war er nun. Das Navigationssystem meldete, dass er sein Ziel in drei Kilometern erreichen würde. Die Straße verließ den Wald und wurde zu einer dieser seltsamen Alleen, deren Bäume nicht senkrecht, sondern schräg von der Straße weg wuchsen.

Einem Impuls folgend, hielt er an und stieg aus. Nach der langen Fahrt in der klimatisierten Kapsel des Mercedes überfiel ihn die Hitze von allen Seiten. Es war heißer als in Ingolstadt, oder jedenfalls anders heiß, rücksichtslos, schattenlos, unbeeindruckt vom Wind. Eine Variation auf das Thema Wüste.

Vor Meiler lief die Allee eine sanfte Anhöhe hinab. In der Senke drängten sich die roten und schwarzen Dächer von Unterleuten, kaum mehr als hundert mochten es sein. Eines der Häuser stach heraus, weil sein Dach mit leuchtend blauen Ziegeln gedeckt war, die in der Sonne blitzten. Erst vor ein paar Minuten war Meiler an einer Dachdeckerei vorbeigefahren, die für Dachziegel in Knallfarben warb. Das blaue Dach sah scheußlich aus. Trotzdem mochte Meiler das Gefühl, schon jetzt zu wissen, wer es gedeckt hatte. Wahrscheinlich war er auch an den Häusern von Schreinern, Maurern und Zaunbauern vorbeigefahren, die Teile dessen, was er gerade vor sich sah, errichtet oder repariert hatten. Er stand inmitten eines Netzes von Zusammenhängen, welche die Welt zu einem kleinen, begreiflichen Ort machten.

Die Straße durchquerte Unterleuten von Nordwesten nach Südosten, wurde hinter dem Dorf erneut zur Allee und lief über mehrere Kilometer hinweg auf den Wald zu, der die flache, mit Weizenfeldern gepolsterte Senke als dunkler Saum umgab. In der Dorfmitte befand sich eine Kreuzung. Entlang der Abzweigung nach Nordosten franste das Dorf aus, die Abstände zwischen den Häusern vergrößerten sich, die Gartengrundstücke begannen, sich im Wald zu verlieren. Der nach Südwesten verlaufende Seitenarm zog sich in Kurven durch eine Neubausiedlung, in der zwanzig würfelförmige Fertighäuser auf ihren quadratischen Grundstücken standen. Neben der Kreuzung ragte ein plumper Kirchturm auf, aus Naturstein gemauert. Soweit Meiler erkennen konnte, trug er weder Glocke noch Kreuz.

Er atmete tief ein und wunderte sich darüber, wie viel Luft in seine Lungen passte. Es roch nach warmem Asphalt und nach Dünger. Das Ausatmen schien Minuten zu dauern. Es war unglaublich still. Irgendwo im Dorf erklangen in großen Abständen Hammerschläge, die die Stille eher vergrößerten als störten. Meiler sah Felder, vom leichten Wind in Wellen bewegt, er sah Wald und versuchte zu begreifen, dass er sein Eigentum betrachtete. Bislang hatte er sich nie richtig klargemacht, dass die ganze Welt aus Eigentum bestand und dass die einzigen Dinge, die niemandem gehörten, Ozeane, Luft und Menschen waren, wobei nicht einmal das wirklich stimmte. Im Grunde, dachte Meiler, war es erstaunlich, dass es so wenig Kriege gab.

Während er stand und schaute, breitete sich ein Wort in ihm aus: Heimat. Unterleuten war nicht seine Heimat, er hatte nicht einmal Verwandte in der Region. Aber Unterleuten sah aus wie etwas, das man Heimat nennen konnte.

Als die Kinder noch zur Schule gegangen waren, wurden einmal im Jahr Westpakete in die DDR geschickt, mit Schokolade, Jeans und Grußkarten aus dem freien Westen. Die meisten Kinder adressierten ihr Paket an einen Cousin in der Ostzone, den sie noch nie gesehen hatten. Meilers Söhne schickten ihre Päckchen an Fremde. Einmal hatte Philipp gefragt, warum sie keine Familie in der Ostzone besäßen. Er würde nämlich gern dorthin ziehen, um mit dieser anderen Familie zu leben. Da war Philipp sieben. Schon früh verlangten seine Fragen keine Antworten, sondern waren als Vorwürfe formuliert.

Meiler dachte an Ingolstadt, an seine geräumige Villa am Stadtrand. Ein Sohn nach dem anderen war ausgezogen, und auch Mizzie lebte nicht mehr dort. Die Türen der vielen Zimmer hielt er geschlossen, weil er ohnehin nur Küche, Schlafzimmer und Bad benutzte. Wenn er die Augen schloss, konnte er ganz deutlich den Klang seiner Schritte im stillen Flur hören, und dann musste er die Augen aufreißen und an etwas anderes denken.

Am Rand von Unterleuten stieg Rauch auf.

»Da verbrennt jemand Gartenabfälle«, sagte Meiler, obwohl es völlig unsinnig war, diesen Satz laut in die Stille zu sprechen.

Er drehte sich um und stieg in den Roadster. Der gekühlte Innenraum empfing ihn mit jener sterilen Anonymität, die er so schätzte. Plötzlich hatte er den Eindruck, dass es ein Fehler war, hierherzukommen.



4 Schaller


»Komm schon. Nicht mit mir. Ich kenne solche wie dich.«

Schaller lag auf dem Rücken. Er trug Arbeitsstiefel und eine abgeschnittene Jeans, über deren Bund sich die gewaltige Masse seines Bauchs wölbte. Der Oberkörper war nackt und nur an der Vorderseite mit einer Lederschürze bedeckt. Schmerzhaft bohrten sich kleine Steine in die Rückenhaut.

»Es könnte so einfach sein. Aber nein, immer Scherereien, immer dieses Getue. Warum eigentlich? Ich bin nicht schlechter als die anderen. Ich versuche, das Beste rauszuholen. Für mich, aber auch für dich. Die meisten anderen hätten dich einfach ins Nirwana geschickt. Letzte Fahrt, ganz unpersönlich, und dann Good-bye, Stranger.«

Schaller bewegte die Schultern, um seine Lage neu zu justieren. Wegen des Bauchs passte er nicht zusammen mit dem Rollbrett unter die Autos. Also schob er seine 115 Kilo rücklings über den schorfigen Beton, um an den Unterboden heranzukommen. Das war nicht nur unbequem, sondern eine völlig arbeitsfeindliche Lage. Er konnte die Arme kaum bewegen und hatte nicht genug Platz, um den richtigen Winkel und die geeignete Distanz zu finden. Die Schweißbrille war von Rußpartikeln zugesetzt, was die Sicht behinderte. Der Auspufftopf über ihm bestand hauptsächlich aus Rost und Löchern. Es gab kaum noch Substanz zum Schweißen. Trotzdem blieb die Sache eine einfache Rechnung: Wenn er den Auspufftopf durch einen neuen ersetzen würde, lohnte das Geschäft nicht. Wenn es hingegen gelang, ihn mit dem Schweißgerät so weit abzudichten, dass der rote Golf die Abgasuntersuchung bestand, machte Schaller einen guten Schnitt. Also schweißte er, Loch für Loch, in winzigen, behutsamen Punkten, ein feines Netz aus Schweißnähten, ein Kunststück, das eigentlich gar nicht gelingen konnte. Niemandem außer ihm.

»Aber ich gebe nicht auf. Ich bin daran gewöhnt, dass man mir Steine in den Weg legt. Das kenne ich gar nicht anders.«

Die Operation wäre erheblich leichter gewesen, wenn er nicht eingequetscht unter dem Auto gelegen hätte wie ein überfahrenes Wildschwein. Natürlich hätte er im Hof eine Arbeitsgrube anlegen können. Aber er ging mit gutem Recht davon aus, seine Hebebühne wiederzubekommen. Sie hätte eigentlich längst da sein sollen. Die Scheune war gut als Werkstatt geeignet, nicht riesig, aber ausreichend. Leider einsturzgefährdet. Es fehlten noch ein paar Handgriffe, damit sie die nächsten zwanzig Jahre überstand. Ringanker, gelaschte Dachbalken, Teilfundament. Nichts, was sich für einen wie Schaller nicht machen ließ. Als er begonnen hatte, das Dach abzudecken, wäre er nicht im Traum darauf gekommen, dass sich irgendjemand außer ihm selbst dafür interessieren könnte.

»Ein Schritt nach dem anderen. Das ist meine Philosophie. Immer nur an den nächsten Schritt denken, dann kommt man ans Ziel, irgendwann. Das ist der Weg für Leute, denen nichts geschenkt wird. – Scheißvieh!«

Er trat sich mit dem rechten Stiefel gegen den linken Unterschenkel. Die Pferdebremsen nutzten seine hilflose Lage, um auf der nackten Haut der Beine zu landen. Er legte das Schweißgerät zur Seite und zog die Schutzhandschuhe aus. Sein Gesicht brannte von der starken UV-Strahlung, die die Schweißflamme erzeugte. Von der Hitze unter dem Auto war ihm schwindlig. Außerdem war der Gestank der brennenden Reifen schwer zu ertragen, auch wenn der Wind seit Tagen zuverlässig im Südosten stand.

Er stemmte die Füße in den Boden und zog sich unter dem Wagen hervor. Aus dem Wassereimer, der ihm als Kühlbox diente, nahm er eine Dose Bier, öffnete sie, trank sie aus, zerdrückte sie in der Faust und warf sie auf den Haufen zu den anderen. Leergut brachte er aus Prinzip nicht zurück. Dosenpfand interessierte ihn genauso wenig wie die restlichen sinnlosen Regeln, aus denen die Welt bestand. Er konnte richtig und falsch ohne fremde Hilfe auseinanderhalten. Er tat niemandem grundlos weh und war ein Typ, der mit sich reden ließ. Ansonsten wollte er seine Ruhe. Wie jeder vernünftige Mensch. Er verstand nicht, was die Leute gegen ihn hatten. In Gombrowskis Drecknest war er von Anfang an nicht willkommen gewesen. Hinter seinem Rücken verzogen die Menschen die Gesichter. Die einen kannten ihn von früher und glaubten, gewisse Sachen über ihn zu wissen. Die anderen kamen aus Berlin und hielten sich für etwas Besseres.

Wie die Vogelschützer. Er hatte den Vogelschützern nichts getan. Sie hätten herüberkommen können und mit ihm reden. Stattdessen schickten sie einen Sakkoträger vom Bauamt, der ihm die Sanierung der Scheune verbot. Statisches Gutachten! Dass er nicht lachte! Schaller hatte sein Leben lang Dinge repariert, Häuser, Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen. Das war nun einmal der Lauf der Welt: Sachen gingen kaputt und mussten repariert werden. Was er dafür gewiss nicht brauchte, war eine Genehmigung. Die Anzeige beim Bauamt brachte den Nachbarn eine Woche Gummi. Schaller hatte genug von der Welt gesehen, um zu wissen, dass Menschen Raubtiere waren. Jeder saß auf seiner Beute und schlug nach den anderen. Raubtiere verstanden nur die Sprache der harten Hand. Den stinkenden Qualm hatten sich die Vogelschützer redlich verdient, und die Polizei würde ihnen ganz gewiss nicht helfen. Nicht, solange es noch Leute gab, die Schaller anriefen, sobald sich in Plausitz ein Streifenwagen Richtung Osten in Bewegung setzte. Er nahm die Schweißbrille ab und rieb sie an der kurzen Jeans sauber.

»Es ist ganz einfach«, sagte er zum roten Golf. »Bei mir darf jeder selbst entscheiden. Wenn einer die harte Tour verlangt, soll er sie bekommen. Da bin ich ganz Dienstleister.«

Er zündete eine Zigarette an, die nach verbranntem Gummi schmeckte.

»Für dich heißt das: Ich mache weiter, bis wir uns einig sind. Oder bis du mir unter den Händen zusammenbrichst. Ganz einfach.«

Wenn es gelang, den roten Golf flottzukriegen, würde er ihn an einen Vater verkaufen, der ihn seiner Tochter zum 18. Geburtstag schenkte. Samstagabend würde die Tochter den Wagen mit ihren niedlichen Freundinnen besetzen, die Musik bis zum Anschlag aufdrehen und am »Atlantis« in Plausitz vorfahren. Ein schöneres Restleben konnte der Golf gar nicht bekommen. Vorausgesetzt, er zeigte sich einsichtig.

Schaller warf die Zigarette weg, setzte die Brille wieder auf und kroch unter das Heck des Wagens. Jetzt kam die schwierigste Stelle. Entlang der alten Schweißnaht verlief ein Riss. Weil sich das Metall des Topfs verzogen hatte, klaffte der Spalt einen halben Zentimeter auseinander. Da kam er mit einfachem Punkten nicht weiter. Es galt, die beiden Seiten zusammenzudrücken, ohne das Material unter Spannung zu bringen, und das Schweißgerät mit äußerster Vorsicht zu führen.

Auch seine Tochter Miriam hatte zum 18. Geburtstag ein Auto bekommen, allerdings keinen Golf, sondern etwas Besonderes. Es war Schallers erste Arbeit auf dem neuen Hof in Unterleuten gewesen, praktisch ohne Werkzeug, ausgeführt mit Messer und Gabel und einer großen Portion Vaterliebe. Ein MG, GT-Modell aus der B-Reihe von 1973, ziemlich heruntergekommen und fast geschenkt. Schaller hatte den kleinen Sportwagen komplett entkernt und ihm eine 3,5-Liter-V8-Maschine von Rover eingebaut, die er vor längerer Zeit von einem seiner Zulieferer erhalten hatte. Somit gehörte der Wagen nun zu den nur 2.500 Exemplaren des MGB GT V8, die jemals hergestellt worden waren – in diesem konkreten Fall nicht von Morris Garages, sondern von Schaller selbst. Farblich hatte er sich für ein helles Postgelb entschieden, das nicht der britischen Originalfarbpalette entstammte, dem klassischen MG-Gelb aber zum Verwechseln ähnlich sah. An der gesamten Berliner Angeberschule, die Miriam besuchte, gab es niemanden, der ein schöneres Auto fuhr, die Lehrer eingerechnet. Schallers Herz dehnte sich, wenn das tiefe Röhren des Drei-Liter-Motors auf der Unterleutner Landstraße erklang.

