Sie hatte sich den Vortrag in allen Einzelheiten zurechtgelegt, und sie begann mit dem Ergebnis:

»Ich bin raus. Beim Protest gegen die Windkraftanlagen. Ich mache nicht mehr mit.«

Mit Feigheit, fügte sie schnell hinzu, habe das nichts zu tun. An der Universität sei sie stets die Erste gewesen, die bereit war, unbequeme Meinungen zu äußern und eine gerechte Sache bis ganz nach oben zu verfechten, zum Beispiel als sie beim Streit um die Neubesetzung des Lehrstuhls von Professor Schwan Position gegen den Dekan bezogen habe. Aber hier stehe nicht ihr eigenes Wohl, sondern das ihrer kleinen Tochter auf dem Spiel.

Krons Miene zeigte keinen Hauch von Verständnis. Jule wunderte sich, dass der Dorffunk so schlecht funktionierte, und entschied sich für eine kurze Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse. In knappen Sätzen erzählte sie, wie Sophie verschwunden sei, was sich letztlich »nur« als perfides Versteckspiel erwiesen habe – die Anführungszeichen für das »nur« zeichnete sie mit zwei Fingern in die Luft. Den ausgestandenen Schrecken würde sie nie wieder vergessen. Ihr bleibe in einer solchen Situation nichts als Kapitulation.

Kron glotzte immer noch wie ein Schaf. Auch von Sophie nahm er keine Notiz, obwohl Jule das Baby zur Verdeutlichung ihres Berichts bei jeder Erwähnung auf den Armen hüpfen ließ. Da Jule nie sicher gewesen war, ob sich Kron bei vollem Verstand befand, wunderte sie sich nicht über die Abwesenheit von Reaktionen und setzte ihren Vortrag wie geplant fort.

Aus zwei Gründen sei sie heute hierhergekommen. Zum einen wolle sie Kron versichern, dass sie nicht etwa die Seiten gewechselt habe. Sie wolle sich von nun an einfach auf neutralem Terrain bewegen. Bestimmt könne er sich daran erinnern, dass sie in der Nacht von Krönchens Entführung Gombrowski verteidigt habe. Was auch immer Kron darüber denke – sie wolle ganz offen sagen, dass sie nicht bereit sei, es mit ihm zu diskutieren. Ihr Mann mache sie seit Tagen mit der Gombrowski-Frage verrückt, während sie einfach nur auf ihr Recht poche, in keiner Mannschaft mitzuspielen.

Tatsächlich gab Gerhard keine Ruhe. Er litt an dem, was er ihr vorwarf: einer krankhaften Gombrowski-Obsession. Er verhielt sich wie ein Inquisitor, der sie dazu bringen wollte, dem falschen Glauben abzuschwören. Dabei glaubte Jule gar nichts. Vielleicht hatte sie sich in Gombrowski getäuscht, vielleicht war sie im Irrtum gewesen, als sie seine Unschuld beteuerte. Aber was spielte das für eine Rolle? Die Entwicklung der Dinge hing nicht davon ab, was Jule Fließ-Weiland darüber dachte. Fest stand, dass alles, worunter ihre Familie seit Wochen zu leiden hatte, nicht von Gombrowski, sondern von Schaller ausging. Wenn Gerhard kämpfen wollte, dann bitte nicht gegen Windmühlen, sondern gegen das Tier von nebenan. Genau das hatte sie ihm gesagt: Dass es allerhöchste Zeit für ihn werde, sich wie ein Mann zu verhalten und sein Zuhause zu verteidigen. Andernfalls würde Jule über kurz oder lang ihre Sachen packen und das Auto besteigen, um Sophie und sich selbst aus dieser Hölle herauszubringen. Gerhards Augen war anzusehen gewesen, dass ihn diese Ankündigung bis ins Mark erschreckte.

Kron guckte. Er wechselte die Motorsäge unter den anderen Arm und schien zu warten. Jule beschloss, möglichst schnell loszuwerden, was es noch zu sagen gab, und zu verschwinden.

»Außerdem bin ich hier, weil ich es meinem Mann versprochen habe.«

Gerhard machte sich Sorgen, was das Dorf und insbesondere Kron von ihm dachte, weil er die Baugenehmigung für Linda Franzen freigegeben und seine Einwände gegen den Windpark zurückgezogen hatte. Es hatte ihn gewaltige Überwindung gekostet, auf diese Weise gegen alle seine Prinzipien zu verstoßen. Jule wollte in aller Deutlichkeit klarstellen, dass er das nur ihretwegen getan hatte. Sie hatte ihn zum Einlenken gezwungen. Das sollte Kron ruhig jedem erzählen, der es hören wollte. Sie stand zu ihrer Entscheidung. Wenn Kron nun plante, aus Rache gegen sie zu Felde zu ziehen, sollte er das gleich sagen. Sie hoffte nur, dass er Ehrenmann genug war, um bei allem, was noch kam, ihre Tochter zu schonen.

»Schließlich wissen Sie ja selbst, was es bedeutet, ein kleines Mädchen zu lieben.«

Mit diesem Paukenschlag endete die Ansprache. Kron schaute sie an, als könne er sich beim besten Willen nicht zusammenreimen, worum es hier ging. Fast schien es, als sei er nicht einmal sicher, wer Jule war. Sein Blick blieb auf einen rätselhaften Punkt in Jules Gesicht gerichtet, irgendwo zwischen Nase und rechtem Ohr, so dass sie unwillkürlich an die Stelle fasste, als könnte dort etwas Unerwünschtes kleben.

Ob sie ein Glas Apfelwein aus eigener Pressung trinken wolle, fragte Kron.

Als Jule verneinte, ging er an ihr vorbei ins Haus und schloss die Tür.

Auf dem Weg zurück versuchte sie, sich wie ein Mensch zu fühlen, der alles richtig gemacht hatte. Ihr Rücken tat weh. Weil sie Kinderwagen nicht leiden konnte, schleppte sie Sophie noch immer im Tragetuch mit sich herum. Langsam wurde das Baby zu schwer dafür. Um nicht weiter über Kron nachdenken zu müssen – es war gut, ihr Statement abgegeben zu haben, ganz egal, ob Kron sie verstanden hatte –, stellte sie Überlegungen dazu an, was lächerlicher wäre, ein hochbeiniges Retro-Modell mit Speichenrädern oder einer von diesen Plastikpanzern mit Geländebereifung, die für eine Himalaya-Überquerung konstruiert schienen. Bis sie die Autos am Rand des Beutelwegs bemerkte. Zwei Männer in Overalls liefen hin und her. Eine winzige alte Frau rang auf dem Bürgersteig die Hände.

Jules erster Gedanke war: Sie verhaften ihn. Vor ihrem geistigen Auge erstand eine Szene wie aus dem Fernsehen: der bullige Gombrowski, die Arme auf den Rücken gedreht, das Gesicht gesenkt, während ihm ein Uniformierter die Hand auf den Kopf legt und ihn in einen Streifenwagen bugsiert.

Eine Welle gemischter Gefühle überflutete sie. Einerseits spürte sie den Wunsch, loszulaufen und zu rufen: Lasst ihn los, er hat nichts getan. Andererseits empfand sie Genugtuung. Sollte er wirklich das Tier von nebenan angewiesen haben, seine hässlichen Pranken an Sophie zu legen, dann war Gefängnis das Mindeste, was er verdiente.

Gleich darauf sah sie ein, dass es sich bei Gombrowskis Verhaftung nur um ein hitziges Gedankenspiel handelte. Bei Tageslicht betrachtet, war er nicht einmal anwesend. Zwar parkten die Fahrzeuge vor seinem Grundstück; es waren aber keine Polizeiwagen, sondern ein alter Mercedes Kombi in Grau sowie ein Kleintransporter mit vergitterter Hecktür. Die beiden fremden Männer trugen keine Uniformen, sondern blaue Arbeitsanzüge. Einer von ihnen, dünn und langhaarig wie ein Soziologiestudent, hatte eine Stange bei sich, an deren Ende sich eine Lederschlinge befand. Die winzige Alte gebärdete sich wie toll. Einerseits versuchte sie, den Kopf mit den Armen zu schützen, als könnte jeden Augenblick etwas Schweres aus dem blauen Himmel fallen; andererseits war sie bereit, sich auf den zweiten Arbeiter zu stürzen, der, geformt wie eine Birne, gerade mit einer Art Wäschekorb auf den Armen aus dem Haus kam. Nicht aus Gombrowskis großem Haus, sondern aus dem kleinen von Hilde Kessler.

Von Gerhard hatte Jule das eine oder andere über Hilde Kessler gehört, auch wenn sie die Frau noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Angeblich war Hilde schon zu DDR-Zeiten die Geliebte von Gombrowski gewesen. Als sie schwanger wurde, hatte sie einen Holzarbeiter namens Erik geheiratet, den Gombrowski laut Gerhard später umbringen ließ. Seit Eriks Tod lebte Hilde wie eine Gefangene in dem kleinen Haus neben den Gombrowskis, umgeben von einer Menge Katzen.

Selbst mit gutem Willen war schwer vorstellbar, was ein Mann an einer Frau wie Hilde finden sollte. In früheren Zeiten hätten die Dorfkinder sie als Hexe verschrien, hätten ihr Haus mit Kastanien beworfen und wären kreischend geflohen, wenn sie sich am Fenster zeigte. Auf der Straße wirkte sie dem Untergang preisgegeben. Wie eine Schnecke, die man aus ihrem Haus gerissen hat, um ein grausames Spiel mit ihr zu treiben. Eine Weile hing sie schlaff am Arm des Soziologiestudenten, dann ballte sie plötzlich alle Kraft, rannte im Zickzack über den Bürgersteig, wobei sie fast gegen den Mast der Straßenlaterne geprallt wäre, und hängte sich an den Birnenförmigen, um ihn am Verladen des Wäschekorbs zu hindern.

»Nein!«, rief sie. »Das dürfen Sie nicht!«

»Frau Kessler«, sagte der Birnenförmige. »Wir tun nur unsere Pflicht.«

»Es ist das Beste für die Tiere«, sagte der Soziologe, bemüht, Hilde beiseitezudrängen, um die Hecktür des Kleintransporters zu öffnen.

»Klingeln Sie da drüben!« Hilde zeigte auf Gombrowskis Haus. »Dort wird man Ihnen bestätigen, wie gut es die Kätzchen bei mir haben!«

»Haben wir schon versucht«, sagte der Birnenförmige sanft. »Keiner zu Hause.«

Jule war ein Stück näher gekommen. Durch die Stäbe des Korbs sah sie zwei dunkle Wesen, die rosafarbenen Mäuler in panischem Fauchen aufgesperrt.

»Das sind meine Kinder«, rief Hilde.

Dem Birnenförmigen gelang es, den Korb im Transporter zu verstauen. Der Soziologe schloss die Tür und lehnte sich dagegen.

»Gib mal den Käscher«, sagte der Birnenförmige. »Da sitzen noch mindestens zehn unter der Couch.«

Er nahm die Stange und ging zurück zum Haus. Als Hilde ihm nacheilen wollte, bemerkte sie Jule. Wie ein Derwisch kam sie herangewirbelt und krallte die winzigen Händchen in Jules Unterarm.

»Hilf mir! Sie nehmen mir meine Babys weg!«

Die Alte weinte. Tränen ließen die Wimperntusche in schwarzen Streifen über ihre Wangen laufen, der Lippenstift war verschmiert und hatte die Schneidezähne rot befleckt. Das Flehen der hellblauen Augen in diesem entstellten Gesicht war so unerträglich, dass Jule sich beherrschen musste, um Hilde nicht wegzustoßen.

»Damit es nicht zu Missverständnissen kommt«, sagte der Soziologe und hielt ihr einen Ausweis vom Tierschutzverein Neuruppin unter die Nase, »es gab eine Anzeige gegen Frau Kessler wegen Tierquälerei. Die Katzen befinden sich in erbärmlichem Zustand. Abgemagert, räudig, altersschwach.«

»Weil ich die Ärmsten der Armen bei mir aufnehme!«, rief Hilde. »Ich bekomme sie vom Tierheim in Plausitz! Rufen Sie dort an, man wird das bestätigen!«

»Da drinnen stinkt es«, sagte der Soziologe. »Über zwanzig Katzen eingesperrt in einem Haus, das ist nicht artgerecht.«

»Es sind zum Tode Verurteilte.« Hilde begann zu schluchzen. »Von schlechten Menschen auf den Müll geworfen. Ich gebe ihnen Namen. Ich füttere sie. Ich streichele sie. Viele werden gesund, die anderen dürfen in Frieden sterben.«

Aus dem Haus erklang Geschrei. Jule wusste, wie Katzen schreien konnten; es klang trotzdem nach geprügelten Kindern. Hilde Kessler stöhnte auf, als wäre es ihr eigener Hals, um den sich die Schlinge legte. Erst wollte sie zum Haus laufen; dann beschloss sie, alle Hoffnung in Jule zu setzen. Ihr Griff um Jules Unterarm verstärkte sich.

»Ich kenne dich. Du bist die Frau vom Vogelschützer. Ihr mögt Tiere. Ihr seid keine schlechten Menschen.«

Jule versuchte, ihren Arm zu befreien, und gab auf, als sich Hildes Fingernägel tiefer in ihr Fleisch bohrten. Sophie begann im Tragetuch zu wimmern.

»Was geschieht mit den Tieren?«, fragte Jule den Soziologen.

Der zuckte die Achseln.

»Sie kommen nach Neuruppin ins Heim. Einen Großteil wird man einschläfern müssen.«

»Nein!« Hilde schrie wie eine Sterbende. »Jeder hier weiß, dass ich gut bin zu meinen Katzen. Sag ihm das, Mädchen, um Gottes willen!«

»Kennen Sie diese Frau?«, fragte der Soziologe.

Mit einem Mal blieb die Zeit stehen. Die gegenwärtige Sekunde dehnte sich zu einem Raum, in dem Seltsames geschah. Zwei Wege wurden ausgerollt, die sich vor Jules Füßen kreuzten. Der eine verlief gerade und wirkte vertraut. Auf einem Wegweiser stand das Wort »Erbarmen«. Der andere führte über eine wacklige Brücke und verlor sich im Nebel. Statt eines Wegweisers gab es eine Tafel, die mit mehreren Fragen beschriftet war: Ist das Gombrowskis Handlangerin, die um das Schicksal ihrer räudigen Katzen weint? Hat sie noch vor wenigen Tagen kaltlächelnd ein Kind eingesperrt, während die Eltern tausend Tode starben? War es vielleicht sogar Hilde und nicht Schaller, die ihr bemaltes Clownsgesicht über Sophies Bettchen gebeugt und die Kleine herausgehoben hat?

Jule kniff die Augen zusammen, um das Bild von der Tafel loszuwerden. Ihre Entscheidung, sich ab jetzt aus allem herauszuhalten, stand unumstößlich fest. Neutralität bedeutete nicht, der Gegenseite zu helfen. Es bedeutete, die Dinge geschehen zu lassen.

Ihr Blick klärte sich. Es war Donnerstag, der 29. Juli 2010, 8:30 Uhr am Morgen. Auch heute würden die Temperaturen wieder über 30 Grad klettern. Seit Tagen dröhnten Gombrowskis Mähdrescher rund um die Uhr über die Felder, um unter Hochdruck die Ernte einzubringen. Bei Nacht sandten die Scheinwerfer der großen Maschinen Lichtduschen ins Schlafzimmer, wenn sie an der Straße wendeten.

»Nein«, sagte Jule. »Zu Frau Kesslers Katzen kann ich keine Auskunft geben.«

Der gerade Weg verschwand. Hilde Kesslers geschminkte Miene zerfiel in tausend Teile.

»Nächste Ladung«, rief der Birnenförmige, während er, mit jeder Hand den Tragegriff eines Metallkäfigs umklammernd, aus dem Haus trat.

Hilde Kessler knickte ein, als wolle sie gleich hier auf dem Bürgersteig zusammenbrechen. Dann aber sah Jule, wie sie nach einem Feldstein griff, der im Rinnstein lag. Sie entwischte dem Soziologen, der ihr aufhelfen wollte, und rannte auf den Birnenförmigen zu. Der ließ die Käfige fallen, kaum dass er die Situation begriff. Die alte Frau war klein, aber der Stein beängstigend groß. Mit unerwarteter Behändigkeit wich der Birnenförmige aus, Hildes Schlag ging ins Leere. Im nächsten Augenblick hatte der Soziologe sie von hinten gepackt und hob sie hoch wie ein tobsüchtiges Kind. Der Stein fiel zu Boden. Hilde schrie, unartikuliert und verzweifelt wie ihre Katzen. Jule spürte, wie sich der Anblick der heulenden Greisin in ihre Erinnerung fraß, unauslöschlich, ein Bild, das in vielen dunklen Momenten zu ihr zurückkehren würde.

»Hol einen Krankenwagen«, rief der Soziologe. »Die Alte hat einen Nervenzusammenbruch. Ich sperr sie ins Badezimmer, damit wir hier fertig machen können.«

Er trug Hilde ins Haus, das Geschrei wurde leiser und verstummte schließlich. Jule lehnte sich gegen Gombrowskis Zaun. Schweiß lief ihr über die Stirn, was um diese Uhrzeit noch nicht von der Hitze herrühren konnte. Der Birnenförmige räumte die beiden Käfige in den Transporter. Als er fertig war, kam er auf Jule zu und trug ein Klemmbrett mit Formularen vor sich her.

»Das ist ein offizielles Verwaltungsverfahren«, sagte er. »Ich möchte Sie bitten, den Vorgang zu bezeugen.«

Ohne lange zu überlegen, trug Jule Namen und Adresse in die vorgesehenen Zeilen ein, unterschrieb das Papier und gab es dem Birnenförmigen zurück, der den Durchschlag abtrennte, faltete und in einen Umschlag schob. Mit einer auffällig voluminösen Zunge leckte er über die Klebekante des Kuverts.

Machtlos sah Jule zu, wie der Umschlag in Hilde Kesslers Briefkasten verschwand, der in den Betonpfeiler des Gartentors eingelassen war. Sie fragte sich, ob sie verrückt geworden war. Das Papier zu unterschreiben, kam einem Selbstmord gleich. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gombrowski es zu Gesicht bekommen würde, lag bei annähernd hundert Prozent. Kein Mensch würde ihr glauben, dass sie zufällig vorbeigekommen war und mit der Anzeige von Hilde Kessler nichts zu tun hatte. Hilde würde erzählen, dass sich Jule geweigert hatte, ihr zu helfen. Dass sie auf dem Bürgersteig gestanden hatte, um sich an ihrem Elend zu weiden. Gombrowski würde das als Kampfansage verstehen.

»Sich raushalten?«, hatte Gerhard während einer ihrer Auseinandersetzungen gerufen und gelacht. »Im Krieg gibt es keine Neutralität. Das wirst du noch lernen.«

Eins war gewiss: Schlimmer hätten die Dinge kaum laufen können.



50 Gombrowski, geb. Niehaus


»Tut mir leid«, sagte die Dame vom Plausitzer Taxidienst, »die Postleitzahl 16879 wird von uns nicht bedient.«

Natürlich wusste Elena, dass es in Unterleuten normalerweise keine Taxis gab.

»Ich zahle dem Fahrer zusätzlich die komplette Anfahrt«, schlug sie vor. »Nehmen Ihre Leute auch Hunde mit?«

»Ich schicke einen Kombi«, versprach die Dame. »In einer knappen Stunde.«

Elena fühlte sich ruhig. Erntezeit war die beste Zeit des Jahres. Gombrowski kam mittags nicht nach Hause und blieb bis zum späten Abend in der Ökologica. Für die Taxibestellung hatte sie das Telefon in seinem Arbeitszimmer benutzt, einem Raum, den sie normalerweise nur zum Staubsaugen betrat. Jetzt ging sie gemächlich zum Fenster, stützte die Ellenbogen auf das Kissen, welches seit gestern Morgen auf der Fensterbank lag, und wartete.

Es dauerte 50 Minuten, bis das Taxi vorfuhr. Elena ließ das Kissen an seinem Platz und stellte sich vor, dass auch Gombrowski es nicht wegräumen würde, dass es vielmehr bis in alle Zeiten als persönliches Mahnmal dort liegen würde. Sie lief die Treppe hinunter, kontrollierte den Inhalt ihres Portemonnaies, schulterte die Handtasche und hakte die Leine in Fidis Halsband.

»Das ist aber mal ein Prachtkerl«, sagte der Taxifahrer, als er die Heckklappe öffnete.

»Es ist ein Mädchen«, sagte Elena. »Sie sabbert.«

»Schlimm?«

»Ich gebe Trinkgeld.«

Elena nahm auf der Rückbank Platz und begann, in ihrem Taschenkalender zu blättern, um den Taxifahrer von jeglichen Gesprächsversuchen abzuhalten. Das Büchlein enthielt nicht mehr als Püppis Adresse sowie ein paar Telefonnummern von Doppelkopf-Freundinnen, die Elena seit Jahren auswendig kannte.

Kaum eine Minute später lag Unterleuten hinter ihr. Fast geräuschlos schwebte das Taxi den Anstieg zur Plausitzer Höhe hinauf. Für einen Augenblick meinte Elena, die Schatten riesiger Rotorblätter über die Schiefe Kappe huschen zu sehen. Sie dachte über eine ungewöhnliche Frage nach: Konnte ein Kissen das Leben eines Menschen zerstören?

Die wahrscheinlichste Antwort lautete: Ein Kissen war höchstens in der Lage, ein bereits zerstörtes Leben endgültig über den Rand des Abgrunds zu stoßen. Wäre das Kissen auf der Fensterbank nicht gewesen, säße Elena jetzt nicht im Taxi. Diese Tatsache war simpel und unbestreitbar richtig.

Sie beugte sich vor, sah die Tachonadel auf 120 km/h zeigen und bat den Fahrer, das Tempo zu verringern. Die scharfe Rechtskurve, die aus dem Wald hinausführte, wurde von entgegenkommenden Fahrzeugen gern geschnitten.

Wieder und wieder hatte sie die Bausteine der Ereignisse neu zusammengesetzt, in der Hoffnung, ein klares Bild zu erhalten.

In den 61 Jahren ihres Lebens und vor allem in den zwei Jahrzehnten seit Püppis Auszug hatte Elena gelernt, dass die wahre Geißel des Menschen Langeweile hieß. Langeweile verdarb den Charakter. Sie weckte die Sehnsucht nach Skandalen und Katastrophen. Friedliche Menschen verwandelten sich in Schandmäuler, die anderen Böses wünschten, nur damit sie etwas zu besprechen hatten. Im Kampf gegen die Langeweile entschied sich, ob man als Teufel oder als Engel durchs Leben ging. Weil Elena dies verstand, hatte sie sich stets verboten, schlecht über Nachbarn zu reden, auch wenn es bedeutete, dass die Leute sie für hochnäsig hielten. Wenn man die Gerüchteküche mied, gab es an Gartenzäunen, Straßenecken oder Doppelkopftischen wenig zu verhandeln. Nie zuvor hatte Elena hinter der Gardine im Fenster gelegen, um wie ein neugieriges Waschweib auf den Beutelweg zu schauen, zumal es dort für gewöhnlich nicht mehr zu sehen gab als ein paar Spatzen, die am Straßenrand ein Staubbad nahmen.

Bis gestern Vormittag. Da hatte sie am Fenster von Gombrowskis Arbeitszimmer Stellung bezogen, ein Kissen unter den Ellenbogen, und überlegt, sich aus der Küche ein Glas Weißwein mit Eiswürfeln zu holen. Auf das Getränk hatte sie nur verzichtet, weil sie nichts verpassen wollte. Sie wusste, dass sie etwas Ungehöriges tat, hatte aber dennoch das Gefühl, ein Recht auf diese Szene zu besitzen.

Vor dem Plausitzer Bahnhof weigerte sich Fidi, das Taxi zu verlassen. Der Hund war noch nie aus Unterleuten herausgekommen. Mithilfe des Taxifahrers zog Elena das schwere Tier aus dem Kofferraum, zahlte mit zwei 50-Euro-Noten und verzichtete auf den Rest. Der Taxifahrer wünschte eine gute Weiterreise.

Selbstverständlich hatte sie sich auf ihrem Aussichtsposten gefragt, ob sie eingreifen müsse. Aber ging sie die Sache wirklich etwas an? Gab es eine moralische Verpflichtung, der Geliebten des eigenen Ehemanns zu helfen?

Spätestens als die Frau vom Vogelschützer auf der Bildfläche erschienen war, hatte sich Elena von jeder Verantwortung befreit gefühlt. Auf der Straße stand jetzt eine Schiedsperson, neutraler als sie selbst, die alle nötigen Entscheidungen treffen konnte. Elena durfte Beobachterin bleiben. Schließlich war sie nur durch puren Zufall auf die Vorgänge aufmerksam geworden. Sie hatte bei offenem Fenster in der Küche gearbeitet und plötzlich das Schreien der Katzen im Nachbarhaus gehört. Wäre sie stattdessen im Vorratskeller zugange gewesen, hätten die Ereignisse ohne ihr Beisein ihren Lauf genommen. Wie kriminell konnte Zuschauen unter diesen Umständen schon sein?

Vor dem Eingang des Plausitzer Bahnhofs verwandelte sich Fidi endgültig in ein großes Häufchen Elend. Ihre Hinterläufe zitterten; sie sträubte sich gegen jeden weiteren Schritt. Als Elena sie anschnauzte, ließ sie sich auf den Bauch fallen und sah unter schrecklich besorgter Stirn zu ihr auf. Widerwillig ging Elena in die Knie und streichelte den Hundekopf, wobei sich die Hautmassen zusammenschoben.

»Na, komm schon, mein Mädchen.«

Ein wenig beruhigt, wenn auch immer noch ängstlich, sprang Fidi auf die Beine und folgte Elena mit unsicheren Schritten in die Bahnhofshalle. Vier weitere 50-Euro-Scheine wechselten den Besitzer. Erstaunt nahm Elena zur Kenntnis, wie teuer Bahnfahren war, und hätte fast gelacht, als sie erfuhr, dass sie für den Hund ein Kinderticket kaufen musste. Der Bahnsteig war von Zigarettenkippen übersät. Fidi kroch unter eine Konstruktion aus Metallstangen und Plastikschalen, die als Sitzgelegenheit diente. Außer Elena warteten nur fünf weitere Personen auf den Zug nach Berlin; der morgendliche Pendlerverkehr war schon lange durch. Immer wieder verglich Elena die Angaben auf ihrem Ticket mit dem Fahrplan hinter Glas sowie der Anzeigetafel über ihrem Kopf und hörte erst damit auf, als sie merkte, wie lächerlich sie sich benahm.

Das einzige Mitleid, das Elena empfunden hatte, während sie im Fenster lag, hatte Hildes Katzen gegolten. Haustiere suchten sich ihr Schicksal nicht aus, sie waren vollständig der Willkür der Menschen unterworfen. Im Gegensatz dazu besaß Hilde einen freien Willen und traf ihre Entscheidungen selbst.

Niemand hatte sie gezwungen, die Geliebte eines verheirateten Mannes zu werden. Niemand hatte sie gezwungen, um des schönen Scheins willen einen anderen zu heiraten, nach dessen Tod ins Nachbarhaus zu ziehen und sich in eine katzenbesessene Einsiedlerin zu verwandeln. Offensichtlich hatte Hilde vor langer Zeit beschlossen, sich nicht dafür zu interessieren, was sie anderen Menschen mit ihrem Verhalten zufügte.

Zu Elenas schrecklichsten Erinnerungen gehörte jener Nachmittag vor mehr als dreißig Jahren, an dem sie gemeinsam mit Gombrowski und der kleinen Püppi den Rohbau ihres neuen, herrschaftlichen Domizils am Beutelweg besichtigt hatte.

