Als sie den Kiefernforst verließen und in den Mischwald eindrangen, erwartete sie eine neue Form von Dunkelheit. Die Baumkronen schirmten das Mondlicht ab. Jule band das Tragetuch fester und senkte den Strahl der Taschenlampe auf den Boden. Er war bedeckt von heruntergefallenen Ästen. Hier und da wuchs Gestrüpp, das umgangen werden musste; an manchen Stellen gab die Erde nach und ließ die Füße in eine mit modrigen Blättern gefüllte Kuhle sinken. Um nicht zu stolpern, hob Jule die Knie wie ein Storch, was schon nach wenigen Schritten anstrengend wurde. Schmerzhaft drückten sich Wurzeln durch die weichen Sohlen der Turnschuhe. Zu beiden Seiten bewegten sich die Lichtkegel der benachbarten Taschenlampen, verschwanden hinter Baumstämmen, tauchten wieder auf, verwandelten den Wald in eine zuckende Geometrie aus Schatten und Licht. Die Kette ging zügig. Anscheinend bereitete das Gelände den anderen weniger Schwierigkeiten als ihr, aber die trugen auch kein Baby vor der Brust, das den Blick auf die eigenen Füße verdeckte. Die Schnürsenkel ihres Schuhs verfingen sich in einer Brombeerranke; um sich zu befreien, musste Jule in die Hocke gehen. Als sie wieder aufrecht stand, waren die anderen bereits ein gutes Stück weiter. Sie beschleunigte die Schritte, rannte fast, um die Gruppe nicht zu verlieren, bis Sophie, die im Tragetuch auf und nieder hüpfte, zu quengeln begann. Zwischen Mutter und Baby staute sich der Schweiß.

»Krönchen!«, rief Jule, so laut sie konnte, und wunderte sich, wie schwach ihre Stimme zwischen den Bäumen klang. Der Wald wies sie ab, als wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Sie wusste nicht, wie lange sie gegangen waren, als der erste Befehl ertönte.

»Nach links wenden und hintereinandergehen«, rief die Frau zur Rechten und hatte die Anweisung auch schon ausgeführt. Jule stolperte ihr nach, dachte noch rechtzeitig daran, den Befehl weiterzugeben, und rief über die Schulter: »Nach links und hintereinander!«

Dieses Mal dauerte es nur Minuten, bis die nächste Ansage kam.

»Noch einmal neunzig Grad links und wieder geradeaus.«

Die Kette hatte sich ein Stück tiefer in den Wald geschoben und gewendet. Jule musste zugeben, dass Gerhard seine Sache nicht schlecht machte. Es passierte ihr immer wieder, dass sie ihn unterschätzte. Bei aller Liebe zur Theorie erwies er sich als erstaunlich praktisch veranlagt. Bei jüngeren Männern war es meist umgekehrt. Sie investierten gewaltige Ressourcen in souveränes Auftreten und riefen ihre Eltern an, wenn es darum ging, eine Waschmaschine anzuschließen.

Jule versuchte, stolz auf sich zu sein. Welche ihrer Berliner Freundinnen würde nachts ihr Baby aus dem Bett holen und in den Wald laufen, um einer Nachbarin bei der Suche nach einem verschwundenen Mädchen zu helfen? Zumal es kaum jemand aus ihrem Bekanntenkreis bislang zu einem Kind oder auch nur zu einer festen Beziehung gebracht hatte. Sie hingegen hatte einen tollen Mann, ein gesundes Baby und ein schönes Haus.

Alles war gut – das erzählte sich Jule seit Tagen, und trotzdem wuchs das Gefühl, auf einer schiefen Ebene langsam Richtung Abgrund zu gleiten. Daran war nicht einmal das Tier von nebenan schuld, sondern die Tatsache, dass ihrer neuen Rolle schon wieder etwas Fadenscheiniges anhaftete. Seit dem Gespräch mit Gombrowski funktionierte die aktive, politisch engagierte junge Mutter nicht mehr. Was als Nächstes kommen sollte, wusste Jule nicht. Vielleicht könnte sie sich in Linda Franzen verlieben und an dieser verborgenen Neigung auf identitätsstiftende Weise leiden.

In Wahrheit verspürte sie Lust, alle Rollenspiele auf den Müll zu werfen und sich zu einer einfachen Formel zu bekennen: Sie hatte ihren Beruf aufgegeben, ihren Freunden den Rücken gekehrt und war in ein Dorf gezogen, in dem sie ewig eine Fremde bleiben würde.

Mit jedem weiteren Schritt wuchsen Erschöpfung und Mutlosigkeit. Sie würden Krönchen nicht lebend finden. Trotz aller Anstrengung war das bislang abgeschrittene Gebiet lächerlich klein, und die Kräfte schwanden rapide. In allen Knochen fühlte Jule, wie wenig eine Handvoll Menschen gegen die gelassene Größe des Waldes vermochte. Ihre Oberschenkel und Knie schmerzten, Sophies Gewicht wirkte auf Nacken, Schultern und Rücken, und den Augen fiel es immer schwerer, im Geflacker der Taschenlampen den Blick scharf zu stellen. Demnächst würde sie vor Entkräftung zusammenbrechen, vielleicht nur wenige Meter entfernt von Krönchen, die irgendwo im Dunkeln lag und längst aufgehört hatte zu weinen.

Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, stolperte sie heftig, stürzte halb und fing sich gerade noch an einem Strauch. Dornen drangen in die Kleidung, ein Zweig ratschte durchs Gesicht. Sophie begann zu schreien. Der Wunsch, sich einfach zu Boden sinken zu lassen und liegen zu bleiben, war schier übermächtig. Aber sie hätte allein nicht mehr nach Hause gefunden; jeder Sinn für Orientierung war ihr abhandengekommen.

Gerade hatte sie es geschafft, die anderen einzuholen, als linker Hand Tumult entstand. Die Lichtkegel der Taschenlampen stellten die Vorwärtsbewegung ein, näherten sich einander, leuchteten ziellos umher. Jemand sprach aufgeregt.

Da liegt Krönchen, dachte Jule. Sie haben sie gefunden.

Ihre Füße verwuchsen mit dem Boden. Keine Macht der Welt würde sie näher an die Leiche heranbringen. Die Stimmen wurden lauter, einige der Taschenlampen flackerten dicht beieinander. Dann löste sich eine heraus und kam auf Jule zu. Der Mann, der sie trug, wählte den direkten Weg. Wie ein großes Tier brach er durchs Unterholz. Trotz Sophies Geschrei hörte Jule ihn fluchen. »Vollidioten, unfähiges Pack.« Sie wollte ihm ausweichen, konnte die Beine aber immer noch nicht bewegen. Erst als er direkt vor ihr stand, erkannte sie Kron. Er wollte zu ihr.

»Ist nicht gerade hilfreich, so ein plärrendes Balg!«, schrie er. »Was stolperst du überhaupt hier herum? Hältst du das für einen Familienausflug?«

Während Sophie im Tragetuch erschrocken verstummte, begann Jule ohne Vorwarnung zu weinen. Kein Schluchzen, kein zuckendes Zwerchfell, einfach salziges Wasser, das ihr aus den Augen lief. Kron verschwamm, das Licht seiner Taschenlampe brach sich zu großen Sternen. Eine Hand packte ihren Arm und zerrte daran. Jule schrie auf, mit der Linken presste sie Sophie an die Brust.

»Nicht auf die Füße leuchten!« Kron schüttelte Jule wie eine Puppe. »Wenn du hier irgendetwas finden willst, musst du die Lampe hochhalten. Bist du wirklich so blöd?«

Ein Schauer aus feinen Speicheltropfen traf ihr Gesicht. Im gleichen Augenblick lenkte ein Stoß den Strahl von Krons Taschenlampe ab.

»Sie fassen meine Frau nicht an!«, brüllte Gerhard. »Verstanden?«

Kron taumelte zurück, schimpfte aber ohne Unterbrechung weiter.

»Planloses Rumgeraschel im Wald. Zu große Abstände, keine Konzentration. Eher würdet ihr sie tottrampeln als finden!«

»Wir sind hier, um Ihnen zu helfen!«

»Das soll Hilfe sein?«

Kron blickte um sich wie ein gehetztes Tier zwischen Jägern. Noch nie hatte Jule einen Menschen so schwitzen sehen. Das schüttere Haar klebte an der Kopfhaut, an den Schläfen sammelten sich dicke Tropfen. Das Hemd war nass wie aus dem Wasser gezogen. Obwohl Kron vor Erschöpfung zitterte, konnte er die Füße nicht stillhalten.

»Ihr freut euch doch, dass sie weg ist! Ihr habt mich immer gehasst. Und jetzt Krönchen. Wenn sie … Oh Gott.«

Krons Stimme brach. Jule fiel auf, dass er seine Krücke nicht dabeihatte. Den kranken Fuß schien er kaum noch belasten zu können, sein Gang glich einem einbeinigen Hüpfen.

»Hören Sie«, sagte Gerhard. »Die Kette funktioniert gut. Lassen Sie uns noch eine halbe Stunde weitermachen.«

»Und dann?«, rief eine Frau aus der Dunkelheit.

Inzwischen war die gesamte Suchmannschaft herangekommen. Die meisten hatten ihre Lampen ausgeschaltet, um die Batterien zu schonen. Einige verfolgten mit verschränkten Armen den Streit, andere lehnten unbeteiligt an den Bäumen oder hatten sich auf Stümpfen niedergelassen, die Beine von sich gestreckt.