Obwohl Miriam seit Schallers Unfall bei ihrer Mutter in Berlin wohnte, fuhr sie mindestens einmal in der Woche zu ihm raus. Dann saßen sie nebeneinander im Hof in der Abendsonne und tranken Bier. Während Miriam von ihren Freundinnen erzählte oder die neueste Niederlage des Fußballvereins schilderte, in dem sie seit ihrer Kindheit spielte, schwieg Schaller andächtig. Es war so schön, neben ihr zu sitzen, dass er es kaum ertrug. Heimlich bewunderte er ihr glattes Gesicht, die langen braunen Haare, die runden Schultern. Alles an ihr war kräftig und gesund. Sie war keine hysterische Bohnenstange wie die Mädchen aus der Stadt. Sie besaß einen Motorradführerschein und einen festen Händedruck, auch wenn ihre Augen sanft waren wie bei einem Pflanzenfresser. Es gab nichts und niemanden auf der Welt, den Schaller so liebte wie sie.

Er kroch noch ein Stück tiefer unter den Golf. Das Schweißgerät brauste zu dicht vor seinem Gesicht und blendete ihn. Wenn er so weitermachte, würde er sich trotz Brille die Augen verblitzen. Eine Pferdebremse landete auf seinem Unterschenkel und hatte zugebissen, bevor er sie verscheuchen konnte. Schaller fluchte durch die Zähne. Erneut brachte er sich in Position, zielte und stellte das Schweißgerät an.

»Deine Entscheidung«, sagte er.

Ein minimaler Widerstand gab nach, als der Schweißkopf die poröse Außenhaut des Topfs durchstieß. Ein großes Stück des korrodierten Metalls brach heraus und fiel Schaller ins Gesicht. Sekunden später war er aufgestanden und hatte das Schweißgerät weggestellt. Er wusste, wann er verloren hatte.

»Ob das ein Sieg für dich ist, kannst du dir selbst überlegen«, sagte er.

Mit der linken Hand fischte er die nächste Bierdose aus dem Eimer, mit der rechten hob er eine Metallstange vom Boden auf. Als Erstes zertrümmerte er die Scheinwerfer des Golfs, danach schlug er sämtliche Scheiben ein. Mit wenigen weiteren Schlägen verwandelte er die rote Lackierung in ein abstraktes Gemälde aus Kratzern und Dellen. Als die Beifahrertür schief in den Angeln hing, hörte er auf. Er hatte soeben eine Menge Ersatzteile zerstört, aber das musste man sich leisten können. Das mit der netten Abiturientin hätte er wahr gemacht. Er hätte dem Golf eine Abgasuntersuchung und ein gutes Zuhause besorgt. Die Schläge fügte sich das Auto im Grunde selbst zu. Der Golf hatte sich freiwillig und in Kenntnis aller Folgen gegen die Zusammenarbeit entschieden. Es war wichtig, solche Dinge ganz klar zu sehen. Schaller hatte Prinzipien. Er tat niemandem weh, der das nicht wollte. Er ließ Menschen und Dingen stets ihren freien Willen. Nachdem er die Metallstange zurück auf den Boden geworfen hatte, hob er die Bierdose und prostete den fest verschlossenen Fenstern der Vogelschützer zu.

Aus zwei Ölfässern und einem Brett hatte er eine Bank gebaut, die so hoch war, dass er die Beine baumeln lassen konnte wie ein Kind. Dort saß er gern und ließ den Blick auf seinem neuen Zuhause ruhen. Langsam nahm der Hof Gestalt an. Er war nicht groß, vielleicht vierzig Schritte im Quadrat, bot aber durch die Nebengebäude, die ihn von zwei Seiten einfassten, genügend Platz für alle Besitztümer. Neben der Scheune, die auf ihren Umbau wartete, gab es einen ehemaligen Hühnerstall mit unbeschädigtem Dach, in dem alles lagerte, was trocken bleiben musste. Die Seite zur Straße wurde zur Hälfte vom Wohnhaus eingenommen, welches eng und dazu feucht vom langen Leerstehen war. Schaller störte das nicht, er verbrachte ohnehin die meiste Zeit im Freien. Ans Haus grenzte eine Mauer, die den Hof zur Straße abschirmte. In der Mauer befand sich ein Tor, doppelflügelig, mannshoch und breit genug, um bei Bedarf auch größere Transporter einzulassen. Die vierte Seite würden die Vogelschützer mit ihrer Mauer schließen, sobald sie die nötige Baugenehmigung erwirkt hatten. Dafür drückte er ihnen die Daumen. Gegen die Idee mit der Mauer hatte er nichts einzuwenden. Er freute sich darauf, die vorwurfsvollen Blicke der rothaarigen Prinzessin nicht mehr sehen zu müssen. Überhaupt lief insgesamt alles rund. Endlich befand sich sein Leben wieder auf dem richtigen Pfad. Selbst die Genehmigung für den Umbau der Scheune war letztlich nur eine Frage der Zeit. Unterleuten war Mischgebiet und kein Luftkurort für feindselige Vogelschützer. Schaller gründete eine Existenz, er schaffte einen Arbeitsplatz, nämlich für sich selbst. Außerdem brachte er seit Jahren Gombrowskis Traktoren mit oder ohne Bremsbeläge durch den TÜV, und Gombrowski spielte mit dem Bürgermeister Skat und stiftete jedes Jahr ein paar Bierfässer für die freiwillige Feuerwehr. Alles würde sich fügen, über kurz oder lang. Es ging ihm gut. Nach seiner persönlichen Zeitrechnung war Schaller keine zwei Jahre alt. In diesem Alter hatte man ein Recht darauf, mit sich und der Welt zufrieden zu sein.

Vor knapp zwei Jahren, an einem trüben Novembermorgen des Jahres 2008, war Schaller aus dem künstlichen Koma erwacht. Nach 25 Tagen. Er hatte einen sterilen Raum vorgefunden, vollgestopft mit tickenden und blinkenden Maschinen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits fünf Mal operiert worden und trug eine drei Zentimeter lange Titanschraube im Genick, welche die gebrochenen Halswirbel miteinander verband. Ansonsten bestand er aus Augen, mit denen er sehen, einem Mund, der brüllen, und Gliedmaßen, die um sich schlagen konnten. Etwas, das Schaller hieß, war nicht mehr vorhanden. Kein Name, kein Alter und keine Geschichte. Das Einzige, woran er sich noch erinnerte, war das rundliche Gesicht eines braunhaarigen Engels.

Wenig später saß der Engel leibhaftig an seinem Bett, hielt seine Hand und weinte viel. Jeden Tag nach der Schule kam Miriam zu ihm ins Krankenhaus. Man hatte ihm gesagt, dass Miriam seine Tochter sei, aber Schaller wartete auf sie wie ein Kleinkind auf die Mutter. Sobald sie hereinkam, gingen in seinem dumpfen Schädel die Lichter an. Er lag auf dem Rücken, mit Gurten fixiert, die ihn daran hinderten, mehr als die Augen zu bewegen, und lächelte strahlend, während Miriam »Hallo, Papa« sagte und auf einem weißen Kunstlederhocker mit Rollen so nah wie möglich ans Bett heranrückte. Für Monate blieb diese Anordnung Schallers neue Existenz, der Rahmen, in dem sich seine Wiedergeburt vollzog. Miriam sitzend, er liegend, immer Hand in Hand.

Unter Anleitung eines ganzen Ärzte- und Psychologenteams führte Miriam ihn durch die Kulissen seines früheren Lebens. Ihre erste gemeinsame Aufgabe bestand darin, den Unfall zu rekonstruieren. Alles, was sie zutage förderten, floss in die Akten der Kriminalpolizei, um dort folgenlos verwahrt zu werden.

Das Motorrad hatte einem Kunden gehört, eine BMW R 1200 GS. Schon nach wenigen Sitzungen mit Miriam konnte er sich an die Reparatur der GS in allen Einzelheiten erinnern: Er hatte einen Schaden am Hinterachsgetriebe so geschickt behoben, dass er ein komplett neues Getriebe in Rechnung stellen konnte, ohne ein einziges Ersatzteil kaufen zu müssen. Wie immer startete er die Maschine nach erfolgreicher Reparatur für eine Probefahrt.

Sein damaliger Hof lag in Niederleusa, direkt am Wald. Um die Bundesstraße zu erreichen, musste man den alten Postweg nehmen, eine bucklige Kopfsteinpflasterpiste, die sich Richtung Nordosten durch den Kiefernforst zog. Es war der 3. November 2008, als Schaller das Hoftor öffnete und die BMW GS vom Grundstück fuhr. Motorräder waren seine Leidenschaft. Während er im Krankenhaus mit Miriam sprach, konnte er plötzlich wieder fühlen, wie seine Hände an den Lenkergriffen zu kribbeln begannen, während der Boxermotor am Tank rüttelte.

Selbst einem geländegängigen Modell wie der GS waren auf dem Kopfsteinpflaster des Postwegs keine hohen Geschwindigkeiten zuzumuten, weshalb Schaller nicht schneller als 60 km/h fuhr. Auch bei geringerem Tempo hätte er den Pkw nicht gesehen. Der Wagen stieß aus einem ungepflasterten Stichweg, der normalerweise nur von Forstfahrzeugen benutzt wurde. Der Kühler des Pkw traf das Hinterrad der GS. Schaller wurde in die Luft geschleudert und flog zehn Meter weit in den Wald, wo die Bäume dicht genug standen, um einem fliegenden Motorradfahrer das Genick zu brechen. Es war das Verhalten des Motorrads, das ihm das Leben rettete. Statt ebenfalls im Wald zu verschwinden, drehte sich die Maschine eine Weile um sich selbst und blieb mitten auf der Straße liegen, Mahnmal eines soeben geschehenen Unglücks. Das Vorderrad zeigte genau in die Richtung, wo Schaller im Farn verborgen lag. Nachdem ein Jogger mit Hund und Handy erst die GS und dann Schaller gefunden hatte, vergingen noch knapp 40 Minuten, bis sich der Schwerverletzte in einem Hubschrauber auf dem Weg nach Berlin befand.

Der Kripo-Beamte aus Potsdam zeigte sich deutlich angewidert davon, in ein Berliner Krankenhaus fahren zu müssen, um einen Zeugen mit retrograder Amnesie in einer Bagatellsache zu befragen. Seine Lederjacke quietschte gequält bei jedem Atemzug. Am liebsten hätte er in die Akte geschrieben, dass Schaller wegen überhöhter Geschwindigkeit ohne jede Fremdeinwirkung von der Straße abgekommen sei – wären da nicht die grünen Lackspuren am schwarzen Hinterteil der GS gewesen. Der Kripo-Beamte sagte »Fahrerflucht« und versprach, der Sache auf den Grund zu gehen.

Schaller war es gleichgültig, was die Polizei machte. Trotz Gedächtnisschwund war ihm sein Abscheu vor Behörden erhalten geblieben. Die Polizei tat eine Weile so, als würde sie ermitteln, und stellte das Verfahren ein.

Drei Monate später wurde Schaller entlassen. Mit Halskrause saß er neben Miriam im Taxi und versuchte sich vorzustellen, was ihn erwartete. Sie hielten vor einem Haus, an das er sich vage erinnerte. Der Gerichtsvollzieher musste da gewesen sein. Niemand sonst käme auf die Idee, einen Brief an die Tür zu kleben.

»Es tut mir so leid«, sagte Miriam.

Als sie die Haustür öffneten, schoben sich dahinter Schichten von Kuverts, Prospekten und Zeitungen zu einem Berg zusammen, der raschelnd gegen die Wand gedrückt wurde – das Ergebnis von fünf Monaten unverdrossener Briefträgertätigkeit. Erstaunt stellte Schaller fest, dass sein Leben anscheinend auch ohne ihn einfach weitergegangen war. Allerdings hatte sich wohl einiges verändert. Abgesehen von dem Haufen Post im Flur war das Haus weitgehend leer. Die schäbige Kücheneinrichtung war noch da, für deren Ersetzung er laut Miriam jahrelang gespart und dann das Geld doch immer für etwas anderes ausgegeben hatte. Im Wohnzimmer standen ein Sessel und ein Fernseher und gaben vor, auf Schaller zu warten, während im Schlafzimmer das Bett fehlte. Stattdessen lag eine Matratze am Boden, darauf eine gefaltete Decke und ein Kissen.

Angesichts von Miriams Existenz war Schaller bereits auf die Idee gekommen, dass es eine Frau in seinem Leben geben musste. Aber weil Miriam das Thema die ganze Zeit sorgfältig ausgeklammert hatte, wollte er nicht nachfragen. Jetzt fing sie angesichts der leeren Räume an zu weinen.

»Mama hat die ganzen Sachen abholen lassen. Nach deinem Unfall sind wir sofort weg.« Sie fasste nach seiner Hand. »Ich wollte das nicht, aber was sollte ich tun? Die Ärzte meinten, ich soll dir nichts davon erzählen, bis du dich erholt hast. Ich dachte …«

Schaller nahm sie in den Arm und küsste sie auf den Scheitel. Es war das erste Mal, dass er sich ihr gegenüber wie ein Vater fühlte und nicht wie ein Sohn.

»Tapferes Mädchen«, sagte er. »Fahr jetzt …«, er zögerte, »zu deiner Mama.«

»Aber du kannst doch nicht hier alleine …«

»Ich komme zurecht.«

»Der Kühlschrank ist leer. Soll ich …?«

»Wie heißt sie?«

»Wer? Mama?«

»Ja.«

»Susanne.«

»Danke. Und jetzt geh.«

Vor der Mauer seiner partiellen Amnesie stehend, dachte Schaller, dass Susanne bestimmt genau die Frau war, die er gern in diesem Haus angetroffen hätte. Allein für die Tatsache, dass sie einen Engel wie Miriam zur Welt gebracht hatte, liebte er sie.

Auf dem Herd lag ein Brief, auf dem sein Name stand. Er fühlte kein Bedürfnis, ihn zu lesen. Fast wäre es ihm wie Verrat erschienen. Der Brief gehörte ihm nicht, weil der Mann, dem dieser Brief geschrieben worden war, nicht mehr existierte. Außerdem wusste Schaller inzwischen genug über sich selbst, um erraten zu können, was darinstand. Wie schwer es Susanne falle, ihm das anzutun. Wie schön und wichtig die gemeinsame Zeit gewesen sei. Dass sie einen anderen Mann kennengelernt habe, der gerne Bücher las. Dass sie noch einmal von vorn anfangen wolle.