Sie hatte ihr künftiges Zuhause bereits vor sich gesehen, die großen Fenster, Terrasse, Gartenteich, gepflegter Rasen und Johannisbeerbüsche auf dem ausgedehnten Grundstück. Sie genoss Gombrowskis Begeisterung, mit der er ihr sämtliche Details des Bauvorhabens beschrieb. »Das wird schon«, sagte er nach jeder neuen Erklärung, und Elena antwortete ein ums andere Mal: »Wunderschön.« Zurück auf der Straße, bemerkte sie, dass auf dem Nachbargrundstück ebenfalls gearbeitet wurde. Aus dem kleinen Würfelhaus der republikflüchtigen Familie Berger trat ein Mann, der eine Schubkarre schob.

»Hat sich jemand Bergers Haus unter den Nagel gerissen?«, fragte Elena verwundert.

Gombrowski räusperte sich kurz.

»Die LPG hat das Häuschen übernommen«, sagte er. »Arbeiterunterkünfte werden immer gebraucht.«

Von diesem Moment an wollte Elena ihr prächtiges neues Anwesen nicht mehr. Sie wusste sofort, wer im Berger-Häuschen einziehen würde, auch wenn es noch zehn Jahre dauern sollte, bis sich ihre Ahnung realisierte. Die Zwischenzeit nutzte sie, um die Grundstücksgrenze mit schnell wachsenden Büschen und Bäumen zu bepflanzen, so dass man heute nur noch vom ersten Stockwerk zu Hilde hinübersehen konnte, und auch das nur von einer bestimmten Stelle aus, nämlich dem seitlichen, nach Norden gehenden Fenster in Gombrowskis Arbeitszimmer.

Die Regionalbahn kam; Fidi stieg gutgläubig ein und wollte sofort wieder raus. Elena hielt die Hündin am Halsband fest und schlang die Leine um eine Haltestange. Als sich der Zug in Bewegung setzte, begann Fidi zu hecheln. Mit weit gegrätschten Läufen stand sie auf unsicher schwankendem Boden, versperrte ein- und aussteigenden Fahrgästen den Weg und war nicht bereit, sich niederzulassen. Nach zwei Stationen gab Elena die Überredungsversuche auf, überließ den angebundenen Hund sich selbst und setzte sich ans andere Ende des Großraumabteils, um nicht mitansehen zu müssen, wie die Speichelpfütze zwischen Fidis Vorderbeinen immer größer wurde.

Vom Arbeitszimmerfenster aus hatte Elena am vergangenen Vormittag beobachtet, wie sich Hildes Überrumpelung in Verzweiflung und die Verzweiflung in Wahnsinn verwandelte. Als einer der Tierfänger zum Haus der Gombrowskis herüberkam und an der Tür klingelte, zog sich Elena ein Stück hinter die Gardine zurück und wartete, bis der Mann glaubte, dass niemand da sei. Im Folgenden sah sie zu, wie die Tierfänger ihre Arbeit ungeachtet der Attacken des bemalten Äffchens fortsetzten.

Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass die Frau des Vogelschützers ein Handy zücken würde, um ihren Mann und dessen Kollegen anzurufen. Daraufhin hätte sich der Bürgersteig in Kürze mit empörten Tierfreunden gefüllt, und man hätte dem grausamen Abtransport ein Ende gesetzt. Aber nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil besaß die junge Frau die Stirn, in aller Seelenruhe ein Formular zu unterschreiben, während sie ihr Baby im Tragetuch schaukelte und Hilde von den Tierfängern ins Haus geschleppt wurde.

Elena fragte sich, ob es möglich war, ein Baby so innig an die Brust zu pressen, wenn dahinter ein kaltes Herz schlug. Dann fiel ihr ein, dass die junge Mutter natürlich wusste, was Krönchen zugestoßen war, und dass sie eine Frau wie Hilde, die zu einer solchen Gemeinheit fähig war, aus voller Seele hassen musste.

Diesmal, dachte Elena mit Hinblick auf Hilde und Gombrowski, diesmal seid ihr zu weit gegangen, und sie spürte den bittersüßen Geschmack von Schadenfreude im Mund.

Sie lag im Fenster wie Gott, der das Böse richtet, statt es zu verhindern.

Nach einer weiteren halben Stunde hatten die Tierfänger den letzten Katzenkorb im Wagen verstaut; von Hilde war in der Zwischenzeit nichts mehr zu sehen und zu hören gewesen. Statt sogleich in die Autos zu steigen und loszufahren, lehnten sich die Tierfänger ans Gartentor und rauchten eine Zigarette. Das Handy des Jüngeren klingelte. Gleich darauf traf die Ambulanz ein.

Obwohl das Martinshorn nicht eingeschaltet war, standen kaum eine Minute später der ewig grinsende Björn sowie Silke und Sabine aus dem Märkischen Landmann auf der Straße und sahen zu, wie Hilde, winzig klein zwischen zwei Sanitätern, aus dem Haus geführt wurde. Niemand machte Anstalten, ihr zu helfen. Der Sanitäter redete auf Hilde ein, die keine Reaktion mehr zeigte. Ihr Widerstand war zusammengebrochen und hatte die ganze Person mit sich gerissen. Mit der verlaufenen Schminke sah sie aus wie eine Gestalt aus einem Horrorfilm. Der dicke Tierfänger gestikulierte mit beiden Armen, um zu zeigen, wie Hilde ihn angegriffen hatte. Schließlich geleitete man sie zum Krankenwagen und half ihr beim Einsteigen. Autotüren knallten. Die beiden Fahrzeuge setzten sich in Bewegung, zuerst das Auto mit Hildes Katzen, dann der Krankenwagen mit Hilde selbst. Sie fuhren den Beutelweg hinunter, unterschiedlichen Zielen entgegen.

Berlin Hauptbahnhof war zu viel für den Hund. Schon Elena konnte die Bedrohung spüren; Fidi geriet völlig außer sich. Ihre Hinterhand schlotterte wie von Lähmungserscheinungen. Schutzsuchend drängte sie sich an Elena und schreckte gleichzeitig vor jedem Passanten zurück, wobei sie ihr schmächtiges Frauchen fast aus dem Gleichgewicht brachte. Der Hund hatte recht. Ein so monströses Gebäude musste man nicht errichten; so viele Menschen musste man nicht in einem Gebäude versammeln; so viele Läden brauchte kein Mensch.

Vage erinnerte sich Elena, über den neuen Hauptbahnhof etwas im Radio gehört zu haben. Die Meldung hatte keinerlei Relevanz für sie besessen, wie eigentlich alles, was im Radio oder Fernsehen berichtet wurde. Der Berliner Hauptbahnhof gehörte zu den Dingen, die Menschen betrafen, die sich im Kampf gegen die Langeweile für die falsche Seite entschieden hatten. Elena überlegte, wann sie zuletzt in Berlin gewesen war. Einmal hatte Püppi sie überredet, die Hauptstadt zu besichtigen. Es war ein schöner Ausflug geworden, mit Bootsfahrt auf der Spree und italienischem Essen. Sie hatte sich vorgenommen, öfter in die Stadt zu fahren, und es dann doch nicht getan. Berlin fehlte es an Gründen. Kein einziger Tag verlangte bei Sonnenaufgang, in Berlin verbracht zu werden. Elena hatte nichts gegen die Stadt; sie hatte auch nichts gegen London, Washington oder Peking, solange sie nicht hinfahren musste. Von Unterleuten aus gesehen war Berlin genauso weit weg und spielte genauso wenig eine Rolle wie jede andere Hauptstadt der Welt.

Jetzt war sie froh um jede einzelne Minute, die ihr der Fahrplan zum Umsteigen ließ. Mit Fidi konnte sie die Rolltreppen nicht benutzen; einen Aufzug wollte die Hündin nicht betreten, und auf den gewöhnlichen Treppen brauchte das Tier mit seinen zitternden Beinen ewig für jede Stufe. Menschen drehten sich nach ihnen um und sagten »der Arme« oder »was hat er denn«. Elena folgte den Hinweisschildern Richtung Gleis 13, bis Gleis 13 nicht mehr existierte, und kehrte um. Ein verwahrloster junger Mann, der eine große getönte Brille trug, obwohl kaum Sonnenlicht in den Hauptbahnhof drang, und eine Zigarette im Mundwinkel balancierte, die nicht brannte, wollte erst einen gebrauchten Fahrschein und fragte dann, ob er helfen könne. Tatsächlich zeigte er ihr den Aufstieg zum richtigen Gleis. Der Bahnsteig war lang wie die Unterleutner Dorfstraße. Es gab keine Sitzbänke und auch sonst nichts, unter das Fidi hätte kriechen können.

Wie üblich in der Erntezeit war Gombrowski am Vorabend erst gegen neun nach Hause gekommen. Die Küche hatte sich mit dem Licht eines brandroten Sonnenuntergangs gefüllt, das den Raum und alle vertrauten Gegenstände fremd, fast surreal wirken ließ. Elena hatte schon gegessen. Sie legte ein Messer und eine Gabel auf den Küchentisch, während sich Gombrowskis Teller in der Mikrowelle drehte. Kohlrouladen und selbstgemachter Kartoffelbrei. Sie setzte sich neben ihn und sah zu, wie er das Essen verschlang. Er brauchte nie länger als fünf Minuten für eine Mahlzeit, gleichgültig, was und wie viel auf dem Teller lag. Elena glaubte nicht, dass er in dem Moment, wenn er sich den Mund mit der Serviette wischte, noch wusste, was er zu sich genommen hatte.

»Heute Nacht gibt es Regen«, sagte er, nachdem der letzte Rest Kartoffelbrei in seinem Mund verschwunden war. »Wir schaffen die Felder Richtung Groß Väter nicht mehr.«

Dann stand er auf und ging die Treppe hinauf. Kein Wort über Hilde. Dabei musste die Kunde von den Ereignissen in Windeseile zu ihm vorgedrungen sein. Mit Sicherheit hatte er im größten Erntestress Mähdrescher, Lastwagen und Kornspeicher im Stich gelassen und den Rest des Tages am Telefon verbracht. Er hatte mit der Polizei gesprochen, mit Sanitätsdienst, Krankenhaus und Gesundheitsamt, mit dem Tierheim und wahrscheinlich sogar mit seinen Freunden in den verschiedenen Ministerien in Potsdam. Er hatte getobt und gedroht. Vielleicht sogar gebettelt. Er hatte verlangt, mit Hilde Kessler verbunden zu werden. Vielleicht war er nach Neuruppin ins Klinikum gefahren, und man hatte ihn nicht zu ihr gelassen. Elena kannte die Spuren von Misserfolg in seinem Gesicht. Es kränkte sie tief, dass er nicht mit ihr sprach. Dass er seine Sorgen mit keinem Sterbenswörtchen erwähnte, selbst dann, wenn Hilde als Ansprechpartnerin nicht zur Verfügung stand. Dabei wäre Elena bereit gewesen, ihm zu helfen. Sie hätte ihm angeboten, am nächsten Tag nach Plausitz oder Neuruppin zu fahren und alle nötigen Behördengänge zu übernehmen, um Hilde und ihre Katzen freizubekommen. Nachdem sie den Abtransport nicht verhindert hatte, wollte sie jetzt alles tun, um das Geschehene rückgängig zu machen. Nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil sie einfach nicht anders konnte, als ihrem Ehemann zu helfen, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen lief.

Sie hatte gerade den abgegessenen Teller in die Spülmaschine gestellt, als seine Schritte die Treppe herunterpolterten. Die Farbe des Lichts in der Küche hatte sich von Rot zu Blaugrau verändert; die Sonnenuntergänge in Unterleuten waren intensiv, aber kurz. Gombrowskis Gestalt füllte den Türrahmen aus. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu wissen, was passiert war. Das Kissen. Elena hatte es auf der Fensterbank des Arbeitszimmers vergessen.

Als der ICE einfuhr, begann Fidi zu winseln. Elena fand den richtigen Waggon und einen kräftigen jungen Herrn, der ihr half, den Hund wie ein sperriges Gepäckstück in den Zug zu heben. Als Elena ihm zum Dank etwas Geld geben wollte, lachte er.

Gombrowski wurde oft wütend. Er brüllte, schlug gegen Wände und Möbelstücke, drohte mit Prügeln und teilte sie aus. Viele Male hatte er sie in der Vergangenheit geohrfeigt, quer durchs Zimmer geschleudert, die Kellertreppe hinuntergestoßen.

Er hatte, möge Gott diese Erinnerungen endlich tilgen, immer wieder die Hand gegen Püppi erhoben. Aber bis zu jenem Abend hatte sie nie geglaubt, dass er sie umbringen würde. Er stand im Türrahmen, starrte sie an und tat gar nichts. An ihm vorbeizukommen, war unmöglich. In Elenas Reichweite befanden sich zwei Küchenscheren sowie der gesamte Inhalt der Spülmaschine, zu dem ein Brotmesser und der Kartoffelstampfer gehörten. Sie stellte sich vor, einen spitzen Gegenstand in Gombrowskis Fleisch zu stoßen, und erkannte sofort, dass sie dazu nicht in der Lage war. Stattdessen beschloss sie, mit dem Kartoffelstampfer die Fensterscheibe einzuschlagen, um auf diesem Weg ins Freie zu gelangen.

»Du warst es«, sagte Gombrowski. »Du hast sie angezeigt und zugeschaut, wie man sie abholt.«

Elena hatte noch nicht einmal nach dem Kartoffelstampfer gegriffen, geschweige denn einen Ausfallschritt Richtung Fenster versucht, als er schon vor ihr stand und sie am Hals packte.

»Ich war es nicht«, sagte sie. »Ich schwöre es bei Püppis Leben.«

Sie spürte, wie dünn ihr Hals in seinen Händen war, wie leicht man ihn zudrücken, brechen, einfach abdrehen konnte.

Dann gab es eine Lücke in ihrer Erinnerung. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Küchenboden. Gombrowski war verschwunden.

Im ICE war es unmöglich, Fidi so zu platzieren, dass niemand über sie stolperte. Sie passte nicht unter die Sitze, und selbst als sie bereitwillig in den Fußraum kroch, ragte ihr Hinterteil in den Gang.

Die anderen Fahrgäste mussten ihre Rollkoffer über sie hinwegheben. Dafür entspannte sich die Hündin ein wenig; der Teppichboden und die gleichmäßige Fahrweise schienen sie zu beruhigen.

Elena hatte sich am Küchenschrank festgehalten, um auf die Füße zu kommen. In ihr wirkte eine Kraft, die sie nie zuvor gespürt hatte, nicht, wenn sie sich zwischen ihre Tochter und ihren Mann geworfen hatte, nicht, wenn sie eine halbe Stunde später das Abendessen kochte, als wäre nichts geschehen. Was Elena antrieb, war makelloser Zorn, wie er nur als Folge von echter Ungerechtigkeit entsteht. Sie lief ins Wohnzimmer, ins Esszimmer, ins Bad und auf die Terrasse. Sie rannte die Treppe hoch und fand Gombrowski an seinem Schreibtisch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt. Sie räusperte sich, um zu prüfen, ob die Stimmbänder das Zusammendrücken der Kehle überstanden hatten. Dann schrie sie.

»Du verdammte Memme! Wolltest mich umbringen und konntest es nicht!«

Gombrowski sah auf. Seine Augen waren rot wie von großer Müdigkeit.

»Du lächerlicher Schwachkopf!«, schrie Elena. »Warum hätte ich mich jetzt plötzlich gegen Hilde wenden sollen? Nachdem ich deine Geliebte ein halbes Leben ertrage? Ist das zu viel Logik für dein Spatzengehirn?«

Sie sah ihm an, dass er diese Erkenntnis inzwischen selbst gefasst hatte. Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Sie sagte sich, dass er sie einfach in der Küche hatte liegen lassen; dass er sich niemals entschuldigen würde, auch wenn er wusste, dass er im Unrecht war. Der Zorn wollte trotzdem nicht wieder auflodern.

Sie stand im Türrahmen, viel zu klein, um ihn auszufüllen, und wartete darauf, dass Gombrowski reagierte. Dass er mit einem »Was soll’s« oder »Irgendwas ist immer« zur Tagesordnung überging. Als seine Antwort kam, wünschte sie, ihn niemals zur Rede gestellt zu haben.

Der ICE näherte sich Hannover. Lautsprecher sagten die Anschlussverbindungen durch; einige Fahrgäste machten sich zum Aussteigen bereit. Elena ließ Fidi aufstehen. Die Hündin legte ihr den Kopf aufs Knie und sah sie treuherzig an. »Bis hierhin haben wir es doch ganz gut geschafft«, schien ihr Blick zu sagen. Auch Elena erhob sich. Gemeinsam stellten sie sich in den Vorraum und warteten.

»Hilde war niemals meine Geliebte«, hatte Gombrowski gesagt.

Der Satz hatte Elena wie ein Blitzschlag getroffen. Sie hatte zu lachen begonnen. Gombrowski war vollkommen ruhig geblieben.

»Wo wir gerade beim Thema Logik sind«, sagte er. »Hast du dich nie gefragt, warum ich dich nicht verlassen habe? Spätestens nach Püppis Auszug und Eriks Tod hätte ich doch die Scheidung einreichen können, um Hilde zu heiraten.«

Elena lachte noch lauter, aber es war kein echtes Lachen mehr. Das war künstlicher Hohn, an dem sie sich noch ein paar Sekunden festhalten wollte, bevor sie in den Abgrund stürzte. Sie erkannte an der Art, wie Gombrowski die Schultern hob, dass er die Wahrheit sprach.

»Du hast es nie begriffen, aber ich habe immer zu dir gestanden, Elena. Mein ganzes Leben habe ich für dich und Püppi geführt. Nicht immer gut, nicht ohne Fehler. Aber immer für euch beide. Dann erst für Hilde. Und ein bisschen für Fidi. Für meine Frauen eben.«

Er lächelte ein Lächeln, das einer vorsichtig ausgestreckten Hand glich. Elena floh vor diesem Lächeln über den Flur, die Treppe hinunter und in den Garten. Hinter dem Geräteschuppen kauerte sie sich auf den Boden und versuchte zu weinen. Es gelang nicht. Da war nur eine große Leere, in der ihre Vergangenheit in rasendem Tempo verschwand.

In Hannover sprang Fidi mit einem Satz aus dem Zug und wedelte mit dem Schwanz, als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Einige Fahrgäste hoben Gepäck aus dem Zug und gingen über den Bahnsteig davon. Andere stiegen ohne Koffer aus, zündeten Zigaretten an und nahmen ein paar hastige Züge, was der Schaffner mit einem Augenzwinkern ignorierte. Vermutlich war er selbst Raucher.

Elena entfernte die Hundemarke von Fidis Halsband und knotete die Leine an einen Mast auf dem Bahnsteig. Sie stellte sich neben den Hund und wartete, bis die Türen des ICE zu piepsen begannen. In diesem Augenblick sprang sie zurück in den Zug.

Die vergangene Nacht hatte sie im Freien verbracht. Gombrowski hatte nicht nach ihr gesehen, was sie auch nicht erwartet hatte. Der angekündigte Regen blieb aus. Vielleicht hatte sie ein wenig hinter dem Geräteschuppen geschlafen. Im Morgengrauen beschützte sie wie jeden Tag die Kois vor den Reihern. Dann warf sie in alter Gewohnheit ein paar Steine auf Hildes Dach, obwohl niemand mehr da war, um von dem Lärm zu erwachen.

Eine Tatsache stand ihr so klar vor Augen, dass sie gar nicht darüber nachdenken musste: Es war zu Ende. Gombrowski hätte sie umbringen sollen. Er hätte sie beschimpfen können, ihr alle Knochen brechen, weiterhin glauben, dass sie für die Abholung der Katzen verantwortlich war. Er durfte ihr alles nehmen, nur nicht sein Verhältnis zu Hilde Kessler. Der Satz »Hilde war niemals meine Geliebte« ließ Elenas Universum in sich zusammenfallen. Gestern und heute, Täter und Opfer, Schuld und Unschuld tauschten die Plätze. Jenseits dieses Satzes herrschte Sinnlosigkeit und freier Fall. Während sie geglaubt hatte, dass er sie betrog; während er sie angebrüllt und verprügelt hatte, hatte sie Gombrowski immer geliebt. Jetzt hasste sie ihn. Als er gegen halb sieben in der Früh das Haus verließ, ging sie hinein und rief ihre Tochter an.

»Endlich«, sagte Püppi. »Ich dachte schon, du checkst es nie.«

Elena hatte gefrühstückt und sämtliche Räume geputzt. Danach duschte sie, kleidete sich an und rief ein Taxi.

Als sich die Türen des ICE schlossen, erkannte Elena erstaunt, wie sehr Fidi an ihr hing. Sie waren sich nie sympathisch gewesen, sie hatten einander nichts zu sagen gehabt, und doch genügte das Leben im selben Haushalt aus Fidis Sicht, um fest daran zu glauben, dass Elena sie niemals verraten würde. Während der Zug anfuhr, sah Elena durch die Glasscheibe, wie Fidi ihr in fassungsloser Verzweiflung nachspringen wollte, von der Leine zurückgerissen wurde und auf den Rücken fiel. Trotz der hermetisch geschlossenen Fenster hörte sie das Jaulen des Hundes; dann geriet Fidi aus dem Blickfeld.

Elena setzte sich zurück auf ihren Platz. Ohne den Hund fühlte sie sich erleichtert und frei. Plötzlich verstand sie, warum sie keinerlei Gepäck bei sich trug; warum sie nicht einmal daran gedacht hatte zu packen, als sie Gombrowski und Unterleuten verließ. Sie war unschuldig. Sie fuhr als Unschuldige, weil alles, was Schuld war, für immer hinter ihr zurückblieb.






Teil VI


Fallwild



Als Fallwild bezeichnet man Wild, das ohne jagdliche Einwirkung zu Tode gekommen (»gefallen«) ist.


wikipedia.org/wiki/Fallwild



51 Wachs


»Sind das Schnepfen?«

Frederik sah zwölf mittelgroße, braun gescheckte Vögel, die in etwa 300 Meter Entfernung auf einem abgeernteten Feld saßen und etwas zu fressen schienen. Wenn sie den Hals senkten und dabei das Hinterteil hoben, zeigten sie ihr helles Unterkleid.

»Das sind Kampfläufer, du Banause.«

»Ich dachte, du wärst ein Kampfläufer.«

»Du denkst, ich sei eine Schnepfe.«

Sie lachten; sie gingen Hand in Hand. Der angekündigte Regen fiel überall außer in Unterleuten, hatte aber Bewegung in das Himmelsgemälde gebracht. Kompakte Wolken fuhren wie auf Schienen nach Nordwesten. Die Blätter der Pappeln zitterten silbrig. Im Lauf des Tages war die Temperatur auf erträgliche 22 Grad gefallen; der Wind roch herbstlich nach abkühlenden Sonnenstrahlen und feuchter Erde.

»Das sind die Vorstandsvorsitzenden einer Firma«, sagte Linda. »Kampfläufer incorporated. Sie besitzen 200 Hektar Land, beziehen EU-Subventionen, beschäftigen drei Vollzeitangestellte, zwei Halbtagskräfte und einen Praktikanten, verwalten die öffentlichen Angelegenheiten Unterleutens und betreiben ein kleines, aber feines Geschäft mit dem ornithologischen Tourismus. Außerdem sind sie gegen Windparks.«

»Entführen sie manchmal auch kleine Kinder?«

»Für weitere Informationen kann ich dich gern an meinen neuen Freund Gerhard Fließ vermitteln.«

Frederik lachte, küsste sie auf den Scheitel, roch ihr Haar und fragte sich, welcher Dämon ihn während der vergangenen Tage mit düsteren Gedanken gequält hatte. Heute war Samstag, der letzte Tag im Monat Juli. Seit dem Unglück auf der Loveparade war eine Woche vergangen, die Frederik komplett in Berlin verbracht hatte. Tag für Tag hatte er die Rückkehr nach Unterleuten hinausgezögert und Linda gegenüber behauptet, die Arbeit halte ihn in der Firma fest, dabei wusste sie so gut wie er, dass Timo nicht auf seiner Anwesenheit bestand. Linda fragte nicht, was ihn von zu Hause fernhielt; er hätte es auch nicht erklären können. Wenn er an Unterleuten dachte, sah er eine scharfkantige, nur entfernt lindaähnliche Frau durch die halb fertigen Räume von Objekt 108 tigern, während in allen Ecken Dorfbewohner saßen und ihr mit Blicken folgten. Als er sich endlich aufraffte und in die Regionalbahn nach Plausitz stieg, plagte ihn das Gefühl, in einen David-Lynch-Film hineinzufahren.

Aber dann hatte er Linda gesehen, die ihn auf dem Bahnsteig erwartete. Sie stand an genau der richtigen Stelle, als hätte sie gewusst, aus welcher Tür er steigen würde. Sie lächelte ihn an, war blond wie immer und hübsch wie immer, und als Frederik sie in die Arme schloss, fühlte er sich plötzlich erleichtert, wie von einer Krankheit geheilt.

Wie immer war sie hinter das Steuer geklettert, ohne zu fragen, ob er vielleicht fahren wolle. In der gefährlichen Kurve vor dem Wald hielt sie sich allerdings brav in der Spur. Der Kies in der Einfahrt von Objekt 108 knirschte, wie er knirschen sollte, dann waren sie angekommen. Zu Hause.

Frederik war nur eine Woche fort gewesen; trotzdem schien ihm die Villa heller und viel weniger heruntergekommen als in seiner Erinnerung. Sonnenlicht flutete die sparsam möblierten Räume. Sie liebten sich gleich im Wohnzimmer auf den Dielen. Er schürfte sich die Knie, aber das war es wert. Danach teilten sie, nackt auf dem Boden liegend, eine Zigarette. Das Fenster stand offen; draußen zwitscherten Schwalben auf der Regenrinne. Gelegentlich erklangen Hammerschläge aus Karls Garten, ansonsten war es still. Frederik dachte, dass er im Leben vielleicht weniger Fehler gemacht hatte, als er normalerweise glaubte.

Dann sah er den Karton unter der Couch.

»Was ist das?«

»Ein Glücksfall.«

»Du versteckst einen Glücksfall unter dem Sofa?«

»Wenn ich ihn verstecken wollte, hättest du ihn nicht gefunden.«

Frederik zog den Karton hervor und nahm den Deckel ab. Staunend holte er einen Gegenstand nach dem anderen heraus und legte ihn auf die Dielen. Als der Karton leer war, saßen sie inmitten eines improvisierten Gruselkabinetts. Ein Handschuh mit abgeschnittenem Finger. Eine Barbiepuppe ohne Kopf. Die Mumie einer vertrockneten Kröte. Ein Flugblatt mit Fahndungsphoto eines flüchtigen Vergewaltigers.

»Das hier hab ich nicht verstanden«, sagte Linda und hob einen gestreiften Kinderschal auf. »Vielleicht hat den wirklich jemand verloren?«

»Wo kommt das Zeug her?«

»Hab ich alles von unserem Zaun geerntet.« Linda grinste. »Er trägt gut dieses Jahr.«

»Was redest du da?«

»Ein Präsentkorb.« Linda drehte den Karton um, so dass noch der abgerissene Kopf eines Spielzeugpferds herausrollte. »Eine kleine Aufmerksamkeit Unterleutens an die neuen Mitspieler.«

»Erzähl mir bitte nicht, dass irgendwelche Dorftrottel den Kram vor unser Haus werfen.«

»Nicht irgendwelche. Und auch nicht einfach vors Haus.« Linda schlang sich den Kinderschal um den Kopf und posierte: als Indianer, als Pirat, als kleines Mädchen mit Zöpfen. »Sie stecken die Sachen auf Zaunstangen.«

»Wer – sie?«

»Krons Leute wahrscheinlich. Sie glauben, dass ich mit Gombrowski kooperiere.«

Frederik spürte, wie seine Finger zu zittern begannen. David Lynch war zurück.