»Gehen wir zum Indianer«, rief der Junge im karierten Hemd.

»Wo ist Krönchen?«, keuchte Kron.

Als er sich nach einem langen Ast bückte, wich Gerhard zurück und hob beschwichtigend die Hände.

»Nicht anfassen«, rief Kathrin. »Lasst ihn einfach in Ruhe!«

Aber Kron beachtete weder sie noch Gerhard. Er benutzte den Stock als Krücke, rammte ihn in den weichen Boden, sprang einen Schritt und schwang den Stock nach vorn. Während er Jule passierte, sah sie sein Gesicht aus der Nähe, eine Maske der Verzweiflung. Jeder neue Schritt presste ihm einen Schmerzenslaut aus der Brust.

»Krönchen!«, schrie er zwischen den Sprüngen. »Krönchen!«

Dann fraß ihn die Dunkelheit.

»Geht zu Arne«, rief Kathrin, schon im Begriff, ihrem Vater nachzulaufen. »Habt ihr verstanden? Keiner folgt uns!«

Sekunden später war auch sie verschwunden. Die Gruppe stand wie betäubt. Niemand regte sich, niemand sprach. Als hätte das Verschwinden von Kron und Kathrin einem mehrköpfigen Wesen das Herz herausgerissen.

Jule löste sich als Erste aus der Erstarrung. Sie lief zu Gerhard und warf sich in seine Arme. Er roch gut. Nicht nach Politiker oder Feldherr, sondern wie ein Mann, der sie liebte, der stolz auf sie war, egal, was sie tat, und der sie jederzeit gegen jedermann verteidigen würde. Sie wollte nichts mehr denken und niemand mehr sein. Sie wollte stillhalten, während Gerhard ihren Rücken streichelte und Sophie im Zentrum der Umarmung wohlig seufzte.



37 Seidel


Seit Barbaras Tod hatte das Haus nicht mehr so viele Menschen gesehen. Das Krankenhaus zu verlassen, um zwischen den eigenen Wänden zu sterben, war am Ende das Einzige gewesen, das ihr zu wünschen übrig blieb. Wo heute Arnes Schreibtisch stand, hatte er seiner Frau damals das letzte Bett bereitet. Jedes Mal, wenn sie aus dem Morphiumschlaf erwachte, bat sie darum, das Fenster zu öffnen und die Gerüche und Geräusche des Waldes einzulassen. Eines späten Abends, als er wie immer an ihrem Bett saß und ihren Schlaf bewachte, griff sie plötzlich nach seiner Hand und sah ihm in die Augen, so unbeirrt, als gäbe es kein Morphium, keinen Krebs und kein gefräßiges Nichts, das sie schon fast verschlungen hatte.

»Hörst du, Arne«, sagte sie, »da läuft ein Igel durch den Garten«, und Arne stand an ihrer Stelle auf, ging zum Fenster, schaute in die Dunkelheit und log für sie:

»Es sind sogar vier Stück. Eine Mutter und drei Junge.«

Über Barbaras Gesicht breitete sich ein glückliches Lächeln, und als Arne wieder an der Bettkante saß, war sie nicht mehr da, für immer gegangen, ihren unbelebten Körper zurücklassend wie ein nicht mehr benötigtes Kleidungsstück. Noch einen Tag lang hatte sie dort unter dem Fenster gelegen, hübsch zurechtgemacht von den Mitarbeitern des Beerdigungsinstituts, und genau wie heute hatten Menschen entlang der Wände gestanden, mit hängenden Köpfen, die Hände verschränkt oder in die Taschen geschoben, sprachlos, hilflos, nutzlos, mit nicht mehr im Angebot als ihrer schieren Gegenwart.

Unfassbar, dass seitdem 20 Jahre vergangen sein sollten. Wenn Arne wollte, konnte er sich Barbaras Gesicht so deutlich vor Augen rufen, als wäre sie nur kurz aus dem Raum gegangen, um den vielen Gästen etwas zu trinken zu holen. Mit der Zeit war der Schmerz stumpfer geworden, aber der Verrat glühte noch immer grell wie am ersten Tag. Der Anblick einer betroffen schweigenden Besuchergruppe in diesem Raum brachte alles zurück, die Trostlosigkeit, die Verzweiflung, die bohrende Gewissheit von der Sinnlosigkeit allen Seins, auch wenn anstelle eines Totenbetts heute der Schreibtisch am Fenster stand und die Besucher nicht wie Trauergäste, sondern eher wie Landstreicher aussahen, schmutzig, erschöpft, mit Tannennadeln in den Haaren. Durch das offene Fenster drängte die Nacht herein und flüsterte mithilfe von Wind und Zweigen: »Was ist, wird nicht sein.« Arne ging in die Küche und stellte Schnaps und Gläser für zehn Personen auf ein Tablett.

Als er zurückkam, hatte Kathrin im Besuchersessel wieder zu weinen begonnen, während Kron in unveränderter Haltung am Schreibtisch saß und apathisch vor sich hin starrte. An den Wänden lehnte jener Teil des Suchtrupps, der sich hartnäckig geweigert hatte, nach Hause zu gehen. Gerhard und Jule Fließ mit ihrer kleinen Tochter. Björn, Heinz und Jakob, die immer zur Stelle waren, wenn der alte Kron zum Appell rief. Verena, die als Tierärztin nach der Wende Arnes Job in der Ökologica übernommen hatte. Ingo hatte das karierte Hemd in die Hose gestopft, als wollte er dem Anlass einen gewissen Respekt zollen. In der Stille erzeugten Insekten, die unablässig durchs offene Fenster hereinkamen und sich zu Hunderten am Glas der Deckenlampe sammelten, einen elektrisch summenden Lärm.

Was fehlte, war ein Mann, der die weinende Kathrin hätte in den Arm nehmen können. Wolfi hatte sich nicht am Suchtrupp beteiligt, weil er, wie er sagte, zu Hause die Stellung halten musste, und Arne stand es nicht zu, die erwachsene Frau Kron-Hübschke zu trösten. Es brach ihm das Herz, sie in dieser Verfassung zu sehen. Als er gegen acht Uhr erfahren hatte, dass Krönchen verschwunden war, hatte er einen Satz geäußert, den sie vermutlich an vielen Haustüren zu hören bekam: »Die taucht schon wieder auf, weit kann sie ja nicht sein.« Jetzt war es zwanzig vor eins, und Arne musste sich eingestehen, dass ihm langsam mulmig wurde. Nach wie vor war er überzeugt, dass die kleine Diva davongelaufen war, um ihren Eltern eins auszuwischen. Leider hieß das nicht, dass ihr nichts zugestoßen sein konnte.

In der Stille schwang ein unheilvoller Unterton. Arne wusste, was kommen würde, er wusste nur noch nicht, wie er es verhindern sollte. Wenn nicht bald etwas geschah, würde es schwierig werden, das Dorf ruhig zu halten. Zum ersten Mal im Leben hatte er entschieden, dass es das Beste war, die Polizei anzurufen. Jetzt galt es, auf Zeit zu spielen. Die Dienststelle in Plausitz würde mindestens eine Dreiviertelstunde brauchen, um zwei Leute zu aktivieren. Bis dahin wollte er dafür sorgen, dass niemand den Raum verließ.

Er war noch mit dem Befüllen der Schnapsgläser beschäftigt, als es losging.

»Du hattest auch schon mal mehr Dampf auf dem Kessel, Kron«, sagte Ingo.

Kron blickte weiter stur vor sich hin und verriet durch kein Zeichen, ob er Ingo überhaupt gehört hatte.

»Ich denke, so langsam könnten wir mal rübergehen«, sagte Heinz.

»Oder wollen wir ewig hier rumsitzen?«, fragte Björn.

Kathrin schaute auf, die Wangen nass von Tränen.

»Ich war doch an allen Türen«, sagte sie.

»Auch beim fetten alten Hund?«, fragte Heinz.

»Natürlich«, sagte Kathrin.

»Und was meinte er?«

»Dass wir Bescheid sagen sollen, wenn er helfen kann.«

»Will der sich lustig machen?«, fragte Ingo laut.

»Warum war er dann nicht mit im Wald?« Jakob ließ die Schnapsflasche, mit der Arne hantierte, nicht aus den Augen.

»Was glaubst du denn?« Kathrin wischte sich übers Gesicht und deutete mit dem Kinn auf ihren Vater. »Der und Papa?«

Während die Stimmung immer gereizter wurde, wahrte Kron sein für ihn völlig untypisches Schweigen. Arne begann sich zu fragen, ob der Alte bei sich war, als er einen Blick auffing, den Kron seiner Tochter zuwarf, woraufhin diese warnend den Kopf schüttelte. Das war es also. Kathrin hatte sich ausnahmsweise dazu durchgerungen, ihrem Vater eine Ansage zu machen. Gutes Mädchen. Vielleicht hatte sie ihm gedroht, ihn nie wieder zu besuchen, wenn er nicht die Klappe hielt. Oder dass er nicht mehr mit Krönchen in den Wald gehen durfte. Falls die Kleine wieder auftauchte. – Natürlich taucht sie wieder auf, korrigierte sich Arne, die Frage war ja nur, wann, beziehungsweise – an dieser Stelle wollte er nicht weiterdenken – in welchem Zustand.