An Miriam konnte Schaller sehen, dass Susanne klüger und schöner sein musste als er selbst. Er hoffte, dass die Zeit, in der sie unter ihm gelitten hatte, nicht allzu lang gewesen war. Immerhin war sie nicht einfach weggelaufen, sondern hatte einen Unfall gebraucht, um ihn zu verlassen. Das nahm er als gutes Zeichen. Er warf den Brief zur Post auf dem Boden im Flur, morgen würde er alles in eine Kiste packen und im Hof verbrennen. Dann legte er sich auf die Matratze und schlief.

Es dauerte Tage, bis Schaller das Ausmaß der Katastrophe begriff. Nach Miriams und Susannes Wegzug hatten die Kunden ihre Autos abgeholt und hier und da noch ein weiteres mitgenommen. Das Werkzeug und ein Großteil der Gerätschaften waren verschwunden, inklusive der Hebebühne, die Schaller für seine Arbeit dringend brauchte. Nach der Plünderung hatten Jugendliche den Hof als Treffpunkt benutzt, bis der Gerichtsvollzieher bei dem Versuch, die traurigen Reste zu pfänden, den Hof mit Ketten verschloss.

Schallers berufliche Existenz hatte aus einem komplizierten Netz von Kontakten bestanden, das am Rande der Legalität gespannt war. Die verschiedenen Geschäfte, Absprachen, offenen Rechnungen, Tausch- und Vermittlungsbeziehungen glichen einem großen Satz Bälle, die er alle zugleich in der Luft gehalten hatte. In dem Augenblick, als sich der Unfall ereignete, waren die Bälle zu Boden gestürzt. Schaller befand sich außerhalb seines eigenen Netzwerks. Er hatte vergessen, wer ihm Geld schuldete und wer auf einen Gefallen wartete.

Eines Morgens wurde er von einem Anzugtypen aus dem Bett geklingelt, der eine Kleinfamilie im Schlepptau hatte. Der Anzugtyp stellte die Kleinfamilie als Kaufinteressenten vor. Schaller hatte nicht einmal gewusst, dass sein Haus zum Verkauf stand. Auch nicht, dass es gar nicht sein Haus war, weil nur Susanne im Grundbuch stand. Er lungerte in T-Shirt und Boxershorts herum, während der Anzugtyp seine Kunden durch die Räume führte und die Vorzüge von Schallers ehemaligem Zuhause pries. Im Grunde hatte Schaller nichts dagegen. Er war in der Lage, den absoluten Nullpunkt zu erkennen, und hatte keine Lust, gegen das Unvermeidliche zu kämpfen.

Wenn Miriam ihn am Telefon fragte, wie es ihm gehe, und er dann behauptete, dass alles okay sei, sagte sie regelmäßig: »Das wird schon, Papa. Hauptsache, du rufst nicht bei Gombrowski an.«

An einen Gombrowski konnte sich Schaller nicht erinnern, aber er wusste, wie man ein Telefonbuch benutzte. Rudolf Gombrowski war Geschäftsführer der Ökologica GmbH und lebte in Unterleuten, keine 15 Kilometer von Niederleusa entfernt. Nach dem Besuch des Maklers setzte sich Schaller ins Taxi, was er als Anfahrt zur Krankengymnastik abrechnen konnte, und stand eine Viertelstunde später vor einem großen Haus mit auffällig blau gedecktem Dach.

Der Mann, der ihm öffnete, war zehn Jahre älter als er selbst und von ähnlicher Statur. Schaller kannte ihn. Er kannte ihn gut. Er hatte sich daran gewöhnt, dass dem Gefühl, etwas oder jemanden zu kennen, zunächst keine weiteren Informationen folgten.

»Da bist du ja«, sagte Gombrowski, als hätte er ein halbes Leben darauf gewartet, dass Schaller eines Tages auf der Schwelle stünde. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging voran über den Flur, während ein riesiger grauer Hund mit faltigem Gesicht die Nase gegen Schallers Gürtelschnalle drückte.

Die Terrasse war mit weißem Marmor belegt, und Schaller dachte, dass es hier bei Regen rutschig sein müsse wie auf einer Schlittschuhbahn. Die Möbel massiv und aus Teak, der Sonnenschirm vom Umfang einer fliegenden Untertasse. Der Blick ging direkt auf einen Teich, der nicht nur zu groß, sondern auch zu nah am Haus gelegen war, so dass er den halben Garten einzunehmen schien. Ein Kranich aus Bronze stand auf einem Bein und starrte in das unterste der drei Becken, wo träge Kois dicht unter der Oberfläche trieben. Gombrowski brachte zwei Flaschen Bier. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und starrten ins Wasser.

»Also.« Gombrowski wischte sich die Oberlippe ab. »Was willst du?«

Der Landwirt saß zurückgelehnt, die Bierflasche auf dem Bauch. Seine fleischigen Wangen ruhten direkt auf der Brust. Es war lachhaft, wie ähnlich er seinem Hund sah, der sich unter dem Tisch niedergelassen hatte und so viel Platz einnahm, dass Schaller die Beine nicht ausstrecken konnte. Schaller beschloss, hoch zu pokern und alles auf eine Karte zu setzen.

Er sagte: »Ein Haus.«

»Mit Hof für deine Autos?«

Falls Gombrowski überrascht war, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Schaller hatte Lust, sich mit der Faust in die flache Hand zu schlagen, gestattete sich aber nicht einmal ein Lächeln.

»Genau.«

Gombrowski überlegte. Er fragte nicht, was mit Schallers Bleibe in Niederleusa passiert war. Mit Sicherheit hatte er von dem Unfall gehört; möglicherweise wusste er mehr darüber als Schaller selbst.

»Gleich hier in Unterleuten«, sagte Gombrowski. »Gehört einem anderen, aber das lässt sich ändern. Der Hof hat Abendsonne.«

Sie tranken ihr Bier aus und sprachen wenig. Nur so viel, dass Schaller beim Abschied auch noch wusste, wo seine Hebebühne abgeblieben war.

Nachdem er sich von Gombrowski verabschiedet hatte, machte er noch einen Abstecher zu einem Mann namens Nikolai, an dessen russischen Akzent er sich dunkel erinnerte, und brach eine Latte vom Zaun, bevor er an der Haustür klingelte. Nach zwei zerschlagenen Lampen und einer umgestürzten Vitrine war man sich einig. Die Hebebühne würde gebracht, sobald Schaller nach Unterleuten gezogen war.

Das war ein gutes Jahr her. Schaller hatte sein neues Anwesen in Besitz genommen. Er hatte den MG für Miriams Geburtstag hergerichtet und Stück für Stück seinen Betrieb wiederaufgebaut. Ein paar der alten Kunden meldeten sich zurück, ein paar neue kamen dazu. Der kleine Hof am Rand von Unterleuten hatte tatsächlich Abendsonne. Gelegentlich fragte sich Schaller, was einen Mann wie Gombrowski veranlassen konnte, ihm ohne Zögern ein Haus zu schenken. So schön die Abendsonne schien – sie erinnerte Schaller daran, dass er vor langer Zeit etwas für Gombrowski getan haben musste, das ebenso schwer wog wie ein ganzer Hof.

Nachdenklich betrachtete Schaller den roten Golf, den er soeben mit wenigen Schlägen von einem potenziellen Gebrauchtwagen in einen Haufen Schrott verwandelt hatte, und beschloss, für heute Feierabend zu machen. Er warf Bierdose und Zigarette fort und startete den Golf, um ihn auf den Friedhof hinter dem Hühnerstall zu fahren. Die Karre röhrte wie ein Sportflugzeug, während die Beifahrertür halb aus den Angeln hing und über den Boden schleifte.

»Gute Nacht«, sagte Schaller, zog den Zündschlüssel ab und schleuderte ihn in hohem Bogen aufs Grundstück der Vogelschützer. Er ging zum Materiallager, schob jeweils einen Arm durch zwei Autoreifen und schleppte seine Last zur Grundstücksgrenze, wo er die Reifen neben den Feuerstellen bereitlegte. Damit waren die Vorkehrungen für die Nacht getroffen, und er konnte sich seiner Abendgestaltung zuwenden. Ein paar Bier trinken und seinen Erinnerungen nachhängen. Noch immer kamen täglich neue hinzu. Die unerwünschten sortierte er aus und warf sie zurück auf die Müllhalde der Amnesie.

»He, hallo! Ist da jemand?«

Er hatte sich auf die Bank gesetzt und war in Träumereien versunken, so dass er zunächst glaubte, die Frauenstimme im Inneren seines Kopfes zu hören. Als er endlich aufblickte, wurde heftig am Tor gerüttelt.

»Hören Sie? Hallo!«

Schaller ging zum Tor und öffnete einen Spalt, darauf gefasst, es sofort wieder zuzuschlagen, falls eine Polizistin davorstünde. Aber die Frau, die er sah, kam mit Sicherheit von keiner Behörde. Amtsschimmelstuten trugen keine kurzen blauen Kleider. Das Haar der Besucherin war blond und zum Pferdeschwanz gebunden. Keine von den Hiesigen, dachte Schaller, mit Sicherheit zugezogen aus der Stadt, höchstwahrscheinlich aus dem Westen. Auch wenn die Vergangenheit nach wie vor eine Wundertüte darstellte – beim Einschätzen der Gegenwart machte ihm niemand etwas vor. Er konnte sogar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erraten, welches Auto jemand fuhr. Die Frau im blauen Kleid besaß entweder einen Skoda Fabia mit Kindersitz auf der Rückbank und gehörte zu einer der Sparkassenfamilien aus der Neubausiedlung hinter der Kirche. Oder sie fuhr einen Frontera, mit dem sie Pferdeanhänger ziehen konnte, dann wohnte sie in der alten Villa am Rand des Naturschutzgebiets. Für einen Skoda wirkte sie zu jung und zu fröhlich – also Frontera. Erst als Schaller mit dieser Überlegung fertig war, fiel ihm auf, dass eine weitere Person vor dem Tor stand. Ein Mann um die sechzig, BMW Z4 Roadster, keine Frage.

»Entschuldigen Sie die Störung.« Frontera reichte ihm die Hand. Fester Händedruck. Wie Miriam. Noch fester. »Mein Bekannter hier hat ein Problem mit seinem Wagen.«

Der Händedruck des Roadsters war schlaff.

»Ich war gerade losgefahren, da fing er heftig an zu stottern.«

»Zeigen Sie mal die Papiere.«

Während Schaller den Kfz-Schein studierte, runzelte er die Stirn. Mercedes Roadster, nicht BMW, knapp daneben. Die Karre war nagelneu. Da ging nicht einfach so die Einspritzanlage kaputt. »Haben Sie an der Tankstelle in Groß Väter getankt?«

»Wieso?«

»Die verlängern den Sprit mit Wasser.«

Bei diesen Worten begann Frontera hinter dem Rücken des Roadster-Fritzen eine Art Augenbrauengymnastik aufzuführen. Dazu führte sie einen Finger an die Lippen, als wollte sie Schaller zum Schweigen bringen. Also wusste er jetzt, was dem Wagen fehlte.

»Meine letzte Tankfüllung stammt aus Magdeburg.«

Misstrauisch sah sich der Roadster im Hof um, musterte die Scherben am Boden, rings um die Stelle, an welcher der Golf gestanden hatte, registrierte die Feuer, die Autoreifen, sogar die leeren Bierdosen neben der Bank.

»Vielleicht rufe ich einfach den ADAC.«

»Der bringt sie in die nächstgelegene Autowerkstatt«, sagte Frontera. »Und die ist hier.«

Es gehörte zu Schallers Prinzipien, die Angelegenheiten anderer Leute allein danach zu beurteilen, ob sie ihm nutzten oder schadeten. Auf diese Weise vermied er Missverständnisse und konnte zweifelsfrei zwischen richtig und falsch unterscheiden. Dieser Fall war vollkommen klar.

»Beim neuen R 230 SL verabschiedet sich gern mal der Luftmassenmesser«, sagte er. »Ich kann das Teil über Kurier besorgen lassen.«

»Sehen Sie.« Frontera lächelte. »Und zur Not haben wir auch ein nettes Gästezimmer.«

»Schlüssel«, sagte Schaller.

Für die fiktive Reparatur würde er rund 400 Euro berechnen, während er nichts weiter zu tun hatte, als den Tank abzusaugen, mit sauberem Benzin aufzufüllen und zur Sicherheit ein Fläschchen Brennspiritus dazuzugeben.

Frontera sah zufrieden aus. Beim Abschied wies sie zur Grundstücksgrenze hinüber, wo der Qualm der Reifen in Schichten lagerte, auf den nächsten Windstoß wartend, der ihn aufs Nachbargrundstück hinübertragen würde.

»Wer wohnt da?«

»Ein Typ von der Vogelschutzwarte«, sagte Schaller.

»Interessant«, sagte Frontera.

Schon immer hatte Schaller die Auffassung vertreten, dass er lieber zehn Männer zu Feinden hätte als eine einzige Frau.



5 Gombrowski


Es roch nach faulen Eiern, und Fidi veranstaltete einen Höllenlärm. Eigentlich wohnte im Körper der 80-Kilo-Hündin eine sanfte Seele. Gegenüber Besuchern verhielt sie sich freundlich, selbst Kinder durften sie ungestraft an den Ohren ziehen. Meine Fidi will es jedem recht machen, pflegte Gombrowski zu sagen, sie würde noch den Einbrechern helfen, den Fernseher hinauszutragen.

Eine Ausnahme stellte das Tankfahrzeug der Plausitzer Klärwerke dar. Mit den Plausitzer Klärwerken stand Fidi auf Kriegsfuß. Wenn der Mann im grauen Overall den dicken Schlauch übers Grundstück zerrte, um die Abwassergrube hinter dem Haus leerzupumpen, rief Fidi den Notstand aus. Wie besinnungslos rannte sie von Zimmer zu Zimmer, stellte die Vordertatzen auf die Fensterbänke und versuchte, in die Scheiben zu beißen, bis Gombrowski sie am Halsband erwischte. Ihre Krallen kratzten über den Boden, während er sie über den Flur bis zum Gästeklo zerrte und dort einsperrte. Jetzt klang Fidis tiefe Stimme dumpf, als käme sie direkt aus der Unterwelt. Die großen Pfoten bearbeiteten die geschlossene Tür. Elena würde wegen der Kratzspuren schimpfen.