»Hast du Anzeige erstattet?«

»Spinnst du?«

»Das sind Drohungen.«

»Messerscharf kombiniert.«

»Todesdrohungen.«

»Mach mal halblang.«

»Das sind«, Frederik wurde laut, »das sind mafiöse Praktiken!«

»Soweit ich weiß, steht die Mafia eher auf toten Fisch.«

Als Linda die vertrocknete Kröte mit spitzen Fingern aufhob und auf ihren nackten Oberschenkel setzte, hielt Frederik es nicht mehr aus. Er fegte die Kröte von ihrem Bein, riss ihr den Schal weg und machte sich daran, alles zurück in den Karton zu packen.

»Die Sachen heben wir auf«, sagte er.

»Und ob wir die aufheben.«

»Das sind Beweisstücke. Menschen, die so etwas tun, sind gefährlich!«

»Menschen, die so etwas tun, sind garantiert nicht gefährlich.« Sie nahm ihm den Karton weg und ließ ihn über den Boden schlittern, so dass er wieder unter die Couch rutschte. »Denk doch mal nach. Eine richtige Drohung funktioniert mit einem Gegenstand. Eine tote Katze oder eine Puppe ohne Kopf. Nicht jeden Tag etwas Neues. Diese Mischung aus Mafia und Vodoo ist die Karikatur einer Drohung, inszeniert von Leuten, die Bandenkrieg spielen. Wie kleine Kinder.«

»Willst du behaupten, es ginge um nichts?«

»Das hab ich nicht gesagt. Es ist ein Spiel, in dem es um einiges geht, jedenfalls für mich. Deshalb spiele ich mit.«

Sie lächelte. Sie sagte »für mich« und »ich«, nicht etwa »für uns« und »wir«. Mit nackten Hintern saßen sie auf dem Boden und taxierten einander.

»The winner takes it all«, sagte Linda.

»Mir ist kalt«, sagte Frederik.

»Hörst du jetzt mal zu?«

Frederik klemmte die Hände unter die Achselhöhlen und nickte. Solange ihm außer »David Lynch« kein Wort einfiel für das, was hier nicht stimmte, konnte er ebenso gut Linda reden lassen.

»Für mich kommt der Unsinn wie gerufen«, sagte sie. »Gombrowski denkt, dass er das Land auf der Schiefen Kappe von mir bekommt.«

»Von dir bekommt er gar nichts«, sagte Frederik. »Höchstens von uns. Soll ich dir einen Grundbuchauszug zeigen?«

»Dafür besorgt er mir die Baugenehmigung«, fuhr Linda unbeirrt fort. »In Wahrheit werde ich aber an Meiler verkaufen. Was brauche ich also?«

»Ein paar hinter die Ohren, weil du dich wie ein Amateur-Gangster benimmst.«

Sie kniff ihn in den Arm, so fest, dass er aufschrie vor Schmerz. Nie hatte sie gelernt, zwischen neckischen Gesten und Brutalität zu unterscheiden.

»Ich brauche einen Grund, um mich plötzlich anders entscheiden zu können. Und das da«, sie zeigte Richtung Karton, »ist ein Grund.«

Weil Frederik nicht gleich verstand, schlang sie die Arme um den Oberkörper und tat so, als zittere sie vor Angst.

»Die Drohungen schüchtern mich ein. Niemand kann von einer jungen Frau erwarten, dass sie einem solchen Druck standhält. Unter diesen Bedingungen kann ich unmöglich an Gombrowski verkaufen.«

Linda beendete ihre Präsentation und blickte ihn an wie ein Hund, der eine Belohnung für ein gelungenes Kunststück erwartet. In diesem Augenblick erkannte Frederik, was David Lynch ihm sagen wollte. Er begriff, warum es ihm nicht gelang, über geköpfte Barbies einfach zu lachen.

»Wir können hier nicht weg«, sagte er.

Stille breitete sich aus. Die Schwalben legten eine Pause ein, sogar Karls Hammer schwieg. Frederik wusste nicht, ob Linda über seine Worte nachdachte oder ob sie eigenen Gedanken nachhing. Es war unangenehm, in den hallenden Raum zu sprechen,

»Das ist keine Mietwohnung. Hier verschwindet man nicht einfach, wenn einem die Nachbarn nicht passen. So ein Haus ist eine Fußfessel. Du verfängst dich auf einem Stück Erde, in einem Dorf, dem Landkreis, in der ganzen Republik.« Er legte ihr die flache Hand auf die Stirn. »Da! Ein Etikett. Was steht drauf? ›Eigentum von Unterleuten‹. Verstehst du, was ich sage, Linda? Mit den Typen, die geköpfte Barbies verteilen, müssen wir bis an unser Lebensende zurechtkommen. Wenn du es vermasselst, sitzen wir in der Scheiße.«

Sie nahm seine Hand von ihrer Stirn und legte sie auf ihre linke Brust.

»Ich sage dir, was dein Problem ist, Frederik Wachs. Du vertraust mir nicht. Du hältst mich für eine dumme Gans, die nicht weiß, was sie tut.«

Er wollte protestieren, aber mit ihrer Brust in der Hand fiel ihm das schwer. Außerdem ahnte er, dass sie recht hatte. Die erste Erkenntnis wurde von einer zweiten ergänzt: Nicht-weg-Können setzte voraus, dass man weg wollte. Weg-Wollen setzte voraus, dass etwas schiefgegangen war. Dass Lindas Pläne schiefgehen würden, stand für Frederik fest. Aber eben nur für ihn. Niemand sagte, dass er recht behalten würde, zumal Rechtbehalten, wie die Erfahrung zeigte, nicht zu seinen Stärken gehörte. Es gibt eben keine Wahrheit, dachte er, während er nach der zweiten Brust griff und Linda sich auf den Rücken sinken ließ, sondern immer nur Perspektiven.

Es kam nicht oft vor, dass sie gleich zweimal miteinander schliefen. Wenn es geschah, machte es Frederik glücklich. Danach schmerzten seine Knie wie nach einem Sturz auf Asphalt, aber der Karton unter der Couch hatte alles Bedrohliche verloren. Als Linda einen Spaziergang über die Felder vorschlug, hatte er eingewilligt.

Jetzt spürte er, wie ihm die Schönheit der Landschaft den Brustkorb dehnte. Der Kiefernwald stand in Reih und Glied; das Gelb der Stoppelfelder erstreckte sich bis zum Bahndamm, auf dem sich das weiß-rote Band eines ICE bewegte, von der Entfernung auf ein erträgliches Tempo verlangsamt. Der Sand des Wegs war sauber wie gesiebt; kein Bonbonpapier, keine Zigarettenkippe, kein zerknülltes Taschentuch, nicht einmal eine Fußspur berichtete von der Anwesenheit anderer Menschen. Über ihnen wölbte sich der Himmel kuppelförmig wie in einer literarischen Beschreibung. Vielleicht hatte Linda recht, dachte Frederik: Heimat wurde nicht aus Mietshäusern und Straßenbahnen, sondern aus Erde und Horizonten gemacht. Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. So gingen sie eine Weile schweigend, und der Sand staubte unter ihren Füßen.

»Was ist das denn?«

Zwischen den Bäumen wurde ein hoher Stahlzaun sichtbar, der eine Lichtung einschloss. Das Gras war sorgfältig gemäht.

»Ein Gehege für Raubkatzen?«

Ein grasbewachsener Weg führte zum Eingangstor, neben dem sich ein Display mit Tastatur sowie eine Überwachungskamera befanden. Hinter den Zaunstäben stand in der Mitte der Wiese ein kleiner Ziegelbau. Ein Schild am Tor informierte über die Trinkwasserförderungsanlage von Unterleuten und erklärte die Funktionsweise des Horizontalfilterbrunnens. Frederik hielt Linda, die weiterwollte, an der Hand fest und studierte die Abbildungen, bis er das Prinzip verstanden hatte. Anscheinend befand sich unter dem Ziegelbau ein zwanzig Meter tiefer Schacht. Das Besondere war, dass der Brunnen Sauerstoff ins Grundwasser pumpte, so dass die zur Wasseraufbereitung nötigen Oxidationsprozesse unterirdisch ablaufen konnten. Was an die Oberfläche gebracht wurde, besaß Trinkwasserqualität und floss direkt in die Wasserhähne Unterleutens. Gezeichnet, der Bürgermeister.

»Genial«, sagte Frederik.

»Absolut«, spottete Linda. »Wenn du das ganze Dorf vergiften willst, musst du hier das Botulinum reinwerfen.«

Aber Frederik achtete nicht auf sie. Mit einem Schlag hatte eine Idee von ihm Besitz ergriffen, so mächtig, dass die ganze Umgebung verändert schien. Mit Linda an der Hand drehte er sich um und ließ den Blick langsam über die Felder streifen. An der Struktur der Stoppeln erkannte er, dass Sommergerste geerntet worden war. Sechs Jahre mit Traktoria hatten ihn zu einem Experten für landwirtschaftliche Erzeugnisse werden lassen. Plötzlich wusste er, wie sein Leben weitergehen würde. Seit Monaten diskutierten sie bei Weirdo über Möglichkeiten, die Traktoria-Welt zu erweitern. Gerade hatten sie das dreiundzwanzigste Tier released, einen Vogel Strauß mit auftoupiertem Hintern, ein Auge etwas größer als das andere, was ihm einen drolligen Gesichtsausdruck verlieh. Typisches Timo-Design und ein voller Erfolg. Eine Stunde nach dem Release waren die ersten hunderttausend Straußenfarmen verkauft. Trotzdem würde es den Leuten früher oder später langweilig werden, ihre Bauernhöfe nur durch immer neue Tiere zu erweitern. Timo und Ronny hatten bereits angefangen, sich Deko-Gegenstände auszudenken, einen Koi-Teich, Zierkürbisse und Hecken in lustigen Formen. Aber das war Tand, mit dem die Spieler nicht arbeiten konnten.

»Kampfläufer«, sagte Frederik.

»Wo?«, fragte Linda.

»Ich weiß jetzt, wie sich Traktoria ausbauen lässt.«

»Die Kampfläufer als neues Feature?« Nachdenklich sah sie ihn an. »Das sind doch keine Nutztiere.«

»Eins muss man dir lassen: Blöd bist du nicht.«

»Ein Naturschutzgebiet als Spielerweiterung?«

»Als komplett neue Sonderzone, vielleicht ab Level 100.«

In Lindas Augen blitzte es.

»Gute Idee«, sagte sie. »Naturschutz ist ein knallhartes Geschäft. EU-Subventionen, Arbeitsplätze, Öko-Betriebe. Den Tourismus nicht zu vergessen. Erwähnte ich bereits, dass mein neuer Freund Fließ gern mit weiteren Informationen hilft?«

Frederik lachte. Linda hatte es sofort begriffen. Der Naturschutz eröffnete den Traktoria-Spielern ein völlig neues Betätigungsfeld. Sie konnten mit Brachflächen Geld verdienen, was sie motivieren würde, wieder mehr Land zu kaufen, obwohl die Grundstückspreise in letzter Zeit durch die Decke gingen, während die Marktpreise für Getreide und Gemüse kontinuierlich fielen. Ohne die ständigen Quests wäre der Wirtschaftskreislauf von Traktoria längst zusammengebrochen. Frederiks Einfall bedeutete eine ernstzunehmende Expansion, mit eigenen Entwicklern, eigenem Management. Eigenem Geschäftsführer. Er selbst würde das Konzept entwickeln, die Verläufe durchrechnen, vielleicht Entwürfe für die ersten Features programmieren. Kampfläufer. Horizontalfilterbrunnen. Vogelschutzwarte. Öko-Hotels. Schon jetzt stießen sich die Ideen gegenseitig an wie Dominosteine.

Jahrelang hatte Frederiks Stolz es verboten, irgendeine Form der Sonderbehandlung von Seiten der Firmenleitung zu akzeptieren. Aber wenn er zum Vater einer komplett neuen Traktoria-Generation würde, stellte sich die Sachlage anders dar. Man konnte eine eigene Marke entwickeln, »Traktoria nature, by Frederik Wachs«, ein kleines Unter-Universum in der Traktoria-Welt. Damit gäbe es Anlass für eine Beteiligung an Weirdo. Frederiks Einkommen würde sich vervielfachen. Die Renovierung von Objekt 108 würde plötzlich nur noch eine Lappalie darstellen, und er könnte Bergamotte nach Unterleuten holen, ohne dass Linda ihre Seele ans Dorf verkaufen musste. Schon sah Frederik, wie er ein eigenes Team von Entwicklern betreute. Lauter neu eingestellte junge Genies, mit denen er die Normalverteilung der Öko-Tomaten-Börse oder den möglichen Verlauf eines Renaturierungs-Quests oder das Design eines niedlichen Kampfläufers diskutierte. Auch wusste er bereits, wie er sein Konzept pitchen würde:

»Traktoria nature bedient mehrere Zielgruppen, erfüllt die Anforderungen an den agrartechnischen Wirklichkeitsbezug und ist ausbaufähig. Über EU-Subventionen kommen die kühl kalkulierenden Spieler auf ihre Kosten. Aber auch für Ästheten und Sammler ist es der reinste Abenteuerspielplatz. Viele Gestaltungsmöglichkeiten, hoher Pflegeaufwand, alle zwei Monate eine neue vom Aussterben bedrohte Tierart zum Auswildern, von Laubfrosch bis Weißstorch.«

Linda musterte ihn von der Seite, bemüht, seine Gedanken zu lesen.

»Du weißt, dass man gute Ideen teuer verkauft?«, erkundigte sie sich schließlich.

»Danke für den Hinweis. War nicht nötig.«

Sie küsste ihn auf die Wange: »Ich freue mich schon auf den Windkraft-Quest.«

Dann zog sie ihn zurück auf den Sandweg. Frederik stolperte willenlos hinterher, während sein Verstand unter Volldampf arbeitete. Mit einem Mal ergab sein Teilzeit-Leben in Unterleuten Sinn. Noch die absurdeste Erfahrung wie der Windkraftstreit würde sich für Traktoria nature nutzen lassen. Auf einem höheren Level würden die Spieler entscheiden müssen, ob sie in erneuerbare Energien investierten und hohe Pachtpreise erzielten oder ob sie lieber die mühsam aufgebaute Artenvielfalt schützten und Tourismus-Punkte sammelten. Frederik rieb sich die Arme, seine Haut prickelte, als hätte er Kohlensäure im Blut. Dieses Gefühl hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt, genau genommen seit seiner Jugend, als er mit Timo und Ronny halbe Nächte vor dem Monitor verbracht und an Spielentwürfen gefeilt hatte. Er stellte sich vor, wie er Timo und Ronny von seiner Idee erzählen würde und wie sie sofort begeistert wären. Er sah sich Nächte vor dem Rechner verbringen, eingesponnen in einen Kokon aus höchster Konzentration und bläulichem Licht, die Welt um sich herum vergessend wie in alten Zeiten. Er lächelte vor sich hin, während sie durchs Dorf zurückgingen, und das Dorf lächelte zurück. Irgendwo krähte ein Hahn. Es klang wie das Startzeichen zum Eintritt in ein neues Level.



52 Gombrowski


»Hier bist du also«, sagte Betty.

Als Gombrowski die Augen aufschlug, stand sie vor der Anrichte und kochte Kaffee. Zwei Sorten Kaffee, wie jeden Morgen. Sie drehte sich nicht zu ihm um, während sie sprach.

»Wir haben versucht, dich zu erreichen. Zu Hause warst du nicht, und das Handy war ausgeschaltet.«

Er versuchte, sich aus dem Sessel zu stemmen, und sank stöhnend zurück. Sein Rücken war eine komplizierte Skulptur aus Schmerz.

»Ist was passiert?«, fragte er.

»Trink erst mal deinen Kaffee.«

Betty reichte ihm eine Tasse, der Inhalt war nicht durchsichtig, sondern schwarz. Aus der bösen Kanne. Es musste definitiv etwas passiert sein. Sie blieb vor ihm stehen und sah zu, wie er den ersten Schluck nahm.

»Was tust du hier?«, fragte sie.

Gombrowski murmelte etwas von »nach dem Rechten sehen« und versteckte das Gesicht hinter der Kaffeetasse. Die Wahrheit war, dass er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte. Ohne Elena und Fidi dröhnte ihm die Leere der Räume in den Ohren. Seit Tagen tigerte er von einem Zimmer ins andere und kam nicht zur Ruhe, weil er keinen Grund fand, sich irgendwo hinzusetzen, geschweige denn hinzulegen. Warum sollte er sitzen, wenn Elena nicht mit Pfannen und Töpfen werkelte, um ihm im nächsten Augenblick das Essen hinzustellen? Wenn keine Fidi kam, um sich gegen sein Knie zu drücken? Wenn es nicht mehr darum ging, sich auf eine Augenhöhe mit der zwergenhaften Hilde zu begeben? Und warum sollte er sich hinlegen, wenn er ohnehin nicht schlafen konnte?

Abend für Abend stand er am Fenster des Arbeitszimmers und betrachtete die geschlossenen Fensterläden an Hildes Haus, in das sie niemals zurückkehren würde. Er stand vor dem Wohnzimmerregal und drehte einen kleinen Specksteinelefanten zwischen den Fingern, der ihm noch nie aufgefallen war. Er stand im Türrahmen des Esszimmers und verzehrte sein Mikrowellen-Essen direkt aus der Plastikschale. Er stand vor der Haustür, im Bad vor dem Spiegel oder neben seinem Schreibtisch, wo er mit der flachen Hand Unterlagen durcheinanderschob. Wenn er nicht stand, lief er. Von der Küche über den Flur ins Gästebad, die Treppe hinauf, um einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen, danach ins Arbeitszimmer und einmal um den Schreibtisch, die Treppe wieder hinunter, raus in den Garten, rund um den Teich. Er zählte die Kois, einer fehlte, er ging bis zur hinteren Grundstücksgrenze und wieder zurück. Seit Elenas Verschwinden war Gombrowski auf der Flucht, getrieben von Dingen, die er ein Leben lang als sein Zuhause betrachtet hatte und die sich jetzt verbündeten, um ihn zu verhöhnen. Die brachliegende Küche sah mit ihren geschlossenen Schränken und Schubladen aus, als presste sie spöttisch die Lippen aufeinander. Fidis Näpfe, der eine blank geschleckt, der andere noch voll Wasser, standen als Symbol der Sinnlosigkeit im Flur. Im Arbeitszimmer ließ sich das Kissen nicht von der Fensterbank entfernen – immer wenn Gombrowski die Hand danach ausstreckte, fuhr er zurück, als könnte es nach ihm schnappen.

Fünf Tage lang hatte er versucht, der Feindseligkeit seines ehemaligen Zuhauses standzuhalten. Am sechsten Abend ging er in den Märkischen Landmann. Niemand wagte zu fragen, was mit Elena geschehen sei. Gombrowski hielt sich an der Bar fest, sprach nicht und bestellte einen Schnaps nach dem anderen, bis Silke die Stühle auf die Tische stellte und ihn aufforderte, endlich zu gehen.

Vor der Tür begriff er, dass der einzelne, konkrete Gombrowski kein Haus benötigte. Er brauchte nur einen Platz, der dem Volumen seines Körpers entsprach. Das Haus mit dem blauen Dach und dem kleinen, würfelförmigen Nachbargebäude war Elenas, Püppis, Fidis und Hildes Lebensraum gewesen. Für seine Frauen hatte er das Anwesen gebaut, mit dem Verschwinden der Frauen hatte es sich in ein Mausoleum verwandelt.

So war Gombrowski in der letzten Nacht nicht nach Hause, sondern vom Märkischen Landmann direkt in die Ökologica gegangen. In seinem Schreibtischsessel, voll bekleidet, unter einer der Filzdecken, die zum Abtransport toter Kälber verwendet wurden, hatte er ein paar Stunden Schlaf gefunden.

Betty wandte sich ab und zog die Jalousien hoch. Die Morgensonne blendete. Gombrowskis Füße waren eingeschlafen und kribbelten beim Versuch, sie zu bewegen. Bettys breiter Rücken bewegte sich von der Anrichte zum Waschbecken und wieder zurück, immer so, dass er sie nur von hinten sehen konnte.

Zum ersten Mal fragte sich Gombrowski, ob nicht nur Kron und die Gerüchteküche, sondern vielleicht auch Elena geglaubt haben konnte, dass Betty seine Tochter sei. Seit Neuestem wusste er, dass Elena seine Loyalität immer nur mit dem Verdacht belohnt hatte, er würde genau jenes Verhältnis pflegen, welches er sich ein halbes Leben lang versagt hatte. Wenn er sich vorstellte, dass Elena geglaubt hatte, er sei jeden Morgen in die Ökologica gegangen, um dort seine Tochter anzutreffen, die ihm Kaffee kochte und die Arbeitspläne vorlegte, wurde ihm übel.

»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte Gombrowski.

»Wie soll’s ihr schon gehen. Sie ist in Kurzzeitpflege und wartet auf einen Platz im Heim.«

»Warum kommt sie nicht zurück?«

»Frag sie doch selbst.«

»Ich hab alles versucht, Betty. Hundertmal angerufen. Sie spricht nicht mit mir.«

»Vielleicht solltest du dir mal überlegen, warum.«

»Denkst du, ich sei schuld daran, dass sie weg ist? Sagst du mir dann bitte, was ich falsch gemacht habe?«

Betty schwieg; Gombrowski wurde laut.

»Was war mein verdammter Fehler?«

Mit empfindlichem Klirren trafen zwei Tassen auf die Unterteller, dann fiel die Tür der Anrichte krachend ins Schloss. Es hatte keinen Sinn. Betty glaubte nicht an Warum-Fragen. Sie hielt ihn für schuldig, und Schluss. Mit beiden Händen rieb er sich das Gesicht; er spürte Bartstoppeln und schmeckte den eigenen Mundgeruch. Er hatte vergessen, Rasierzeug und Zahnbürste mit in die Firma zu bringen. Wenigstens gab es auf dem Gelände eine Dusche.

»Hat Hilde Katzen?«, fragte er. »Wenigstens eine?«

»In der Einrichtung sind keine Haustiere erlaubt.«

Betty warf Besteck in die Spüle und knallte die Zuckerdose in den Schrank. Jedes der Geräusche ging Gombrowski durch Mark und Bein.

»Das ist doch unmöglich, Betty. Hilde ohne Katzen. Wir suchen ein Altersheim, wo man Tiere halten darf.«

»Mama will keine Katzen mehr. Nie wieder, hat sie gesagt.«

Das tat weh. Gombrowski angelte nach seinen Stiefeln, wobei er den tonnenförmigen Bauch zwischen Brust und Oberschenkeln zusammendrücken musste. Als er sich wieder aufrichtete, stand Betty vor ihm und sah auf ihn herunter.

»Es wird Gewitter geben. Sommergerste und Winterweizen müssen rein.«

»Weiß ich«, sagte Gombrowski.

»Wir schaffen das nicht. Durch den Streik haben wir zu wenig Leute.«

»Dann sollen die anderen sich doppelt anstrengen.«

»Wir sollten die Streikenden anrufen«, sagte Betty. »Um zu verhandeln.«

»Kommt nicht in Frage.« Gombrowski bückte sich erneut, um einen Fuß in den Schnürstiefel zu zwängen. Ohne Schuhlöffel ein aussichtsloses Unterfangen. Er spürte, wie sein Kopf rot anlief.

»Wenigstens Ingo oder Patrick. Und auf alle Fälle Angela. Sonst können wir das vergessen.«

»Das ganze Kron-Pack kann mir gestohlen bleiben!« Gombrowskis gepresste Stimme passte zur Gesichtsfarbe. »Ich habe denen nicht geraten, die Arbeit niederzulegen.«

»Mit viel Glück bleiben uns noch zwei Tage«, sagte Betty ungerührt. »Mit den Sektoren 17 und 23 haben wir noch nicht einmal angefangen. Und der Beuteler Bruch ist auch noch nicht fertig.«

»Was haben die scheiß Polen denn die ganze Nacht gemacht?«, rief Gombrowski. »Soljanka gekocht?«

»Soljanka ist russisch«, sagte Betty. »Und die Polen habe ich um 23 Uhr nach Hause geschickt.«

»Wieso das denn?«

Sie schwieg.

»Sag mir jetzt, was passiert ist.«

Betty zögerte, nur so lange, wie sie brauchte, um tief Luft zu holen.

»Der Tucano steht in Sektor 4. Dreschaggregat kaputt. Vielleicht auch der Schüttler.«

Die Worte vibrierten eine Weile in der Luft, bevor sie verklangen.

»Steinschlag?«, fragte Gombrowski schließlich.

»Wahrscheinlich hat er was Größeres eingezogen. Könnte ein Autoreifen gewesen sein.«

Normalerweise hätte Gombrowski auf den Tisch gehauen oder einen Locher durchs Büro geworfen. Er hätte gebrüllt wie ein Tier und wäre danach aktiv geworden, um die Probleme aus der Welt zu schaffen. Stattdessen fühlte er sich ruhig, auf eine endgültige, unumkehrbare Art. Als wäre alle Wut, die ihm für sein Leben zur Verfügung gestanden hatte, mit einem Mal aufgebraucht. Gefräßige Leere breitete sich in ihm aus, wuchs über die Grenzen seines Körpers hinaus und machte sich daran, die Umgebung zu verschlingen. Betty, das Büro, die ganze Ökologica. Er fühlte sich nicht mehr in der Lage, sich um den kaputten Mähdrescher zu kümmern. Er hatte keine Lust, sich zu fragen, wie der Autoreifen ins Feld gekommen war und was es für die Ernte und damit für den ganzen Betrieb bedeutete, wenn da draußen noch mehr Reifen lagen, geschickt verteilt in den Sektoren 4, 17 und 23, unsichtbar verborgen im hoch stehenden Getreide. Es war, als ginge ihn das alles nichts mehr an.

»Bist du in Ordnung?« Betty klang nicht mehr ungehalten, sondern besorgt. Weil er nicht antwortete, fuhr sie fort:

»Natürlich habe ich versucht, sofort den Service zu kriegen, aber da war nichts zu machen mitten in der Nacht. Sie kommen gleich nachher um acht. Den Tucano haben wir stehen lassen, ich wollte nicht allein entscheiden, ob er zurückgebracht wird, vielleicht können sie ihn gleich da draußen …«

»Ist gut, Betty.«

Erstaunt blickte sie auf.

»Willst du nicht rumschreien?«

»Du hast alles richtig gemacht.«

Irritiert stand sie im Raum und schien nicht weiterzuwissen.

»Hilf mir mal«, bat Gombrowski und zeigte auf seine Füße.

Ohne Umschweife ließ sie sich auf die Knie nieder, lockerte die Schnürsenkel des Stiefels und bog das Leder auseinander, bis Gombrowskis geschwollener Fuß hineinschlüpfen konnte. Genauso machte sie es mit dem anderen Schuh und band zum Abschluss die Schnürsenkel, als sei es das Normalste von der Welt. Danach erhob sie sich, ging zur Anrichte, schenkte Kaffee nach, den niemand trinken wollte. Mit der vollen Tasse setzte sie sich an ihre Seite des Schreibtischs, die unter Dienstplänen, Bestandsverzeichnissen, unerledigter Post, Rechtshandbüchern und dem endlosen Papierkram der Europäischen Union begraben lag. Wenn Betty eines Tages die Ökologica übernahm, würde sich ihr Papierchaos in Windeseile auf seine Schreibtischseite ausdehnen. Sie würde keine neue Sekretärin einstellen, weil sie ohnehin am liebsten alles selbst machte. Das ist dann das letzte Kapitel meiner Familiengeschichte, dachte Gombrowski: Eine junge Frau, mit der ich nicht einmal verwandt bin, führt einen EU-subventionierten Betrieb. Dafür hatte er ein Leben lang gekämpft, erst gegen die Kommunisten, dann gegen die Kapitalisten. Dabei hatte es immer nur einen wahren Diktator gegeben: das Land. Es wollte gepflegt, bewirtschaftet und beschützt werden, vor dem Wetter, vor gierigen Vogelschwärmen, Ungeziefer und Spekulanten. Vielleicht, dachte Gombrowski, war es meine größte Schwäche, dass ich es nicht geschafft habe, mich aus dieser Sklaverei zu lösen. Vielleicht bin ich deshalb an allem schuld.