»Waren Sie auch bei Bodo Schaller?«, fragte Fließ gerade.

»Da hat keiner aufgemacht«, sagte Kathrin.

»Wenn ich etwas zu bedenken geben darf.« Fließ hob den Finger. »Falls Gombrowski etwas mit der Sache zu tun hat, würde er das Kind niemals bei sich zu Hause verstecken. Als ich vorhin Herrn Schaller nach Krönchen befragen wollte, hat er ausgesprochen aggressiv reagiert.«

»Oder beim Indianer!«, rief Ingo. »Vielleicht hat der alte Hund sie beim Indianer versteckt!«

»Was hast du immer mit dem Indianer?«

»Der ist ein Spinner!«

»Bist doch selbst ein Spinner!«

»Ist doch völlig klar, dass der alte Hund sie hat!«, schrie Björn, die anderen übertönend. »Keiner weiß, wo, aber irgendwo hat er sie!«

Arne atmete aus und zwang sich, so lange nicht wieder einzuatmen, bis sich sein Herzschlag beruhigte, eine Methode, die in vielen kritischen Situationen seiner Bürgermeisterlaufbahn Wunder bewirkt hatte.

»Wir trinken jetzt erst mal einen«, sagte er und machte sich daran, die Gläser zu verteilen.

Alle außer Jule griffen zu, jemand sagte »Wohlsein«, alle tranken, so dass Arne gleich mit dem Nachfüllen beginnen konnte.

»Was ist los mit dir, Kron«, fing Ingo wieder an. »Deine Enkelin ist weg, und du sitzt hier rum wie eine Kuh, wenn’s donnert.«

»Lass gut sein, Ingo«, sagte Arne.

»Herr Seidel möchte eine Eskalation vermeiden.« Fließ nickte wohlwollend in Arnes Richtung, als wäre er der Chef und Arne Mitarbeiter des Monats. »Trotzdem sollten wir die Option Gombrowski nicht aus den Augen verlieren. Zumindest müssen wir ausschließen, dass er etwas weiß. Erst dann können wir sinnvoll weitersuchen.«

Die anderen sahen sich an, offensichtlich machte die Tonlage des Vogelschützers Eindruck. Sei doch einfach still, du Penner, dachte Arne. Noch eine halbe Stunde Ruhe brauche ich. Das muss doch zu schaffen sein.

»Sehr nett, dass Sie sich engagieren, Herr Fließ«, sagte er laut. »Aber ich würde Sie bitten, die Regelung der Angelegenheit mir zu überlassen.«

»Und was regelst du Tolles? Du machst doch gar nichts!«, platzte Kron heraus. Erschrocken sah er zu seiner Tochter hinüber, die ihn aber nicht zurechtwies, sondern nachdenklich Fließ betrachtete, der sich, ermutigt durch Krons Einwurf, von der Wand abstieß.

»Ich schlage vor, dass wir eine neutrale Kommission bilden. Herr Seidel und ich suchen Herrn Gombrowski auf und stellen ihn zur Rede.«

»Wir treten dem alten Hund die Tür ein und durchsuchen die Bude!«

»Da werden wir Krönchen schon finden.«

»Und wenn er nicht reden will, hauen wir ihm ein paar aufs Maul.«

»Verdient hat er es schon lange.«

»Schluss damit!« Arne hob die Stimme, um das Geschrei zu übertönen. »Wir sind hier nicht im Wilden Westen.«

»Wir sollten auch an das Kind denken«, sagte Fließ. »Sie befindet sich schon …«, er sah auf die Uhr, »seit fünf Stunden, also, möglicherweise in Gefangenschaft.«

»Ich denke an nichts anderes!«, schrie Kathrin und fing wieder an zu weinen, dieses Mal so heftig, dass es ihren ganzen Körper schüttelte.

»Kathrin!« Kron hatte sich vorgebeugt, um seiner Tochter ins Gesicht zu sehen. »Du hast gesagt, es ist deine Entscheidung. Aber dann musst du auch was entscheiden!«

»Nicht, Kathrin«, sagte Arne bittend. »Lass mich das machen.«

Aber sie ignorierte ihn.

»Dann geht eben!«, rief sie. »Ich weiß doch auch nicht …«

Der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter. Kron war sofort auf den Beinen. Der ganze Raum geriet in Bewegung. Scheiße, dachte Arne. Verdammter Mist.

»Auf geht’s!«

»Aber nicht mit leeren Händen!«

»Nehmt euch ’ne Schaufel mit!«

»Halt!«, schrie Arne. »Niemand geht irgendwohin!«

»Was hast du denn zu melden?«

»Die Polizei wird gleich hier sein.« Das klang schwach, brachte aber immerhin den Aufbruch aus dem Takt.

»Du hast die Bullen angerufen?«

»Aus Plausitz brauchen sie vierzig Minuten«, sagte Arne. »Mit Blaulicht dreißig.«

»Scheiß doch auf die!«, rief Heinz. »Wir gehen jetzt!«

»Wenn hier irgendwer zu Gombrowski marschiert, zeig ich ihn an«, sagte Arne. »Wegen Hausfriedensbruch, versuchter Körperverletzung und haste nicht gesehen.«

Er wusste selbst, dass solche Drohungen niemanden beeindruckten, aber er musste Zeit gewinnen. Jede Minute zählte.

»Jetzt halt mal die Luft an.« Kron baute sich vor ihm auf. Der Alte war endgültig von der Leine. Seine Stimme überschlug sich wie das wütende Bellen eines Hunds. »Du bist doch schuld, dass Krönchen weggelaufen ist! Weil sie wegen dir nicht mehr im Garten spielen darf!«

»Wie denn jetzt?« Arne wischte sich Krons Speichel aus dem Gesicht. »Weggelaufen oder entführt?«

»Erst ist sie weggelaufen, dann hat Gombrowski sie geschnappt. Weil du deinen Nachbarn wegen ein bisschen Rasenmähen und Kindergeschrei das Scheißhaus blockierst!«

»Seid ihr bald fertig?« Heinz hielt sich neben Ingo und Björn zum Aufbruch bereit, während Fließ hilflos in der Nähe des Schreibtischs stand, beide Hände erhoben und blass um die Nase, ein Zauberlehrling, dem die gerufenen Geister über den Kopf wuchsen.

Kathrin war im Besuchersessel zusammengesunken, Jule Fließ hatte sich auf den Boden gesetzt und angefangen, ihr Baby zu stillen, während sich Jakob ein Glas nach dem anderen aus der Bromfelder-Flasche einschenkte und schon nicht mehr recht mitbekam, was um ihn herum geschah. Gern hätte Arne einen Moment innegehalten und das Tableau ein wenig länger betrachtet. Der Raum wirkte wie die Bühne eines seltsamen Theaterstücks, und er fragte sich, ob Wolfi so etwas schrieb, falls er überhaupt jemals etwas zustande brachte.

»Du steckst doch mit Gombrowski unter einer Decke«, schrie Kron. »Genau wie die Polizei. Weiß doch keiner, wo der alte Hund überall Beziehungen hat!«

Das war ein guter Augenblick für den Durchmarsch. Ohne Vorwarnung schlug Arne einen Haken, stieß den glotzenden Heinz beiseite, schloss die Tür von innen ab und schob den Schlüssel in die Tasche.

»Jetzt regen wir uns alle mal ab«, sagte er.

»Du sperrst mich nicht ein, du verdammter Gombrowski-Lakai!«

Kron humpelte auf Arne zu. Als er strauchelte, nutzte Arne den Moment, um sich zwischen Schreibtisch und Fenster in Sicherheit zu bringen und den Schlüssel unbemerkt unter einen Poststapel zu schieben.

»Haltet ihn fest!«, brüllte Kron.

Björn und Heinz nahmen Arne in die Zange, während Ingo an der Türklinke rüttelte wie ein Kind unter Hausarrest. Als die beiden Alten nach seinen Armen griffen, spürte Arne, wie wenig Kraft sie noch besaßen und dass es trotzdem reichte, um einen wie ihn zu überwältigen. Drei ringende Greise, dachte er. Wenn es einen Gott gibt, holt der sich gerade die nächste Tüte Popcorn und hat schon Seitenstechen vor Lachen.

»Du gibst mir jetzt den verdammten Schlüssel.« Kron war herangehüpft und machte sich an Arnes Kleidung zu schaffen. Während seine Finger erfolglos Arnes Hosentaschen durchsuchten, hatte dieser Zeit, sich wieder einmal darüber zu wundern, dass es ihm nicht gelang, Unterleuten zu hassen. Ganz egal, was passierte, er war dazu verurteilt, dieses Dorf und seine Menschen zu lieben.

Dann schlossen sich Krons Finger um seinen Hals.

Es wurde still, als hielte jeder im Raum gemeinsam mit Arne die Luft an. Schon nach wenigen Sekunden begannen rote Sterne vor seinen Augen zu tanzen. Das glaube ich jetzt nicht, dachte er. Das erlebe ich nicht wirklich. Seine Arme begannen, unkontrolliert durch die Luft zu fahren. Björn und Heinz wurden beiseitegeschleudert, Kron ließ trotzdem nicht los.

»Gombrowski hat das Kind doch gar nicht.«

Eine bislang ungehörte Stimme, wie ein neues Instrument im Orchester, von der Partitur nicht vorgesehen.