Seufzend wandte Gombrowski sich ab, holte einen Lappen aus der Küche und machte sich daran, die Speichelfäden zu beseitigen, die Fidi auf den Fensterbänken hinterlassen hatte. Seine Skatbrüder nannten ihn einen Pantoffelhelden, aber das störte ihn nicht. Genau wie Fidi war er stets bemüht, es allen recht zu machen. Anerkannt wurde das nicht. Heutzutage betrachteten die Leute die Welt als Selbstbedienungsladen. Sie kamen in die Ökologica, wenn sie etwas von ihm wollten, und begannen zu murren, wenn er den Wunsch nicht erfüllen konnte. Zu Hause war es nicht anders. Sein Leben lang hatte er gearbeitet, um Frau und Tochter eine angenehme Existenz zu ermöglichen. Zum Dank gab Elena ihm das Gefühl, kein guter Ehemann zu sein. Und Püppi hatte nur darauf gewartet, dass die Mauer fiel, um »das verfluchte Dreckskaff Unterleuten« endlich verlassen zu können. Sie lebte in Freiburg, wo sie auf Gombrowskis Kosten an der »von euch am weitesten entfernten Universität der Republik« ein ebenso langwieriges wie hochnäsiges Studium durchgeführt hatte. Weil es mit ihrem Doktortitel in Klugscheißerei nur zu einer halben Assistentenstelle reichte, hatte Gombrowski ihr eine Wohnung gekauft. Trotz allem besaß sie die Dreistigkeit, es peinlich zu finden, dass das Geld, von dem sie lebte, mit Mähdreschern und Melkmaschinen verdient wurde.

Das Feierabendbier, das sich Gombrowski in der Küche öffnete, schmeckte nach Kloake. Irgendwo musste ein Fenster offen stehen und den schwefeligen Fäkaliengestank ins Haus lassen. Nach der Wende hatte sich Gombrowski für den Bau einer Kanalisation eingesetzt. Ein aussichtsloses Unterfangen, weil der Betrieb von Sammelgruben billiger war und es zur kleingeistigen Mentalität der Unterleutner gehörte, jede Veränderung überflüssig zu finden, vor allem, wenn sie Geld kostete. Immerhin war es dem Bürgermeister mit Gombrowskis Unterstützung gelungen, den Bau einer Brunnenanlage durchzusetzen, die Unterleuten mit Trinkwasser versorgte. Was aus den Wasserhähnen floss, war nach modernster Technik aufbereitet. Was in Abflüssen und Toiletten verschwand, holte einmal wöchentlich der Tankwagen ab.

Fidis Gebell steigerte sich zu einem heiseren Jaulen und verstummte. Anscheinend hatte der Mann von den Klärwerken seine Arbeit beendet, den Schlauch eingerollt und sein Tankfahrzeug zum nächsten Kunden gesteuert.

In der plötzlichen Stille vernahm Gombrowski ein Klopfen. Es kam vom Flur.

»Rudolf«, rief eine Frauenstimme. »Rudolf Gombrowski, Teufel noch mal.«

Hilde Kessler war so klein, dass nur die obere Hälfte ihres Kopfs vor der Scheibe der Eingangstür zu sehen war. Umso rührender wirkte der Mullverband, der Stirn und Augenbrauen verdeckte. Mit beiden Händen rüttelte sie am Knauf der Tür, was ihre Frisur in heftige Bewegung versetzte. Als Gombrowski öffnete, wäre sie fast gestürzt.

»Bist du verrückt geworden!« An ihm vorbei strauchelte Hilde in den Flur. »Du kannst mich doch nicht draußen stehen lassen!«

»Ich hab die Klingel nicht gehört. Wegen Fidi.«

»Scheiß Köter.« Sie weinte fast.

»Tut mir leid, Hilde. Komm her.«

Wenn er Hilde umarmen wollte, musste er in die Knie gehen. Im Garderobenspiegel konnte er das seltsame Bild betrachten. Elena behauptete, dass er Fidi ähnlich sehe, und er musste zugeben, dass das stimmte. Er war groß, weich und schwer. Alles an ihm hing herunter, Tränensäcke, Wangen, Schultern und Arme, was ihm ein schuldbewusstes Aussehen verlieh. Auch Fidi wirkte immer schuldbewusst. Selbst ihr Futter schien sie nur mit schlechtem Gewissen zu verzehren.

Hilde hingegen war klein, zierlich und sprungbereit wie eine Katze. Wer sie kannte, hatte Respekt vor ihr, trotz ihrer geringen Körpergröße. Sie besaß einen scharfen Verstand und eine gewisse Härte. Es gab nur eine Sache, die sie nicht ertrug, und das waren Aufenthalte unter freiem Himmel. Das Versprechen, ihn jeden Donnerstag zu besuchen, hatte Gombrowski ihr abgerungen, damit sie wenigstens einmal in der Woche an die frische Luft kam. Da sie gleich nebenan wohnte, musste sie nur durch die Gärten gehen, um das Haus der Gombrowskis zu erreichen. Selbst dieser kleine Spaziergang stellte eine Herausforderung für sie dar. Ihr Mann Erik war von einem herabstürzenden Ast erschlagen worden. Obwohl das Unglück fast zwanzig Jahre zurücklag, hatte Hilde ihre Angst vor dem offenen Himmel bis heute nicht verloren.

An den tragischen Tag erinnerte sich Gombrowski in allen Einzelheiten. Auch das Datum hatte sich ihm eingeprägt: 3. November 1991. Gegen siebzehn Uhr war ein apokalyptisches Gewitter losgebrochen. Die Entladung hatte direkt über Unterleuten stattgefunden. Blitz und Donner fielen im selben Augenblick zusammen. Der Himmel war grell erleuchtet, die Donner krachten, als bestünde die Luft aus Holz und würde von einem Wahnsinnigen mit einer gigantischen Axt in tausend Stücke gehackt.

Es war die Zeit, in der Gombrowski um die Rettung der LPG »Gute Hoffnung« kämpfte. Das neue Landwirtschaftsanpassungsgesetz der BRD sah vor, dass ehemalige DDR-Betriebe, die nicht bis Ende des Jahres zu einer neuen Rechtsform gefunden hatten, als aufgelöst galten. Hildes Mann Erik gehörte gemeinsam mit dem ewigen Querulanten Kron zu einer kleinen Gruppe, die sich der Gründung der »Ökologica GmbH« unter Gombrowskis Geschäftsführung widersetzte. Als das Gewitter niederging, befanden sich nur Hilde und er im Vorstandsbüro. Gombrowski erinnerte sich, wie sie über das Gelände rannten, Ställe und Getreidespeicher verriegelten, die Blitzableiter an den Scheunen überprüften und die Fensterläden des Verwaltungsgebäudes schlossen, während der Himmel bereits in Flammen stand. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis endlich Regen einsetzte. Eine Sintflut, die den Schweinestall unter Wasser setzte und draußen auf den Feldern die Heuernte verdarb. Der Strom fiel aus, das Telefon blieb stundenlang gestört. So kam es, dass sie erst am späten Abend von Eriks Tod erfuhren. Er hatte sich während des Gewitters auf einer Waldlichtung unweit des Dorfs aufgehalten. Kron war bei ihm gewesen und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden.

Seit diesem Tag verließ Hilde das Haus nicht mehr. Lange hatte Gombrowski versucht, ihr die Angst zu nehmen, hatte Spaziergänge vorgeschlagen, kleine Übungsausflüge, gemeinsame Aufenthalte im Garten. Es war sein Ehrgeiz gewesen, ihr das Vertrauen in den Himmel zurückzugeben. Erreicht hatte er nicht mehr als die bis heute gültige Vereinbarung, dass Hilde ihn einmal pro Woche besuchte. Am Ende dieser Expedition vor verschlossener Tür zu stehen, mit nichts als einer Menge Sommerluft über sich, gehörte zu ihren schlimmsten Albträumen.

»Es tut mir leid«, wiederholte Gombrowski.

Hilde weinte ein paar stumme Tränen, die schwarze Wimperntusche auf Gombrowskis kariertem Hemd hinterließen. Er richtete sie auf, schob sie ein Stück von sich weg und brachte sie ins Gleichgewicht, als sortierte er die schlaffen Glieder einer Puppe. Zum Schluss strich er ihr mit seinen großen Händen das Haar glatt, sorgfältig darauf achtend, den Schläfenverband nicht zu berühren. Dann ließ er sie los, um zu prüfen, ob sie selbstständig stand.

»Komm«, sagte er. »Wir setzen uns auf die Terrasse.«

Der Schwefelgestank hatte sich verzogen. Sanft plätscherte Wasser durch die drei Becken des Gartenteichs. Eine Trauerweide badete die Spitzen ihrer herabhängenden Zweige. Darunter schwammen die kreisrunden Blätter einer Seerose. Zwischen die Dotterblumen am Rand hatte Gombrowski vier dicke Keramikfrösche gesetzt, deren grimmiges Glotzen ihn amüsierte. Am meisten aber liebte er die acht Kois, die reglos im Wasser standen und sich von der Sonne bescheinen ließen. Bereits als kleine Fische hatte er sie für einen beträchtlichen Preis gekauft. Mittlerweile waren sie über fünfzig Zentimeter lang und ein kleines Vermögen wert. Elena hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Kois vor Reihern zu schützen, weshalb sie im Sommer um fünf Uhr morgens aufstand und sich mit einer Tasse Tee an den Rand des Gartenteichs setzte. Auch wenn Gombrowski wusste, dass dieser Dienst zum Selbstaufopferungsprogramm gehörte, mit dessen Hilfe Elena sein schlechtes Gewissen Männchen machen ließ wie einen dressierten Pudel, war er doch froh, dass ihm in all den Jahren kein einziger Fisch abhandengekommen war.

Obwohl Hilde nie ein lobendes Wort über den Gartenteich verloren hatte, war er sicher, dass auch sie den Frieden der Anlage genoss. Den riesigen Sonnenschirm hatte er ihretwegen installiert. Wenn er sie mit dem Rücken zum Haus platzierte, fühlte sie sich geschützt und hatte optimale Aussicht in den Garten. Trotz des dicken Kissens, das er ihr unterschob, wirkte sie auf dem Gartenstuhl klein wie ein Kind.

»Was ist passiert?«, fragte Gombrowski und zeigte auf den Kopfverband.

»Hast du was zu trinken?«

Er nickte, ging ins Haus und schloss die Terrassentür hinter sich. Durch die Scheibe sah er, wie Hilde ihr Schminkzeug hervorholte. Das starke Make-up, das ihr Gesicht wie eine Maske verdeckte, trug sie erst seit Eriks Tod.

In der Küche nahm er den halbtrockenen Sekt aus dem Kühlschrank, den er jede Woche für Hilde kaufte, obwohl sie nie mehr als ein halbes Glas davon trank. Dazu gab es einen Teller mit Marmeladenkeksen, von denen Hilde einen und Gombrowski keinen essen würde, bevor sie später der Hund bekam. Anschließend würde er Hilde zu ihrem Haus hinüberbegleiten, rechtzeitig bevor Elena von ihrem Doppelkopf-Nachmittag zurückkehrte. Auf diese Weise war sichergestellt, dass sich die beiden Frauen nicht begegneten.

Mit Sekt und Keksen ging er zurück über den Flur und ließ Fidi aus dem Gästeklo. Solange Hilde zu Besuch war, würde der Hund im Haus bleiben müssen. Hilde mochte Fidi nicht besonders, sie war ein Katzenmensch. Mit den Jahren hatte sich ihr Haus in ein Auffanglager für unglückliche Stubentiger verwandelt, die genau wie Hilde nicht ins Freie gingen. Rund zwanzig Katzen saßen auf Sofa- und Sessellehnen, schliefen zu dritt im Wäschekorb, gingen in den Regalen spazieren, aalten sich unter den Fenstern im Sonnenlicht. Die meisten von ihnen waren struppig und mager, manche hinkten, einigen fehlte der halbe Schwanz oder ein Ohr. Es stank wie im Raubtierkäfig. Jeder im Dorf, der eine verletzte, kranke, streunende Katze fand, brachte sie zu Hilde. Nicht nur ihre Witwenrente, auch ein Großteil von Gombrowskis monatlichen Zuwendungen flossen in Futter und Tierarztrechnungen.

Während er Sekt und Kekse auf den Tisch stellte, verstaute Hilde ihr Schminkzeug in der Handtasche und wandte Gombrowski ihr frisch renoviertes Gesicht zu.

»Kron hat mich geschlagen«, sagte sie und nippte an ihrem Glas. »Wegen einer kleinen Katze für Krönchen.«

Wenn jemals ein Mann ein weibliches Wesen vergöttert hatte, dann Kron seine kleine Enkeltochter. Krönchen war fünf Jahre alt, eine blonde Miniaturschönheit, die bereits die Koketterie einer Diva besaß. Weder Eltern noch Großvater sahen sich in der Lage, sie von der Durchsetzung ihres Willens abzuhalten. Regelmäßig entwischte die Kleine zu Hause, lief quer durchs Dorf, kletterte an Hildes Rosengittern hoch und trommelte so lange gegen das Küchenfenster, bis sie eingelassen wurde, um mit den Katzen zu spielen.

»Seit Moni Junge hat, kommt sie täglich. Total aus dem Häuschen. Sie wünschte sich eins der Kätzchen zum Geburtstag, ein ganz bestimmtes, mit silbernem Fell.«

»Da war ihre Mama sicher begeistert.«

»Du kennst Krönchen. Sie hat Terror gemacht, bis Kathrin persönlich bei mir auf der Matte stand und fragte, was die Katze kostet.«

»Und dann?«

»Dann saß das Kätzchen auf dem Geburtstagstisch. Große Freude. Drei Tage später lag es morgens tot auf dem Teppich.«

»Sterben sie schnell in dem Alter?«

Hilde hob die Achseln.

»Eigentlich nicht. Aber es sind halt Lebewesen. Wie wir alle, nicht wahr? Es sollte besser Sterbewesen heißen.«

Gombrowski schüttelte den Kopf. Hilde besaß eine ganze Sammlung von Sprüchen, die er nicht mochte.