Plötzlich erfasste ihn Angst. Vor ihm lag ein unüberschaubares Gebirge aus Zeit, zu Steilwänden aufgetürmte Jahre, Monate, Tage und Stunden, die Gombrowski allein bezwingen sollte. Das war alles, was ihm blieb – eine einsame Bergwanderung auf dem Weg ins Nichts.

Nein, dachte er. Das kann niemand von mir verlangen.

Betty telefonierte. Sie rief die Zeitarbeitsfirma an, um mehr Leute anzufordern. Sie machte dem Reparaturservice Dampf, damit der Tucano spätestens am Nachmittag wieder einsatzbereit wäre. Gombrowski saß da und tat gar nichts. Als sie ihm den Hörer über den Tisch reichte, schrak er auf, als hätte er geschlafen.

»Guten Morgen, Herr Gombrowski.«

Die Stimme hätte ohne Weiteres zu einer Telefonsex-Hotline gehören können. Gombrowski lächelte. Aus irgendeinem Grund mochte er Linda Franzen.

»Guten Morgen«, sagte er. »Ich nehme an, Sie wollen sich bedanken.«

»Wofür?«

»Haben Sie die Baugenehmigung nicht erhalten?«

»Die lag gestern im Briefkasten.«

Nachdem der Vogelschützer seinen Widerstand aufgegeben hatte, war es ein Kinderspiel gewesen, das Papier zu beschaffen. Ein Anruf bei Arne, und kurz darauf ging die Genehmigung in die Post.

»Da müssten Sie jetzt wunschlos glücklich sein«, sagte er.

»Quasi.«

»Unser Notartermin steht bereits. Nächste Woche Mittwoch bei Frau Söldner in Berlin.«

Gombrowski begann, sich ein wenig besser zu fühlen. Wenigstens diese Sache konnte er erfolgreich zu Ende bringen. Mit Arnes Hilfe würde sich der Windpark in kürzester Zeit realisieren lassen. Die Ökologica konnte ihre Arbeitsplätze erhalten, Betty bekam eine sichere Grundlage für künftiges Wirtschaften, und Kron hatte verloren. Noch vor Ende des Jahres würden sich zehn langsame Propeller auf der Schiefen Kappe drehen, ein Denkmal für Gombrowski, welches daran erinnerte, dass man mit niederträchtigen Methoden nicht ans Ziel kam. Nicht, wenn auf der anderen Seite ein aufrechter Mann stand.

»Herr Gombrowski«, sagte Linda Franzen, »ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«

»Ich glaube kaum, dass Sie mich heute noch mit irgendetwas schocken können.«

»Ich werde die Schiefe Kappe nicht an Sie verkaufen.«

»Wie bitte?«

Er war tatsächlich nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. Statt zu antworten, wartete Franzen darauf, dass sich das Verständnis von selbst einstellte.

»Wir haben eine Abmachung!«

»Es ist nicht meine Entscheidung.«

»Alles ist immer eine Entscheidung.«

»Ich wurde bedroht.«

»Schwachsinn.«

»Geköpfte Puppen. Zerschnittene Handschuhe.«

»Na und?«

»Mir macht das Angst.«

»Ihnen macht gar nichts Angst, Frau Franzen.«

»Ich kann Ihnen die Gegenstände zeigen.«

Gombrowski lachte nur.

»Das Ergebnis steht fest.« Linda Franzen klang ein wenig mechanisch. Vielleicht hatte sie ihren Text vor dem Telefonat auswendig gelernt. »Ich werde mich nicht weiter in diesen Windmühlenkrieg involvieren.«

»Weil du von mir schon bekommen hast, was du wolltest«, sagte Gombrowski. »Ich dachte, du hast Ehrgefühl. Willkommen in Unterleuten.«

In der Leitung entstand eine unangenehme Stille. Von draußen war das Rufen der Kühe zu hören, das Motorengeräusch eines Traktors, das regelmäßige Zischen der Melkmaschine. Betty saß an ihrem Platz und gab keinen Mucks von sich. Selbst die Zuchtbullen draußen in ihren engen Gitterboxen schienen darauf zu warten, was Gombrowski als Nächstes sagte.

»War das Krons Idee?«, fragte er.

»Mit Kron hat das nichts zu tun. Vielleicht beruhigt Sie das ein wenig.«

Erst glaubte er tatsächlich, es würde ihn beruhigen. Aber in Wahrheit war er gar nicht aufgeregt. Es war ihm egal. Franzens Anruf brachte etwas zu Ende. Eigentlich hätte er sie anschreien müssen, ihr drohen, ihre Selbstsicherheit erschüttern. Aber ihm fiel nichts ein. Da war kein Vokabular mehr für Drohungen. Da waren überhaupt keine Wörter, nur noch diese Leere, die alles verschlang. Weil Gombrowski sein Leben lang immer nur wütend und niemals traurig gewesen war, wusste er nicht, was mit ihm geschah. Er kannte den Sumpf nicht, in dem er versank. Er wusste nur, dass die Wut zu Ende war und dass ihm ohne Wut die Kraft fehlte für jeden weiteren Schritt.

»Vielen Dank für Ihr Verständnis«, sagte Linda Franzen und legte auf.



53 Meiler


Konrad Meiler hatte Spaß. Man konnte sogar sagen, dass er sich königlich amüsierte. Mit ganzem Wesen genoss er die Szene, die sich im Wartezimmer des Notariats Söldner abspielte.

Das Notariat befand sich im ersten Stock eines Gründerzeitbaus in Charlottenburg. Es gab einen weitläufigen Empfangsbereich mit unbesetzter Rezeption, Garderobenständer und Couchgarnitur. An den Wänden hingen mehrere Drucke von Magritte. Meiler hatte nie verstanden, warum Ärzte und Juristen glaubten, wartenden Kunden ihren Kunstgeschmack aufdrängen zu müssen. Erst kürzlich hatte er den Zahnarzt gewechselt, weil er es nicht länger ertragen hatte, im Vorfeld der Behandlung auf Leinwände zu starren, die irgendein Amateurkleckser, möglicherweise der Zahnarzt selbst oder seine Frau, mit dicken Farbbatzen beworfen hatte. Im Vergleich dazu war Magritte noch als angenehm zu bezeichnen. Trotzdem verstand Meiler nicht, was ihm Notarin Söldner über Grundstückskäufe, Eheverträge und Testamentseröffnungen sagen wollte, indem sie einen Mann mit Bowler in ihr Wartezimmer hängte, dessen Gesicht von einem Apfel verdeckt wurde.

Soeben war ein Moment der Stille eingetreten. Linda Franzen stand am Fenster neben dem Apfelmann und sah hinaus. Frederik saß auf der Couch, hatte das Gesicht in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie gestützt, in der typischen Toilettenhaltung ratloser Männer. Meiler wünschte sich eine Kamera. Nein, er wünschte sich keine Kamera, sondern die Möglichkeit, die Wirklichkeit wie einen Film zu bedienen. Er wollte die Pausentaste drücken und das Standbild genießen. Er wollte zurückspulen und noch einmal in Zeitlupe sehen, wie Linda aufsprang, während das lange blonde Haar um ihren Kopf flog. Wie es für einen Moment aussah, als wollte sie ihrem Freund eine runterhauen, und wie sie dann doch gelassen zum Fenster schlenderte, um hinauszuschauen. Er wollte alles noch einmal von vorn erleben, noch einmal aus dem Taxi steigen, sich dem Hauseingang nähern, in dem Linda Franzen lehnte, eine Hand in der Hüfte und eine Zigarette zwischen den Lippen, während Frederik mit heftigen Gesten auf sie einsprach und abrupt verstummte, als er Meiler bemerkte.

Sie hatten sich die Hand gegeben und danach geschwiegen. Der unterbrochene Streit hing schwer in der Luft und machte jeden Smalltalk unmöglich.

»Gehen wir rauf«, hatte Meiler vorgeschlagen, und Linda Franzen hatte ihre Zigarette weggeworfen.

In einer Reihe waren sie die Treppe hinaufgestiegen; Meiler vorneweg. Schon auf dem ersten Absatz fing Frederik wieder an zu nörgeln. Seitdem verhielten sich die beiden, als wäre Meiler entweder gar nicht da oder ein langjähriger Freund der Familie, vor dem man sich nicht zu schämen brauchte. Sie stritten seinetwegen, oder besser gesagt, wegen des Geschäfts, das Linda mit ihm abschließen wollte.

Wenn er Frederiks Suada richtig verstand, hatte das Windkraftprojekt in Unterleuten eine Art Krieg ausgelöst. Meiler erfuhr von entführten Kindern, abtransportierten Katzen und mafiösen Drohungen. Frederik vertrat die Ansicht, dass es unter den gegebenen Bedingungen sozialer Selbstmord sei, die zum Eignungsgebiet gehörenden Hektar an einen geldgierigen Investor zu verkaufen. Dabei warf er Meiler einen kurzen Blick zu, no offense. Meiler winkte versöhnlich zurück, none taken. Er empfand nicht die geringste Beunruhigung. Die Szene erschien ihm als Kammerspiel, nicht wie ein Vorgang, der seine Pläne gefährden könnte.

Was ihn so gebannt zuhören ließ, war die Art, wie Frederik und Linda miteinander sprachen. Die beiden gehörten zu einer fremden Spezies. Nichts an ihnen war gedämpft. Nichts an ihnen war unsicher, zurückhaltend, zweiflerisch oder bescheiden. Diese jungen Menschen, in Meilers Augen halbe Kinder, agierten als Repräsentanten eines neuen Jahrhunderts. Sie arbeiteten nicht mehr für Vorgesetzte. Sie kannten keine überheizten Büros, keine grauhaarigen Sekretärinnen und keine Telefone, die über Kabel mit der Wand verbunden waren. Sie kannten keine Abteilungen und deren Abteilungsleiter, keine kurzen und langen Dienstwege und auch nicht den Geruch von frisch gesaugten Teppichböden, der die Arme schwer, den Rücken krumm und die Schritte langsam machte. Sie waren selbstständig, selbstsicher, selbstsüchtig, wandelnde Selfies, zwei dauerbewegte Selbstporträts. Wenn sich Meiler die neue Generation vorstellte, sah er eine Armee von jungen Leuten mit ausgestrecktem rechtem Arm, nicht zum Führergruß, sondern um das eigene Gesicht mit dem Smartphone aufzunehmen.

Seinen eigenen Söhnen gegenüber hatte er sich niemals alt gefühlt. Friedrich und Johannes folgten ihren klassischen Biographien wie auf Schienen, und Philipp war zu weit entgleist, um für irgendetwas repräsentativ zu sein. Wenn Meiler von Berlin aus an sein Zuhause dachte, sah er eine Schwarz-Weiß-Photographie, allerdings eine, die ihm zurzeit ganz gut gefiel. Seit Neuestem wohnte Mizzie wieder zu Hause. Abends saß sie auf der Couch vor dem Fernseher, wo sie meistens bald einschlief, die Hände über dem Bauch gefaltet und den Kopf nach hinten gekippt, während Meiler im Sessel lehnte, das Handelsblatt auf den Knien, und sie ansah. Alle drei Tage kam Philipp zum Schach, und neulich hatte er sogar einmal in seinem alten Zimmer übernachtet, worüber Mizzie die halbe Nacht geweint hatte vor Glück. Einmal waren Johannes und Friedrich zu Besuch gekommen. Sie hatten zusammen gegessen, und es war ein netter Abend gewesen, bis Friedrich beim Nachtisch plötzlich begonnen hatte, sich zu beschweren. Es sei inakzeptabel, sämtliche Erlöse des geplanten Windparks in Philipps »Krankheit« fließen zu lassen. Das deutsche Erbrecht halte im Übrigen Möglichkeiten bereit, eine derartige Ungerechtigkeit nach Meilers Tod zu korrigieren. Zum ersten Mal im Leben sagte Meiler seinen Vorzeigesöhnen, dass sie ihn am Arsch lecken könnten, und er benutzte genau diese Vokabel dafür. Mizzie sah ihn erstaunt, ja bewundernd an, und irgendwie tat das gut. Beim nächsten Treffen trug Philipp nagelneue schwarze Röhrenjeans und weiße Turnschuhe und ließ ihn beim Schach gewinnen, wofür Meiler ihm Prügel androhte, und dann lachten sie gemeinsam. Im Grunde musste er Linda und Frederik dankbar sein. Seit die Windräder in sein Leben getreten waren, entwickelten sich die Dinge zum Guten, wenn auch in Schwarz-Weiß.

Meiler betrachtete Lindas helles Haar, die Jeans und grünen Turnschuhe sowie Frederiks knallrotes T-Shirt, auf dem ein Kopffüßler abgebildet war. Er fragte sich, warum er selbst im Anzug erschienen war, dabei wusste er, dass er in allen anderen Klamotten verkleidet wirkte. In Gegenwart dieser jungen Leute spürte er deutlich wie nie, dass Alter lächerlich machte. Meiler hatte immer verstanden, warum sich Kinder für ihre Eltern schämten; warum sie mit ihnen nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden wollten und an der Vorstellung, der eigene Vater könnte auf einer Party auftauchen, schier irre wurden. Alles, was ein Mensch ab 55 tun konnte – essen, tanzen, lieben, singen, vögeln oder einfach nur im Wartezimmer eines Notariats im Sessel sitzen –, war mit Peinlichkeit infiziert. Frederik und Linda hingegen konnten sich wie Idioten benehmen und verkörperten trotzdem ein Ideal, voller Stolz damit beschäftigt, einander unglücklich zu machen.

»Und wenn ich einfach nicht unterschreibe?«, fragte Frederik.

Meiler hatte gar nicht gewusst, dass der Junge zeichnungsberechtigt war. Es bedeutete, dass er mindestens Miteigentümer des fraglichen Flurstücks sein musste, was Franzen wohlweislich verschwiegen hatte. Sie warf ihrem Lebensgefährten einen frostigen Blick zu. Weder Hass noch Wut, nicht einmal Nervosität lagen darin. Nur Gleichgültigkeit, die sich schon jenseits der Verachtung befand. Dass man einen Menschen, mit dem man Tisch und Bett teilte, auf solche Weise ansehen konnte, hatte Meiler nicht gewusst. Es gab nur eine Erklärung dafür: Linda liebte Frederik nicht. Sie war mit ihm zusammen, weil es sich irgendwie ergeben hatte. Frederiks Anwesenheit wurde nicht von bedingungsloser Zuneigung getragen, sondern von einem Vertrag, der an eine Bedingung geknüpft war: dass Frederik funktionierte. Sollte er beschließen, mit dem Funktionieren aufzuhören, folgte automatisch das Ende seiner Anwesenheit. Offensichtlich wusste Frederik das, er kapitulierte sofort.

»Ich meine ja nicht, dass wir gar nicht verkaufen sollen, sondern nur, dass es keinen Grund gibt, etwas zu überstürzen. Wir haben die Genehmigung, wir können jederzeit anfangen zu bauen. Wenn ich Timo und Ronny von Traktoria nature überzeugen kann, stehen wir finanziell bald so gut da, dass wir auf das Geschäft mit Herrn Meiler nicht angewiesen sind. Wir können warten, bis sich die Lage im Dorf beruhigt hat.«

Frederik probierte ein Lächeln, das unerwidert blieb. Dafür befreite ihn Linda endlich von ihrem eiskalten Blick, indem sie sich Meiler zuwandte.

»Keine Sorge«, sagte sie zu ihm.

Das war ein Vernichtungsschlag, so beiläufig geführt, dass Meiler kurz auflachte.

»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte er im vollen Bewusstsein, damit in dieselbe Bresche zu schlagen, denn seine Antwort bedeutete: »Ich sehe doch, dass du diesen Waschlappen im Griff hast.«

Offensichtlich hatte er genau das gesagt, was Linda hören wollte. Sie tauschten ein Lächeln, und mehr als das: Da war ein komplizenhaftes Einverständnis, das alle Peinlichkeit zu Frederik hinüberwandern ließ. Frederik wurde fahl. Das knallige Rot seines T-Shirts konnte nicht verhindern, dass von Kopf bis Fuß die Farbe aus ihm wich. Indessen fühlte Meiler, wie das volle Farbspektrum durch seine Adern zu fließen begann. Er sprang aus dem Sessel und trat ans Fenster, das Linda eben verlassen hatte. Während er so tat, als betrachte er die Fassaden gegenüber, nahm er sich ein paar Sekunden Zeit zum Glücklichsein. Er hatte sich geirrt. Die entscheidende Grenze verlief nicht zwischen den Generationen, nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Gewinnern und Verlierern. Meiler stand auf der Gewinnerseite, schon immer und durch den Windkraft-Deal in besonderem Maße. Er nahm sich vor, auch in Zukunft den Kontakt zu Linda Franzen zu halten. Vielleicht konnte er sie bei der Konzeption ihres Pferde-Manager-Coachings unterstützen und gelegentlich in Unterleuten vorbeischauen. Er würde miterleben, wie sich die seltsame Villa von einer Ruine in ein modernes Landgut verwandelte, und vielleicht würde er als väterlicher Freund an dem Tag zugegen sein, an dem sich Linda von Frederik trennte.

Er lächelte noch immer dem desinteressierten Berlin zu, als hinter ihm die Tür aufging und die kleine Gruppe ins Amtszimmer gebeten wurde. Linda trat ein, ohne Frederik eines weiteren Blickes zu würdigen, gefolgt von Meiler, der im Türrahmen stehen blieb, um dem Jungen mit ironischer Geste den Vortritt zu lassen.

Das Verlesen der Verträge und die Belehrungen der Notarin ließen sie schweigend über sich ergehen, saßen mit gesenkten Köpfen und zusammengelegten Händen wie im Gottesdienst, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Als die Papiere über den Tisch geschoben wurden, griff Frederik als Erster nach dem Stift, unterschrieb und ließ den Kugelschreiber fallen, als hätte er sich die Finger daran verbrannt. Er sprang auf und hielt die Hand auf.

»Autoschlüssel.«

Linda zog den Schlüssel aus der Tasche ihrer Jeans und ließ ihn auf den Tisch fallen.

»Du bleibst in Berlin und wohnst bei Timo«, sagte Frederik. »Ich fahre allein nach Unterleuten und kläre die Lage. Das Dorf muss erfahren, dass der Windpark gebaut wird und dass du schuld daran bist. Solange ich nicht weiß, wie die Leute reagieren, hältst du dich von diesem Irrenhaus fern. Verstanden?«

Linda schaute Frederik nicht nach, als er aus dem Raum rannte.

»Ich entschuldige mich für meinen Lebensgefährten«, sagte sie.

In aller Ruhe und Sorgfalt setzten sie die fehlenden Unterschriften unter die Verträge und nahmen die Standardgratulation von Frau Söldner entgegen, als hätten sie geheiratet. An der Garderobe half Meiler ihr in die grüne Lederjacke, die er bereits aus dem Adlon kannte. Linda schloss den Reißverschluss bis unters Kinn und stiefelte die Treppe hinunter.

Weil er um jeden Preis verhindern wollte, dass sie einfach verschwand, lief er ihr nach, überholte sie im Hauseingang und fragte, während er ihr die Tür aufhielt, nach einer Zigarette.

Amüsiert sah Linda ihn an.

»Sie rauchen doch gar nicht«, sagte sie. »Aber Sie können mich nach Unterleuten fahren.«

Statt einer Antwort wies Meiler einladend auf den Mercedes Roadster, der wenige Meter weiter im Halteverbot stand.



54 Fließ


Gerhard erschrak, als das Tor nach einem kleinen Stoß einfach aufschwang, so dass er eintreten und es hinter sich zuziehen konnte. Als wäre es normal, bei Schaller auf ein Schwätzchen vorbeizuschauen. So leicht hatte er sich das Betreten der Höhle des Löwen nicht vorgestellt.

In den vergangenen Wochen hatte sich Unterleuten als strenger Lehrmeister erwiesen. Gerhard hatte erlebt, wie an diesem Ort Probleme erzeugt und gelöst wurden. Mit Reden, Analysieren, Abwägen kam man nicht weit. Es ging darum, Fakten zu schaffen. Sein halbes Leben hatte Gerhard an dem Widerspruch zwischen Denken und Handeln gelitten. Er hatte sich als Intellektueller gefühlt und versucht, darin eine Auszeichnung zu sehen, die für andauerndes Scheitern entschädigte. Insgeheim war ihm schon lange klar gewesen, dass der Satz »Der Klügere gibt nach« eine Falle darstellte und dass es sich beim Zusatz »bis er der Dumme ist« nicht um einen Witz, sondern um eine logische Konsequenz handelte.

Vor vier Wochen hatte er zum ersten Mal versucht, mit Schaller zu reden, und war weggerannt, bevor das erste Wort gesprochen wurde. Beim zweiten Mal hatte er Schaller nach dem verschwundenen Krönchen gefragt und war danach weggerannt. Heute würde er den Hof erst verlassen, wenn eine Lösung gefunden war. Wegrennen stellte keine Option mehr dar – daran hatte Jule keinen Zweifel gelassen. Seit Sophies Verschwinden hatte sie kaum noch mit ihm gesprochen. Das war auch nicht nötig, denn die letzten Worte ihres Streits klangen ihm noch in den Ohren: Wenn du unser Zuhause nicht verteidigst, packe ich meine Sachen und bringe Sophie und mich aus dieser Hölle heraus.

Sie befanden sich wieder am Anfang. Obwohl die Luft im Garten sauber war, lebten sie hinter verschlossenen Türen und Fenstern. Es war heiß. Selbst im Haus ließ Jule das Baby keine Sekunde aus den Augen. Nachts schlief die Kleine wieder im Elternbett. Tagsüber trug Jule sie ständig auf dem Arm und rannte mit ihr im Wohnzimmer hin und her. Man konnte ab und zu lüften, aber das war, allen Kämpfen zum Trotz, die einzige Verbesserung.

Gerhard hatte sich eine Strategie zurechtgelegt und die letzten Tage mit Ermittlungen verbracht. Er hatte Gespräche geführt, die alle um den 3. November 1991 kreisten. Natürlich wusste Gerhard, dass die Vergangenheit viele Väter und Mütter besaß. Die vergehenden Jahre hatten Legenden hervorgebracht, deren Schichten es abzuschälen galt, um an den harten Kern aus Fakten zu gelangen. Sorgfältig hatte Gerhard alle Aussagen in ihre Bestandteile zerlegt und die Informationen neu zusammengesetzt. Was herauskam, stellte die Wahrheit dar. Dann jedenfalls, wenn man aufgeklärt genug war, um »Wahrheit« als den Fall mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu betrachten.

Demnach hatte Gombrowski am fraglichen Tag einen Strohmann in den Wald geschickt, um dort mit Kron und Erik zu verhandeln. Aber es kam nicht zu einer friedlichen Einigung. Stattdessen ging der Strohmann auf seine beiden Verhandlungspartner los, einer wurde getötet, der andere schwer verletzt.

Auch vom schweren Unwetter und einem angeblich herabgestürzten Ast hatte Gerhard gehört. Er hatte sich die Mühe gemacht, die betreffende Lichtung zu besichtigen, und siehe da: Die alte Buche war völlig unverletzt. Dass sich ein Baum in zwei Jahrzehnten so makellos regenerierte, hielt er für unwahrscheinlich.Viel wahrscheinlicher war, dass der Strohmann von Anfang an mit dem Auftrag ausgestattet gewesen war, den Aufmüpfigen einen Denkzettel zu verpassen. Vermutlich hätte er seine Opfer nicht töten sollen; insoweit war die Sache anscheinend eskaliert. Jedenfalls war unter der Buche ein bis zum heutigen Tag ungesühntes Verbrechen passiert, das Unterleuten von innen heraus zersetzte.

Durch einen Abgleich der Aussagen ließ sich mit hoher Sicherheit sagen, wer der Strohmann gewesen war. Fest stand, dass sich Gombrowski im fraglichen Zeitraum nicht selbst im Wald aufgehalten hatte. Aber es gab da einen Automechaniker, der den Maschinenpark der LPG betreute und den Gombrowski in der Vergangenheit schon mehrfach als Mann fürs Grobe eingesetzt hatte. Nämlich ebenjenen Bodo Schaller, der heute auf dem Nachbargrundstück residierte und von dort aus einen Vernichtungsfeldzug gegen Gerhard und seine Familie führte.

So lautete Gerhards Ergebnis: Das Tier von nebenan war der Mörder und Gombrowski sein Anstifter und Auftraggeber.

Sämtliche Ermittlungen hatte Gerhard dokumentiert, die Aussagen seiner Gesprächspartner getippt, datiert und abgeheftet. Er wollte Schaller vor eine einfache Wahl stellen. Entweder packte er seinen Schrottplatz zusammen und suchte sich eine neue Bleibe oder Gerhard würde sein Dossier den Ermittlungsbehörden übergeben. Mord verjährte nicht.

Er sah sich um. Wie bei einem Suchbild dauerte es eine Weile, bis er Schaller inmitten von Schrott und Gerümpel entdeckte. Der Mann saß auf seiner viel zu hohen Bank, die rechte Hand hielt eine Bierdose. Zuerst glaubte Gerhard, das Tier im Schlaf überrascht zu haben. Beim Näherkommen erkannte er, dass es ihm, den Mund halb geöffnet, aus engen Augenschlitzen entgegensah.

Er hatte sich keinen Text zurechtgelegt. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass sich die richtigen Worte im entscheidenden Augenblick von selbst ergeben würden. Jetzt musste er feststellen, dass diese Annahme nicht stimmte. Fünf Schritte vor Schaller blieb er stehen und dachte, dass dieser wirklich hässlich war. Der Bauch aufgedunsen und gespannt wie eine Trommel, die Augen rot unterlaufen, die Lippen fleischig, die Arme dick wie Oberschenkel. Gerhard hoffte, der andere möge etwas sagen, aber den Gefallen tat der ihm nicht. Er saß einfach da und sah ihn an.

Als es sich gar nicht mehr vermeiden ließ, den Mund aufzumachen, sagte Gerhard:

»Das muss aufhören.«

In Schallers Gesicht regte sich nicht der kleinste Muskel, nichts wies darauf hin, ob er Gerhard überhaupt gehört hatte. Eine der Blaumeisen, die Jule so mochte, saß auf einer leeren Tonne und drehte den kleinen Kopf, um Gerhard abwechselnd aus beiden Augen anzublicken. Früher konnte Jule in Verzückung geraten, wenn sich ein Vogel im Garten derart nah an die Menschen heranwagte. Früher – als sie noch draußen gesessen hatten, um die Sonne zu genießen. Langsam begannen Schallers Kiefer zu mahlen. Gleich würde er etwas sagen. Komm schon, dachte Gerhard, gib mir ein »Verpiss dich«, damit ich wütend werden kann.

»Hat es ja«, sagte Schaller. »Aufgehört, mein ich.«

Gerhard spürte, wie ihn die Situation überforderte, obwohl gar nichts passiert war. Schaller stellte die Bierdose neben sich und rutschte von der Bank. Gemächlich ging er auf Gerhard zu. Sein Oberkörper schwankte, die Hände fassten abwechselnd in die Luft, als zöge er sich an unsichtbaren Griffen voran. Mühsam unterdrückte Gerhard das Bedürfnis, nach Hause zu rennen und am Schreibtisch nach einer Lösung zu suchen, die sich per E-Mail oder Telefon realisieren ließ. Nicht weglaufen, dachte er. Nicht am Kopf kratzen, am Hemdkragen ziehen, über die Stirn wischen. Du schwitzt, das ist kein Problem.

Plötzlich streckte Schaller die Hand aus, so ruckartig, dass Gerhard sie im Reflex ergriff. Der Händedruck war überraschend lasch und flüchtig.

»Tut mir leid«, sagte Schaller.