»Ihr verdammten Idioten«, fügte Jule hinzu.

Krons Finger lösten sich, Arne sog Luft ein und massierte sich den Kehlkopf. Kron hatte sich Jule zugewandt wie ein Stier, der von einem zweiten Matador angegriffen wird.

»Was redest du da?«

»Gombrowski hat nichts damit zu tun.«

»Woher willst du das wissen?«

»Sie weiß gar nichts.« Fließ war vor Kron getreten, um klarzustellen, dass er ihn keinen Zentimeter näher an seine Frau heranlassen würde. Jule saß auf dem Boden wie die heilige Jungfrau mit dem Kinde, im Zentrum aller Aufmerksamkeit.

»Gombrowski ist ein guter Mensch.«

Der Satz schien alle Energien zu absorbieren. Ratlosigkeit flutete den Raum wie eine gasförmige Substanz. Ingo rüttelte nicht mehr an der Klinke, Jakob stand reglos mit der halb leeren Bromfelder-Flasche in der Hand. Kron war in sich zusammengefallen. Die Wut war aus ihm gewichen und hatte einen alten, tödlich überanstrengten Mann hinterlassen. Arne sah Krons gefleckte Kopfhaut zwischen den grauen Haarsträhnen. Die wie Baumrinde gefurchte Stirn. Die geröteten Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllten. Kron schlug die Hände vors Gesicht. Sie standen betroffen. Der Anblick des weinenden Greises war schwer zu ertragen.

»Kathrin! Kathrin!«

Die Stimme kam von draußen. Arne wandte den Kopf und sah hinaus. Drüben lief eine Gestalt durch den dunklen Garten, flankte über den Zaun und kam direkt auf das offene Fenster zu. Wolfi schwenkte die Arme über dem Kopf, und als Arne sah, wie er strahlte, fiel ihm der sprichwörtliche Stein vom Herzen, groß wie ein Kinderkopf.

»Kathrin! Sie ist wieder da!«

Die Uhr auf dem Schreibtisch schlug eins. Von weit her glaubte Arne den Klang eines Martinshorns zu vernehmen, ohne sagen zu können, ob sich das Fahrzeug näherte oder entfernte.



38 Kron


Zum ersten Mal im Leben war Kron froh über die Schmerzen in seinem Bein. Während der vergangenen Stunden hatten sie ihn bis an den Rand des Wahnsinns gebracht und gerade dadurch verhindert, dass er den Verstand verlor. Jedes Mal, wenn er den rechten Fuß belastete, fuhr ihm ein Messer vom Knie hinauf bis in die Hüfte. Der Schmerz zog ihm den Magen zusammen und explodierte hinter seiner Stirn. Jeder Schritt hatte die Bilder eines von Wildschweinen zertrampelten Krönchens verdrängt und ihm den Namen jenes Mannes ins Gedächtnis gerufen, dem das kaputte Bein, obwohl es immer noch an Kron festgewachsen war, seit zwanzig Jahren gehörte: Gombrowski.

Wie ein schmutziges, kaputtes Werkzeug lehnte Kron in der Ecke von Kathrins Wohnzimmer, in dem alles aus sauberen Stoffen und glatten Oberflächen bestand. Seine Stiefel hatten erdige Flecken auf dem Teppich hinterlassen; rings um seine Hand, die sich auf das Sideboard stützte, kondensierte der Schweiß. Das Einzige, was Kron empfinden konnte, war Scham darüber, dass er Kathrins gepflegtes Haus mit seiner Anwesenheit befleckte. Er glaubte schon, ihre genervte Stimme zu hören: »Ach, Papa!« Dabei nahm sie ihn in diesem Moment gar nicht zur Kenntnis. Sie hatte nur Augen für Krönchen.

Kron war kein Mann, der sich Illusionen machte. Er wusste, dass seine Tochter ihn hasste. Im dunklen Inneren von Kathrins vermeintlicher Liebe wohnte Ungeduld, eine gnadenlose Unfähigkeit, den eigenen Vater so, wie er war, zu ertragen. Diese Ablehnung war das Ergebnis von unzähligen Verletzungen, die Kathrin im Lauf ihres Lebens hatte erdulden müssen. Sie hatte immer geschwiegen. Erst war sie lange Jahre zu jung und dann plötzlich zu alt gewesen, um Anklage zu erheben. Stumm gab sie ihm die Schuld an der Flucht ihrer Mutter, stumm würde sie ihm die Schuld an Krönchens Verschwinden geben.

Er konnte ihr das nicht einmal verdenken. Er wusste, dass es ihm trotz aller Anstrengung niemals gelungen war, ein guter Vater zu sein. Regelmäßig hatte er sich dabei zusehen müssen, wie er die Welt erklärte, statt seine Tochter in den Arm zu nehmen. Statt Vaterliebe hatte er ihr Belehrungen oder Belohnungen angeboten. Die wachsende Distanz zwischen ihnen hatte er mit den äußeren Umständen gerechtfertigt, erst mit zu viel Arbeit, dann mit dem Zusammenbruch der DDR und mit seinem Kampf gegen Gombrowski. Schließlich auch mit Kathrins naiver Bereitschaft, den Kapitalismus als Befreiung zu begreifen. Er hatte sich einzureden versucht, dass die niedergerissene Mauer zwischen Ost und West nun zwischen ihm und seiner Tochter verlaufe.

Trotz allem war sie seinetwegen in Unterleuten geblieben, hatte einen Mann geheiratet, der dumm genug war, das Landleben mit ihr zu teilen, hatte darauf verzichtet, sich einen Ort zu suchen, an dem sie aus sich und ihren Talenten etwas machen konnte. Kron stand in ihrer Schuld, und weder das Haus in der Waldstraße, das er ihr gekauft hatte, noch die Geldscheine, die er ihr manchmal zusteckte, konnten daran etwas ändern. Kathrins Hass war wie eine Seuche, mit der sie das ganze Dorf infiziert hatte. Einen Mann, der von der eigenen Tochter abgelehnt wurde, konnte auch sonst niemand lieben. Er war vogelfrei.

Was ihm blieb, war der Versuch, an seiner Enkelin etwas gutzumachen. Wenn er mit Krönchen im Wald hockte, die Betriebsabläufe eines Ameisenbaus studierte oder einen Mistkäfer bei der Arbeit beobachtete, konnte es vorkommen, dass er plötzlich aus der Zeit fiel, sich im Jahr 1980 wähnte, ein 35-jähriger Brigadeführer im Bereich Pflanzenproduktion, verzweifelt bemüht, seiner kleinen Tochter mithilfe von Ameisen und Mistkäfern die Mutter zu ersetzen. In solchen Momenten erhob er sich schnell, um den Wald nach Beweisen für die Gegenwart abzusuchen – und fand nichts. Für Bäume spielten Jahreszahlen keine Rolle. Egal, was die Menschheit veranstaltete, der Wald stand daneben und schwieg.

Noch vor wenigen Minuten hatte Kron dem Teufel seine Seele versprochen, wenn er nur Krönchen zu ihm zurückbringen würde. Jetzt stand er da und hielt den Blick gesenkt, unfähig, Krönchen ans Herz zu drücken oder auch nur mit einem Winken zu begrüßen. Er war überhaupt nicht in der Lage, sich der Couch zu nähern. Er konnte Krönchens Anblick kaum ertragen, wie sie dort saß, winzig klein und mit verheultem Gesicht, während ihre Eltern vor ihr auf dem Teppich knieten, jeder einen dünnen Arm mit beiden Händen umklammernd, als könnte ihre Tochter davonfliegen, wenn sie den Griff für eine Sekunde lockerten.

Kron erlaubte sich, keinen klaren Gedanken zu fassen. Er hätte nicht einmal sagen können, ob er sich freute. Unbeteiligt wohnte er der Szene bei, fast so, als ginge ihn das Ganze nichts an, als hätte das wiederaufgetauchte Krönchen mit dem verschwundenen Krönchen nichts zu tun. Er hörte Kathrin lachen und weinen und schließlich still werden, als Krönchen zu sprechen begann. Die Müdigkeit zog an allen Gliedmaßen, versprach Bewusstlosigkeit und Vergessen. Wie im Halbschlaf lauschte er Krönchens stockender Stimme und dem Pochen in seinem Bein. Gombrowski, klopfte es, Gombrowski.

»Ist nicht schlimm«, sagte Wolfi. »Erzähl einfach.«

»Weil ihr immer sagt, dass ich leise sein soll«, brach es aus Krönchen heraus. »Ihr habt mich gar nicht mehr lieb!«

»Wir haben dich sehr lieb«, sagte Kathrin. »Erzähl weiter.«

»Da bin ich zu den Katzen gelaufen.«

»Zu den Katzen?«, fragte Wolfi.

»Sie meint: zu Hilde«, sagte Kathrin. »Und dann?«

»Dann hab ich mit den Katzen gespielt.«

»Im Haus?«

»Bei Tante Hilde.«

»Tante Hilde war auch da?«

»Tante Hilde ist immer da.«

»Sie hat dir erlaubt, mit den Katzen zu spielen?«

»Ja.«

»Und dann?«

Krönchen schwieg.