»Jedenfalls schrie Krönchen Zeter und Mordio. Völlig verzweifelt rief Kathrin bei mir an und bat um ein zweites Kätzchen. Es gibt noch ein weiteres in dieser Farbe. Aber das ist schon versprochen. Ein kleiner Junge aus Mantel soll es bekommen.«

»Und dann hat Kron sich eingeschaltet.«

»Er stand mittags vor meiner Tür. Hat einfach die Tür aufgestoßen und ist an mir vorbei ins Haus gehumpelt.«

»Drecksack.«

»Wie er ins Wohnzimmer kommt, sitzt das silberne Kätzchen mitten auf dem Teppich. Direkt vor ihm.«

»Und er?«

»Pflückt das arme Tier vom Boden und schwenkt es durch die Luft. Ich dachte, er bricht der kleinen Katze das Genick. Ich war außer mir.«

»Arme Hilde.«

Für einen Augenblick umschloss Gombrowski ihren Oberarm mit den Fingern. Wie ein trockener Zweig. Hilde schüttelte seine Hand ab.

»Auf dem Couchtisch lag eine Schere. Ich wusste nicht, wie ich mich sonst wehren sollte. Als ich danach griff, hat er mir seine Krücke vor den Kopf gehauen und ist weggelaufen.«

»Er hat dich da liegen lassen?«

»Einen Krankenwagen hat er mir geschickt.« Wieder berührte Hilde den Verband. »Mit fünf Stichen genäht.«

Ein paar Sekunden schwiegen sie. Fidi pfiff einen hohen Ton und stieß die Nase gegen die Scheibe. Eine Amsel badete plätschernd im flachen Wasser am Rand des Teichs. Irgendwo winselte eine Motorsäge.

»Das tut man nicht«, sagte Gombrowski. »Man schlägt keine Frauen.«

Hilde hob ihre aufgemalten Augenbrauen.

»Ach ja, Gombrowski? Ist das so?«

Er beeilte sich mit den nächsten Sätzen.

»Die Katze war nur ein Vorwand. Kron hat sich an dir vergriffen, weil er mich treffen wollte.«

»Aber warum? Ich meine: Warum jetzt?«

Die Amsel beendete ihr Bad, flog heran und setzte sich auf einen Pfosten des Terrassengeländers, um Fidi hinter der Scheibe zu beschimpfen. Nachdenklich streichelte Gombrowski Hildes Hand.

Dass Kron ihn hasste, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Gombrowski und Kron gehörten zu der kleinen Anzahl Menschen, die in Unterleuten geboren waren und bis heute hier lebten. Da Kron sieben Jahre älter war, hatte Gombrowski in seiner Kindheit wenig mit ihm zu tun gehabt. Kron rauchte Zigaretten, während sich Gombrowski noch für Lollis interessierte. Wenn Kron einen Fußball kickte, musste Gombrowski zur Seite springen, damit ihn der scharfe Schuss nicht von den Beinen holte. Irgendwann fuhr Kron einen Simson Roller, was ihn endgültig in unerreichbare Sphären rückte. Außer dem Alter stand auch die Herkunft zwischen ihnen. Kron stammte aus einer Familie von Kleinbauern, die seit Generationen ihren mageren Lebensunterhalt aus der kargen Erde kratzte. Gombrowskis Vater hingegen bewirtschaftete den Familienbesitz – 250 Hektar Land.

In der Vergangenheit hatte das Gut der Gombrowskis manche Höhen und Tiefen erlebt, aber irgendwie war es der Familie immer gelungen, ihre Wirtschaft am Laufen zu halten. Selbst während der harten Kriegsjahre bis 1945 hatten die Felder niemals brachgelegen. Nach der Kapitulation allerdings begann eine Krise, die alles bisher Dagewesene übertraf. Plündernd zog die Rote Armee durchs Land; auch Unterleuten lag auf ihrem Weg. Den marodierenden Soldaten fielen Viehbestand, Maschinen und Arbeiter zum Opfer. In den folgenden Jahren fehlte es an allem – Geld, Saatgut, Pferden, Dünger, Werkzeug, Männern, Zuversicht. In dieser Zeit wurde Gombrowski geboren. Eine seiner ersten Erinnerungen bestand darin, dass er einer Katze beim Vertilgen einer Maus zusah und dabei ein Hungergefühl verspürte.

Als Gombrowskis Vater glaubte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, nahm die Kollektivierung ihren Anfang. Er war jetzt nicht mehr Landwirt, sondern Klassenfeind. Ringsum wurden Ländereien enteignet und aufgeteilt, bis die Wirtschaften zu klein wurden, um mehr als ihre Besitzer ernähren zu können. Erfahrene Bauern verließen das Land, ihre Höfe wurden von Flüchtlingen in Besitz genommen, die nicht notwendig Landwirte waren und sich mit den hiesigen Bedingungen nicht auskannten.

Aber Gombrowskis Vater gab nicht auf. Er verfügte über ein Kapital, das ihm keiner nehmen konnte: gute Beziehungen in die umliegenden Dörfer. Als in Plausitz die erste Bodenkommission der Region gegründet wurde, trat er sofort bei. Nicht, um die Bodenreform voranzutreiben, sondern um zu verhindern, dass sein eigener Betrieb verstaatlicht wurde. Er kannte alle, die in der Kommission saßen, und alle kannten ihn. Kein Treffen verging, ohne dass er Gelegenheit fand, seine Lieblingssätze zu äußern: »Auch Kommunisten wollen essen«, »Wir arbeiten mit Jahreszeiten, nicht mit Jahresplänen«, und »Kein Mensch braucht eine Partei, die nicht weiß, wie man es regnen lässt«.

Niemand widersprach. Die kleineren Bauern waren auf den alten Gombrowski angewiesen, der sich immer bereitfand, Saatgut, Maschinen oder Arbeitskräfte zu verleihen, wenn jemand in Not geriet – und in Not gerieten alle, und zwar ständig.

Abgesehen davon hatte er recht. Jeder Landbewohner wusste von Anfang an, dass die DDR ein schwachsinniges System darstellte. Die Partei, nach deren Pfeife man plötzlich zu tanzen hatte, war aus den Städten hervorgegangen. Ihr Führungspersonal, in Moskau geschult, verstand wenig vom Landleben und noch weniger von der Landwirtschaft. Mangelnde Kenntnisse versuchten Ulbricht und Konsorten durch die Anwendung marxistisch-leninistischer Theorien zu kompensieren. Aber die Natur zeigte sich wenig empfänglich für kommunistische Weltbilder. Sie bestand auf ihren eigenen Gesetzen. Über Generationen hinweg hatten die Bauern gelernt, dem sandigen Boden seine Früchte abzuringen. Sie lebten auf dem Land, mit dem Land und für das Land. Mit politischen Parolen hatten sie nichts am Hut. Der alte Gombrowski war nicht überall beliebt. Aber wenn seine Wirtschaft im Rahmen einer von Volltrotteln geführten LPG zugrunde gerichtet werden sollte, dann hielt man lieber zu ihm als zu Polit-Schnöseln aus den Städten, die Weizen nicht von Gerste unterscheiden konnten.

Bis 1960 gelang es dem Alten, sich im Sattel zu halten. Sein Betrieb brachte Erträge, und die DDR hatte jede Menge Flüchtlinge sowie eine halbe Hauptstadt zu ernähren. Er sah Neubauern kommen und wieder gehen. Er sah alte Gutshäuser, die abgerissen wurden, obwohl es überall an Wohnraum mangelte. Er sah, wie Ländereien zerschlagen und ihre Besitzer vertrieben wurden. Unterleuten leerte sich, Familie Gombrowski blieb.

Bis der sozialistische Frühling über das Land hinwegrollte. Weil die kollektivierten Betriebe nicht die gewünschten Ergebnisse erzielten, beschloss die Partei, Feuer mit Öl zu löschen und die flächendeckende Zwangskollektivierung einzuleiten. Berlin schickte Werbebrigaden, welche die entsprechende Überzeugungsarbeit leisten sollten. Bunt zusammengewürfelte Haufen fielen in den Dörfern ein, Polizei, Stasi, agitierte Arbeiter und Studenten, allesamt linientreu und krawallbereit. Drei Tage lang parkte vor dem Haus der Gombrowskis ein Lautsprecherwagen, der Parolen zu den Fenstern hinaufplärrte. Eines Nachts splitterten die Fenster im Erdgeschoss.

Der junge Gombrowski war gerade dreizehn geworden. Vom Lärm erwacht, rannte er im Schlafanzug auf den Balkon im ersten Stock. Was er sah, schien einem Albtraum zu entstammen. Auf dem Betriebsgelände brannte ein Kornspeicher, das Feuer tauchte die Szenerie in flackerndes Licht. Mehrere Männer waren über den Zaun geklettert und bis zum Haus der Gombrowskis vorgedrungen. Sie trugen Knüppel und Eisenstangen. Ein Topf Geranien flog durch die Luft. Dann splitterte das nächste Fenster. Starr vor Angst beugte sich der junge Gombrowski über das Geländer und blickte direkt in das wilde Gesicht von Kron, der eine Dachlatte schwang.

Bis heute erinnerte sich Gombrowski an das Geräusch der berstenden Fenster und an Krons irren Blick. Er konnte die gebrüllten Parolen hören, »Junkerland in Bauernhand«, während Kron auf die Scheiben seines Elternhauses eindrosch, bis kein Splitter mehr im Rahmen steckte. Das Feuer im Kornspeicher wuchs zu einer turmhohen Flammensäule, deren Funken bis zu den Sternen flogen. Der Schreck fuhr dem Dreizehnjährigen in die Knochen und blieb dort. In Krons Augen hatte er blanken Hass gesehen, den er nicht verstand. Wohl aber ahnte er, dass er eines Tages in der Lage sein würde, ihn zu erwidern.

Hinter der Terrassentür begann Fidi zu winseln. Gombrowski rief sie zu Ordnung und schüttelte den Kopf, um die Echos aus der Vergangenheit loszuwerden. Schwer zu glauben, dass die Feindschaft zwischen Kron und ihm tatsächlich ein halbes Jahrhundert alt war, älter als die Ehe mit Elena, älter als die Freundschaft zu Hilde. Gombrowski hatte diese Feindschaft nie gewollt, und doch schien sie unabänderlich wie ein Naturgesetz. Auf jahrelange Phasen des Waffenstillstands konnte von Krons Seite urplötzlich die nächste Attacke erfolgen. Nicht auszuschließen, dass Hildes Kopfverband den Auftakt zu einer neuen Reihe von Kampfhandlungen darstellte.

Hilde zog ihren Arm weg, um zu verhindern, dass Gombrowski ihr ein Loch in den Handrücken streichelte. Er wusste nicht, wie lange er stumm gesessen hatte. Der Teich gab plätschernde Geräusche von sich. Drei Kois zogen ihre bunten Körper dicht unter der Oberfläche entlang. Als Gombrowski einen Schluck Bier nehmen wollte, war die Flasche leer. Misstrauisch sah Hilde ihn von der Seite an.

»Verschweigst du mir etwas?«

»Wie kommst du darauf?«

»Was hat Kron auf den Plan gerufen?«

»Ehrlich, ich weiß es nicht.«

»Und worum soll es heute Abend gehen?«

»Auf der Dorfversammlung? Keine Ahnung.«

»Ach, komm.« Hilde lachte, was selten vorkam. »Du kannst mir nicht erzählen, dass Arne dich nicht informiert hat.«

»Ist aber so.«

»Und das wundert dich nicht?«

»Was meinst du?«

»Überleg doch mal, Gombrowski. Wenn das«, sie berührte ein weiteres Mal den Verband an ihrer Stirn, »auf dich gemünzt war, braucht Kron einen Grund. Vielleicht geht etwas vor.«

»Dann weiß Kron mehr als ich.«

»Wäre möglich. Er muss es ja nicht von Arne haben. Es gibt andere Kanäle.«

»Und ob. Was Kanäle angeht, ist das hier schlimmer als Venedig.« Gombrowski presste die Handballen auf die Augen, wobei er sein weiches Gesicht in Falten zusammenschob. »Manchmal habe ich Lust, die Brocken hinzuschmeißen. Soll Betty den Laden übernehmen und sich mit dem ganzen Mist herumschlagen.«

»Das meinst du nicht ernst.«

Als er die Augen freigab, sah er bunte Kreise, die sich ineinanderdrehten. Dahinter erschien Hilde, die ihn besorgt musterte. Es war normal, auf Unterleuten zu schimpfen. Alle schimpften auf Unterleuten. Aber manchmal bekam Gombrowskis Überdruss eine andere Qualität. Er glaubte dann, den Angriffen, die ihn von allen Seiten trafen, nichts mehr entgegensetzen zu können. Die Milchpreise waren im Keller, die Agrarsubventionen sollten gekürzt werden, und weil der Staat seit der Schuldenkrise Geld brauchte, sorgte das Finanzministerium mithilfe der Treuhand-Nachfolgeorganisation dafür, dass die Preise für landwirtschaftliche Flächen sukzessive erhöht wurden. Bald würde sich die Ökologica die Pacht ihrer Felder nicht mehr leisten können. Dazu kamen noch die Spinner aus dem Westen. Die einen spielten Superkapitalisten, ersteigerten Hunderte Hektar zu Phantasiepreisen, weil sie gerade Lust dazu verspürten, und hoben dadurch die Bodenrichtwerte weiter an. Die anderen gehörten zur Kategorie »Weltenretter«, zogen nach Unterleuten, um im Auftrag des Naturschutzes ein paar dämliche Vögel gegen die örtliche Landwirtschaft zu verteidigen, und verwandelten jedes neue Silo und jede geplante Flächenumnutzung in eine Staatsaffäre mit Genehmigungspflichten, reihenweise Aktenordnern und nervtötenden Behördenverfahren.

Fest stand, dass die Ökologica in der momentanen Lage höchstens noch zwei Jahre weitermachen konnte, bevor sie in Zahlungsschwierigkeiten geriet. Kurz vor Ausbruch der Finanzkrise hatte Gombrowski eine halbe Million in die Modernisierung der Kuhställe investiert. Wenn er daran dachte, standen ihm noch immer die Haare zu Berge. Niemand kann in die Zukunft sehen, pflegte Hilde zu sagen, wenn die Sprache auf dieses Thema kam. Leider bestand der Beruf eines Landwirts aber im Hellsehen. Er musste das Wetter von nächster Woche genauso vorausahnen wie die neuesten Einfälle der europäischen Agrarpolitik. Wenn er mit seinen Prognosen ein paarmal danebenlag, ging der Laden pleite, so einfach war das.