Fast hätte Gerhard gelacht. Er überlegte, ob das Tier intelligent genug war, um ihn auf den Arm zu nehmen. Wahrscheinlicher schien, dass Schaller von Gerhards Ermittlungen gehört hatte und ihm den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Vielleicht sollte das, was Schallers unförmigen Mund ein wenig straffte, sogar ein Lächeln sein.

»So geht das nicht«, sagte Gerhard. »Folgendes.« Er wies auf den Hof. »Sie packen hier zusammen und suchen sich eine neue Bleibe.«

Wieder verging etwas Zeit, die Schaller zu brauchen schien, um das Gesagte zu verstehen.

»Lass gut sein«, sagte er schließlich. »Ich mach keine Gombrowski-Scheiße mehr. Hab ich meiner Tochter versprochen.«

Er trat einen Schritt vor, hob eine Hand, diesmal behutsam, um Gerhard nicht zu erschrecken, und klopfte ihm auf die Schulter.

»Auf gute Nachbarschaft.«

Weil Gerhard nicht reagierte, hob Schaller schließlich die Achseln, drehte sich um und wankte zu seiner Bank zurück. In Gerhards Kopf herrschte Funkstille. Er ließ den Blick zur Grundstücksgrenze schweifen, um sich daran zu erinnern, warum er hergekommen war. Aber da war nichts. Keine Feuerstellen, keine Asche, keine Benzinkanister, keine Reste verkohlter Autoreifen. Alles sauber aufgeräumt, als wäre nie etwas geschehen. Der Graben, in dem längst eine Mauer hätte stehen sollen, zog sich sandig zwischen den beiden Grundstücken hindurch, eine eingetrocknete Wunde, hässlich, aber unschuldig. Ver-tei-di-gen, sagte Gerhard zu sich selbst, langsam und deutlich wie zu einem kleinen Kind.

»Sie verschwinden hier«, sagte Gerhard. »Es gibt jede Menge Höfe in der Gegend.«

»Magst du ein Bier?«, fragte Schaller.

Gerhard schüttelte den Kopf und trat zwei Schritte auf den sitzenden Schaller zu.

»Sie glauben, Sie können mich verarschen. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich gebe Ihnen zwei Wochen. Wenn hier bis dahin nicht geräumt ist, gehe ich zur Polizei. Zur Kriminalpolizei, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Schaller taxierte ihn einen Moment, dann schüttelte er seinerseits den Kopf. Nicht ablehnend, sondern verständnislos.

»Was willst du denn? Es ist doch sowieso alles vorbei.«

»Was ist vorbei?«

»Haste nicht gehört? Gombrowski ist raus aus der Windmühlen-Geschichte.«

»Was reden Sie da?«

»Frontera hat ihn gelinkt.«

»Wer?«

»Die Pferdefrau verkauft ihm die Schiefe Kappe nicht.«

Gerhard hörte die Stimme von Linda Franzen, viel zu hart für eine junge Frau: »Ich werde nicht an Gombrowski verkaufen.«

Erst hatte er ihr geglaubt. Dann nicht mehr. Und jetzt das. Ein Sieg, der nicht seiner war, während er mit Schaller zurückblieb. Allein, ohne Mannschaft. Nicht als Kämpfer für eine gute Sache, nicht als Bollwerk gegen Gombrowskis Intrigen, sondern als Familienvater mit einem lästigen Nachbarn. Gerhard spürte, wie er zu zittern begann, erst die Hände, dann Unterarme und Ellenbogen, so dass er die Fäuste ballen und die Zähne zusammenpressen musste. Was ihn da erfasste, kannte er nicht. Es war blanker Hass.

»Du bist ein Mörder«, brachte er hervor.

Mit einem Mal waren Schallers Augen offen und der Mund geschlossen statt umgekehrt. Anscheinend brauchte er auch keine Minute mehr, um zu erfassen, was Gerhard gesagt hatte. Er war blass geworden.

»Ich hab mit den Leuten gesprochen«, fuhr Gerhard fort. »Lange her heißt nicht vergessen. Es gibt viele, die sich erinnern können.«

Schaller schien zu warten. In Gerhards Ohren rauschte es. Der Hass floss jetzt in seine Worte.

»Da gab es diesen Tag vor nicht ganz zwanzig Jahren. Anfang November. Ziemlich schlechtes Wetter soll da gewesen sein, nach allem, was man hört.«

»Halt’s Maul«, sagte Schaller.

»Du hattest diesen hübschen Auftrag von deinem Chef. In den Wald gehen, zwei Leute treffen.«

Gerhard wusste nicht, wie der Schraubenschlüssel in seine Hand gekommen war. Er registrierte das überraschende Gewicht. Das Ding war mindestens sechzig Zentimeter lang und drei Kilo schwer.

»Hattest du so einen dabei? Oder war’s eine Eisenstange?«

»Du – sollst – ruhig – sein.« Schaller wirkte zusammengeschrumpft. Noch immer hockte er auf seiner Bank und hielt sich an den eigenen Knien fest, während seine Unterlippe zitterte.

»Dann ist die Sache ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Weißt du das noch?« Gerhard wartete. »Ich habe gefragt, ob du das noch weißt!«

»Du darfst nicht davon sprechen!« Schaller schrie wie ein Kind, das gleich zu weinen beginnt. »Niemand darf das!«

»Und ob ich davon sprechen werde. Nicht nur mit dir, sondern auch mit der Polizei. Du bist ein Mörder.«

Schaller hatte zu zittern begonnen.

»Willst du es noch mal hören? Mörder!«

Als das Tier aufsprang, hob Gerhard den Schraubenschlüssel. Aber Schaller griff nicht an, sondern verschwand hinter der verfallenen Scheune. Als er Sekunden später wieder auftauchte, hingen an jedem Arm zwei Autoreifen, die er über den Hof zur Grundstücksgrenze schleppte und dort fallen ließ. Noch einmal rannte er davon und kehrte mit einem Benzinkanister zurück. Als er an Gerhard vorbeiwollte, fuhr der Schraubenschlüssel durch die Luft. Schaller gab keinen Ton von sich. Er kippte zur Seite, schlug hart auf den Boden, rollte einmal herum und hielt sich das Bein. Gerhard vermutete, dass er ihn am Knie getroffen hatte. Er holte ein zweites Mal aus. Er sah die Schmerzen des anderen, konnte sie aber nicht fühlen.

»Mit wem hast du angefangen? Mit Kron?«

Der Schraubenschlüssel fuhr herab.

»Hast du ihn aufs Bein geschlagen? So vielleicht?«

Schaller antwortete nicht, er schaute Gerhard nicht an, es sah aus, als versuchte er, in den Boden zu beißen. Auch der nächste Schlag traf Schallers Bein; eventuell auch einige Finger der Hände, die das Bein hielten.

»Pack deine Sachen«, keuchte Gerhard. »Verschwinde von hier.«

Schaller schrie nicht, obwohl er den Mund weit aufgerissen und die Augen zusammengekniffen hatte und auch sonst aussah wie ein Mensch, der vor Schmerzen brüllt. Oder vielleicht hörte Gerhard nichts mehr. Sein Verstand hatte sich vom Körper getrennt, stand ein wenig abseits und beschäftigte sich mit einer interessanten Erkenntnis. Er hatte gerade eins der großen Rätsel der Menschheit gelöst, nämlich die Frage, warum es so viel Gewalt auf der Welt gab. Die Antwort lautete: Weil Gewalt verdammt einfach war.

Arme und Beine arbeiteten weiter, ganz von selbst, sie benötigten keine weiteren Anweisungen. Der Schraubenschlüssel war zu Boden gefallen, Gerhard trat jetzt mit den Füßen auf Schaller ein. Wut fühlte er nicht mehr; auch der Hass war verflogen. Er war einfach ein Mann, der eine Arbeit verrichtete. Er dachte an Jule, die mit Sophie auf den Armen panisch im Wohnzimmer hin und her lief. Dann dachte er gar nichts mehr. Ver-tei-di-gen, skandierte eine Stimme in seinem Kopf. Die Füße zielten auf Schallers Nieren, auf Schallers Wirbelsäule. Noch ein paarmal mit voller Wucht, dann war es genug. Gerhard fand den weggeworfenen Schraubenschlüssel, legte ihn ordentlich auf die Bank und verließ den Hof.

Auf dem kurzen Weg zurück nach Hause machte sich wunderbare Entspannung in ihm breit. Schaller würde verschwinden, Gombrowskis Windmühlen waren ausgebremst. Ab heute würde es anständig zugehen im Dorf, friedlich und zivilisiert, dafür würde Gerhard schon sorgen. Er hatte bereits drei Jahre in Unterleuten verbracht, er hatte ein Haus saniert, Himbeerhecken gepflanzt und ein Kind gezeugt. Aber erst jetzt war er richtig angekommen. Als er durchs Gartentor auf das Haus zuging, schlug die Stunde null seiner neuen Existenz.



55 Wachs


Frederik glaubte nicht, dass es zwischen Mann und Frau ums Gewinnen ging. Er war in den Neunzigern groß geworden, einem Jahrzehnt, von dem Linda sagte, dass es nur turnschuhweiche Männer hervorgebracht habe. Eine ganze Generation von mehr oder minder männlichen Wesen, die mit dem Begriff »erwachsen« nichts anfangen konnten. Im Grunde gab Frederik ihr recht; aus seiner Sicht passte »erwachsen« immer nur auf andere. Er war 27 Jahre alt, besaß Job, Freundin, Auto, mittlerweile sogar ein Haus und eine ganze Reihe Bäume, wenn auch nicht selbst gepflanzt. Trotzdem fühlte er sich nicht anders als jener Achtzehnjährige, der mit Wochenendticket und kleinem Bruder zur Loveparade nach Berlin gepilgert war. Im Wesentlichen sah er auch noch so aus. »Mann« war ein Wort, das an Frederik schlecht haften blieb. Wenn Timo, Ronny und er von sich selbst sprachen, benutzten sie »Männer« höchstens im ironischen Sinn. Richtig lautete die Form in der Einzahl »Typ«, in der Mehrzahl »Jungs«. Auch wenn sie Firmen, Häuser oder Bäume besaßen.

Lindas Diagnose war definitiv als Vorwurf gemeint. Trotzdem hatte sich Frederik nie daran gestört, weich wie ein Turnschuh zu sein. Immerhin würde er niemals seiner Frau eine reinhauen oder das Familieneinkommen für Motorräder und Nutten ausgeben. Statt viel Zeit und Kraft mit der Darstellung von Erwachsen-Sein oder Männlichkeit zu vergeuden, konnte er seine Energie in sinnvollere Dinge investieren.

Zum Beispiel in die Entwicklung eines digitalen Naturschutzgebiets. Seit ihm vor zehn Tagen die Idee zu Traktoria nature gekommen war, hatte er sich quasi unaufhörlich damit beschäftigt. Während er Linda beim Renovieren half, formulierte er im Kopf ein Designdokument, dachte über Spielmechanik, Architektur, Zielgruppe, Alleinstellungsmerkmale und Entwicklungszeiträume nach und überschlug schon einmal die Kosten. Nachts saß er am Computer und entwarf Prototypen. In den ersten Kampfläufer war er geradezu verliebt. Vielleicht ähnelte der Vogel ein wenig Timos Strauß – das eine Auge war kleiner als das andere, was ihm einen drolligen Gesichtsausdruck verlieh. Aber Kopfschmuck und Balzkragen, der einer spanischen Halskrause aus der Tudor-Zeit nachempfunden war, machten den Kampfläufer zu einem echten Individuum. Anders als Nutztiere, die in Traktoria ausschließlich in Gehegen oder Ställen gehalten wurden, liefen die Wildtiere in Traktoria nature frei herum. Frederiks genialster Einfall bestand darin, dass sich der Fruchtbarkeits-Koeffizient der Kampfläufer nicht nur durch Füttern und Pflege, sondern auch durch reine Beobachtung erhöhen ließ. Wenn ein Spieler viel Zeit auf der nature-Seite verbrachte, begannen die Vögel irgendwann mit dem Balzen und sorgten für Nachwuchs. Mit dem Anwachsen der Population stiegen die Subventionen für das Naturschutzgebiet, so dass sich häufige Besuche auf der Seite in barer Spielmünze auszahlten.

Er hatte Linda auf dem Weg zur Notarin vom Stand seines nature-Konzepts erzählt, und sie hatte zurückgefragt, wann er es Timo und Ronny vorstellen würde. Die Frage hatte sarkastisch geklungen und nicht nach einer Antwort verlangt. Die glaubte Linda selbst zu kennen: niemals. Er würde sich bis zum Ende aller Tage mit seiner Idee beschäftigen, weil er Angst hatte, bei seinem kleinen Bruder durchzufallen. Turnschuh eben. Linda war definitiv auf Krawall gebürstet gewesen, und Frederik hatte gewusst, warum. Sie versuchte schon im Auto, ihn zur Schnecke zu machen, damit er beim bevorstehenden Termin mit Meiler nicht aufmuckte.

Der Streit hatte sich bis ins Wartezimmer der Notarin fortgesetzt. So wie sie sich aufführte, hätte jeder normale Mann ihr einen Vogel gezeigt und den Notartermin platzen lassen. Frederik aber hatte die Demütigung heruntergeschluckt und die Verträge unterschrieben. Das war ihm nur möglich, weil es ihm nicht auf Sieg oder Niederlage ankam. Wie so oft hatte Linda von seinem Turnschuhträgertum profitiert, was sie auch in Zukunft nicht davon abhalten würde, ihn genau deswegen zu kritisieren. Sie dachte immer nur bis zum nächsten Vorwurf. So überzeugt war sie von der Existenz eines Optimalzustands, dass sie überall nur Defizite sah, sogar dann, wenn sie gewann.

Meiler hatte das Flurstück auf der Schiefen Kappe bekommen, das er für die Errichtung des Windparks brauchte. Im Gegenzug erhielten Linda und Frederik 50000 Euro sowie vier Hektar bestes Weideland direkt hinterm Haus. Was sie unverlangt dazu erhielten, war der Hass des gesamten Dorfs. Egal ob die Leute zu Gombrowski hielten oder das Windkraftprojekt verhindern wollten – mit dem Verkauf an Meiler gelang es Linda, alle gleichzeitig vor den Kopf zu stoßen.

Jetzt saß Frederik allein im Auto und steuerte den Frontera durch den dichten Verkehr auf dem Kaiserdamm. Seinen Plan hatte er entwickelt, während die Notarin den Vertragsinhalt herunterleierte. Wenn Linda unbedingt dem ganzen Dorf den Krieg erklären wollte, dann musste er das Dorf davon abhalten, die Kriegserklärung anzunehmen. Im Westend fuhr er auf die A100 in Richtung Hamburg.

Sein Leben lang hatte Frederik das Gefühl, dem Lauf der Dinge hinterherzuhinken. Als Nachtmensch begann er meist erst mit der Arbeit, wenn andere schon aus der Mittagspause kamen. Auf frühes Aufstehen reagierte er mit Jetlag. Zu Verabredungen kam er zu spät, weil ihm immer noch eine Kleinigkeit einfiel, die dringend erledigt werden musste, bevor er das Haus verließ. Grundsätzlich hatte er nichts dagegen, dem Leben einen kleinen Vorsprung zu lassen; nicht selten sah man von hinten besser, wie der Hase lief. In diesem Fall aber konnte er nicht abwarten, was passierte. Er musste sich nur Gombrowskis Physiognomie vor Augen rufen, die gedrungenen Schultern und tellergroßen Pranken, dazu das fleischige Gesicht mit den Tränensäcken und Lefzen einer alten Dogge, und schon wusste er, dass er handeln musste, und zwar sofort.

Frederik erreichte die A 111, beschleunigte auf 140 km/h und setzte den Frontera auf die linke Spur, um nicht ständig wegen dänischer Touristen und polnischer Lastwagen ausscheren zu müssen. Er fuhr schneller als gewöhnlich. Es war völlig klar, dass sich Linda nicht an die Anweisung halten würde, ein paar Tage bei Timo in Berlin zu verbringen. Aber selbst wenn sie versuchte, so schnell wie möglich nach Unterleuten zurückzukehren, würde sie die Regionalbahn um 14:27 Uhr nicht mehr erreichen, und der nächste Zug nach Plausitz ging erst zwei Stunden später. Das gab ihm drei Stunden Vorsprung – nicht viel, aber vielleicht ausreichend, wenn er sich beeilte. Er wollte in Unterleuten den wichtigsten Akteuren einen Besuch abstatten, Gombrowski, Kron, Bürgermeister und Vogelschützer, dazu Oma Rüdiger, die zuverlässig dafür sorgen würde, dass sich die Nachricht im ganzen Dorf verbreitete. Seine Botschaft lautete: Ich habe die Schiefe Kappe an Konrad Meiler verkauft. Er würde so tun, als wollte er um Verständnis werben, in Wahrheit aber ging es darum, sich selbst als den Drahtzieher im Hintergrund zu präsentieren. Es sollte so aussehen, als wäre die Idee, Gombrowski und Meiler gegeneinander auszuspielen, auf seinem Mist gewachsen, während Linda nur ausführendes Organ gewesen sei. Frederik war sicher, dass man ihm glauben würde. Jenseits der Turnschuhgeneration erschien es nur logisch, dass ein Mann hinter einem solchen Geschäftsabschluss steckte. Die Aggression der Dörfler würde er gelassen ertragen. Im Zweifel blieb er eine Weile in Berlin.

Die Lkw auf der rechten Spur bildeten mittlerweile eine geschlossene Phalanx und versperrten die Sicht. Um ein Haar hätte Frederik die richtige Ausfahrt verpasst, er fuhr zu selten mit dem Auto nach Unterleuten, um die Strecke auswendig zu kennen. Er bremste abrupt und zog den Geländewagen zwischen zwei Lastwagen nach rechts. Hinter ihm wurde gehupt.

Sosehr er bereit war, brettflache Sandböden, eintönige Kiefernwälder und verfallende Gründerzeitarchitektur romantisch zu finden – Plausitz war von einer speziellen ostdeutschen Trostlosigkeit, die jedem fühlenden Menschen aufs Gemüt schlagen musste. Nach der Autobahnausfahrt passierte die Landstraße noch drei typische Dörfer, jeweils fünfzig Häuser mit Zigarettenautomat, Briefkasten und Sandstreifen am Straßenrand, auf dem die Autos parkten. Ringsum lagen ausgedehnte Weiden, auf denen sich Galloway-Rinder langweilten. Danach, im ersten Dunstkreis von Plausitz, verwandelte sich die Gegend in eine Rumpelkammer der Zivilisation. Kläranlage, Umspannwerk, Gewerbegebiet, Tankstellen, die Schallschutzwände der ICE-Trasse und die Lagerhallen einer Spedition verbanden sich zu einer Anti-Landschaft von frustrierender Beliebigkeit. Radwege nahmen die Landstraße in den Schwitzkasten, Kreisverkehre belästigten die Kreuzungen, an den Laternen hingen Hinweisschilder auf den Plausitzer McDonald’s. Zuletzt musste Frederik noch an Shopping-Malls und Designer-Outlets vorbei, die die Stadt umgaben wie ein feindlicher Belagerungsring. Der kürzeste Weg nach Unterleuten führte direkt durch die Plausitzer Innenstadt.

Im Zentrum befanden sich all jene Institutionen, deren Aufgabe es war, das Leben der Menschen unangenehm zu machen – Bauamt, Arbeitsamt, Naturschutzbehörde, Amtsgericht, Polizei, Post, Kfz-Zulassungsstelle. Selbst bei gutem Wetter sah die Stadt nach Regen aus. Am bedrückendsten fand Frederik den quadratischen, mit Betonpflaster ausgelegten Ernst-Thälmann-Platz, der von flachen Plattenbauten umgeben war. Vor einer Reihe schäbiger Boutiquen standen Drehständer, an denen dünne Blusen in schreienden Farben wehten. Dreimal am Tag, stellte Frederik sich vor, verließen die Plausitzer ihre heruntergekommenen Wohnblocks, um jeden Ständer auf dem Ernst-Thälmann-Platz einmal langsam um die eigene Achse zu drehen. Viel mehr gab es nicht zu tun. Die Jugendlichen drängten sich im Wartehäuschen der Bushaltestelle zusammen und rauchten.

Auf der anderen Seite der Stadt wartete die finale Katastrophe: der Windpark auf der Plausitzer Platte. Das Ausmaß des ästhetischen Verbrechens verblüffte Frederik immer wieder aufs Neue. Links und rechts der Straße drehten sich Hunderte gewaltiger Rotoren. Bei Nacht tauchten die Gefahrfeuer an den Spitzen der Türme die Szenerie in gespenstisch blinkendes Licht. Das nicht ganz synchrone Pulsieren erzeugte einen hypnotischen Sog, der dafür gemacht schien, Autofahrer von der Straße zu ziehen. Bei Tag fuhr man in gefühlter Zeitlupe in das langsame Kreisen der Propeller hinein, ein zähes Anrennen gegen Windmühlen als Symbol für die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens. Stets waren zwei oder drei der Kraftwerke außer Betrieb, standen reglos zwischen den arbeitenden Kollegen und hielten die Gesichter abgewandt, als schämten sie sich ihres Versagens.

Frederik spürte, wie der Anblick der stur bewegten Maschinen seine Magennerven angriff. Dies waren die Wächter des trostlosen Plausitz, eine Armee, die im Begriff stand, ihre Vorhut weiter ins Land auszusenden, und ausgerechnet Linda hatte dafür gesorgt, dass ein paar davon demnächst von der Schiefen Kappe auf Unterleuten herunterschauen würden.

Aber was, dachte Frederik, zählt meine Abscheu vor Windrädern gegenüber den Bedürfnissen eines Pferdes.

Er atmete auf, als die Landstraße den Windpark endlich hinter sich ließ. Auf den letzten zwanzig Kilometern bis Unterleuten gab es nur noch Wald und ein paar Felder, auf denen sich im Frühjahr Tausende von Kranichen sammelten.

Die Strecke war so wenig befahren, dass es auffiel, wenn man jemanden hinter sich hatte. Auf der schmalen Straße hielt man entweder Abstand oder überholte, sobald es möglich war. Der Wagen im Rückspiegel aber fuhr dicht auf und machte nicht einmal Anstalten zu überholen, als Frederik auf die Bremse trat und den Blinker rechts setzte. Es war ein staubiger, verbeulter Kastenwagen in Weiß, eins der typischen Handwerkerautos, die in der Gegend zahlreich herumfuhren. Frederik war sicher, dass mindestens ein solches Modell auch in Unterleuten stand. Er versuchte, den Fahrer zu erkennen, sah aber nur Brille und Hut und einen hochgeschlagenen Hemdkragen. Als ihn ein mulmiges Gefühl beschlich, versuchte er, über sich selbst zu lachen: Nur weil ich Paranoia habe, heißt das noch lange nicht, dass man mich nicht verfolgt. Er achtete darauf, die Spur zu halten und das Tempo nicht zu erhöhen. Irgendein Betrunkener auf dem Weg nach Hause, dachte er. Kein Grund, nervös zu werden.

Als er in den Wald einfuhr, begann die Sonne wie ein Stroboskop zwischen den Bäumen zu blinken. Lichtmünzen flitzten über die Armatur. Frederik hörte auf, ständig in den Rückspiegel zu schauen, und dachte stattdessen noch ein bisschen an Traktoria nature. In einem Aufwallen von Übermut schloss er einen Vertrag mit sich selbst: Wenn in Unterleuten alles glattging, würde er morgen in der Firma anrufen und Timo um einen offiziellen Gesprächstermin bitten, in Anwesenheit von Ronny und den wichtigsten Entwicklern. Schließlich gab es nichts, wovor er Angst haben musste. Als er wieder in den Rückspiegel sah, war der Kastenwagen bis auf Armeslänge herangekommen.

Die Straße schwang sich in sanftem Bogen nach rechts, bevor sie in die scharfe Linkskurve ging, in der Linda so gern ihre Zweitbegabung als Rennfahrerin demonstrierte. Um der Ideallinie zu folgen, zog sie den Wagen kurz vor dem Scheitelpunkt auf die Gegenfahrbahn. Frederik war sicher, dass der wichtigste Reiz dieses Spiels darin bestand, sich an seinem Entsetzen zu freuen. Vermutlich bildete sie sich ein, dass niemand außer ihr in der Lage sei, die Kurve auf diese Weise zu nehmen.

Der Fahrer des Kastenwagens betätigte die Lichthupe. Plötzlich hatte Frederik Lust, dem Vollidioten zu zeigen, wo der Hammer hängt. Er war in seiner Jugend lang genug Formel 1 am Computer gefahren, um zu wissen, wie man einen Linksknick behandelte. Außen anbremsen, spät einlenken, am Apex innen halten und die ganze Fahrbahnbreite nutzen, um den von Neuem beschleunigten Wagen heraustragen zu lassen.

Frederik hatte das Anbremsen hinter sich und stand im Begriff, den Frontera nach links zu ziehen, als die Zeit stehen blieb. Er sah die Situation in vollständiger Klarheit. Er verstand nicht nur, was passierte, sondern auch, was es zu bedeuten hatte.

Ein Traktor kam ihm entgegen, auffällig langsam, als hätte er hinter der Kurve gewartet, und nutzte die ganze Fahrbahnbreite. Hinter Frederik fuhr der Kastenwagen, so dicht, dass eine Vollbremsung lebensgefährlich gewesen wäre.

In diesem Augenblick erkannte Frederik den Fehler seines Plans. Unterleuten wusste längst Bescheid. Linda hatte Gombrowski bereits vor einigen Tagen darüber informiert, dass er die Schiefe Kappe nicht bekommen würde. Wenn der alte Hund zwei und zwei zusammenzählen konnte, war er selbst darauf gekommen, dass sie die Haut des Bären zweimal verkauft hatte. Sie hatte sogar die Frechheit besessen, den von Gombrowski reservierten Notartermin für das Geschäft mit Meiler umzubuchen. Folglich wusste Gombrowski sogar, an welchem Tag und zu welcher Stunde er ausgebootet wurde. Und wann Linda mit dem Auto von ihrem faulen Geschäft zurückkam.

Die Heckscheibe des Frontera war dunkel getönt, und auf der Windschutzscheibe stand die Sonne. Weder der Fahrer des Kastenwagens noch der des Traktors konnten sehen, wer den Frontera fuhr. Frederik saß auf Lindas Platz und schnitt die Kurve auf Lindas Art.

Wenn das ein Anschlag ist, dachte Frederik, dann gilt er Linda, nicht mir.

Ich wollte sie aus der Schusslinie nehmen, dachte er. Mich vor sie stellen, damit der Hass des Dorfs sie nicht trifft.

Das klappt ja noch besser als geplant.

Er spürte den Wunsch zu lachen. Dann lief die Zeit weiter. Es wurde eng. Frederik riss das Steuer nach rechts.



56 Fließ-Weiland


Den großen Rucksack mit den aufgedruckten Wolken hatte sie schon besessen, als sie von zu Hause ausgezogen war. Er hatte sie in den aufregendsten Zeiten ihres Lebens begleitet: ins Berliner Studentenwohnheim, beim Umzug in die erste WG, während eines Praktikums bei der Obdachlosenhilfe in New York, wo sie aufgrund akuten Geldmangels nicht wesentlich besser lebte als die meisten Obdachlosen. Auf einer Reise durch Japan, die sie lehrte, dass die Japaner mit der Kultur des Auto-Stopps nicht vertraut waren.