»Sag es, Schatz. Es ist wirklich wichtig, dass du uns die Wahrheit sagst.«

»Tante Hilde hat mich nicht nach Hause gelassen.«

»Wie meinst du das?«

»Sie hat mich eingesperrt. Im Schrank. Oder in einer Kiste. Im Keller. Oder auf dem Dachboden.«

»Sie hat was gemacht?«

Als Kron aufsah, hatte Wolfi seiner Tochter den Finger unter das Kinn gelegt und ihr Gesicht zum Licht gehoben. Krönchen verdrehte die Augen, begann mit Armen und Beinen zu zappeln, ganz offensichtlich in Panik, und Kron schaute schnell wieder weg.

»Es war dunkel. Ich hab geschrien, aber keiner hat mich gehört. Dann hat Tante Hilde gesagt, da sind Ratten und Spinnen, und die kommen, wenn ich Lärm mache. Da hab ich ganz still gesessen. Ich hatte solche Angst.«

»Waren da noch andere Leute?« Plötzlich klang Wolfi eiskalt. »Hast du bei Tante Hilde noch jemanden gesehen? Krönchen!«

Die Kleine fing an zu schreien, ein Ton, der Kron das Gehirn in Scheiben schnitt. Sie riss sich aus der Umklammerung ihrer Eltern, warf sich seitlich auf die Couch und versteckte den Kopf unter einem Sofakissen.

»Lass gut sein«, sagte Kathrin. »Sie steht unter Schock.«

Kron schaute zu, wie Kathrin das wimmernde Kind aus dem Zimmer trug. Die Treppe zum oberen Stockwerk ächzte unter ihren Schritten. Wolfi kniete noch immer auf dem Teppich wie zum Gebet, die Ellenbogen auf die Sitzfläche der Couch gestützt, und sah nachdenklich vor sich hin.

Gombrowski, klopfte das Bein.

Als die Türklingel ging, raffte Kron seine Kräfte zusammen, brachte alles Gewicht aufs linke Bein, stieß sich von der Wand ab und nutzte den Schwung, um hüpfend das Zimmer zu durchqueren.

»Ich mach das«, sagte er zu Wolfi. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«

Draußen standen zwei Jugendliche in Uniform. Plausitzer Nachwuchs, glattgesichtig. Junge und Mädchen, frisch von der Polizeischule.

»Die Kleine ist wieder da.« Kron fischte in der Hosentasche nach einem Zwanzig-Euro-Schein. »Tut uns leid wegen dem Fehlalarm.«

Sie nahmen das Geld und zogen die Mützen vom Kopf.

»Kein Problem«, sagte der Junge. »Kinder machen Dummheiten.«

»Ja«, sagte Kron. »Erwachsene auch.«



39 Gombrowski, geb. Niehaus


Da saß ein Gespenst. Von den Toten auferstanden, um plötzlich mitten in der Nacht am Küchentisch zu hocken. Elena hatte Hilde eine halbe Ewigkeit nicht aus der Nähe gesehen und darüber beinahe vergessen, dass sie real existierte. Hilde war der Klang von Gombrowskis betretenem Schweigen gewesen. Ein monatlicher Eintrag in Gombrowskis Kontoauszügen und der wahre Grund von Elenas Doppelkopf-Leidenschaft. Hilde war ein Schatten hinter den Fenstern des Nachbarhauses, ein schlafendes Phantom unter einem Dach, auf das Elena morgens um fünf faustgroße Steine schleuderte. Hilde war die Sprachlosigkeit in Elenas Ehe, die unsichtbare Dritte im Doppelbett, das stumme Gelächter in ihren trostlosen Momenten. In all den Jahren war Hilde eine Menge Dinge gewesen, nur kein Mensch. Sie plötzlich vor sich zu haben, eine Frau aus Fleisch und Blut oder doch wenigstens aus Haut und Knochen, war ein Schock.

Seit Gombrowski das Hilde-Ding in die Küche geschoben hatte, konnte Elena nicht aufhören, es anzustarren. Dieses winzige Häufchen Elend mit schlecht gefärbtem Haar hatte absolut nichts mit dem blonden Lächelmädchen zu tun, das einst über die Flure der »Guten Hoffnung« getrippelt war. Hildes hübsches Gesicht hatte sich Elena immer vor Augen gerufen, wenn sie ihren Kopf mit beiden Armen gegen Gombrowskis Fäuste schützte. Durch den Gedanken an Hilde hatte sie versucht, die zärtliche Seite ihres Mannes wachzurufen.

Hilde musste geschrumpft sein. Groß war sie nie gewesen, aber an diesem Tisch wirkte sie klein wie ein Äffchen. Die faltige Haut trug dazu bei, ihr Mienenspiel ins Groteske zu steigern. Ein klaffender Mund, zusammengekniffene Augen und geballte Fäustchen vereinten sich zu einer Grimasse der Verzweiflung. Die Halogenstrahler in der Küche waren unbarmherzig; Elena verstand nicht, wie man ein Rhesusaffengesicht so stark schminken konnte. Überschüssiges Make-up sammelte sich an den Rändern des Gesichts zu dunklen Streifen. Rote Farbe war in die Lippenfurchen gesickert und ließ den Mund ausfransen. Unbeholfene Striche auf der Stirn konnten die fehlenden Augenbrauen nicht ersetzen. Nach Elenas Meinung hatte eine Frau in der ersten Lebenshälfte das Schminken nicht nötig, während es in der zweiten nicht mehr half.

Für einen Augenblick fühlte sie sich glücklich darüber, dass ihre Rivalin so wenig hermachte. Gleich darauf aber beschlich sie Bestürzung angesichts der Frage, wie abstoßend sie selbst sein musste, wenn Gombrowski ihr diesen Kobold vorzog.

Vor allem aber war der Schönheitswettbewerb der Greisinnen, den sie im Kopf veranstaltete, ziemlich lächerlich. Um sich abzulenken, stellte sie sich an den Herd und kochte Tee, den niemand trinken würde. Hinter der geschlossenen Wohnzimmertür auf der anderen Seite des Flurs winselte Fidi wie am Tag des Jüngsten Gerichts.

»Durchs Küchenfenster?«

Gombrowski wirkte neben Hilde wie ein Riese. Halslos saß er am Tisch, geduckt unter der eigenen Körpermasse, beide Ellenbogen aufgestützt.

»Sie hat das schon öfter gemacht.« Hilde schniefte. »Sie klettert am Rosengitter hoch und klopft an die Scheibe.« Noch ein Schniefen. Hilde machte keine Anstalten, sich die Nase zu putzen. »Wegen der Hitze heute stand das Fenster offen. Ich habe nicht mitgekriegt, dass sie rein ist.«

Als Hilde zum dritten Mal die Nase hochzog, verspürte Elena Lust, sie mit dem Teekessel zu schlagen. Stattdessen reichte sie ihr ein Stück Küchenpapier. Hilde nahm es, ohne aufzusehen. Im Wohnzimmer steigerte sich Fidis Winseln zu langgezogenen Tönen. Die dicken Pfoten kratzten auf den Dielen, als versuchte der Hund, sich einen Tunnel unter der Tür durchzugraben.

»Ruhe!«, brüllte Gombrowski.

Es war kaum zehn Minuten her, dass sie vom Klingeln des Telefons erwacht waren. Gombrowski hatte sich aus dem Bett gewälzt und einsilbige Antworten ins Handy gebellt. Ach. Quatsch. Gut. Tschüs. Danach war er ohne ein Wort der Erklärung in seine Hose gestiegen, hatte Fidi ins Wohnzimmer gesperrt und das Haus verlassen, um gleich darauf mit der verheulten Hilde Kessler zurückzukehren.

Es war normal, dass Gombrowski seine Entscheidungen allein fällte. Elena wurde niemals nach ihrer Meinung gefragt. Aber dass er Hilde außerhalb der verabredeten Zeiten ins Haus brachte, so dass Elena mitten in der Nacht auf eine Frau treffen musste, der sie seit zwanzig Jahren nach allen Regeln der Kunst aus dem Weg ging – das war ein starkes Stück. Es stellte einen Verstoß gegen die wichtigste Regel ihres Zusammenlebens dar. Elena verstand nicht, warum Gombrowski das tat. Für gewöhnlich hielt er sich an die häuslichen Gesetze. Er kam pünktlich zum Essen, putzte Fidis Dreck weg, ließ keine Bierflaschen herumstehen und verschwand im Arbeitszimmer, sobald Elena einen Satz mit »Ich muss jetzt mal …« begann. Das Gespräch mit Hilde in dieser Nacht hätte er genauso gut im Nachbarhaus führen können. Es gab keinen zwingenden Grund für den Tabubruch.

Darüber dachte Elena nach, als sie bemerkte, wie die beiden sich ansahen. Sie verständigten sich durch Blicke wie über eine Funkverbindung von Kopf zu Kopf. Da begriff sie: Hilde war nicht hier, um Gombrowski zu erzählen, was vorgefallen war. Sie war hier, damit Elena es hörte.

»Du willst sagen, dass du die ganze Zeit nicht wusstest, dass sie im Haus war?«

»Sie muss sich versteckt haben. Alles war wie immer. Ich habe mir eine Suppe gemacht, Kartoffel-Lauch-Creme aus der Dose, und sie mit vor den Fernseher genommen. Das war um acht, es liefen die Nachrichten.«

Elena schauderte bei der Vorstellung, wie die hässliche kleine Frau jeden Abend vor dem Fernseher eine Dosensuppe aß, umgeben von zwanzig Katzen. Dann fiel ihr ein, wie ihr eigener Mann mit einer Schüssel Erdnüsse vor dem Fernseher kauerte, neben sich Fidi, die ihm den Kopf auf die Füße legte. Unmöglich zu entscheiden, welches der beiden Bilder schlimmer war. Vielleicht war am grauenvollsten, dass sie zusammengehörten. Zwei Einsamkeiten mit Tier, jeden Abend, in benachbarten Häusern.