Gombrowskis Leben war ein Kampf für die Ökologica, ein Kampf für Unterleuten und für die ganze Region, während sich alle anderen die Zeit damit vertrieben, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Wenn er das Wort »Politik« nur hörte, wurde ihm schlecht. »Politik« waren Leute, die eine Firma wie die seine kaputtsparten, um anschließend 20 Arbeitslose durchzufüttern. »Politik« war, wenn sich gelangweilte Westdeutsche mehr für Vögel als für Menschen interessierten. »Politik« bedeutete, dass Kron eine wehrlose Frau wie Hilde schlug, um zu verhindern, dass Gombrowski zur Dorfversammlung ging, wo es wahrscheinlich irgendwelche Pfründe zu verteilen gab. Vielleicht kam ja demnächst noch mehr Land unter den Hammer. Wobei Gombrowski nicht wusste, wieso das Kron interessieren sollte. Um bei Versteigerungen mitzuhalten, fehlte dem das nötige Kleingeld.

»Frührente«, sagte Gombrowski. »Dann können alle sehen, wie sie ohne mich klarkommen.«

»Jetzt mal halblang.« Hilde beugte sich vor, um ihn an der Schulter zu rütteln. »Oder bist du genauso dumm wie dein Hund?«

Er wusste sofort, worauf sie anspielte. Jeden Mittag ging er mit Fidi auf dem Feldweg hinter den Kuhställen bis zum alten Wasserturm und zurück, was einen Marsch von zwanzig Minuten ergab. Kurz bevor sie umkehrten, spielte sich täglich die gleiche Szene ab. Zweihundert Meter vor dem Wasserturm blieb Fidi stehen, ließ Gombrowski allein weitergehen und sah ihm mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung hinterher. Warum immer wieder bis zum Wasserturm laufen, wenn man doch schon wusste, dass man umdrehen und zurückgehen würde? Gombrowski hatte Hilde erzählt, wie sehr ihn dieses Verhalten ärgerte. Streng pflegte er die Hündin zu sich zu rufen, ließ sie das letzte Stück bei Fuß gehen und vor dem Wasserturm »Sitz« machen, bevor sie gemeinsam den Rückweg antraten. Aber Fidi lernte nichts daraus und blieb am nächsten Tag wieder zu früh stehen. Wäre Gombrowski jemals dem Vorschlag der Hündin gefolgt und zweihundert Meter vor dem Wasserturm umgekehrt, hätte Fidi am nächsten Tag noch zweihundert Meter früher angehalten und ihm nachgeschaut, als hätte er den Verstand verloren. Von Tag zu Tag wäre der Spaziergang kürzer geworden, bis sie den Hof gar nicht mehr verlassen hätten. Darüber wäre Fidi dann untröstlich gewesen, da sie die gemeinsamen Spaziergänge in der Mittagspause über alles liebte.

»Schon klar«, sagte Gombrowski. »Den eingeschlagenen Weg weitergehen, obwohl man weiß, dass er endet.«

»Du gehst heute Abend zur Dorfversammlung«, sagte Hilde. »Verstanden?«

Gombrowski seufzte und nickte.

»Danach sind wir klüger.«

»Soll ich Kron etwas von dir ausrichten?«

»Nichts.«

»Zeigst du ihn an? Wegen Körperverletzung?«

Schon als junge Frau hatte Hilde wässrig blaue Augen gehabt, die ihren Blick ein wenig abwesend wirken ließen. Das Alter hatte den Eindruck verstärkt. Es gab Menschen, die glaubten, sie sei nicht ganz richtig im Kopf. Wenn sie einen allerdings unvermittelt anschaute, lag Härte in ihrem Blick. Als spränge man in einen See, dachte Gombrowski, und plötzlich ist das Wasser nur wenige Zentimeter tief. Darunter Panzerglas.

»Seit wann«, fragte Hilde, »regeln wir unsere Angelegenheiten mithilfe der Polizei?«

Gombrowski tätschelte ihre Wange.

»Gut, dass du kein Mann geworden bist. Du wärst eine Gefahr für den ganzen Landkreis.«

Hilde schob seine Hand beiseite wie ein störrisches Kind.

»Steh auf«, sagte sie.

»Willst du schon nach Hause?«

»Wir gehen spazieren.«

Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich, öffnete die Terrassentür, warf der großen Hündin einen vernichtenden Blick zu und drängte sich an ihr vorbei ins Haus. Erst im Flur holte Gombrowski sie ein.

»Du willst auf die Straße? Unter freien Himmel?«

»Nimm einen Schirm mit.«

So gingen sie Seite an Seite den Beutelweg hinunter. Mit der rechten Hand hielt Gombrowski, dem strahlenden Sonnenschein zum Trotz, einen aufgespannten Regenschirm über Hildes Kopf; die andere führte Fidi an der Leine. Man beobachtete das seltsame Trio, aus Vorgärten, hinter Gardinen, durch die Scheiben vorbeifahrender Autos. Gombrowski wusste, was dieser Spaziergang Hilde kostete. Er sah ihre mahlenden Kiefer und den Schweiß, der vom Haaransatz über die Schläfen rann. Rund um die Kirche und wieder zurück, ein Triumphzug, dessen Botschaft das Dorf verstand.



6 Kron


Kron fand es seltsam, sie alle in einem Raum versammelt zu sehen. Seit der Wende waren sie nicht mehr so zahlreich zusammengekommen, und selbst am Tag des Mauerfalls, als der Tanzsaal des Landmanns komplett aus Stühlen bestand, waren viele Plätze leer geblieben, weil einige nach Berlin und manche gleich zur Grenze gefahren waren. Die vierzig Versammelten hatten beisammengesessen und geschwiegen, weil die Ereignisse zu groß waren, um kommentiert zu werden.

Ein andermal waren immerhin dreißig Personen erschienen, als Arne plante, die Dorfstraße mit gepflasterten Bürgersteigen versehen zu lassen. Alle Anwesenden besaßen Grundstücke, die an die Dorfstraße grenzten, weshalb sie an den Kosten beteiligt werden sollten. Der Protest nahm derart massive Formen an, dass Arne die Idee fallen ließ und man bis heute am Straßenrand spazieren ging.

Zu Gemeinderatssitzungen erschien niemand außer den Gemeinderäten und Kron. Zu sechst oder siebt saß man im Gastraum am Skattisch und ging die Tagesordnungspunkte durch. Reparatur der Straßenbeleuchtung in Beutel, Ehrung von Blutspendern, Baugesuche, Aussprache mit der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit – das war dann Kron.

Heute jedoch brummte der Saal wie ein Bienenkorb. Alle hundert Stühle waren besetzt, weitere Personen standen an den Wänden. Eine summende Ansammlung in gedeckten Farben, hier und da bunt betupft von den Kleidern der Zugezogenen, für die der Sommer keine Jahreszeit, sondern eine Modeerscheinung darstellte. Die saubere Luft war der Atem des 21. Jahrhunderts. Dass ausgerechnet im Märkischen Landmann eines Tages ein Rauchverbot gelten würde, hätte sich vor ein paar Jahren niemand träumen lassen. In Unterleuten galten Rauchen und Trinken nicht als Laster, sondern als Hobby. Eine Frage des Geldes, nicht der Gesundheit.

Kron kannte jedes einzelne Gesicht, aber vor allem kannte er das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar strukturiert wie ein Spinnennetz. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft. Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit. Kron besaß ein gutes Gedächtnis, was eher Strafe als Segen war. Ein gutes Gedächtnis arbeitete als ständiger Protokollant der Ungerechtigkeit. Es machte das Staunen unmöglich und lehrte zu schweigen. Niemand mochte Menschen, die sich alles merkten. Kron, der Chronist. Einer, der sich weigerte zu vergessen, und dafür mit Einsamkeit bezahlte.

Um Überblick zu gewinnen, war er an der Tür stehen geblieben. Der Zeitpunkt seines Eintreffens war gut gewählt. Alle saßen schon, obwohl der offizielle Teil noch nicht begonnen hatte. Silke und Sabine trugen Teller mit Schnitzel und Pommes durch die Reihen, lächelnd beim Gedanken daran, dass sie gerade den Umsatz ihres Lebens machten. Auf der Bühne des Tanzsaals stand ein Tisch, an dem Bürgermeister Arne saß und in seinen Unterlagen blätterte, wobei er die neugierigen Blicke der Wartenden auf sich zog. Der Andrang war seiner Geheimniskrämerei geschuldet. Auf allen Kanälen hatte Kron versucht, den Grund für die Dorfversammlung herauszufinden. Niemand schien etwas zu wissen. Wenn Arne so striktes Stillschweigen bewahrte, musste es sich um eine wichtige Sache handeln.

Lorenz, der Lastwagenfahrer. Thomas, der Bäcker. Agatha, die Architektin, und ihr Mann Jens, der Bauarbeiter. Daniel, René, Timmy und Mark, die ebenfalls Bauarbeiter waren, und Steffen, dem die Baufirma gehörte. Christina, die Kindergärtnerin. Ihre dralle zehnjährige Tochter Nadine. Hugo, der Dachdecker, und sein Sohn Knut, ebenfalls Dachdecker. Lena, die kochte. Sigrid, die putzte. Gerhard, der Vogelschützer, den Kron lustig fand, weil er Gombrowski mit sinnlosen Naturschutzvorschriften auf die Nerven ging. Gerhards Frau Jule, die ihr Baby auf dem Schoß hielt. Tonio, der junge Anwalt, schwul und aus Sachsen. Für Wolfgang, Heinz, Norbert, Jakob, Ulrich und Björn, alle über 70 und LPG-Veteranen wie Kron, hob er zum Gruß die Hand. Oma Rüdiger, mit dem halben Dorf verwandt, und Opa Margot, mit dem sie in wilder Ehe lebte, händchenhaltend in der ersten Reihe.

Am rechten Rand saß Krons Tochter Kathrin neben ihrem nichtsnutzigen Ehemann Wolfi und dem fünfjährigen Krönchen. Schon ertönte die Stimme des kleinen Mädchens als heller Ruf quer durch den Saal: »Opa!« Kron spürte, wie sich sein Gesicht in ein großes Lächeln verwandelte, während er der Kleinen zurückwinkte.

Odile, die Yogalehrerin. Ihr Mann Jochen, der im Internet arbeitete. Ken, der Hundetrainer. Seine Freundin Claudia, die malte. Richard, der Gärtner. Der andere Richard, Schornsteinfeger. Frau Hailbronner, ehemalige Bundestagsabgeordnete im Ruhestand, von der niemand wusste, was sie nach Unterleuten verschlagen hatte, und die angeblich mit einem pensionierten Oberstudienrat verheiratet war, den man niemals sah. Karl, der Indianer, trug zur Feier des Tages dreifarbige Streifen auf den Wangen und ein Band um den Kopf, in dem die Feder eines Rotmilans steckte. Auch Karls neue Nachbarin war zugegen, eine hübsche Frau mit kräftigen Armen und Beinen, auffällig in ihrem knallblauen Kleid. Kron ermahnte sich, demnächst einmal bei den Neuen vorbeizuschauen. Daneben ihr Freund, der das Haar zu lang trug und garantiert irgendetwas mit Computern machte.

Verena, Ingo, Patricia, Olaf, Mirko, Angela, Lutz und Betty, die bei Gombrowski arbeiteten. Und Gombrowski selbst, der fette alte Hund. Auch Elena war anwesend, auf Gombrowskis anderer Seite, in sich gekehrt wie immer.

Kathrin pflegte zu behaupten, ihr Vater sei ein Menschenfeind. Aber Kron hatte nichts gegen die Leute, Gombrowski einmal ausgenommen. Es stimmte nicht, dass er Menschen dafür verurteilte, wie sie ihre Leben führten. Schließlich war es der Lebenszeit egal, womit man sie verbrachte. Selbst als seine Frau ihn und die kleine Kathrin verlassen hatte, um ihren schönen Dickkopf in den Westen zu schmuggeln, hatte er sie nicht verurteilt. Dabei hatte sie nicht nur ihre Familie, sondern auch den Sozialismus verraten.

Wenn sie Streit hatten, schimpfte Kathrin ihn einen unbelehrbaren Kommunisten, wobei sie sich ungeheuer modern vorkam. Sie glaubte tatsächlich, wer E-Mails schreiben konnte, im Urlaub nach Thailand fuhr und den entfesselten Kapitalismus als alternativlos betrachtete, habe das 21. Jahrhundert verstanden. Seit Beginn der Finanzkrise, die vollumfänglich Krons jahrelangen Ankündigungen entsprach, gab sich Kathrin ein wenig kleinlauter, ging aber noch lange nicht so weit, ihrem alten Vater recht zu geben. Stattdessen warf sie ihm vor, dass er zwanzig Jahre nach der Wende noch immer nicht begriffen habe, was Freiheit sei.

Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt. Was Leute wie Kathrin für Individualismus hielten, entsprach in Wahrheit einem Zustand von Unterwürfigkeit. Auf ihren Arbeitsstellen saßen die Leute unter Überwachungskameras, ließen sich die Zigarettenpausen verbieten und machten Überstunden in der Hoffnung, von der nächsten Kündigungswelle verschont zu bleiben. In den Schulen, die jetzt »Lernumgebungen« hießen, wurde nicht mehr unterrichtet, sondern Projekte entwickelt, Lernprozesse evaluiert und in Kernkompetenzen investiert. Die Krankenhäuser hatten sich in Gesundheitsfabriken verwandelt, in denen sich eine industrialisierte Medizin nicht um den Patienten, sondern um die Bettenrendite kümmerte, was Kathrin, die im Neuruppiner Krankenhaus als Pathologin arbeitete, selbst am besten wusste.

Vor einigen Wochen hatte Kron seine Enkelin im Kindergarten abgeholt und zufällig mitgehört, wie die Betreuerin einer jungen Mutter erklärte, dass die »Bastelkompetenzen« ihres kleinen Sohnes leider nicht der Norm entsprächen. Es war nur Krönchens strahlenden Augen zu verdanken gewesen, dass Kron nicht handgreiflich geworden war.

Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, was passierte. In einer kleinen Gemeinschaft wie Unterleuten war es besonders offensichtlich. Die neoliberale Ideologie, getarnt als Mischung aus Pragmatismus und Leistungsgerechtigkeit, eroberte die letzten Winkel des gesellschaftlichen Lebens. Zu Zeiten der Stasi wurde weniger beobachtet, abgehört, gedroht und gefeuert als heute, und trotzdem nannte sich das neue System Demokratie. Stück für Stück war der soziale Zusammenhalt erodiert. Was sich heute im Landmann versammelt hatte, war kein Dorf mehr, sondern eine Zweckgemeinschaft von Einzelkämpfern. Wenn Kron darauf hinwies, nannte man ihn einen hoffnungslosen Ostalgiker, und seine Tochter Kathrin versank vor Scham im Boden.

Niemals würde Kron verstehen, wie die Leute in der Lage waren, mit harter Arbeit kaum das Existenzminimum zu erreichen und dennoch zu glauben, dass sie in der besten aller Welten lebten. Dass die meisten Unterleutner so zufrieden wirkten, hinterließ ihn fassungslos. Sie waren wie Gombrowskis Kühe, die auch nicht mehr gemolken und geschlachtet, sondern verwaltet wurden. Seit Neuestem trugen die Tiere Transponder um den Hals und trotteten freiwillig von Futtertrog über Melkmaschine zu Massagebürsten, Liegeplätzen und Bolzenschussgerät. So sah sie aus, die schöne neue Welt, die sich auf Dorf und Republik ausgedehnt hatte. Genormt, bespaßt und verwaltet – eine Bürgerherde. Trotzdem machte Kron, anders als Kathrin glaubte, diese Entwicklung niemandem zum Vorwurf. Es gab nur zwei Dinge, die er von Menschen verlangte: Gemeinschaftssinn und Aufrichtigkeit. Das hatte nichts mit gestern oder heute zu tun. Auch nichts mit Kommunismus oder Kapitalismus. Das war überhaupt keine Frage der Gesellschaftsform, sondern eine von Anstand und Vernunft.

Nach reiflicher Überlegung entschied sich Kron für einen bestimmten Platz und setzte sich in Bewegung. Bei jedem Schritt stieß er die Krücke laut aufs Parkett wie den Stock eines Zeremonienmeisters, der wichtigen Besuch ankündigte. Die Köpfe im Saal wandten sich um und fassten einen gemeinsamen Gedanken: Da kommt Kron.

Der Stuhl, auf dem er sitzen wollte, befand sich auf der anderen Seite des Saals. Von dort aus hätte er einen guten Blick nach vorn und könnte gleichzeitig die Eingangstür im Auge behalten. Momentan saß dort Knut, der junge Dachdecker. Es würde reichen, ihm mit der Krücke auf die Schulter zu klopfen, damit er den Platz räumte.

Statt außen um den Raum herumzugehen, wählte Kron den Weg durch die Masse der Sitzenden. Stühle wurden gerückt, Knie beiseitegeklappt, manch einer stand auf, um ihn vorbeizulassen. Kron grüßte in alle Richtungen. Für die Einheimischen hatte er ein Schulterklopfen, für Zugezogene ein Nicken. Nicht wenige der Anwesenden hatte er einst aus dem Kinderwagen gehoben und durch die Luft geschwenkt, als sie noch sabbernde Babys waren. Im Kindergarten hatten sie wartend auf winzigen Stühlchen gesessen, während er an der Reihe entlanggegangen war, um seine Kathrin abzuholen. Kron war der erste und bislang einzige alleinerziehende Vater in Unterleuten. Über Kathrin hatte er die anderen Dorfkinder kennengelernt. Er wusste bis heute, ob sie früh oder spät mit dem Laufen und Sprechen begonnen hatten, ob sie eher zur Sorte Schläft-Nicht oder zur Sorte Isst-Nicht gehörten, ob sie viel krank waren, viel weinten, Angst vor Hunden oder vor Spinnen hatten. Jetzt saßen sie hier, erwachsene Männer und Frauen auf Stühlen in Normalgröße, und es war schwer zu glauben, dass sie allesamt einmal geliebte Babys gewesen waren. Heute sahen sie aus wie die Eltern jener Kleinkinder, an die sich Kron erinnerte.

Das Vergehen der Zeit macht uns zu unseren eigenen Vätern und Müttern, dachte er. Alle Gesichter enthielten einen deutlichen Abdruck des früheren Kindes. Bei manchen schien das Erwachsenengesicht nur wie ein dünner Schleier vor der Kindermiene zu hängen. Wenn man wissen wollte, was ein Mensch dachte und fühlte, musste man sich nur vorstellen, wie er als Kind ausgesehen hatte, und schon trat sein ganzes Innenleben zutage.

Gombrowski verrenkte sich auf seinem Stuhl, um Krons Weg durch den Saal mit Blicken zu begleiten, auf eine Gelegenheit wartend, ihn demonstrativ zu grüßen. Gombrowski war sieben Jahre jünger, sah aber, wie Kron fand, wesentlich älter aus. Kron musste nur einen Schalter im Kopf umlegen, dann erblickte er in der fetten alten Hundevisage den pausbäckigen Jungen von früher, ein verwöhntes Großgrundbesitzerkind, im Glauben aufgewachsen, dass die Welt allein zu seinem persönlichen Vergnügen erschaffen worden war. An dieser Idee hatte sich bis heute nichts geändert.

Als es dem alten Hund gelang, Krons Blick zu fangen, zelebrierte er ein spöttisch-respektvolles Nicken und zog gleichzeitig die Augenbrauen hoch, als wollte er sagen: Nur weiter so, Kron, zeig den Leuten, was für ein Dreckskerl du bist. Die selbstgefällige Visage bereitete Kron Übelkeit.

Es war nicht so, dass er sich nicht geschämt hätte, auch wenn Hilde ein völlig überflüssiges Theater veranstaltet hatte. Vor zwanzig Jahren hatte sie dabei geholfen, das halbe Dorf zu enteignen, und heute war sie nicht einmal bereit, einem unglücklichen Kind ein wertloses Kätzchen zu überlassen. Trotzdem widersprach es Krons Prinzipien, sich an Schwächeren zu vergreifen. Hilde war seit Jahr und Tag Gombrowskis Komplizin, aber sie war immer noch eine Frau.

Sogar eine, die Kron in früheren Zeiten gut gefallen hatte. Damals auf den Fluren der LPG hatte er jede Gelegenheit genutzt, im Büro der Buchhalterin vorbeizuschauen, einen Kaffee zu trinken und sich an ihren wasserblauen Augen zu freuen. Ein Besuch bei Hilde ist wie zwei Tage Urlaub an der Ostsee, pflegte er zu sagen, und er hatte den Eindruck, dass ihr seine temperamentvollen Komplimente gefielen. Trotzdem ging sie in der Mittagspause in den Getreidespeicher, um sich von Gombrowski bespringen zu lassen.

Ausgerechnet Gombrowski, der Frau und Kind zu Hause hatte, während Kron mit der kleinen Kathrin allein blieb. Eines Tages heiratete Hilde überraschend den ruhigen Erik aus der Erntebrigade. Als nicht viel später Betty zur Welt kam, ging Kron wie alle anderen davon aus, dass Gombrowski seine Buchhalterin geschwängert und dem werdenden Kind einen Vater gekauft hatte. Trotzdem respektierte Kron die Verbindung und stellte seine Annäherungsversuche ein. Dass ihm ausgerechnet bei ihr gestern der Stock ausgerutscht war, mochte daran liegen, dass sie ihn noch immer leichter als andere aus der Fassung brachte.

Er erreichte den Stuhl, den er sich ausgesucht hatte, und klopfte mit der Krücke gegen die Lehne. Sofort sprang Knut auf und vollführte eine einladende Geste, die ein wenig übertrieben wirkte, wie die Gebärde eines Kabarettisten. Im Grunde glich das Dorf einem Tanzbären, dachte Kron, gut zu handhaben für jeden, der mit Zuckerbrot und Peitsche umzugehen wusste. Er legte die Krücke auf den Boden und streckte das steife Bein.

Die Lautsprecher krachten, ein lautes Räuspern ertönte und ging in ohrenbetäubendes Pfeifen über. Ungeschickt fingerte Arne am Mikrofon herum, bis Jochen aufsprang und das Gerät für den Bürgermeister justierte.

Das Gemurmel ebbte ab, als die Saaltür aufging und ein junger Mann in Jeans und Sakko erschien. Unter dem Arm trug er einen Beamer. Er ging an der Wand entlang nach vorn, wechselte ein paar Worte mit Arne, der am Tisch sitzen blieb, stellte den Beamer auf den Tisch und entnahm seiner Umhängetasche einen Laptop, den er mittels weniger Handgriffe mit dem Beamer verband. Kron konzentrierte sich auf das Gesicht des Unbekannten. Wenn er das Kind hinter dem Erwachsenen aufrief, kam ein bebrillter Bengel heraus, der wenig Freunde besaß und beim Melden mit den Fingern schnippte.

»Herrschaften«, sagte Arne, »schön, dass ihr alle da seid. Ich dachte immer, ihr kommt zu den Versammlungen, wenn ich möglichst genau erkläre, worum es geht. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr den Arsch nur hochkriegt, wenn ihr keine Ahnung habt, hätte ich mir in den vergangenen Jahren viel Arbeit sparen können.«

»Komm zur Sache, Arne!«, rief Lorenz, der es gern laut hatte. Daniel, Mark und Timmy lachten, Steffen brachte sie zur Ruhe.

»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. Nur so viel von meiner Seite: Ich glaube, dass wir heute Abend von einer interessanten Sache hören, die uns allen nützen kann. Das ist Herr Pilz.«

Nadine kicherte.

»Er arbeitet für die Vento Direct GmbH und ist extra aus Freudenstadt zu uns gekommen.«

»Hat er denn auch ein bisschen Freude mitgebracht?«, fragte Thomas und errang den ersten Punktsieg im Wettkampf um den dümmsten Zwischenruf des Abends.

»Benehmt euch«, sagte Arne. »Bitte, Herr Pilz.«

Pilz nahm von Arne das Mikro entgegen, zog ein paar Meter Kabel zu sich heran und trat neben den Tisch, an dem Arne in seiner typischen brütenden Haltung hockte. Vento, Vento, Vento, dachte Kron. Er war sicher, den Namen der Firma noch nie gehört zu haben.

»Herzlichen Dank an den Bürgermeister für die einleitenden Worte.«

Pilz schob sich die Brille ein Stück höher auf die Nase, wobei er der Versammlung versehentlich den Mittelfinger zeigte. Ohne Zweifel gehörte er zu jenen gehirngewaschenen Sklaven der Leistungsgesellschaft, die »Lösungen« sagten, wenn sie Möbel meinten, und zu einer internationalen Supermarktkette gingen, um dort Waren aus der Region zu kaufen. Kron wusste, dass der Junge versuchen würde, seine Zuhörer »abzuholen«, um »auf Augenhöhe« mit ihnen zu reden. Ein Typ wie Pilz war noch nicht mal Verkäufer, er war selbst ein Produkt.

»Ganz schön warm heute«, sagte Pilz und fuhr sich demonstrativ mit dem Finger in den Hemdkragen, der bis oben zugeknöpft war, obwohl er keine Krawatte trug. »Bei solchen Temperaturen kann man sich vorstellen, was Klimakatastrophe bedeutet.«

»Bessere Ernten und weniger Heizkosten«, sagte Kron, und der Saal begann bis in die letzte Reihe zu lachen. Nur der Vogelschützer schüttelte missbilligend den Kopf und sagte etwas zu seiner rothaarigen Frau. Zufrieden mit dem Erfolg seines Einwurfs dehnte Kron die Schultern und unterdrückte den Impuls, sich nach Gombrowski umzuschauen. Der alte Hund würde sich auch so daran erinnert fühlen, dass er vielleicht das Geld, nicht aber die Leute hinter sich hatte.

Pilz wartete in aller Ruhe, bis die Heiterkeit im Saal verebbte. Längst hatte er den Urheber des Einwurfs ausfindig gemacht und signalisierte durch freundliches Zwinkern, dass er plante, mit Kron in einen Dialog zu treten. Die Art, wie er ohne jedes Schwanken vor dem Publikum stand, verriet Übung.

»Aber nicht nur das, Herr …?«

Jetzt schaute er Kron direkt an und wartete darauf, dass dieser seinen Namen sagen möge. Aber Kron dachte nicht daran. Stattdessen wartete er grinsend, bis das Pilz-Manöver ins Leere gelaufen war. Der Saal schwieg. Unverdrossen nahm Pilz den Faden wieder auf.

»Der Klimawandel bedroht uns mit empfindlichen Gefahren. Ansteigen des Meeresspiegels, Dürreperioden, Stürme. Das wissen Sie aus den Medien. Die Vento Direct hat es sich zur Aufgabe gesetzt, Lösungen anzubieten.«

Da waren sie also, die Lösungen. Damit kannte Kron sich aus. Immerhin steckten jeden Morgen zwei überregionale Tageszeitungen in seinem Briefkasten. Früher hatte er die Blätter als Reportagen aus dem Herzen des Feindes gelesen, heute las er sie als Satiremagazine. Er wusste, wie man mit Schweinegrippe Pharmaprodukte verkaufte, mit Terrorismus Wirtschaftskriege legitimierte und mit Klimakonferenzen den heimischen Markt gegen Billigimporte schützte. Er beherrschte die dazu passende Rhetorik. Auf einer Pressekonferenz hätte er jeden beliebigen Schwachsinn erklären können, zum Beispiel, warum trotz Bankenkrise eine Regulierung der globalisierten Märkte leider nicht möglich sei. Er wusste, wann man »alternativlos« und »Sachzwang« sagen musste, nämlich in jedem zweiten Satz. Er kannte die Argumentationsfiguren, mit denen Verantwortung von den Kommunen auf die Länder, von der Landesebene auf die Bundesregierung und von der Bundesregierung nach Brüssel abgeschoben wurde. Soziale Ungerechtigkeiten ließen sich bestens legitimieren, indem man darauf verwies, dass Wirtschaft und Wohlstand andernfalls nach China abwandern würden.