Sie erinnerte sich genau an das Gefühl, ihr Haus wie eine Schnecke auf dem Rücken zu tragen. Über Jahre hinweg hatte sie eine besondere Form von Selbstbewusstsein daraus gezogen, ihre wichtigsten Habseligkeiten binnen einer halben Stunde in einem einzigen Gepäckstück verstauen zu können. Dann kamen Mann, Haus und Kind, begleitet vom entsprechenden Zubehör. Einbauschrank und Esstisch, Weinregal und Wickelkommode, Gartenmöbel, Streusalz, Einmachgläser, Teppiche und angebrochene Packungen mit Meisenknödeln, kurz, eine wachsende Sammlung von Gegenständen, die behaupteten, ihr Leben zu sein. Schon vor Sophies Geburt hatte Jule beschlossen, Studieren und Reisen als zusammenhängende Phänomene zu betrachten, die nun beendet waren, und hatte beides zu den Erinnerungen sortiert. Den verschlissenen Rucksack hatte sie aufgehoben, weil man so ein treues Ding unmöglich wegwerfen konnte. Das hässliche Muster hatte sie auf dem Gepäckband am Flughafen immer schon von Weitem zwischen allen anderen Taschen erkannt.

Jetzt lag der Rucksack vor ihr auf dem Küchentisch und ähnelte mit offenen Reißverschlüssen und klaffenden Fächern einer Leiche bei der Obduktion. Seltsamerweise musste Jule keine Sekunde überlegen, was sie mitnehmen wollte. Es war, als verwandelte das Packen sie automatisch in ihr früheres Ich zurück. Wie von selbst gab das Haus aus der Mitte seiner gefüllten Zimmer all jene Dinge frei, die zu Jules Studentenzeit gehörten. Eine Jeans mit Loch am Knie, die inzwischen ein bisschen zu weit war, aber auch mit Gürtel gut aussah. Eine abgegriffene Taschenbuchausgabe von »Ulysses«, die man an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und immer wieder glauben konnte, dass man zum ersten Mal darin lese. Eine kleine Stoffkatze, die so intensiv nach Jule roch, dass sie nur die Nase darin vergraben musste, um sich auf jeder Bahnhofsbank wie im eigenen Bett zu fühlen. Da sie für ihr aktuelles Vorhaben weder Badesachen noch Steckdosenadapter oder Reiseapotheke brauchte, blieb genug Platz für die neu hinzugekommenen Gegenstände: Sophies Fläschchen, Sophies Strampelanzüge, Sophies Schnuller, Rassel und Schmusedecke.

Je mehr sich der Rucksack füllte, desto selbstverständlicher schien das Packen. Plötzlich fühlte sich Jule wie ein Gast, der schon zu lange an einem Ort geblieben ist und dringend sehen muss, dass er weiterkommt. Sie fragte sich, ob sie vielleicht unter Schock stand. Konnte es wirklich sein, dass sich Mann und Haus so leicht abstreifen ließen?

Weil Gerhard und sie beim Umzug nach Unterleuten beschlossen hatten, einen echten Neuanfang zu machen, statt zwei gealterte Studentenhaushalte zu einer Sperrmüllhalde zu vereinen, hatte Jule jedes einzelne Möbelstück, jeden Vorhang, jede Blumenvase und jeden Untersetzer im neuen Heim selbst ausgesucht. Nach und nach hatten sie die DDR-Atmosphäre vertrieben, hatten Linoleumboden und Phototapete gegen Parkett und weiß gestrichene Wände getauscht und das alte Gemäuer in ein modernes und gemütliches Zuhause verwandelt. Unter den Blicken der Nachbarn hatte Jule den Garten gerodet, Gras gesät, Wege angelegt und Himbeeren gepflanzt. In allem, was sie hier umgab, steckten Arbeit und Herzblut. Trotzdem stellte sich plötzlich heraus, dass außer Sophie und ein paar alten Klamotten nichts richtig zu ihr gehörte.

Sie hatte Sanne angerufen. Zufällig hatte sie ihre Freundin, die als freie Journalistin ständig beschäftigt war, ohne etwas zu verdienen, gleich beim ersten Versuch auf dem Handy erreicht. Sanne saß mit Laptop und Milchkaffee vor einem Café in Kreuzberg, konnte wegen der Sonne so gut wie nichts auf dem Bildschirm erkennen und ging deshalb ans Telefon, statt weiter so zu tun, als schreibe sie einen Beitrag für die Sonntags-TAZ. Jule verzichtete auf Smalltalk und fragte gleich, ob sie mit Sophie vorübergehend bei Sanne einziehen könne.

»Streit mit Gerhard?«, fragte die Freundin.

»Wie man’s nimmt«, sagte Jule. »Er hat einen Nachbarn krankenhausreif geschlagen.«

»Ach so«, sagte Sanne. »Komm vorbei.«

Dieses »Ach so« hatte bei Jule die Innenbeleuchtung angeschaltet. Mit einem Mal sah sie glasklar, worum es hier ging: Sie kehrte nach Hause zurück. Als sie Gerhard kennenlernte, hatte Jules Welt aus Menschen wie Sanne bestanden, die ihren freundlichen Fatalismus als Überlebensstrategie betrieben und in der Lage waren, sogar die Ironie ironisch zu meinen. Für Gerhard hingegen war ständig irgendetwas »unfassbar« und er selbst dabei »fassungslos«. Er betrachtete Betroffenheit als erste Bürgerpflicht, ganz egal, ob sich das Unfassliche gerade in Afrika oder im Nachbargarten abspielte. Jule hatte es gefallen, wie hitzig er am Kneipentisch über globale Ungerechtigkeit sprechen konnte. Er kannte die Feinde der Menschheit – Banken, Ölfirmen, Waffenlieferanten und die mit ihnen kollaborierenden Politiker – und sagte »die Wirtschaft«, »die Medien« und »die Politik«, als wüsste er genau, was er damit meinte. In seiner leidenschaftlichen Aufgeregtheit erschien er Jule sehr jung, während der abgeklärte Skeptizismus von Leuten wie Sanne im Vergleich geradezu greisenhaft wirkte. Jule verließ den Ach-so-komm-vorbei-Planeten und wurde Untermieter in Gerhards Das-ist-so-nicht-hinnehmbar-Universum. Hier war die Welt etwas, das beständig analysiert und kritisiert werden musste, ganz egal, ob es sich um Atomkraft handelte oder das Unterleutner Soziotop. Unter Gerhards Anleitung begann sie, Sannes Fatalismus als Gleichgültigkeit und die Coolness der Neunziger als Ausdruck fehlenden Verantwortungsbewusstseins zu begreifen. Das war ein netter Trick, um sich gegenüber einer ganzen Generation überlegen zu fühlen. In Jules Augen gaben Gerhard und sie ein romantisches Bild ab: eine junge Frau und ein zwanzig Jahre älterer Mann, dazu der radikale Ausstieg aus dem urbanen Berlin und die Rhetorik der Revolution – sie hatte es genossen, als Teil einer Zwei-Personen-Guerilla gegen den Strom zu schwimmen. Wenn sie jetzt auf die letzten Jahre zurückblickte, kam es ihr allerdings vor, als habe sie nicht gemeinsam mit Gerhard ihr Leben geändert, sondern sich auf eine Reise durch eine Landschaft aus immer schneller wechselnden Kulissen begeben. Ein Merkmal von Reisen bestand darin, dass sie eines Tages endeten.

Vor knapp zwei Stunden hatte Gerhard mit ungewohnter Lautstärke das Haus betreten, war über den Flur gepoltert, hatte auf der Suche nach Jule Türen geöffnet und wieder geschlossen, irgendetwas umgestoßen und schließlich ihren Namen gerufen. Jule war im Badezimmer und wechselte Sophie die Windel. Da sich Gerhard nicht am helllichten Tag betrank, musste etwas vorgefallen sein.

Er brüllte gerade zum x-ten Mal ihren Namen, als Jule den Flur betrat. Kaum hatte er sie bemerkt, begann er zu lachen. Ein fröhliches, vielleicht ein wenig übertriebenes Lachen, wie damals an der Uni, wenn der Dekan einen Witz gemacht hatte. Sein rechter Arm hing schwer herab und nahm an den Bewegungen des restlichen Körpers nicht teil. Jule sah die dunkle Substanz an seinen Fingern und wusste sofort, dass es Blut war. Keine Sekunde glaubte sie, dass es sich um sein eigenes handeln könnte.

Während Sophie in Jules Armen fröhlich gluckste und ihre Händchen nach Gerhard ausstreckte, wich Jule rückwärts über den Flur zurück. Gerhard redete und lachte, gestikulierte mit dem linken Arm, während der andere herabhing. Von dem, was er sagte, verstand sie nur Bruchstücke, kannte ihn aber gut genug, um den Rest zu erraten. In Gerhards Kopf hatte sich Schaller in das ultimative Böse verwandelt. Das Tier von nebenan stand jetzt für sämtliche Übel der Welt. Es war ein Ölkonzern, Atompolitik, Rüstungsindustrie und internationales Bankenwesen. Und er, Gerhard Fließ, hatte heute das Reden beendet und endlich zurückgeschlagen.

Jule stieß mit dem Rücken gegen die Haustür und schrie ihn an. Dass er verrückt geworden sei. Dass er den Verstand verloren habe.

Gerhard blieb stehen. Schlagartig verwandelte sich seine Begeisterung in Hilflosigkeit.

»Nicht doch, Liebes. Lass mich erklären.«

Sie schrie weiter. Dass er nicht wagen solle, sie anzufassen.

Seit sie ihn kannte, redete er von Verantwortung und Engagement. Das war es also, was er in letzter Konsequenz damit meinte. Aus dem gemeinsamen Versuch, der Welt etwas entgegenzusetzen, hatte er eine Gewaltorgie gemacht.

»Die verstehen hier keine andere Sprache, Liebes. Du hast doch gesagt, dass ich unser Zuhause verteidigen soll.«

Als sie begriff, dass er um Anerkennung bettelte und für seine schreckliche Tat auch noch gelobt werden wollte, wurde sie von Ekel erfasst. Fast konnte sie sehen, mindestens hören, wie die Kulissen fielen. Ein leises Rieseln im Hintergrund, das Knistern von sich ausbreitenden Rissen, dann das Fallen der ersten Steine.

»Hast du ihn umgebracht?«, fragte sie.

Gerhard lachte auf: »Ein Denkzettel, weiter nichts!«

»Verschwinde«, sagte Jule. »Wenn ich wiederkomme, bist du weg.«

Sie hatte Sophie an die Brust gepresst und war aus der Haustür geschlüpft, Gerhard und seine betroffene Miene im Flur zurücklassend. Das schwere Tor zu Schallers Hof war nur angelehnt gewesen. Jule war eingetreten und gleich wieder stehen geblieben. Die Landschaft aus Schrott hatte sie bislang immer nur vom Garten aus gesehen. Mittendrin zu stehen war ein seltsames Gefühl, fast als betrete man eine Photographie. Schaller lag unweit der Hebebühne am Boden, inmitten einer dunklen Pfütze. Als er den Kopf hob und etwas sagte, erschrak Jule dermaßen, dass sie sich umdrehte und zurück auf die Straße lief. Am ganzen Körper zitternd stand sie vor dem Tor, rief vom Handy den Krankenwagen, ohne ihren Namen zu nennen, und wartete am Straßenrand, bis das Blaulicht auf der Unterleutner Höhe zu kreisen begann. Dann öffnete sie beide Torflügel bis zum Anschlag und floh zurück ins Haus.

Im Flur hatte sie tief durchgeatmet. Von Gerhard keine Spur. Eine Weile hatte sie in der plötzlichen Stille gestanden und alles um sie herum absurd gefunden. Dann hatte sie Sanne angerufen und war auf den Dachboden gegangen, um den Rucksack zu holen.

Sie zog den letzten Reißverschluss zu und hob das Gepäckstück vom Küchentisch. Es sah genauso aus wie vor zehn Jahren, als sie es zum ersten Mal gepackt hatte; ein bisschen schmuddeliger vielleicht, aber ähnlich prall. Obwohl die Zeit drängte, weil die Polizei jederzeit auftauchen konnte, nahm sie ein Päckchen Zigaretten aus der Schublade, setzte sich an den Tisch und rauchte die erste seit fünfzehn Monaten. Während der Rauch in der stillen Luft zur Decke stieg, stellte sie sich vor, was der Rest des Tages bringen würde. Sie würde in Sannes kleiner Wohnung ankommen, deren Einrichtung von niemandem gestaltet, sondern einfach nur gewachsen war. Sie würden für Sophie ein Bettchen in irgendeinem alten Wäschekorb bauen, Nudeln mit Gorgonzola-Soße kochen und die halbe Nacht reden. Jule freute sich auf Berlin, wo sie sich fortbewegen konnte, ohne zu grüßen; wo immer alles woanders passierte, in der Nachbarwohnung, auf der anderen Straßenseite, in einem vorbeifahrenden Auto oder gleich am anderen Ende der Stadt. Wo sich in jeder Minute Furchtbares und Wundervolles ereignete, ohne dass sie das etwas anging. Wo Gewaltverbrechen nicht von ihrem Ehemann begangen wurden. Weil die Stadt niemandem gehörte, gehörte niemand der Stadt. Wenn das Verantwortungslosigkeit war, dann wollte Jule verantwortungslos werden. Sie kannte Menschen, die Freiheit dazu sagten.

Sie drückte die Zigarette aus und dachte an Gerhards Gesicht. An den Ausdruck reinsten Glücks, wenn er sich über seine kleine Tochter beugte. Die Vorstellung schmerzte wie ein Magenkrampf. Sie würde sich eine ganze Weile verbieten müssen, auf diese Weise an ihn zu denken.

Aus dem Druckerschacht im Arbeitszimmer nahm sie ein Blatt Papier und schrieb mit dickem Filzstift »Berlin« darauf. Dann setzte sie Sophie in den Tragegurt, schulterte den Rucksack und öffnete die Haustür. Auf dem Nachbargrundstück war alles ruhig, der Krankenwagen schon abgefahren und die Polizei noch nicht eingetroffen. Jule kehrte dem Dorf den Rücken und ging die Unterleutner Landstraße hinauf. In den Zweigen der nach außen geneigten Birnbäume hingen kleine, steinharte Früchte. Diesmal würde sie nicht miterleben, wie sich die Birnen im September aufpumpten, immer weicher wurden und irgendwann in den Straßengraben fielen, wo sie verwesten. Als Jule den siebten Birnbaum passierte, hörte sie hinter sich Motorengeräusche. Sie drehte sich um und hob ihr Schild.



57 Franzen


Während er redete, fuhr er wie ferngesteuert, mit häufigen Spurwechseln, bediente die Lichthupe und überholte rechts, wenn das Hindernis nicht schnell genug reagierte. Dabei wandte er den Kopf zur Seite, um Linda anzusehen.

Guck nach vorn, dachte sie, wir sind auf der Autobahn.

Beide Hände hielt er oben auf dem Lenkrad, allerdings weniger mit Lenken als mit dem Ausführen von Gesten beschäftigt. Eine Hand fuhr in die Luft, ballte sich zur Faust, fiel auf das Steuer zurück, während die andere schon damit beschäftigt war, eine wedelnde Bewegung auszuführen, um eine prekäre Situation zu unterstreichen. Meiler war groß in Fahrt. Er beschleunigte auf die nächste Pointe zu, irgendeine Story aus seiner Firma, wie ein konkurrierender Anbieter aus den neuen Bundesländern versucht hatte, ihn auszutricksen.

Langsam begann sich Linda zu fragen, ob er betrunken war. Allein von dem gelungenen Geschäftsabschluss konnte die gute Laune nicht herrühren. Für einen wie Meiler waren ein paar Windräder doch nur Spielerei, ein neues Hobby, das darin bestand, sich als Grundstücksspekulant in Ostdeutschland zu versuchen. Für ihn stand nichts Existenzielles auf dem Spiel, kein Objekt 108, das saniert werden musste, kein Bergamotte, der ein Zuhause brauchte.

Eigentlich hätte Linda viel mehr Grund gehabt, sich zu freuen. In nur vier Wochen hatte sie es geschafft, die wichtigsten Zutaten für ihre Zukunft zu organisieren, vier Hektar Weideland hinter dem Haus, eine schriftliche Erlaubnis der Vogelschützer, dort Zäune zu bauen, eine Baugenehmigung sowie 50000 Euro für die Sanierung der Ställe. Aber irgendwie wollte sich keine Freude einstellen. Vielleicht ist es noch zu früh, dachte sie, vielleicht war alles ein bisschen viel in letzter Zeit. Manfred Gortz warnte in seinen Schriften vor der Leere nach dem Erreichen eines wichtigen Ziels. Dagegen half nur das sofortige Ansteuern der nächsten Etappe.

Momentan musste sie sich allerdings eingestehen, dass ihr die Zukunft eher Angst machte. Es gab so viel zu tun, manchmal glaubte Linda, dass die innere Anspannung sie zerreißen müsse, in tausend Stücke. Immerhin könnte dann jedes einzelne sofort mit der Arbeit anfangen wie eine Armee von kleinen Linda-Heinzelmännchen. Sie musste dringend mit dem Lackieren der abgezogenen Dielen beginnen, drei Anstriche auf 150 Quadratmetern, und während der Trockenzeiten durften die Räume nicht betreten werden. Sie brauchte einen Elektriker, der sämtliche Kabel neu verlegte, erst danach konnten der Putz ausgebessert und die Wände gestrichen werden, vorher war an das Aufstellen von Möbeln nicht zu denken. Vor allem musste sie vor dem Winter die Fenster im Erdgeschoss fertigkriegen, achtzehn Kastenfenster, bestehend aus jeweils vier Flügeln und zwei Oberlichtern, das machte 108 Rahmenteile, aus denen es winzige Nägel zu entfernen galt, um die Scheiben herausnehmen zu können. Danach das Holz sorgfältig abschleifen, zweimal streichen und neu einglasen, eine nicht mehr zu schätzende Summe von Handgriffen, die auch noch vorsichtig ausgeführt werden mussten, um nichts zu beschädigen. Zudem hatte Linda diese Woche fünf Kunden, für die sie insgesamt 400 Kilometer fahren würde. Freu dich über jede Herausforderung, sagte Gortz, aber es war nicht immer leicht, seinen Ratschlägen zu folgen.

Meiler hingegen wirkte, als hätte er soeben eine Verjüngungskur hinter sich gebracht. Wie den meisten Männern fehlte ihm jedes Gefühl dafür, wie er bei Zuhörern ankam. Er selbst fand sich offensichtlich beeindruckend, während Linda absolut kein Interesse mehr an ihm besaß, seit er die Verträge unterschrieben hatte. Sie wollte einfach nur nach Hause.

Dass Frederik sie in Berlin ausgesetzt hatte, war schlimm genug. Noch schlimmer war, dass ihr mit Sicherheit noch ein abendfüllender Streit bevorstand. Er machte sich Sorgen um sie und schien zu glauben, dass ihn seine Sorge zu jedem beliebigen Eingriff in ihr Leben berechtigte. Sie würde sich stundenlang gegen seine Vorwürfe verteidigen müssen, dazu zwei Flaschen Rotwein und am Ende Versöhnungssex; dann wäre es Mitternacht und an das Lackieren von Dielen nicht mehr zu denken. Stattdessen würde sie am nächsten Morgen um sechs mit schwerem Kopf aus den Federn kriechen, um nach Oranienburg zu ihrem ersten Kunden zu fahren, während Frederik gemütlich seinen Rausch ausschlief.

Stets behauptete er, voll »hinter ihr« zu stehen, dabei hätte sie jemanden an ihrer Seite gebraucht. Frederik kam in Unterleuten vorbei, wenn es ihm gefiel, verbrachte entspannte Tage auf dem Land und kritisierte besorgt ihren angeblichen Fanatismus, wenn sie nervös wurde, weil er sie von der Arbeit abhielt. »Das ist deine Entscheidung« war seine Lieblingsantwort auf die Frage nach der Farbe für die Fenster oder nach dem richtigen Dielenlack, und je mehr Entscheidungen sie traf, desto mehr war das ihr Haus, ihr Auto, ihr Dorf. Beim nächsten Streit musste sie sich dann wieder vorhalten lassen, dass sie »ich« und nicht »wir« sagte, wenn es um ihre Projekte ging.

Dass sich der Starke vor den Schwachen rechtfertigen soll, sagte Manfred Gortz, ist der faule Kern der demokratischen Idee.

Frederik scheute nicht nur Risiko und Verantwortung, er scheute jede Form von Entscheidung. Wie bei den meisten Versagern beruhte sein Scheitern nicht auf Ungerechtigkeit, sondern auf Folgerichtigkeit. Wer nichts wollte, bekam auch nichts. Ohne Zweifel war die Idee mit dem digitalen Naturschutzgebiet grandios. Aber es stand jetzt schon fest, dass Frederik niemals etwas daraus machen würde. Er würde tausend Gründe finden, die Verwirklichung des Plans immer weiter vor sich herzuschieben. Seine unglückliche Weigerung, bei Weirdo einzusteigen, hatte den Grundton für sein ganzes Leben vorgegeben.

Je länger sie grübelte, desto inständiger hoffte sie, dass Frederik nicht nach Unterleuten, sondern zum Teufel gefahren war. In der aktuellen Stimmung brauchte sie harte Arbeit bis nach Sonnenuntergang und keinen Beziehungsmist. Es war immer dasselbe: Kaum gab es Schwierigkeiten mit Frederik, empfand sie ihn nur noch als Belastung. Von einer Minute zur anderen wurde er zum Störfaktor, der ihr die Zeit stahl und sie von Dingen abhielt, die sie tatsächlich tun wollte. Mit einem Mal spürte sie ihm gegenüber keine Liebe mehr, nicht einmal Freundschaft oder Zuneigung, sondern nur noch Überdruss sowie den Wunsch, sich von ihm zu befreien. Ganz automatisch begann ihr Gehirn die Möglichkeiten durchzuspielen: Wie abhängig war sie von seinem Geld? Wäre sie in der Lage, den Kredit für Objekt 108 ohne ihn zu stemmen? Würde er es übers Herz bringen, sie zum Verkauf des Hauses zu zwingen? Konnte sie noch härter arbeiten, noch weniger schlafen, genug verdienen, um ihren Traum allein zu verwirklichen? Sollte sie eine Trennung auf Probe vorschlagen und herausfinden, ob es funktionierte?

Mehr als einmal hatte Frederik ihr vorgeworfen, sie knüpfe Liebe an die Bedingung reibungslosen Funktionierens. Wenn sich ein Mensch nicht in ihrem Sinne verhalte, sortiere sie ihn aus wie ein defektes Gerät. Durch diese unausgesprochene Drohung bringe sie andere dazu, ihrem Willen zu folgen, denn niemand wolle verstoßen werden, nur weil er die Küche nicht aufgeräumt oder einem Grundstücksverkauf nicht zugestimmt habe.

Linda wusste, dass er nicht ganz unrecht hatte, auch wenn er sich insofern irrte, als sie keineswegs absichtlich mit Drohungen arbeitete. Es war vielmehr so, dass es in ihrem Kopf einen Schalter gab, mit dem sich Menschen ausknipsen ließen, und dieser Schalter legte sich von alleine um, wenn ihr etwas nicht gefiel. Das konnte schon passieren, wenn sie morgens das Badezimmer für sich haben wollte und Frederik hereinkam, um sich die Zähne zu putzen. Oder wenn sie aufstehen musste und er weiterschlafen durfte. Oder wenn er sie nicht ansah, während sie mit ihm redete.

Linda konnte sich noch so oft sagen, dass wahrscheinlich nur ein Selbstschutzmechanismus für die inneren Temperaturstürze verantwortlich war – an der Ampel am Ernst-Thälmann-Platz war sie trotzdem überzeugt, dass es ihr am liebsten wäre, Frederik niemals wiederzusehen. Erschrocken fragte sie sich, ob sie seinen Tod wünschte. Diese Vorstellung stoppte den Gedankenfluss abrupt und warf sie zurück in die Realität, also auf den Beifahrersitz des silbernen Mercedes, wo Meilers Gerede noch immer kein Ende gefunden hatte.

Er war bei seiner Familie angelangt, bei der rührseligen Geschichte dreier Söhne, von denen zwei etwas Staatstragendes studiert hatten, während der dritte in den Eingeweiden der Münchner Unterwelt verschwunden war. Auf irgendeine Weise schien Meiler zu glauben, dass die geplanten Windräder nicht nur den verlorenen Sohn, sondern auch die Beziehung zu seiner Ehefrau retten würden, die allen Ernstes Mizzie hieß. Gerade ging er dazu über, seine Ehe zu schildern, was er mit den Worten »Natürlich liebe ich Mizzie, aber …« begann. Von diesem »Komma, aber …« wurde Linda regelrecht übel. Mit »Komma, aber …« pflegten Menschen die schlimmsten Schweinereien einzuleiten, und Meiler gehörte bestimmt zu der Sorte, die ihr ganzes Weltbild auf »Komma, aber« stützte.

Sie atmete tief durch. Es wurde höchste Zeit, sich zusammenzureißen, das innere Jammertal zu verlassen und ein positives Klima herzustellen. Wie Gortz sagte: Du entscheidest selbst, was du fühlst. Frederik war mit Sicherheit kein Mover, aber er liebte sie und würde niemals einen Komma-aber-Satz über sie äußern. Sollte sie ihn tatsächlich eines Tages in die Wüste schicken, würde sie es ein Leben lang bereuen. Pflege deine Gefährten. Erkenne Unterstützung und belohne sie. Selbstkontrolle ist die Währung der Erfolgreichen. Linda rief sich Frederiks freundliches Gesicht vor Augen, dachte an die vollkommene Arglosigkeit seines Wesens und daran, wie bedingungslos er zu ihr hielt. Auch heute hatte er seinen Stolz zurückgestellt und in das Grundstücksgeschäft eingewilligt, allein ihr zuliebe.

Meiler durchquerte die Innenstadt von Plausitz mit überhöhtem Tempo; vermutlich wollte er demonstrieren, dass er sich jede Art von Strafzettel leisten konnte. Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, beschleunigte er den Mercedes auf 140 km/h. Wie ein Marschflugkörper schossen sie auf den ausgedehnten Windpark zu, mitten hinein in das hypnotische Drehen der Rotoren.

Vor ihrem inneren Auge ließ Linda einen Film ablaufen: Frederik, wie er sie hochhob und herumwirbelte, wie er sein Gesicht näherte, um sie zu küssen, ein Blick voller Zuneigung, zugleich ein wenig ängstlich, als hielte er ein niedliches, aber leider auch bissiges Kätzchen im Arm. Sie spürte, wie die Kälte von ihr wich und sie sich entspannte. Frederik war ihr bester Freund, sie wollte nicht ohne ihn leben. Alles andere war Psychose. Langsam begann sie sich darauf zu freuen, in Kürze aus Meilers Auto zu springen und ein flüchtiges »Bis dann« ins Wageninnere zu rufen, bevor sie die Beifahrertür zuknallen und ins Haus laufen würde, um Frederik zu umarmen. Sie wollte sich entschuldigen und ihm für seine Unterstützung danken. Scheiß auf das Streichen der Bodendielen, scheiß auf abzuschmirgelnde Fenster. Vielleicht würde es ihnen doch noch gelingen, den Geschäftsabschluss gemeinsam zu feiern. Linda war stolz darauf, dass es ihr gelang, mithilfe von Autosuggestion so elegant über den eigenen Schatten zu springen. Es bestätigte eine zentrale These von Manfred Gortz: Der eigene Schatten verschloss das Tor zum richtigen Weg.

Weil Linda lächelte, hieb Meiler fröhlich beide Hände aufs Lenkrad. Offensichtlich glaubte er, mit seinen Anekdoten für ihre sonnige Laune verantwortlich zu sein.

»Schon lustig, nicht wahr«, rief er. »Wie das Leben manchmal spielt.«

Vom Plausitzer Windpark aus waren es noch zwanzig Minuten bis Unterleuten, bei Meilers Tempo vielleicht nur fünfzehn. So lange würde sie ihn noch ertragen. Gerade war sie dabei, sich tiefer in die Polster sinken zu lassen, als Meiler plötzlich vom Gas ging. In einigen hundert Metern Entfernung, genau an der Stelle, wo Lindas Lieblingskurve begann, standen mehrere Autos am Straßenrand, wobei sie die komplette rechte Fahrbahn versperrten.

»Scheiße«, sagte Meiler.