Fröstelnd wickelte sich Elena fester in den verblichenen roten Umhang, dem sie seit vier Jahrzehnten die Treue hielt, einem Überlebenden aus besseren Zeiten. Gombrowski hatte noch als Betriebsleiterpraktikant in einer Milchwirtschaft in Mecklenburg gearbeitet, als er eines Nachts unter Elenas Fenster gestanden und kleine Steine an die Scheibe geworfen hatte. Ein Bekannter seines Vaters hatte sich in Berlin mit einem Verwandten aus dem Westen getroffen und von diesem etwas erhalten, das durch eine Menge Hände gegangen war, bevor es die staunende Elena entgegennehmen durfte, während der junge Gombrowski vor Stolz strahlte. Die leuchtend rote Seide schien nicht von dieser Welt zu stammen. Auf der Haut war sie zugleich fühlbar und doch wieder nicht, eher ein Zustand als ein Stoff. Selbst wenn die Seide noch den letzten Rest ihrer roten Farbe verlöre und jede einzelne Naht zum dritten Mal nachgebessert wäre, würde Elena nicht aufhören, den Umhang zu tragen, bis zu dem Tag, an dem sie überhaupt keine Kleidungsstücke mehr bräuchte.

Sie erschrak, als sie bemerkte, dass sie sinnlos im Raum stand, wie ein Küchenroboter, dem der Stecker gezogen worden war. Sie hatte den Tee auf den Tisch gestellt und fand keine weitere Beschäftigung; gleichzeitig war es völlig undenkbar, sich zwischen Hilde und Gombrowski zu setzen. Offensichtlich bemerkte Hilde ihre Verwirrung, sie hielt den Blick direkt auf sie gerichtet. Die überraschend hellblauen Augen im bemalten Äffchengesicht waren das Einzige, was Elena wiedererkannte. Zu diesen Augen gehörten die Faltenröcke, die Hilde damals getragen hatte, die engen kurzärmeligen Wollpullover, deren bloßer Anblick im Sommer Juckreiz auslöste, und ein blonder, am Hinterkopf zur Schnecke gedrehter Zopf. Vielleicht lag darin der wahre Grund für Hildes Weigerung, das Haus zu verlassen: Nicht in der Angst davor, ein schwerer Gegenstand könne aus heiterem Himmel herabstürzen, sondern in der Scham darüber, zu einem Rhesusäffchen mit Hilde-Augen geworden zu sein. Vielleicht versteckte sie sich nicht vor dem offenen Himmel, sondern vor den Blicken der Welt.

Die Tatsache, dass niemand sprach, solange Elena unschlüssig im Raum stand, bewies endgültig, dass die Szene nur für sie stattfand. Also schön, dachte Elena. Sie trat zwei Schritte zurück und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Spüle. Hilde musste sich auf dem Stuhl umwenden, um sie weiter ansehen zu können.

»Elena«, sagte Hilde flehentlich. »Du weißt, dass es für eine Frau und Mutter völlig unmöglich ist, einem kleinen Mädchen etwas zuleide zu tun.«

Wie lang du wohl gebraucht hast, um dir diesen Satz zurechtzulegen, dachte Elena.

»Erzähl uns, wie es weiterging«, sagte Gombrowski.

Hilde schniefte und nickte.

»Gegen neun klopfte es an der Tür. Ihr wisst, dass ich nicht aufmache, wenn ich keine Ahnung habe, wer draußen steht.«

Ihr wisst. Als ob Gombrowski und Elena eine Einheit darstellten. Nicht einmal Püppi war jemals auf die Idee gekommen, ihre Eltern gemeinsam anzusprechen. Bei Elena und Gombrowski gab es kein »ihr« oder »wir«. Nicht einmal »du« und »ich«. Eigentlich gab es nur »er« und »sie«.

»Aber das Klopfen hörte nicht auf. Es hämmerte immer weiter, das klang nach Notfall. Es war Kathrin, die fragte, ob ich Krönchen gesehen hätte. Ich sagte, nein.«

»Was der Wahrheit entsprach.«

»Sag ich doch.«

»Und du hast im Haus nichts Ungewöhnliches bemerkt?«

Fast hätte Elena gelacht. Gombrowski hörte sich an wie ein Fernsehdetektiv.

»Eben nicht! Bevor ich ins Bett ging, habe ich die Katzen gefüttert. Sie kamen alle, sogar Bernstein, der neu ist und ein bisschen schüchtern. Stockhausen und Schönberg terrorisieren ihn. Ich war froh, dass er gestern …«

»Hilde.«

Schweigen breitete sich aus. Elenas Beine begannen vom Stehen zu schmerzen; ihre Knie waren schon immer älter gewesen als sie selbst. Vorsichtig verlagerte sie das Gewicht, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, damit Hilde nicht wieder auf die Idee käme, sie anzustarren. Aber diese schien ganz mit sich selbst beschäftigt, sie tupfte mit der Fingerspitze Wassertropfen vom Porzellan der Teekanne und malte Kreise auf den Tisch.

»Gegen zehn bin ich ins Bett gegangen. Irgendwann habe ich im Erdgeschoss etwas rumpeln gehört, aber so etwas kommt vor, wenn man mit neunzehn Mitbewohnern zusammenlebt. Ich habe mir nichts dabei gedacht und bin eingeschlafen. Dann ging plötzlich das Geschrei los. Furchterregend, als würde ein Kind abgestochen.«

»Nachts sind das meistens Tiere«, sagte Gombrowski.

»Das war kein Tier.« Hilde schüttelte den Äffchenkopf. »Auch Katzen schreien manchmal, aber nicht so. Ich bin raus aus dem Bett und die Treppe runter, so schnell ich konnte.«

Elena griff nach dem Lappen und wischte die Tischplatte ab. Für einen Moment sah es aus, als wollte Gombrowski etwas zu ihr sagen, dann überlegte er es sich anders und senkte den Blick.

»Krönchen war außer sich, nicht ansprechbar. Sie warf sich gegen die verschlossene Eingangstür, schrie wie am Spieß. Als ich sie am Arm fasste, schlug sie nach mir.«

Gombrowski nickte wie der Wackeldackel auf der Hutablage eines Mercedes. Sein rechtes Ohrläppchen knetete er zwischen Daumen und Zeigefinger, eine Geste, die Elena noch nie an ihm gesehen hatte.

»Sie war in Panik«, sagte er. »Wahrscheinlich ist sie von zu Hause weggelaufen, um ihren Eltern einen Schrecken einzujagen. Sie ist bei dir reingeklettert, hat sich im Haus versteckt und mit den Katzen gespielt. In irgendeinem Winkel muss sie eingeschlafen sein, und als sie mitten in der Nacht wieder aufwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Alles dunkel, die Haustür verschlossen. Da ist sie ausgerastet.«

Der Fernsehdetektiv hatte den Fall gelöst, ließ sein Ohrläppchen los und lehnte sich im Stuhl zurück. Schöne Geschichte, dachte Elena. Spannend erzählt, nur leider kein bisschen glaubwürdig. Hätte sich Gombrowski jemals die Mühe gemacht, auch nur ein Minimum an Verständnis für seine eigene Tochter zu entwickeln, dann wäre ihm klar gewesen, dass kleine Mädchen vielleicht von zu Hause wegliefen, aber nicht für Stunden, und sie schliefen auch nicht inmitten eines Abenteuers versehentlich ein.

»Weil ich nicht wusste, was tun, habe ich einfach die Haustür aufgeschlossen. Sie ist an mir vorbeigeflitzt und in der Dunkelheit verschwunden. Wie wenn du ein Tier rauslässt, das sich ins Haus verirrt hat.«

»Und du?«, fragte Gombrowski. »Hast du bei Kathrin angerufen?«

»Natürlich!«, rief Hilde und klang zum ersten Mal wie ein normaler Mensch. »Aber bis ich die Telefonnummer herausgefunden hatte, sind ein paar Minuten vergangen, und als der Mann von Kathrin endlich dranging, war Krönchen schon zu Hause.«

»Sehr gut.« Gombrowski hatte das Nicken wiederaufgenommen, schlug beide Handflächen auf den Tisch und erhob sich vom Stuhl, der erleichtert ächzte. »Gut, dass du dich gleich dort gemeldet hast. Den Rest werden wir Kron schon verklickern, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt. Jetzt bringe ich dich erst mal nach Hause.«

Auch Hilde stand auf, wodurch sie nicht wesentlich größer wurde. Sie machte einen Schritt auf Elena zu, hob das Äffchengesicht und legte ihr eine winzige Hand auf den Unterarm. Elena sah, dass die Nägel zu groß für die gekrümmten Finger waren und zu allem Überfluss rot lackiert. Sie machte einen Schritt zur Seite, um der Berührung zu entgehen.

»Elena«, sagte Hilde. »Ich weiß, dass du mich hasst. Aber dafür gibt es keinen Grund.«

»Wir gehen jetzt«, polterte Gombrowski und zog Hilde von Elena weg.