Außer dem Lesen von überregionalen Witzblättern sah er jeden Abend fern, am liebsten öffentlich-rechtlich. Erst die Nachrichten und danach die einschlägigen Selbstentlarvungsshows mit Plasberg, Will, Beckmann, Maischberger, Illner oder Lanz. Die industrialisierte Zurschaustellung von Inkompetenz erheiterte ihn. Im Spätkapitalismus gab es keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch ein Gesellschaftsspiel, dessen Ziel darin bestand, die kläglichen Überreste von Politik möglichst gekonnt in Unterhaltungswert umzusetzen. Da die Politiker nach eigenem Verständnis ohnehin nichts mehr zu entscheiden hatten, verwandelten sie sich in Politikdarsteller, deren Hauptaufgabe in Emotionstheater, Überzeugungsinszenierung und Entscheidungssimulation bestand. In gewisser Weise war das Kunst. Es gab Empörungsarien, Schuldzuweisungssinfonien und Forderungsballaden. Bequem saß Kron im Sessel, wie es das System von ihm erwartete, und schaute Kanzlerkandidaten, Oppositionsführern und Regierungssprechern beim Rüberkommen zu. Alle schauten zu. Der Konsumbürger schaute den Journalisten zu, wie sie den Politikern dabei zuschauten, wie diese der Wirtschaft beim Wirtschaften und den Katastrophen beim Eintreten zuschauten. Alles ließ sich in den Zyklus des Zuschauens einspeisen, Eurokrisen, Erdbeben, explodierende Bohrinseln. Bei der Suche nach nicht vorhandenen, weil in Wahrheit nicht wirklich gewollten »Lösungen« ging es ausschließlich um das Erzeugen von Unterhaltungswert. Kron durchschaute das Spiel in schmerzhafter Klarheit. Als Kind hatte er Krieg und Nachkriegszeit, als Erwachsener die DDR und als alter Mann den entfesselten Raubtierkapitalismus erlebt. Er hatte genug gesehen, um die Welt als einen Ort zu begreifen, an dem Veränderung vor allem darin bestand, die Ungeheuerlichkeit in immer neue bunte Gewänder zu kleiden. Krons bequemer Sessel stand auf der Meta-Ebene. Er schaute zu und verteilte A- und B-Noten. Pilz schlug sich gut. Er war dabei, sich eine hohe Punktzahl auf der Verlogenheitsskala zu sichern.

»Die Europäische Union verpflichtet ihre Mitgliedstaaten zur Förderung erneuerbarer Energien«, erklärte Pilz. »Das Bundeswirtschaftsministerium will den Anteil erneuerbarer Energien in den nächsten Jahren auf 33 Prozent des Gesamtverbrauchs steigern. Brandenburg beansprucht eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Dazu hat sich Ihr Ministerpräsident ausdrücklich bekannt.«

Pilz breitete die Arme aus und wartete, ob sich irgendjemand dem Stolz auf Bundesland, Vorreiterrolle und Ministerpräsident hingeben wollte. Aber das Erneuerbare-Energien-Mantra hatte narkotisierende Wirkung entfaltet, der Saal wirkte schläfrig. Pilz schaltete den Beamer an. Auf der Wand erschien ein Lichtviereck mit einem Schriftzug in der Mitte:

»MINISTERPRÄSIDENT: AUF JEDEN FALL MEHR ERNEUERBARE ENERGIEN.«

Nun lag auf der Hand, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Krons Gehirn lief heiß beim Versuch, die verschiedenen Informationsbruchstücke zu einem stimmigen Bild zu arrangieren. Arne. Gombrowski. Erneuerbare Energien, Pilz und Vento Direct. Arne saß am Tisch und blätterte in seinen Unterlagen wie ein Lehrer, der dem Referat eines begabten Schülers beiwohnt. Gombrowskis Hundeblick hing arglos an Pilz, aber das konnte Tarnung sein. Nur der Vogelschützer war in offensichtlicher Aufregung, er rieb sich die Stirn, während seine Frau begonnen hatte, das Baby zu stillen.

Die aktuellen Liegenschaftspläne hatte Kron weitgehend im Kopf. Er versuchte zu schlussfolgern, um welches Gebiet es sich handeln würde. Der Wiesengrund. Die Plausitzer Höhe. Die Unterleutner Heide. Kron fixierte Arne, um ihn bei einem heimlichen Blickwechsel mit Gombrowski zu ertappen. Nichts. Anscheinend nahmen sie die Sache so ernst, dass sogar Arne es schaffte, sich professionell zu verhalten.

»So«, sagte Pilz, »jetzt wollen Sie bestimmt genau wissen, worum es geht.«

Niemand reagierte. Die Erwähnung des Ministerpräsidenten hatte die kollektive Narkose vertieft. Pilz ließ die Projektion an der Wand wechseln. Das Logo der Vento Direct erschien, ein Kreis mit einem stilisierten Rotor in der Mitte, so schlicht und einleuchtend, dass es auch einem totalitären Staat als Symbol hätte dienen können. Darunter die Webadresse: www.ventodirect.de. Nach wenigen Sekunden, in denen Pilz sein Markenzeichen wirken ließ, erschien die Panorama-Aufnahme einer Brandenburger Landschaft, Weizenfelder im Sonnenuntergang. Am Horizont die imposanten Silhouetten von sieben Windkraftanlagen, die Rotorblätter ausgebreitet wie steife Schwingen.

Für ein paar Augenblicke herrschte absolute Stille. Dann erhob sich Unruhe im Saal. Als Kron sich umdrehte, um die Reaktionen der Anwesenden zu beobachten, erstarrte er plötzlich wie vom Donner gerührt. Zwei Reihen hinter ihm, direkt neben der Neuen im blauen Kleid, saß ein Mann, der nicht nach Unterleuten gehörte. Fremd, aber nicht unbekannt. Unfassbar, dass Kron ihn beim Eintreten übersehen hatte. Vielleicht hatte sich der Kerl geduckt. Kron wusste genau, woher er die kugelköpfige Visage kannte. Das war der Schnösel von der Versteigerung. Jener Investor, der für einen horrenden Betrag die halbe Region gekauft hatte und seitdem die Leute mit seiner Sturheit terrorisierte. Er verkaufte nicht, tauschte nicht und hob die Pachtpreise bei jeder anstehenden Vertragsverlängerung um mindestens zehn Prozent an. Heuschrecke eben.

Kron blickte zwischen Gombrowski und dem Schnösel hin und her. Beide stellten überraschte, mäßig interessierte Mienen zur Schau und schienen sich gegenseitig nicht zu kennen. Krons Kopfmaschine arbeitete auf Hochtouren. Gleichzeitig ließ aufkommende Wut die Handflächen prickeln. Hier lief ein Ding. Ein ganz großes Ding.



7 Fließ-Weiland


»Nur über meine Leiche«, flüsterte Gerhard.

So nervös hatte Jule ihn schon lange nicht erlebt. Er drehte den Kopf hierhin und dorthin, als erwartete er, im nächsten Moment von allen Seiten angegriffen zu werden. Zwischendurch machte er Notizen, die dann wochenlang auf seinem Schreibtisch herumliegen würden, als müssten sie ein bestimmtes Alter erreichen, um weggeworfen zu werden.

»Was regst du dich auf«, flüsterte Jule. »Erneuerbare Energien findest du doch gut.«

Entsetzt schaute Gerhard sie an, ließ den Stift fallen und hob ihn wieder auf.

»Aber doch nicht im Naturschutzgebiet!«, sagte er ein wenig zu laut.

Um sie herum wurde Zustimmung gemurmelt.

»Wieso im Naturschutzgebiet?«, fragte Jule leise.

»Hörst du überhaupt zu?«

Da hatte er sie ertappt. In letzter Zeit fiel es ihr manchmal schwer, sich auf die Außenwelt zu konzentrieren. Seit Sophie auf der Welt war, schien für das Baby und sie ein besonderer Ort zu existieren, den niemand sonst betreten konnte. Als liefe eine unsichtbare Mauer um sie beide herum. Deshalb gab Jule ihr Baby so ungern aus der Hand – Sophie durfte nicht auf die andere Seite der Mauer geraten. Schließlich diente die Mauer dem Schutz vor Feinden, und feindlich war alles, was sich außerhalb der Mauer befand. Auch Gerhard. Für ihn tat es Jule besonders leid. Er bemühte sich nach Kräften, ein guter Vater zu sein, und machte trotzdem alles falsch.

Vor Sophies Geburt hatten sie lang und breit darüber gesprochen, was für eine Sorte Eltern sie sein wollten. Jule hatte geschworen, niemals eine dieser hysterischen Mütter zu werden, die ihren Kindern auf Berliner Spielplätzen mit Feuchttüchern und Vollkornkeksen hinterherrannten. Gerhard wollte ein moderner Vater sein, der sich im Restaurant lautstark darüber beschwerte, dass der Wickeltisch auf der Frauentoilette stand. Arbeitsteilung und Kommunikation sollten über allem stehen. »Erst Paar, dann Eltern« lautete ihr gemeinsames Motto. Schließlich gab es nichts Schlimmeres als überbesorgte Eltern, die nicht begriffen, dass Fortpflanzung seit Tausenden von Jahren ohne Ratgeberliteratur, Holzspielzeug und lactosefreie Milch stattfand. Gerhard und Jule hatten nicht vor, ihr Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Natürlich würde ein Kind manches ändern, aber das war kein Grund für permanenten Ausnahmezustand. Glückliche Eltern hatten glückliche Kinder, weshalb man bei allem Stress niemals vergessen durfte, auf sich selbst zu achten. Das nötige Babyzubehör bestellten sie im Internet; danach fühlten sie sich für alles gerüstet.

Dann kam Sophie. Die ersten Tage nach der Geburt stellten einen surrealen Film dar, in dem es weder Sprache noch Tageszeiten gab, nur unklares Licht und klagende Laute. Sie irrten durch die Trümmer ihrer ausgiebigen Vorbereitung, zwei kopflose Erwachsene auf der Suche nach Schnullern, Windeln, Feuchttüchern, Söckchen. Hoben Gegenstände auf und ließen sie wieder fallen. Fingen alles halb an und vergaßen gleich wieder, was sie vorgehabt hatten. Im Bad stapelte sich die Schmutzwäsche, an der Haustür der Müll. Sophie schrie viel und war ziemlich hässlich. Ob man sie auf dem Arm trug oder ins Bettchen legte, sie streichelte, massierte, ihr etwas vorsang oder ein Kuscheltier vor ihrem Gesicht tanzen ließ – sie schien den Unterschied kaum zu bemerken. Von magischen Momenten oder überwältigenden Glücksgefühlen keine Spur.

Als sich das Chaos ein wenig lichtete, saß Jule irgendwann mit ihrer Tochter auf der Couch und erlebte einen Augenblick der Stille, ein kurzes Luftholen inmitten der Hektik. Sie hielt Sophie im Arm und betrachtete sie eingehend. Das Mädchen schaute zurück, mit verschwommenem Blick, der noch Mühe hatte, die Welt scharf zu stellen. Die Babystirn gerunzelt, die Augen zu Schlitzen verengt, den Mund zu einer misstrauischen Kirsche zusammengezogen. Das kleine Gesicht ein einziges Sinnbild der Skepsis. Plötzlich begriff Jule: Das Kind fand die Mutter genauso verdächtig wie die Mutter das Kind.

Da passierte es. Eine Welle schlug über ihr zusammen. Oder vielleicht war es ein Stromstoß, der sie durchfuhr. Jule lachte und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie saß auf dem Sofa und konnte die Augen nicht mehr von ihrer Tochter abwenden. Sophie war gar nicht hässlich. Sie war eindeutig das schönste Kind im Universum.

So blieb es. Jedes Mal, wenn sie Sophie anblickte, wiederholte sich das Welle-Strom-Lachen-Heulen-Programm. Jule konnte Schmerz und Glück nicht mehr auseinanderhalten, und diese Unfähigkeit machte sie zur Außenseiterin. Sie begriff die Nichtigkeiten nicht mehr, mit denen sich andere Menschen beschäftigten. Die Welt bestand nur noch aus Leuten, die nicht in der Lage waren, Sophie angemessen zu behandeln. Dazu gehörte auch Gerhard. Er hielt Sophie nicht richtig und machte beim Wickeln die falschen Handgriffe. Gelegentlich erinnerte sich Jule daran, was sie vor der Geburt über Mütter gesagt hatte, die wie Affen an ihren Babys hingen. Das galt immer noch. Aber es waren eben andere Babys und nicht Sophie.

»Ich fasse es nicht, was hier passiert.«

In der Aufregung griff Gerhard nach ihrem Arm. Seine Hand war hart und kalt wie eine Zange. Sofort stellte sich Angst ein, er könnte Sophie aufwecken, die auf Jules Schoß selig schlief. Anscheinend fühlte sich das Mädchen in einer nach Bratenfett riechenden Menschenmenge wohler als in ihrem von brennendem Gummi verpesteten Zuhause. Jule musste sich bezwingen, um Gerhards Hand nicht abzuschütteln. Sie suchte nach ein paar zustimmenden Worten für ihn. Bestimmt hatte er recht mit seiner Fassungslosigkeit. Er hatte meistens recht bei der Einschätzung von Menschen und Situationen. Aber ihr fiel nichts ein. Jule war einfach nicht in der Lage, sich für ihn zu interessieren, schlimmer noch, sie wünschte insgeheim, er und seine Aufregung mögen sich in Luft auflösen.

Jule wusste, dass ihre Hormone verrückt spielten und dass sie außerdem unter Schlafmangel litt. Sie hatte nicht vergessen, warum sie Gerhard geheiratet hatte. Wie alle ihre Freundinnen und Kommilitoninnen hatte sie jahrelang Pech mit Männern gehabt und es kaum bemerkt, weil Pech mit Männern den Normalfall darstellte. Für emanzipierte junge Frauen gab es einfach keine männlichen Gegenstücke.

Im ICE konnte man ältere Ehepaare beobachten, die stets zu zweit an einem Vierertisch saßen. Während die Frau ein Sudoku löste, las der Mann die Frankfurter Allgemeine Zeitung, wobei er gelegentlich durch kurzes Auflachen seine Verachtung für das Gelesene zum Ausdruck brachte. Irgendwann rief er: »Marianne, hör dir das an«, und las einige Zeilen aus der Zeitung vor. Darauf folgte eine ausführliche Erklärung, welche gravierenden Denkfehler der strohdumme Autor begehe und warum die Zeitung heutzutage das Papier nicht mehr wert sei, auf dem sie gedruckt wurde. Marianne sagte »Du hast recht« und förderte eine Tupperdose mit Salamibroten zutage. Der Mann empörte sich lautstark über die kleinbürgerliche Angewohnheit, auf jede noch so kurze Reise ein Proviantpaket mitzunehmen, aß dann hungrig von den Broten und nahm noch ein hart gekochtes Ei dazu.

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