»Keine Sorge«, erwiderte Linda träge. »Das sind nur Ornithologen. Wenn hier irgendwo Kampfläufer gesichtet werden, kommt es zu Massenaufläufen.«

»Mit Blaulicht?«

Erst jetzt bemerkte sie das Kreisen von gelben und blauen Lichtern, die mit der Nachmittagssonne konkurrierten. Meilers Abbremsen auf 30 km/h ließ sie in den Sicherheitsgurt kippen. Langsam näherten sie sich der Szenerie, zu der Abschleppwagen, Krankenwagen, zwei Polizeiautos und der Feuerwehr-Barkas aus Beutel gehörten. Ein Unfall, dachte Linda. Da hat einer die Kurve geschnitten, der es nicht konnte.

»Sieht nicht gut aus«, sagte Meiler. »Aber ich glaube, wir kommen dran vorbei.«

Ein Polizist schwenkte den Arm, um sie zu zügigem Weiterfahren zu veranlassen. Linda war dabei, sich in zwei Hälften zu spalten. Der eine Teil wusste längst, was passiert war. Der andere betrachtete das Heck des Fronteras, der kopfüber zwischen den Bäumen hing, und dachte: »Der sieht ja genau aus wie unserer.«

Bald würde sie den Frontera brauchen, um Bergamotte aus Oldenburg abzuholen. Sie hatten den Wagen extra ausgesucht, weil er in der Lage war, einen Pferdeanhänger zu ziehen.

Dann schlugen die beiden Hälften mit einem Knall zusammen, der ihr Leben sprengte.

»Halten Sie an«, brüllte Linda und packte Meiler am Arm. »Halten Sie verdammt noch mal an!«



58 Seidel


»Was machst du da?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Schatzsuche? Pflanzloch für einen Mammutbau? Oder buddelst du dein eigenes Grab?«

Um ihr den Spaß zu lassen, senkte Arne den Kopf und grub verbissen weiter, so dass sie sehen konnte, wie ihm der Schweiß über die Stirn lief. In all den Jahren ihrer Nachbarschaft war sie kein einziges Mal spontan zu ihm herübergekommen, obwohl er sich immer gern vorgestellt hatte, wie sie hier in den Abendstunden mit einem Glas Wein unter den Bäumen zusammensitzen könnten. Dass sie an diesem Abend plötzlich im Garten stand, genauer gesagt, einen guten Meter über ihm am Rand der Grube, an deren Grund er sich mit Spaten und Spitzhacke abmühte, konnte nur eins bedeuten: Sie war gekommen, um sich über ihn lustig zu machen.

»Oder dachtest du an eine eigene Ölquelle, um Unterleuten von den steigenden Energiepreisen unabhängig zu machen?«

Ihr spöttischer Tonfall gefiel ihm, auch wenn es seine persönliche Niederlage war, die sie zur Höchstform auflaufen ließ. Als kleines Mädchen hatte sie den patzigen Sound ihrer Heimat perfekt beherrscht. Mit sieben Jahren war sie in der Lage gewesen, auf die Frage »Wie war’s in der Schule?« mit »Was geht dich das an?« zu antworten. Arne und sie hatten sich gern mit »Was willst du denn hier?« oder »Hier gibt’s nichts umsonst« begrüßt, bevor sie sich gegenseitig in die Seite boxten und gemeinsam in den Kälberstall gingen. Er machte Wolfi dafür verantwortlich, dass Kathrin so brav geworden war. Wolfi kam aus dem Westen und besaß folglich keinen Humor. Vor Jahren war Arne einmal in Niedersachsen bei einer Diskussionsveranstaltung für Kommunalpolitiker aus Ost und West gewesen. Mit Erstaunen hatte er verfolgt, dass die Menschen zueinander »Guten Tag« und »Wie geht’s den Kindern?« sagten. Es wurde weder geraucht noch getrunken, und Arne hatte selten einen langweiligeren Abend erlebt.

So wie Kathrin am Rand der Grube stand, die Hände in den Hüften, ein Bein vorgestellt und ein schadenfrohes Lächeln im Gesicht, gefiel sie ihm am besten. Jetzt blickte sie demonstrativ zu Arnes rückwärtigem Zaun. Der Waldweg hinter der Grundstücksgrenze war von einer sauber gefällten Kiefer versperrt.

»War das Kron?«, fragte sie.

»Solange der liebe Gott keine Motorsäge besitzt.«

»Und da scheißt du jetzt rein?« Mit dem Kinn deutete sie auf die zur Hälfte ausgehobene Grube.

»Ich kann auch jedes Mal zu euch rüberkommen, wenn ich aufs Klo muss.«

»Kommt da noch ein Donnerbalken und eine Tür mit Herzchen drauf?«

»Da kommt ein Schlauch rein, der meine randvolle Sammelgrube entlastet.«

»Oh, wie unangenehm. Wo lief’s denn raus? Aus der Dusche? Oder dem Klo?«

Natürlich hatte es die Waschmaschine sein müssen. Die Dusche wäre vergleichsweise harmlos gewesen; immerhin stand man drin und konnte abdrehen, wenn sich ein Rückstau zeigte. Schlimmstenfalls wäre Arne mit Schaum auf dem Kopf und Seife in den Augen durchs Haus gelaufen, um eine Saugglocke zu suchen, bis ihm klar geworden wäre, dass er es mit einer Verstopfung der besonderen Art zu tun hatte.

Aber er hatte am Morgen die Waschmaschine angestellt und war zum Einkaufen nach Plausitz gefahren. Als er nach Hause kam, trat er vor dem Kühlschrank in eine riesige Pfütze. Das Wasser war aus der Waschmaschine ins Bad und aus dem Bad in die Küche gelaufen. Arne hatte den frühen Nachmittag mit Wischen und den späten Nachmittag mit Nachdenken verbracht.

»Und wenn deine neue Ersatzgrube auch voll ist?«, fragte Kathrin.

Arne unterbrach das Buddeln, rammte den Spaten in die Erde und stützte beide Hände auf den Stiel.

»Es ist lange her, dass du Lust hattest, dich mit mir zu unterhalten, Kathrin.«

»Sag bloß, der Scheißewagen ist nicht zu dir durchgekommen.«

»Der Scheißewagen kommt nicht durch, weil, wie du siehst, eine Kiefer den Zufahrtsweg versperrt.«

»Der Zufahrtsweg ist ein Waldweg und gehört zum Forstbesitz meines Vaters.«

»Das ist mir bekannt.«

Kathrins Grinsen verriet, dass sich das Gespräch dem Moment näherte, dessentwegen sie herübergekommen war.

»Wer könnte meinen Vater wohl auf die Idee gebracht haben, genau dahinten einen Baum zu fällen?«

»Das könnte mein Auto gewesen sein, das neulich zufällig vorn an der Ecke stand, als der Scheißewagen zu euch wollte.«

»Weil dir zufällig der Lärm von Wolfis Rasenmäher auf die Nerven ging.«

»Ganz zufällig. Genau«.

Jetzt war es so weit. Kathrin stützte die Hände in die Hüften, während sie triumphierend auf Arne in seinem Erdloch herabblickte.

»Okay, Kathrin.« Er musste selbst lächeln, weil es so offensichtlich war, wie sehr sie die Schadenfreude genoss. »Sag deinen Satz.«

»Bist du sicher?«

»Ich will ihn hören.«

»Da gibt es dieses alte Sprichwort. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Einfach irre, wie gut das gerade auf dich passt, oder?«

Er gönnte ihr den Triumph. Zum einen hatte sie recht; zum anderen war sie reizend, wenn sie lachte. Aus ihren Augen blickte das kleine Mädchen heraus, das mit der Zeit im Körper einer erwachsenen Frau verschwunden war. Während Arne sie ansah, spürte er, dass auch in ihm eine jüngere Version seiner selbst lebte. Wahrscheinlich spaltete sich jeder Mensch irgendwann in zwei Hälften, dachte er. Ein Teil blieb an einer bestimmten Stelle stehen und schaute verwundert seinem alternden Zwilling hinterher, der beherzt in die Zukunft marschierte. Arnes jüngeres Ich saß auf dem Rand der Badewanne, schaute Barbara an, die vor dem Spiegel stand, um irgendetwas in ihrem Gesicht zu untersuchen, und dachte, dass er der glücklichste Mensch auf Erden sei. Dieser Arne hatte keine Falten, keine Rückenschmerzen und keine Ahnung davon, dass das Schicksal mühelos in der Lage war, ihm alles wegzunehmen.

»Und jetzt?«, fragte Kathrin.

»Die Kiefer kann ich nicht beseitigen lassen.«

»Weil das Gelände meinem Vater gehört.«

»Und einen anderen Zufahrtsweg gibt es nicht.«

»Ich meine«, Kathrin vollführte eine beschreibende Armbewegung, »dieses Katzenklo hier ist doch bestenfalls eine Notlösung.«

»Für eine Woche«, sagte Arne. »Wenn ich Wasser spare.«

Er hatte überlegt, was es ihn kosten würde, die Sammelgrube in den Vorgarten zu verlegen, wo sie von der Straße erreichbar wäre. Er kam auf 20000 Euro und einen durch Radlader und Bagger zerstörten Garten. Arne wollte seinen Garten nicht zerstören, mal abgesehen davon, dass er das Geld nicht hatte.

»Hat Kron dich hergeschickt?«, fragte er. »Um rauszufinden, was ich vorhabe?«

Statt einer Antwort wandte sich Kathrin zum Gehen.

»Warte!«

Er ließ den Spaten fallen und stützte die Hände auf den Rand der Grube. Eigentlich hatte er mit einem eleganten Hocksprung hinausflanken wollen; es wurde eher eine Bauchlandung mit anschließendem Krabbeln daraus.

»Bleib stehen, Kathrin. Bitte.«

Sie drehte sich um und musste lächeln angesichts seiner erdverschmierten Vorderseite.

»Komm.« Arne schaute sich um, fand nichts außer einem Stapel Eimer, nahm zwei davon, drehte sie um und vollführte eine einladende Geste.

»Setz dich.«

Weil sie nicht reagierte, wiederholte er die Armbewegung.

»Komm. Ich erzähle dir, was ich tun werde. Das ist wichtig, auch für dich.«

Zögernd kam sie seiner Aufforderung nach und ließ sich auf dem niedrigen Eimer nieder. So saßen sie einander gegenüber, am Rand einer halb ausgehobenen Grube, die Ellenbogen unbequem auf die zu hoch aufragenden Knie gestützt.

»Ich kapituliere«, sagte er.

Während Kathrin ihn zweifelnd ansah, versuchte Arne zu erklären, was er damit meinte. Seit er mit Gombrowskis Hilfe Bürgermeister geworden war, hatte er Gombrowski und das Dorf stets als untrennbare Einheit betrachtet. Gombrowskis Wille war des Dorfes Wille – diese Gleichung hatte Arne niemals in Frage gestellt. Er musste Arbeitsplätze sichern und ein Minimum an Gewerbesteuer einnehmen, um die bescheidenen Bedürfnisse der Gemeinde zu decken. Dass sich diese Ziele mit Gombrowskis Interessen deckten, war kein Problem gewesen, sondern Grundlage ihrer Zusammenarbeit.

Heute Nachmittag aber hatte er angesichts seiner übergelaufenen Waschmaschine zum ersten Mal darüber nachgedacht, wo das Dorf ohne Gombrowski stünde. Er stellte fest, dass er es nicht wusste. Was, wenn Gombrowski nach der Wende mit der LPG-Übernahme gescheitert wäre, wenn er das Dorf verlassen hätte – wer konnte wissen, ob es Unterleuten heute besser oder schlechter ginge? Was hieß schon besser? Für wen? Solange die Zukunft darauf bestand, sich in unvorhersehbare Richtungen zu entwickeln, blieb es im Grunde völlig gleichgültig, was ein kleiner Bürgermeister wie Arne für richtig hielt.

Weil Kathrin begann, unruhig auf ihrem improvisierten Sitz hin und her zu rutschen, sprach Arne schneller.

Er habe jetzt begriffen, warum er in all den Jahren immer getan hatte, was Gombrowski wollte. Er hatte eine Instanz gebraucht, die hartleibig genug war, um sich der Willkür der Zukunft entgegenzustellen. Gombrowski hielt seine eigenen Entscheidungen immer für richtig, was daran lag, dass er seinen persönlichen Willen mit dem Gesetz verwechselte. Auf diese Weise blieb er handlungsfähig, und ein Bürgermeister, der mit ihm zusammenarbeitete, war es auch.

»Arne«, sagte Kathrin. »Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«

»Ich werde dafür sorgen, dass dein Vater den Windpark bekommt«, sagte Arne. »Danach trete ich zurück.«

An Kathrins erstaunter Miene konnte er ablesen, dass dieses Ergebnis nicht nur ihm merkwürdig erschien. Trotzdem war es folgerichtig, und es war der wahrscheinlich letzte Wendepunkt in seinem Leben. Kron hatte einfach alles richtig gemacht. Obwohl er ein Eignungsgebiet besaß, hatte er mit keiner Silbe angedeutet, dass er sein Land an die Vento Direct verpachten wollte. Während sich das Dorf im Windmühlenstreit verausgabte, war er durch die Hintertür gekommen, um Arne mit einem Trick zu erpressen, den sich Arne zu allem Überfluss selbst ausgedacht hatte. Natürlich hätte er jetzt anfangen können, Kron zu bekämpfen. Aber es gab keinen Grund dafür. Das Dorf erhielt die Gewerbesteuer, ganz egal, auf wessen Grundstück die Windkraftanlagen standen. Und Gombrowski hatte sowieso verloren. Nach allem, was man hörte, hatte er sich von der kleinen Linda Franzen über den Tisch ziehen lassen. Vielleicht tat es Unterleuten ganz gut, Gombrowski einmal scheitern zu sehen. Vielleicht würde das den Frieden wiederherstellen. Arne konnte es egal sein. Der Verrat an seinem alten Freund und Gönner war seine letzte Amtshandlung.

»Ich weiß nicht, ob Papa die Windmühlen überhaupt haben will.«

»Er wird schon wollen.«

»Wie deichselst du das?«

»Die Gemeinde entscheidet durch Erlass eines Bebauungsplans, auf welchem der Eignungsgebiete die Kraftwerke gebaut werden dürfen.«

»Und du bist die Gemeinde.«

»Ich bin der Vorsitzende des Gemeinderats.«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. In den letzten Jahren hatte Arne immer wieder bewiesen, dass er in der Lage war, Gemeinderatsbeschlüsse nach seinen Wünschen herbeizuführen.

»Erzählst du mir das, damit ich Kron die frohe Botschaft überbringe?«, fragte Kathrin.

»Ich erzähle es dir, weil es dich betrifft«, sagte Arne. »Wenn Kron Windräder baut, dann für dich und Krönchen. Ihr werdet bald reich sein. Du kannst weniger arbeiten. Oder etwas anderes machen.«

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas anderes machen will?«

»Der Posten des Bürgermeisters wird bald frei. Magst du nicht kandidieren?«

»Jetzt drehst du völlig durch, Arne.«

»Wieso? Unterleuten wurde lang genug von alten Männern regiert. Die Zeit der alten Männer ist vorbei.«

Kathrin zeigte ihm einen Vogel, aber ihr Lächeln wirkte eher nachdenklich als spöttisch. Eine Weile schwiegen sie. Arne hob den Kopf und ließ sich von der schräg stehenden Sonne blenden. Alles fühlte sich richtig an. Er wollte keine Schlägereien, keine verschwundenen Kinder und flüchtenden Ehefrauen mehr. Er wollte nur noch Ruhe für sich und sein armes, verletztes Unterleuten.

»Ich sollte mich wohl entschuldigen.«

»Lass es, Arne.«

»Wegen Wolfi und dem Rasenmäher. Wahrscheinlich hätte ich einfach rüberkommen und mit ihm reden sollen.«

»Das hätte überhaupt nichts gebracht.«

Zum ersten Mal kam er auf den Gedanken, dass sie es vielleicht selbst ganz gut fand, dass der tägliche stundenlange Krach ein Ende hatte. Wieder senkte sich Schweigen über die Eimer-Sitzgruppe am Rand der Grube, dieses Mal mit einem Unterton von Komplizenschaft.

»Was hast du eigentlich gegen mich?«, fragte Arne.

Die Frage war unüberlegt herausgekommen und klang so deplatziert, dass Arne fast erwartete, Kathrin werde einfach aufstehen und gehen. Stattdessen schaute sie ihn an und tat gar nicht erst so, als wüsste sie nicht, wovon er sprach.

»Irgendwann wurde ich fünfzehn«, sagte sie nach einer Pause. »Da war es unmöglich, mit einem älteren Mann befreundet zu sein.«

Arne schluckte. Statt ein halbes Leben lang beleidigt zu sein, hätte er selbst darauf kommen können, dass seine väterliche Freundschaft für eine Heranwachsende eines Tages zur Belastung werden musste. Er zwang sich, vor dem zweiten Teil der Frage nicht zu kneifen.

»Und später?«

»Du meinst – jetzt?«

Arne nickte.

»Jetzt bist du ein wandelnder Vorwurf hinterm Gartenzaun.«

Arne biss sich auf die Lippe.

»Du fürchtest dich vor meiner Einsamkeit.«

Kathrin wollte protestieren und entschied sich dann doch dagegen. Nach kurzem Überlegen begann sie zu nicken.

»Möglicherweise meine ich das.«

Arne lächelte und wartete, bis sie sein Lächeln erwiderte. Dann stand er auf.

»Komm mal her.«

Als sich Kathrin erhoben hatte, trat er auf sie zu und schloss sie in die Arme. Sie ließ es geschehen. Es war schön, sie zu halten. Er spürte ihr Lächeln an seiner Schulter. Die Zeit für eine freundschaftliche Umarmung lief ab; sie drückten sich noch einmal und lösten sich voneinander.

»Kommst du morgen Abend auf ein Glas Wein vorbei?«

»Muss ich dann wieder auf einem Eimer sitzen?«

»Du musst in einen Eimer pinkeln, wenn ich bis dahin nicht fertig bin mit Buddeln.«

»Dann will ich dich nicht länger aufhalten.«

»Tschüs, Windkönigin.«

Sie hoben zum Abschied die Hände, und Arne sah zu, wie Kathrin die Wiese überquerte, eine schadhafte Stelle im Gartenzaun suchte und sich hindurchzwängte und schließlich drüben auf ihrem eigenen Grundstück verschwand. Dann sprang er zurück in sein halb fertiges Loch, packte den Spaten und grub. Die Erde schleuderte er hoch über Kopf. Gelegentlich lachte er vor sich hin, als befände er sich mit einem Freund in amüsantem Gespräch. Stieß den Spaten in den Boden, lachte.



59 Fließ


Der Alte stand mitten auf der Lichtung, fünfzig Schritte entfernt vom Eingang seines Hauses, aus dessen Kamin trotz der sommerlichen Temperaturen dünner Rauch stieg. Seinem Blick stand der Wald im Weg; er schaute in eine Ferne, die mit räumlicher Distanz nichts zu tun hatte.

Gerhard war durchs Dorf gelaufen, ohne genau zu wissen, wohin er wollte. Jule brauchte ein wenig Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Auch für sie war es nicht leicht zu begreifen, dass der Kampf ein plötzliches Ende gefunden hatte. Das Tier von nebenan existierte nicht mehr, es hatte sich in einen Nachbarn verwandelt, der ab heute auf Wohnungssuche war. Nie wieder würde jemand wagen, das Leben von Gerhards Familie zu stören. In ein paar Stunden wollte Gerhard nach Hause zurückkehren, um Jule in den Arm zu nehmen und ihr alles zu erklären. Er musste sich bei ihr entschuldigen. Weil er nicht früher eingesehen hatte, dass gegen brutale Typen nur brutale Methoden wirkten.

Sein Spaziergang durchs Dorf hatte am Märkischen Landmann vorbeigeführt, am Anwesen der Gombrowskis und an Hilde Kesslers leer stehendem Haus. Gerhard hatte den Stichweg passiert, der zur Villa von Linda Franzen führte, und die Waldstraße rechts liegen lassen, an deren Ende Kathrin Kron und Arne Seidel wohnten. Er war weitergelaufen, bis der Asphalt endete und in den Plattenweg überging, zu dessen Seiten die Kiefern immer dichter zusammenrückten. Dass er keinen gewöhnlichen Waldspaziergang unternahm, sondern ein Ziel besaß, erkannte Gerhard erst, als er in eine Schneise einbog, die als breiter Sandstreifen zwischen den Bäumen hindurchführte und schließlich in die Lichtung mündete, in deren Mitte Krons Jagdhaus stand.

Der Alte hatte ihn noch immer nicht bemerkt. Instinktiv zog sich Gerhard ein Stück zwischen die Stämme zurück, getrieben vom Gefühl, einen intimen Moment zu stören. Auf einmal wusste er, was er hier wollte. Er war keineswegs zufällig an diesen Ort gelangt. Wie der Alte so einsam auf der Lichtung stand, erinnerte er ihn plötzlich an seinen verstorbenen Vater, so deutlich, dass er regelrecht erschrak. Zwar hatte Gerhards rundlicher Vater äußerlich wenig mit dem drahtigen Kron gemein gehabt. Aber in der Verlorenheit des Alten im Wald erkannte Gerhard ihn plötzlich wieder. Genau wie sein Vater war Kron ein Mann, den man ein Leben lang herumgestoßen hatte. Der nach jedem Schlag tapfer wieder aufstand, nur um wenig später von Neuem gedemütigt zu werden. Nicht, weil er Fehler begangen hatte, sondern gerade weil er versuchte, alles richtig zu machen.

Es gab eine Episode aus Gerhards Kindheit, die sich mit Widerhaken in seinem Gedächtnis verfangen hatte und die ihm jetzt klar wie ein Film vor Augen stand. Als er gerade zehn geworden war, hatte ihn sein Vater mit feierlicher Geste bei der Hand genommen und ihm erklärt, dass ein angehender Mann gutes Schuhwerk brauche, um mit festen Schritten durchs Leben zu gehen. Der Vater hatte gerade eine Gratifikation erhalten und fuhr mit Gerhard in ein Geschäft, in dem schon die Luft teuer roch. Schnell fanden sie ein Paar, das Gerhards Herz höher schlagen ließ: braune Halbschuhe im Derby-Schnitt, jenen nicht unähnlich, die der Vater zu seinen Geschäftsanzügen trug. Gerhard nannte dem Vater seine Schuhgröße, der Vater gab die Zahl an den Verkäufer weiter, und der elegante Herr im Anzug verschwand im Lager, um gleich darauf mit einem offenen Karton wieder zu erscheinen, aus dem in üppiger Menge das Seidenpapier quoll.

Mühelos schlüpfte Gerhard in den rechten Schuh. Danach war es unmöglich, den Blick davon abzuwenden. Der Schuh adelte den Stoff der etwas zu dünnen und etwas zu blauen Hose, er adelte die ganze Person. Gerhard spazierte vor dem Spiegel auf und ab, den linken Fuß in der ausgetretenen Sandale, den rechten im eleganten Derby-Schuh, und sah die Beine von zwei völlig verschiedenen Menschen, die grausamerweise an ein und demselben Körper hingen. Gerhards Vater lobte das Modell in den höchsten Tönen, der Verkäufer lächelte zustimmend und reichte das linke Exemplar. Gerhard zog es an, band die Schleife und fühlte sich unbehaglich. Der linke Schuh schien anders geschnitten als der rechte. Während das Leder an den Seiten des rechten Fußes glatt anlag, beulte es sich beim linken ein wenig, so dass Gerhard seine Finger hineinschieben konnte.

»Phantastisch!«, rief der Vater, als Gerhard mit beiden Schuhen vor den Spiegel trat, »die Dinger machen einen Mann aus dir!«

»Wie passen sie denn?«, fragte der Verkäufer, und Gerhard antwortete, dass ihm der rechte angenehmer sei als der linke. In seinem Alter sei es nicht ungewöhnlich, dass die Füße ein wenig unterschiedlich geformt seien, antwortete der Verkäufer.

»Das läuft sich ein«, rief der Vater, »nicht wahr?«

Als der Verkäufer sie für einen Moment verließ, um die Frage eines anderen Kunden zu beantworten, zeigte Gerhard dem Vater, wie er die Zeigefinger seitlich in den linken Schuh schieben konnte und wie das beim rechten nicht der Fall war. Die begeisterte Miene des Vaters erlosch. Gerhard wartete darauf, dass der Vater den Verkäufer herbeiriefe. Er sollte ihm mitteilen, dass mit den Schuhen etwas nicht in Ordnung war. Der Verkäufer würde ein weiteres Mal im Lager verschwinden und ein anderes Paar derselben Größe bringen, oder, wenn sich herausstellen sollte, dass auch dieses nicht passte, ein anderes Paar von einem ähnlichen Modell.

Aber der Vater tat nichts dergleichen. Bekümmert, nein, geradezu beschämt betrachtete er Gerhards linken Fuß, der den Schuh nicht richtig ausfüllen wollte, und schwieg. Gerhard saß auf dem kleinen Schemel, der Vater stand neben ihm, die Hände auf die Knie gestützt, den Rücken gebeugt. So verstrichen die Sekunden.

Als der Verkäufer zurückkehrte und fragte, ob eine Entscheidung gefallen sei, richtete sich der Vater auf und verkündete fröhlich, es handele sich um genau das, was sie gesucht hätten. Auf dem Weg zur Kasse klopfte er Gerhard aufmunternd auf den Rücken und wiederholte, dass sich das Paar schon einlaufen werde, aber seine Fröhlichkeit klang künstlich, die festliche Stimmung war dahin.

In der Straßenbahn hielt Gerhard den Karton auf den Knien, strich mit den Fingern über die lackierte Oberfläche und das reliefartige Logo des Herstellers und schaffte es nicht, sich zu freuen. Er öffnete den Deckel, das Seidenpapier knisterte, die Schuhe lagen nebeneinander wie zwei Schmuckstücke in ihrer Schatulle. Auf den Ledersohlen entdeckte er die eingeprägten Ziffern, welche die Schuhgröße markierten. 36 stand auf dem rechten, auf dem linken eine 37. Er zupfte den Vater am Ärmel und zeigte ihm die unterschiedlichen Zahlen. Der Vater wurde blass. Für einen Augenblick fürchtete Gerhard, der erwachsene Mann könnte mitten in der Straßenbahn zu weinen beginnen. Stattdessen ballte er die Fäuste, dass die Knöchel weiß hervortraten, und sagte einen Satz, der in der Lage war, die Welt untergehen zu lassen: »Erzähl’s nicht deiner Mutter.«

Für ein Kind ist es unmöglich, die Demütigung des eigenen Vaters zu ertragen. Bis heute spürte Gerhard Übelkeit aufsteigen, wenn er an die Szene zurückdachte. Während der gesamten Rückfahrt hatte der Vater ins Leere gestarrt, so wie Kron, der noch immer allein auf der Lichtung stand, offensichtlich ganz in Gedanken versunken, den Blick in ein Nichts aus Sand, Holz und Kiefernnadeln gerichtet. Ein Gedemütigter, der alles Empfinden für Demütigung verloren hatte. Der die schiere Zumutung des Lebens nicht ertrug und dabei hart geworden war. Der tief in seinem Herzen trotzdem noch immer die Hoffnung nährte, am Ende allen Kampfes stünde die Chance auf einen gerechten Sieg. Es war die Existenz dieser heimlichen Hoffnung, die weiteren Demütigungen Tür und Tor öffnete.