»Ich habe nie irgendetwas Böses gemacht.« Hilde schrie fast, während Gombrowski sie Richtung Küchentür dirigierte: »Niemals!« Der Äffchenkopf drehte sich auf dem dünnen Hals bis auf den Rücken, um Elena immer weiter anzusehen. »Du musst mir glauben!«

Angewidert von der Szene, wandte sich Elena so abrupt um, dass sie gegen den Obstkorb stieß, der auf der Anrichte stand. Er fiel polternd zu Boden, Früchte kullerten in alle Richtungen, ein Apfel traf Elenas nackten Fuß, eine Birne schaffte es bis über den Flur und stieß gegen die geschlossene Wohnzimmertür, hinter der Fidi sofort zu bellen begann.

»Mein Gott, Elena«, rief Gombrowski.

Verschwindet, dachte Elena und hätte den beiden am liebsten einen Apfel hinterhergeworfen. Haut bloß ab. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Über die Geschichte vom versehentlich eingesperrten Krönchen, vom Fernsehdetektiv Gombrowski und der weinerlichen Hilde. Zeit, um zu überlegen, was die beiden angerichtet hatten und was das für Elena bedeutete. Zeit, um die Erinnerung an die wasserblauen Augen im bemalten Äffchengesicht aus dem Kopf zu kriegen.

Als Fidi endlich Ruhe gab, hörte Elena, wie sich Gombrowski und Hilde im Flur leise unterhielten. Dann wurde der Schlüssel in der Haustür gedreht und ein Regenschirm aufgespannt. In diesem Moment tat es einen Schlag, der die Scheibe des Küchenfensters zum Klirren brachte, gefolgt von einem Rieseln. Draußen fiel etwas zu Boden. Fidi bellte wie besessen.

»Was machst du denn?«, schrie Gombrowski.

Elena stand wie vom Donner gerührt in der Küche und konnte nicht orten, woher der Lärm gekommen war. Hilflos drehte sie sich einmal um sich selbst. Der nächste Schlag. Dann noch einer. Schwere Gegenstände krachten gegen die Außenwand des Hauses. Splitternd fiel die Terrassentür in sich zusammen; etwas Schweres rollte über das Parkett im Wohnzimmer.

Da sind sie, dachte Elena. Jetzt sind sie da.



40 Gombrowski


Wieder einmal musste sich Gombrowski fragen, wofür ihn das Schicksal bestrafte. Was er so grundlegend falsch gemacht hatte. Und wie immer gab er sich die gleiche Antwort: nichts. Er führte ein gewöhnliches Leben. Er tat Dinge, die jeder andere an seiner Stelle ebenfalls tun würde. Er hatte Spaß am Gelingen und sprach von Erfolg, wenn für alle Beteiligten der größtmögliche Nutzen entstand. Er hatte so vielen Menschen im Dorf auf so vielfältige Weise geholfen, dass St. Martin neben ihm wie ein Waisenknabe wirkte. Was er nicht für Unterleuten tat, das tat er für seine Frauen. Mit den Jahren hatte er gelernt, keine Dankbarkeit zu erwarten. Aber ihn schmerzte die Tatsache, dass man ihn zum Lohn für alle Anstrengungen auch noch drangsalierte. Nicht nur Kron, das Finanzministerium und die EU – auch Elena, Püppi, Hilde, Betty und Fidi machten ihm das Leben schwer. Für Elena hatte er das große Haus erworben und gleich nach der Wende mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet, die der Westen zu bieten hatte. Zum Dank dafür schlich sie als stummer Vorwurf durch die Räume und tat so, als hätte sie Angst vor ihm. Püppi hatte er ein Auto gekauft, mit dem sie ihn nie besuchte, und eine Wohnung, von der aus sie niemals anrief. Betty ärgerte ihn mit ihrer stummen Besserwisserei und Fidi mit ihrem andauernden Gebell. Für Hilde sorgte er seit Eriks Tod wie ein Vater, nur damit sie ihn bei jeder Gelegenheit ermahnte, Betty, Püppi und Elena besser zu behandeln. Überhaupt fragte Hilde ständig nach Elena, als wäre die ihre beste Freundin. Sie wusste genau, wie sehr ihn das ärgerte. Auch jetzt sprach sie allein zu Elena, als ginge es nur darum, was diese von ihr dachte, während es keine Rolle spielte, was Gombrowski von der ganzen Geschichte hielt.

Wobei er, ehrlich gesagt, gar nicht wusste, was er davon halten sollte. Eigentlich glaubte er, seinen alten Widersacher Kron bestens zu kennen. Selten überraschte ihn, was der andere tat. In Bezug auf das verschwundene Krönchen stand er jedoch vor einem Rätsel. Die Kleine bei Hilde zu verstecken, um Gombrowski wie einen Kindesentführer aussehen zu lassen, war ein genialer Schachzug. Es würde Kron helfen, das Dorf gegen Gombrowski zu mobilisieren. Aber ihm wollte partout nicht einfallen, wie Kron das gemacht hatte.

Er wusste aus eigener Erfahrung, dass die Behauptung, Kinder besäßen einen festen Schlaf, völlig aus der Luft gegriffen war. Er konnte nicht zählen, in wie vielen Nächten er die kleine Püppi auf dem Schlepper rund um die Gute Hoffnung gefahren hatte, bis er sie endlich ins Bett tragen konnte. Dass ein lebhaftes Kind wie Krönchen einfach so in Hildes Haus eingeschlafen sein sollte, hielt er für ausgemachten Unsinn. Konnte es sein, dass Kron ihr ein Schlafmittel gegeben hatte? Aber wie konnte er sicher sein, dass sie dann tatsächlich zu Hilde lief?

Unterleuten war ein Instrument, auf dem ein Virtuose jede beliebige Melodie erzeugen konnte. Gleichgültig, was in Krons Partitur gestanden hatte, die Improvisation hatte wunderbar funktioniert. Niemand würde glauben, dass Gombrowski nichts mit der Angelegenheit zu tun hatte. Das Dorf würde davon ausgehen, dass Gombrowski das kleine Mädchen benutzt hatte, um Krons Widerstand gegen das Windkraftprojekt zu brechen. Die Wahrheit war nicht, was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten. In einem ruhigeren Augenblick wäre Gombrowski vielleicht sogar in der Lage gewesen, Krons Strategie Respekt zu zollen.

Jetzt aber splitterte die Terrassentür.

Als Erstes dachte Gombrowski, dass sich Fidi an den Glasscherben verletzen könnte. Als Zweites fiel ihm ein, dass er Hilde auf keinen Fall allein im Flur stehen lassen durfte. Als Drittes wollte er Elena, die in der Küche wie am Spieß schrie, mit einem der herumrollenden Äpfel das Maul stopfen.

Als wieder etwas von außen gegen die Hauswand krachte, wechselte Gombrowskis Wahrnehmung die Spur. Elenas Schreien, Hildes Wimmern und Fidis Bellen traten in den Hintergrund, dafür wurde die Sicht extrem klar. Er sah die Beine eines Dreizehnjährigen, lang und dünn, in gestreiften Pyjamahosen. Dazu Jungenhände, die ein Balkongitter umklammerten. Unter sich sah er die wilden Gesichter mehrerer Männer, flackernd erleuchtet von einem Großfeuer. Knüppel und Eisenstangen, die über den Köpfen schwangen. Verzerrte Münder. Berstende Scheiben. Der Geruch seines brennenden Zuhauses. Krons Lachen.

Noch ein Schlag gegen die Hauswand. Schmerzhaft hämmerte ihm das Herz in der Brust, er hatte Angst. Die panische Angst eines Kindes. Er glaubte, die Stimme seiner Mutter zu hören:

»Da sind sie. Jetzt sind sie da.«

Einen schrecklicheren Satz hatte noch kein Mensch gesprochen.

Als Gombrowski zu sich kam, rannte er bereits. Er sprintete über den Flur, riss die Wohnzimmertür auf. Sah Fidi inmitten von Scherben auf und ab springen. Registrierte, dass es sich bei dem Gegenstand, der das Glas durchschlagen hatte, um einen der Keramikfrösche vom Ufer des Gartenteichs handelte, auf dem Parkett in zwei saubere Hälften zerfallen. Gombrowski schrie wie ein Tier, während er die zerbrochene Tür aufriss, mit einem Satz auf die Terrasse und mit dem nächsten über die Brüstung sprang. Obwohl der Boden weich war, fuhr ihm bei der Landung ein stechender Schmerz in die Fersen. Einen Augenblick später glitt Fidi wie ein Schatten durch den Garten, ihre Tatzen schienen kaum das Gras zu berühren. Unter dem Küchenfenster stand ein junger Mann, vermutlich Ingo, den nächsten Keramikfrosch in der Hand. Einen Augenblick sah es aus, als wollte er Fidi den Frosch entgegenschleudern, aber da hatte die Hündin schon abgehoben. Ihr massiger Körper flog durch die Nacht, die ausgestreckten Vorderpfoten trafen die Schultern des Manns, der rücklings zu Boden ging. In Gedanken wünschte Gombrowski ihm viel Glück. Er selbst rannte weiter, so schnell er konnte. Die Nacht roch nach Kron.

Als er das Haus umrundet hatte und den Zaun erreichte, musste er innehalten. Er spürte Herz und Lungen, als wären sie ihm gerade erst in die Brust montiert worden. Er hielt sich am Gartentor fest und sah Gestalten den Beutelweg hinunterrennen. Nur eine floh in die andere Richtung, auf den Wald zu, in komischen Sprüngen, das eine Bein kaum belastend, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit.