Gerhard wusste jetzt, was er vorhin in Schallers Hof getan hatte und warum. Natürlich hatte er Frau und Kind verteidigt, und kein Mann im Universum hätte an seiner Stelle anders gehandelt. Dennoch stellte das nur die halbe Wahrheit dar. Hinter dem ersten Impuls stand ein zweiter: Er hatte Kron gerächt, diesen vom Leben gezeichneten Greis, dem das Gombrowski-Syndikat seit Jahrzehnten übel mitspielte und dessen Anblick einem das Herz im Leib umdrehen konnte. Man hatte Krons Freund getötet und ihn selbst zum Krüppel geschlagen, und der Mann, der das zu verantworten hatte, lief seit zwanzig Jahren frei herum, nur weil das Dorf sich weigerte, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Bis Gerhard ihn seiner Strafe zuführte. Er hatte einen Akt der Vergeltung begangen, einen Schlag nicht nur gegen Schaller, sondern gegen Ungerechtigkeit und Demütigung an sich. Deshalb war Gerhard instinktiv hierhergekommen: Um Kron auf der Lichtung vorzufinden und ihm die Nachricht von Schallers Buße zu überbringen. Er wollte einen Satz hören, den er sich bis zuletzt von seinem Vater gewünscht hätte und den dieser nun, da er tot war, nicht mehr sagen konnte: »Danke, mein Junge, jetzt schäme ich mich nicht mehr.«

Gerhard schob die Hände in die Taschen und schlenderte auf die Lichtung. Jeder Schritt scheuchte Insekten aus dem Gras, die summend seine Beine umkreisten. Kron, der seitlich zu ihm stand, wandte erst den Kopf, als Gerhard bis auf zwei Meter herangekommen war. Gerhard sah, wie sich die Mundwinkel des Alten hoben, und konnte gar nicht anders, als mit einem strahlenden Lächeln zu antworten. Er trat noch einen Schritt näher, streckte die Hand aus und spürte, wie sein Lächeln sich verstärkte.

»Na«, sagte Kron und betrachtete Gerhards Hand wie einen seltenen Pilz, von dem er nicht genau wusste, ob er giftig war. Schließlich entschied er sich gegen das Anfassen. Nach einem kleinen Schweigen fügte er hinzu:

»Eben denke ich darüber nach, ob es die Sache wert ist.«

Gerhard steckte seine unbenutzte Hand zurück in die Hosentasche. Beim besten Willen begriff er nicht, wovon Kron sprach.

»Was was wert ist?«, fragte er.

Kron vollführte eine Armbewegung, als stünden sie auf einem Panoramaturm, von dem aus sich der gesamte Landkreis überblicken ließ.

»Der ganze Wahnsinn«, sagte er. »Wegen ein paar blöden Windrädern.«

Der Dorffunk, dachte Gerhard. Es war immer wieder verblüffend, wie schlecht er funktionierte. Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war. Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen. Konnte es wirklich sein, dass Kron nichts von Gombrowskis Niederlage wusste?

»Haben Sie es noch nicht gehört, Herr Kron? Es wird keine Windräder geben.«

Zum ersten Mal sah ihn der Alte richtig an. Seine Augen waren gerötet, als hätte er getrunken oder geweint. Gerhard schien es, als schwankte er leicht. Der Blick war alles andere als freundlich, aber doch eine Aufforderung zum Weitersprechen.

»Gombrowski hat aufgegeben«, sagte Gerhard. »Linda Franzen hat ihn fallen lassen.«

»Wer?«

»Linda Franzen. Die mit den Pferden.«

Auf Krons Gesicht erschien ein seltsames Lächeln. Er sah nicht aus, als verstünde er, was Gerhard ihm zu erklären versuchte.

»Woran ich natürlich nicht ganz unschuldig bin«, sagte Gerhard. »Frau Franzen will doch diese Koppelzäune bauen.«

»Na und?«

»Ich habe ihr versprochen, die Einwände des Vogelschutzbundes gegen das Vorhaben zurückzuziehen. Dafür hat sie zugesagt, ihr Land auf der Schiefen Kappe nicht an Gombrowski zu verkaufen.« Gerhard nahm die Hände aus den Taschen und verschränkte die Arme. »Gombrowski ist mit seinen Plänen am Ende.«

Spätestens an dieser Stelle wäre es Zeit für ein gegenseitiges Schulterklopfen gewesen, für ein triumphierendes Lachen oder wenigstens das Zunicken zweier Verschwörer. Aber Kron schien nicht richtig zuzuhören. Er hielt seinen rötlichen Blick auf Gerhard gerichtet und schwankte.

»Ich denke, dass wir stolz auf uns sein können«, versuchte Gerhard es weiter. »Sie hatten der Raffgier von Gombrowski bestimmt die größten Opfer zu bringen. Aber auch meine Frau und ich mussten einiges aushalten. Wir haben uns alle tapfer geschlagen. Heute kann ich mit Freude sagen: nicht umsonst.«

Plötzlich begann Kron zu lachen. Er schlug sich sogar mit der Hand auf sein gesundes Bein. Während Gerhard ihm zusah, arbeitete sein Verstand an einer Formulierung, mit der er zu Schaller überleiten konnte. Etwas nach dem Motto »Ihr persönliches Problem mit Bodo Schaller habe ich bei der Gelegenheit auch gleich geklärt«, nur eben eleganter.

Er kam nicht mehr dazu, seinen Text fertig zu entwickeln, weil Kron selbst das Wort ergriff. Auch wenn das, was er sagte, ein wenig rätselhaft klang.

»Was wollen Sie eigentlich?«

Einen Moment überlegte Gerhard, ob Kron vielleicht unter Altersdemenz litt. Ob er sich vielleicht gar nicht daran erinnern konnte, wer Gerhard war.

»Herr Kron«, sagte er. »Ich bin Gerhard Fließ vom Vogelschutzbund. Wir haben von Anfang an gemeinsam gegen die Windkraftanlagen gekämpft.«

Kron vollführte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich habe nicht gegen Windkraftanlagen gekämpft«, sagte er. »Sondern gegen Gombrowski.«

Mit langem Arm zeigte er in die Richtung, in die er so lange gestarrt hatte, und wo es, genau wie überall sonst, nichts als Kiefern zu sehen gab.

»Dahinten«, sagte Kron, »einen halben Kilometer von hier werden sie stehen. Zehn Stück. Am Waldrand. Auf meinem Grund und Boden. Mit deinen Koppelzäunen hat das übrigens nichts zu tun. Sondern damit, dass dem Bürgermeister das Klo überläuft.«

Gerhard konnte nicht recht folgen. Zum Teil lag es daran, dass ihn ein Wagen ablenkte, der sich im Schritttempo durch die Kiefernschneise auf die Lichtung schob. Fast ohne Geräusch, mit ausgeschaltetem Blaulicht. Der Motor erstarb, zwei junge Männer in Uniformen stiegen aus. Der Wald warf das Zuschlagen der Türen als kurzes Echo zurück.

»Was wollen die denn hier?«, fragte Gerhard. »Haben Sie Ärger, Herr Kron?«

»Sind Sie Herr Fließ?«, rief einer der Uniformierten.

Als Gerhard klar wurde, dass die jungen Männer seinetwegen gekommen waren, fiel ihm das Blut in die Füße. Konnte es sein, dass sich Schaller erhoben hatte und durch den Graben zum Haus der Familie Fließ gewankt war, um seinerseits Rache zu nehmen? Das hatte er nicht bedacht. Er war sicher gewesen, Schaller neutralisiert zu haben. Nun kamen die Polizisten, um ihm eine schreckliche Nachricht zu überbringen. Gerhard rannte ihnen entgegen.

»Meine Frau!«, rief er. »Was ist passiert?«

»Herr Fließ«, sagte der Uniformierte. »Wir müssen Sie bitten, uns zu begleiten.«

»Sagen Sie es mir! Sofort! Was ist mit meiner Frau, meiner Tochter?«

»Beruhigen Sie sich, Herr Fließ. Mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter hat das hier gar nichts zu tun.«

Gerhard hielt inne, ihm fiel auf, dass er den Arm des Polizisten umklammert hielt.

»Wirklich?« Fast hätte er zu weinen begonnen. »Ich danke Ihnen!«

»Ich muss Sie jetzt über Ihre Rechte belehren. Sie haben das Recht zu schweigen, und sobald wir im Präsidium sind, können Sie mit einem Anwalt telefonieren.«

Gerhard starrte den jungen Polizisten an. Das Gefühl, nicht zu verstehen, was Menschen ihm mitteilen wollten, wurde langsam zu einem Dauerzustand.

»Das muss ein Irrtum sein«, sagte er schließlich.

»Sie stehen unter Verdacht, Bodo Schaller schwer verletzt zu haben.«

»Ach das«, sagte Gerhard. »Nur eine Dorfangelegenheit. So etwas regeln wir unter uns.«

»Bitte steigen Sie ein.« Der junge Mann fasste nach Gerhards Arm.

Erstaunt wandte Gerhard den Kopf zu Kron.

»Was soll das?«, fragte er.

»Die verhaften dich«, sagte Kron.

»Wieso mich?« Gerhard schaute zurück zu den Polizisten. »Den Schaller müssen Sie verhaften! Schon vor zwanzig Jahren hätten Sie das machen sollen!«

»Das können Sie uns alles auf dem Präsidium erzählen.«

Während die Polizisten ihn zum Auto führten, hingen Gerhards Augen weiterhin an Kron, wobei er den Kopf auf den Rücken drehte wie ein Kind, das man von den Eltern wegzerrt. Der Alte stand reglos in der Mitte der Lichtung, den Blick schon wieder abgewandt, als habe er ihn bereits vergessen. Langsam begann Gerhard zu ahnen, dass Kron das Letzte war, was er von Unterleuten sah.



60 Kron


Nachdem der verrückte Vogelschützer von der Polizei abtransportiert worden war und der Wald zu seiner üblichen Ruhe zurückgefunden hatte, widmete sich Kron wieder seinen Überlegungen, die ihn schon seit geraumer Zeit auf der Lichtung festhielten.

Seit dem Tag der Dorfversammlung hatte er den Windmühlenstreit als eine Art Rückspiel betrachtet. Unterschriftensammlungen, Transparente, Streik, Krönchens Verschwinden, Drohungen, Schlägereien und Hildes abtransportierte Katzen waren Spielzüge zweier gegnerischer Mannschaften gewesen, die um die Frage kämpften, ob es Gombrowski ein weiteres Mal gelingen würde, Kron zu besiegen. Jetzt hatte Kron gewonnen und musste feststellen, dass ihm Gombrowskis Niederlage herzlich egal war. Er empfand keinen Triumph, keine Erleichterung, nicht einmal Schadenfreude. Er empfand überhaupt nichts, wenn er an Gombrowski dachte. Vor seiner Gleichgültigkeit gegenüber Gombrowski stand Kron wie vor einem Spiegel, der ihn nicht zeigte. Er fühlte sich unsichtbar.

Folglich brauchte er einen anderen Grund, um zu glauben, dass zehn Windräder so viel Hass und Leid aufwiegen konnten. Er kannte nur eine Person, deren Existenz automatisch alles rechtfertigte, was man für sie tat: Krönchen. Er sah sie vor sich, fünfjährig, goldlockig, nicht viel höher als ein Küchentisch und trotzdem schon der unbestreitbare Mittelpunkt des Universums. In den Augen seiner Enkelin konnte er lesen, wie die Geschichte weiterging.

Krönchen war der Beginn einer neuen Ära. Sie würde den Knoten durchschlagen, der die Familie an Unterleuten band. Es galt, eine ganze Ahnenreihe von Bauern, Landarbeitern und Leibeigenen zu beerdigen. Was Kathrin versucht hatte, indem sie Ärztin geworden und dann doch in das verdammte Drecknest zurückgekommen war, würde Krönchen zu Ende bringen. Sie würde Jura oder BWL studieren, zur Not auch Kunstgeschichte, jedenfalls ein Fach, das außerhalb von Großstädten keinerlei Berufschancen besaß. Sie würde in Hamburg oder München leben, vielleicht sogar in New York oder Singapur, und schon ihre Kinder würden nichts mehr davon ahnen, dass sich ihre Vorfahren eine kümmerliche Existenz aus dem Märkischen Sand gekratzt hatten. Vielleicht würden Krons Urenkel in den Sommerferien nach Unterleuten kommen, um Großmutter Kathrin zu besuchen und ein paar Wochen über Stock und Stein zu toben. Für sie wäre Unterleuten eine Mischung aus Pfadfinderlager und Ponyhof, ein Ort, an dessen Gerüche man sich als erwachsener Mensch verschwommen und mit einer gewissen Wehmut erinnert. Vielleicht würden am Waldrand noch die Ruinen von zehn großen Rotoren stehen, die einst den nötigen Rückenwind erzeugt hatten, um Krönchen aus dem Dorf zu wehen.

Der Wind würde Wolfis finanzielle Impotenz ausgleichen. Der Wind würde Kathrin ein neues Badezimmer und die Erdwärmeheizung bezahlen, die sie sich schon lange wünschte. Vor allem aber sicherte er Krönchen die Möglichkeit, die sandige Sackgasse hinter sich zu lassen, in der sie geboren war. Sollten die Politiker doch weiter die Landflucht beklagen. Kron beglückwünschte jeden, dem die Flucht gelang. Sollten die verrückt gewordenen Städter kommen und die Häuser der Gestorbenen oder Geflohenen übernehmen. Typen wie der durchgedrehte Vogelschützer mochten den Ostprignitzer Fatalismus für eine Offenbarung halten und die Mentalität »sehr bodenständig« und »authentisch« finden. Aber Fatalismus war nichts weiter als Notwehr gegen Verhältnisse, die man nicht ändern konnte. So entstanden Menschen, die noch während des Weltuntergangs die Ellenbogen auf die Gartenzäune stützten und Sätze wie »Irgendwas ist immer« sagten.

Zugezogene begriffen nicht, dass der Weltuntergang hier bereits stattgefunden hatte. Mehrmals. Durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs, die bei schlechtem Wetter wahllos über dem Berliner Umland abgeworfen wurden. Durch Rot-Armisten während des Vormarschs auf die Hauptstadt. Durch die Ankunft der Vertriebenen aus Ostpreußen, die sich auf Scheunen, Ställe und halb zerstörte Häuser verteilten. Durch die Errichtung der Mauer und durch das Einreißen der Mauer. Die Überlebenden sprachen eine eigene Sprache und folgten einer eigenen Moral. Kron hatte das immer gut und richtig gefunden, schlicht aus dem Grund, dass er es für unvermeidbar hielt.

Seit er aber wusste, dass er Gombrowski besiegen konnte, ohne dass es das Geringste bedeutete, sah die Sache anders aus. Wenn Unterleuten so verkommen war, dass es noch nicht mal zum Schauplatz für ausgleichende Gerechtigkeit taugte, dann zeichnete es sich nicht durch eine eigene, sondern durch die Abwesenheit jeglicher Moral aus. Dann war es den Boden nicht wert, auf dem es stand, und verdiente die Auslöschung, die schon im Gange war. Dieses Mal nicht durch Bomben, sondern durch die Ankunft von Menschen ohne Erinnerung. Mit jedem neuen Vogelschützer und jeder neuen Pferdefrau starb ein Stück des alten Unterleutens. Je voller, teurer und lauter Berlin wurde, desto mehr Städter würden ins Umland schwappen. Sie konnten den Kreislauf durchbrechen. Sie konnten nach und nach ein neues Unterleuten begründen, eines, das weder Kron noch Gombrowski gehörte. Dann jedenfalls, wenn sie klüger waren als der Vogelschützer, der versucht hatte, das alte Spiel mitzuspielen, statt ein neues zu erfinden.

Mit Freude wollte Kron seinen Teil zur Auslöschung des Dorfs beitragen, indem er sich demnächst hinlegte und starb. Vorher aber musste Krönchen in Sicherheit gebracht werden, die noch jung genug war, um einer Infektion mit Unterleutner Vergangenheit zu entgehen. Für Kathrin war es leider zu spät. Ihm zuliebe war sie ins Dorf zurückgekehrt und hatte sich einen Ehemann gesucht, der in der echten Welt so chancenlos war, dass er ein Leben im Nichts mit ihr teilen wollte. Krons Schuld bestand darin, Kathrin nach der Flucht ihrer Mutter umso abgöttischer geliebt zu haben, wodurch er sie immer fester an sich und Unterleuten band. Schon immer hatte er an Krönchen etwas gutmachen wollen, aber erst jetzt begriff er, worin sein Auftrag tatsächlich bestand: Er musste Krönchen von hier fortbringen und sich selbst samt Unterleuten abschaffen.

Er blieb auf der Lichtung, bis es dämmerte. Immer weiter starrte er in Richtung des Landstreifens, auf dem in wenigen Monaten Krönchens Zukunft aus Stahlbeton und Aluminium errichtet werden würde. Endlich war auch in Kron das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen, diese Epoche des kollektiven Wahnsinns. Mit einem kleinen Schritt war er in der Gegenwart angekommen, im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter bedingungsloser Egozentrik. Wenn der Glaube an das Gute versagte, musste er durch den Glauben an das Eigene ersetzt werden. Sich dagegen wehren zu wollen, wäre gleichbedeutend mit dem Aufstand gegen ein Naturgesetz.

Kron fühlte sich gut. Er war jetzt kein Kommunist mehr. Sondern ein Sisyphos, der verstanden hatte, dass die Lösung des Problems darin bestand, den Berg zu kaufen. Oder, dachte Kron, bevor er sich abwandte, um ins Haus zu gehen: ein Don Quijote, der entschieden hatte, seine eigenen Windmühlen zu errichten, statt gegen fremde anzurennen.



61 Gombrowski


Plötzlich roch es nach Wasser. Dann spürte Gombrowski Regentropfen, die ihm auf die Schultern tippten, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Aber er ging weiter, rammte jeden Schritt in den Boden, zertrat die Meter, die ihn von seinem Ziel trennten, unter den Stiefeln. Die Schultern hochgezogen, das alte Doggengesicht gesenkt. Alles, was er empfand, war maßloser Ärger über den Regen, der wie immer zum falschen Zeitpunkt fiel. Wochenlang hatten Betty und er um Niederschlag gebettelt; jetzt aber musste die Ernte so schnell wie möglich eingebracht werden, bevor ein Sommergewitter sie plattdrücken konnte. Es fehlten nur noch die Sektoren 17 und 23, bis spätestens neun oder zehn an diesem Abend sollte das geschafft sein, wenn nicht wieder ein Mähdrescher kaputtging. Ihm auf den letzten Metern das Getreide nass zu machen, stellte puren Hohn dar. Vor Wut bebte sein Körper wie ein Instrument nach dem Anschlagen einer Saite.

Dass er ausgerechnet in diesen Augenblicken über die Geschäfte der Ökologica grübelte, kam ihm selbst merkwürdig vor. In den möglicherweise bedeutendsten Minuten seiner Existenz regte er sich über nassen Weizen auf – wobei andererseits, dachte Gombrowski, eigentlich immer die gegenwärtigen Minuten die bedeutendsten waren. Die simple Wahrheit bestand darin, dass er keine Ahnung hatte, worüber er sonst nachdenken sollte. Der Weizen war das, was blieb.

Am Morgen hatte das Telefon geklingelt, eine junge Frau hatte gefragt, ob er Rudolf Gombrowski sei, und sofort begonnen, in hohem Tempo auf ihn einzureden. Gombrowski brauchte eine Weile, bis er verstand, was sie von ihm wollte. Fidi war in einem Vorort von Hannover aufgegriffen worden, abgemagert, verwahrlost, das Fell an vielen Stellen abgeschürft. Offensichtlich war sie auf der Suche nach dem Heimweg zwei Wochen lang im Wald herumgestreunt, bis der Hunger sie zurück in die Zivilisation getrieben hatte. Anhand der Identifikationsnummer auf dem Mikrochip hatte man Gombrowski als Halter ermittelt.

»In Hannover?«, hatte Gombrowski gefragt. »Sind Sie sicher?«

Wie er durch eine SMS von Püppi wusste, befand sich Elena in Freiburg und war wohlauf. »Ruf bloß nicht an, Papa«, hatte am Ende der Kurznachricht gestanden. Von Fidi war keine Rede gewesen.

»Natürlich sind wir sicher«, sagte die junge Frau. »Ihre Hündin befindet sich hier bei uns im Tierheim. Sie sitzt in einer Ecke des Zwingers und zittert.«

Der Gedanke an Fidis treues, unschuldiges, verwirrtes Gesicht war eine Operation am offenen Herzen.

»Ich will das Tier nicht mehr«, sagte Gombrowski. »Machen Sie damit, was sie wollen.«

Dann beendete er das Gespräch und rief Betty an, um ihr mitzuteilen, dass er heute nicht zur Arbeit kommen würde.

Der Regen verwandelte sich in einen Wolkenbruch; Dürre oder Überschwemmung waren in Unterleuten das, was anderswo Wetter hieß. Gombrowski schob die Hände in die Hosentaschen und brachte die letzten Meter hinter sich.

Der Zaun, der das Schutzgebiet umgab, war aus Stahl, fast drei Meter hoch und oben mit Zacken besetzt. Gombrowski war am Bau der Anlage beteiligt gewesen und kannte den Zugangscode. Er entsprach der Zahl des Jahres, in dem Arne das größte Projekt seiner Amtszeit realisiert hatte – 1998. Die Abhängigkeit vom Plausitzer Zweckverband war dem Bürgermeister dermaßen auf die Nerven gegangen, dass er keine Ruhe gab, bis ein Verfahren gefunden war, mit dessen Hilfe man die Trinkwasserversorgung auf eigene Füße stellen konnte. So wie Gombrowski seinen alten Freund kannte, hatte er den Code bis zum heutigen Tag nicht geändert.

Nachdem er die Zahlen eingetippt hatte, surrte das Tor. Gombrowski schloss es sorgfältig hinter sich und hielt sich im Gras neben dem Kiesweg, um keine Fußabdrücke zu hinterlassen. Von außen sah Arnes Superbrunnen wie ein gewöhnlicher Geräteschuppen aus. Ein kleiner Ziegelbau mit rotem Dach, einer breiten Tür und geschlossenen grünen Fensterläden, die allerdings keine Fenster, sondern nur die nackte Wand verbargen. Unter dem unauffälligen Schachtüberbau ging es zwanzig Meter in die Tiefe. Wie das Förderprinzip im Einzelnen funktionierte, hatte Gombrowski nie verstanden. Worauf es ankam, war, dass der Brunnen Trinkwasser an die Oberfläche brachte, welches sofort in die Unterleutner Leitungen eingespeist wurde. Der Brunnen benötigte keine zusätzliche Anlage für die Wasseraufbereitung und kein erweitertes Schutzgebiet. Letzteres hatte Gombrowski damals dazu bewogen, das Projekt zu unterstützen. Die Wiese zwischen Unterleuten und Groß Väter, auf welcher der Brunnen stand, brachte der Ökologica ihr bestes Heu.

Noch einmal tippte Gombrowski »1998«, dieses Mal am kleinen Terminal der Eingangstür. Der Kamera, die über seinem Kopf hing, blickte er furchtlos ins Glasauge. Ab Mitternacht würde sein Bild mit neuen Aufnahmen überspielt werden. Die Videoüberwachung speicherte ihre Daten nur bei besonderen Vorkommnissen. Da Gombrowski die Anlage ordnungsgemäß betrat, stellte er keinen Störfall dar.

Drinnen stand er eine Weile reglos in der vollkommenen Dunkelheit und genoss es zu spüren, wie sich sein feuchtes Gesicht abkühlte. Das Auto hatte er zu Hause stehen lassen und war sieben Kilometer zu Fuß gegangen, um nicht in der Nähe des Brunnens parken zu müssen. Statt bequem an der Straße nach Groß Väter entlangzuspazieren, hatte er den beschwerlichen Weg durch den Wald gewählt. Auf diese Weise konnte er sicher sein, dass ihn niemand gesehen hatte. Er lächelte und wischte sich die Hände an der Hose ab. Im Grunde war das Schwierigste schon geschafft.

Erst als er die Taschenlampe anknipste, merkte er, wie seine Finger zitterten. Auch wenn sein Plan feststand, musste er zugeben, dass er aufgeregt war. Immerhin tat man das, was er vorhatte, nur ein Mal im Leben. Wenn überhaupt.

Das beste Mittel gegen Nervosität war Handeln, und der erste Teil der Aufgabe verlangte einiges an Kraft und Körperbeherrschung. Der Einstiegsdeckel des Schachts maß achtzig Zentimeter im Durchmesser. Er war nicht gesichert, dafür aus Gusseisen und so schwer, dass Gombrowski sein ganzes Körpergewicht zum Einsatz bringen musste, um ihn aufzustemmen. Die Taschenlampe war klein genug, um sie zwischen die Zähne zu klemmen, so dass er die Hände frei hatte. Mit einer Schulter hielt er den Deckel in der Senkrechten, während seine Füße nach den ersten Sprossen der Eisenleiter tasteten. Stufe für Stufe ließ er sich in den Schacht hinab, den schweren Deckel im Nacken balancierend, gebeugt wie Atlas unter der Weltkugel. Als der Winkel so ungünstig geworden war, dass er glaubte, dem Gewicht keine Sekunde länger standhalten zu können, zog er den Kopf ein, umklammerte die eisernen Streben der Leiter mit beiden Händen und ging ruckartig in die Knie. Der Knall, mit dem der Deckel zuschlug, erzeugte ein tausendfaches Echo im Schacht, von dem Gombrowski glaubte, dass es niemals enden würde. Als es schließlich doch verebbte, hielt er noch einige Sekunden den Atem an und wartete, bis seine Ohren zu klingen aufhörten. Die anschließende Stille machte ihm Angst. Sie war absoluter als alles, was ihm jemals begegnet war. Als er sich räusperte, sog der Schacht das Geräusch in die Tiefe. Gombrowski nahm die Taschenlampe aus dem Mund und leuchtete hinunter. Nach wenigen Metern verlor sich das Licht, ohne den Grund zu erreichen. Sein Herz begann, schmerzhaft gegen die Rippen zu schlagen. Er wollte raus, er wollte Licht, Luft und Regen. Das hatte er vorhergesehen. Langsam und deutlich sagte er in Gedanken zu sich selbst, dass es unmöglich war, den schweren Deckel von innen zu öffnen. Er konnte durchdrehen, in Panik geraten, schreien und toben – an seiner Situation würde sich nichts ändern. Ein Handy hatte er selbstverständlich nicht dabei. Der Brunnen wurde alle drei Monate von einem Techniker kontrolliert. Gombrowski hatte sich nach der letzten Wartung erkundigt, sie lag erst vierzehn Tage zurück. Der einzige Weg führte abwärts.

Eine Weile konzentrierte er sich darauf, langsam zu atmen, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte. Dann klemmte er die Taschenlampe wieder zwischen die Zähne und machte sich an den Abstieg. Mit fast zwei Metern Durchmesser bot der Schacht seinem Körper ausreichend Platz; trotzdem fühlte er sich zu eng von den nackten Betonwänden umschlossen. Zwei messingfarbene Rohre stiegen aus der Tiefe herauf, die im Licht der Taschenlampe glänzten. Sie waren aus Stücken von etwa zwei Metern Länge zusammengeschraubt, anhand deren Gombrowski errechnen konnte, wie viel Abwärtsstrecke er noch vor sich hatte. Mehr gab es momentan nicht zu verstehen. Die Luft roch abgestanden. Vermutlich war der Sauerstoffgehalt nicht besonders hoch.

Er ließ sich Zeit. Sorgfältig suchte er mit dem Fuß Halt auf der jeweils nächsten Sprosse und prüfte ihre Tragkraft, bevor er sie mit seinem Gewicht belastete. Zur Eile gab es keinen Grund. Ab jetzt ging es nur noch darum, seinen Plan nicht durch eine unvorsichtige Bewegung zu gefährden. Nicht abzurutschen. Die Lampe nicht zu verlieren.

Er hatte zwanzig Stufen hinter sich gebracht, als ihn das Gefühl befiel, schon seit Tagen durch diesen Schacht zu klettern. Der Brunnen sah nach oben und unten identisch aus und besaß in beide Richtungen kein Ende. Plötzlicher Schwindel zwang ihn zum Innehalten. Gombrowski schloss die Augen und klammerte die Fäuste fest um die Leiter, während ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief.

Загрузка...