Gombrowski trat auf die Straße, schloss das Gartentor hinter sich und wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, als ein heftiger Aufprall den Zaun in Schwingung versetzte. Fünf Windrädchen fielen straßenseitig zu Boden. Ein zweites Mal warf sich Fidi gegen die Gitterstäbe, ihr Gebell ein heiseres Japsen. Die hüpfende Gestalt auf der Straße verdoppelte ihr Tempo. Gombrowski überlegte kurz, dann öffnete er dem Hund das Tor.



41 Wachs


»Warte mal«, sagte Linda, »der Empfang ist total schlecht. Ich geh besser vor die Tür.«

Frederik war aufgewühlt, er wollte unbedingt reden. Er hatte schon eine ganze Weile ins Telefon gesprochen, bevor ihn Lindas abgehackte Stimme darüber informierte, dass sie ihn gar nicht verstand. Zwischen den Mauern von Objekt 108 schwankte das Funknetz, es konnte vorkommen, dass man minutenlang erzählte und am Ende des Vortrags keine Antwort erhielt, ohne zu wissen, wie lange man bereits ins Leere gesprochen hatte, was ein ungutes Gefühl erzeugte, in etwa so, als trete man am Ende einer Treppe ins Nichts. Da Frederik nicht zum Monologisieren neigte, wurde normalerweise Linda zum Opfer dieses Phänomens. Sie konnte sich darüber erregen wie über eine Majestätsbeleidigung, und immer klangen ihre Tiraden vorwurfsvoll, als hätte sich Frederik mit Absicht in einem Funkloch versteckt.

In dieser Nacht aber war er es, der unter akutem Rededrang litt und sich abrupt stillgelegt fühlte, während Linda hinter einer knisternden akustischen Mauer ihre Schuhe anzog, Jacke holte, Zigaretten suchte oder was sonst an Verrichtungen notwendig wurde, wenn man sich mitten in der Nacht für ein Telefonat im Garten rüstete. Frederik fragte sich, ob er den roten Faden wiederfinden würde, sobald Linda Empfang hatte. Ob es überhaupt einen roten Faden gab. Das Ereignis, über das er reden wollte, zeigte erhebliche Fähigkeiten im Vernichten von roten Fäden. Nicht nur im Gesprächsverlauf, sondern in Bezug auf seine gesamte bisherige Biographie.

Er hatte den Samstag in der Firma verbracht und immer noch am Rechner gesessen, als gegen 18 Uhr Timo hereinstürmte und ohne ein Wort der Erklärung den Fernseher einschaltete. Kurz darauf stand auch Ronny im Raum, noch blasser als sonst und mit einer Flasche Wodka unter dem Arm. Normalerweise wurde bei Weirdo während der Arbeitszeit nicht getrunken.

Während der folgenden Stunden verfolgten sie parallel die Nachrichten im Fernsehen, in Live-Tickern und auf Twitter, und ihr gemeinsames Vokabular reduzierte sich auf das Wort »scheiße«. Sie sahen die ersten verwackelten Handy-Filme. Die Bilder zeigten eine zusammengedrängte Körpermasse, die im Ausgang eines Tunnels steckte. An manchen Stellen verdichtete sich die Menge zu einem undurchdringlichen Schwarz. Jenseits des Tunnels setzte sich die Masse fort, wurde lockerer, bunter, bestand aus Menschen mit Köpfen und Armen, die sich, wie ein Schwenk über das Veranstaltungsgelände zeigte, in einiger Entfernung wieder bewegten. Auf allen Tonspuren war dieselbe Geräuschkulisse zu hören, ein dumpfes Brummen wie von einem Organismus, der kein Herz, sondern eine Induktionsspule im Leib trug. Darüber unverständlich blecherne Megaphon-Durchsagen und einige plötzlich laut erklingende Satzfragmente, aus nächster Nähe gesprochen, »ich das nicht«, »was wenn jetzt«, »immer noch besser als«, dazu im Hintergrund das Wummern von Techno-Musik. Man sah niemanden sterben. Man sah nur Masse und Verstopfung. Gestorben wurde lautlos, unsichtbar, tief im Inneren. Die vermeldete Opferzahl stieg von fünf auf neunzehn.

Frederik war 16 Jahre alt gewesen, als er im Sommer 1999 zum ersten Mal zur Loveparade nach Berlin gefahren war. Er mochte Techno und verspürte den unbestimmten Drang, zum ersten Mal im Leben an etwas teilzunehmen, das größer war als der Grundriss seines Elternhauses. Zu seiner eigenen Überraschung trat ihm das unbekannte, von jungen Leuten überflutete Berlin vertraut wie eine Heimat entgegen. In der Masse von Hunderttausenden tanzender Menschen sah er sich selbst, ein Ich, das er lieben konnte, ganz anders als das grässliche Spiegelbild, vor dem er beim Zähneputzen im Bad die Augen senkte.

Frederik hatte Timo und Timo hatte Ronny, und alle gemeinsam hatten sie Computer und das Internet. Keiner von ihnen fühlte sich einsam. Aber dass sie mit ihren nicht vorhandenen Frisuren, modefreien Klamotten und fehlenden Berufswünschen keine pubertierende Zelle, sondern das Herz einer Generation darstellten, wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen. Erst auf der Loveparade begriff Frederik, dass sein voll verkabeltes, permanent abgedunkeltes Kinderzimmer nicht am Rand der Gesellschaft, sondern im Zentrum einer Bewegung lag.

Im folgenden Jahr erwirkte er für Timo und Ronny die Erlaubnis, ihn auf die Milleniums-Parade zu begleiten, und von da an fuhren sie, zunehmend nostalgisch, gemeinsam auf alle Folgeveranstaltungen, bis 2004 Traktoria erschien und die Loveparade aufgrund von Streitigkeiten mit der Stadt Berlin eingestellt wurde.

Es war nie darum gegangen, eine gewöhnliche Party zu feiern. Auf der Loveparade traf man sich zum Gottesdienst für einen neuen Zeitgeist. Sie waren Kinder der Neunziger Jahre, der optimistischsten Dekade des gesamten 20. Jahrhunderts. Sozialisiert in einer Zeit, in der Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Kriegs plötzlich Hoffnung auf eine bessere globale Ordnung versprachen. Bis heute war Frederik überzeugt, dass Timo und Ronny ohne die Loveparade niemals den Mut gefunden hätten, aus dem Nichts eine Firma zu gründen. Die Loveparade hatte ihnen ein Gefühl für den Wert von Freiheit vermittelt, dazu jene lustvolle Dreistigkeit, die man brauchte, um auf die Zukunft zu vertrauen. Sie hatte bewiesen, dass Spaß und Ernst keinen Widerspruch darstellten, dass Verantwortung nicht aus Zwang, sondern aus Liebe entstand und dass man auch in T-Shirt und Turnschuhen viel Geld verdienen konnte. Vor diesem Hintergrund war Duisburg nicht nur das Grab von mindestens 19 Menschen, sondern das einer Epoche und eines Lebensgefühls.

»So, jetzt stehe ich vor dem Haus. Wenn wir die Stallanlagen fertig haben, kümmern wir uns um einen eigenen Funkmast.« Linda kicherte wie betrunken. »Sag mal was. Moment. Ich gehe noch ein paar Schritte bis zur Straße. Mann, was für ein Sternenhimmel. Da ist die Milchstraße. Die meisten Berliner wissen nicht einmal, dass es eine Milchstraße gibt.«

Wie im Film sah Frederik seine Freundin vor dem nächtlichen Objekt 108 stehen, den Kopf in den Nacken gelegt. Sie schien ihm fern, als lebte sie auf einem fremden Planeten. Fast wunderte es ihn, dass sie überhaupt dieselbe Sprache verwendete wie er. Er gab sich einen Ruck.

»Hast du mitgekriegt, was gerade los ist?«

»Was ich heute alles mitgekriegt habe, das geht auf keine Kuhhaut.«

»Duisburg?«

»Was?«

»Es ist etwas Schreckliches passiert. Hörst du zu?«

»Klar.«

»Auf der Loveparade sind 19 Menschen gestorben. Totgetreten in einer Massenpanik.«

»Hab ich im Radio gehört. Die Sterne hier sind echt krass.«

Für eine Sekunde wusste Frederik nicht weiter. Die Sterne Unterleutens bildeten eine Barriere, an der seine Betroffenheit einfach abprallte.

»Und?«, fragte er.

»Was, und?«

»Die Loveparade! Hallo? Das ist ein verdammtes Drama!«

»Worüber regst du dich auf?«

»Linda! 20 Tote!«

»Ich dachte, 19.«

»Es kommen ständig neue Zahlen.«

»Kennst du eins der Opfer?«

»Natürlich nicht.«

»Kennst du jemanden, der ein Opfer kennt?«

»Nein.«

»Kennst du irgendjemanden, der heute auf der Loveparade war?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Weiß nicht.«

»Dann geht dich die Sache auch nichts an. Das ist weit weg passiert. Ohne Fernsehen und Internet hättest du überhaupt nichts davon erfahren.«

»Drehst du jetzt frei?«

»Diese ständige Hysterie wegen Dingen, die wir nicht sehen, hören oder riechen – das geht mir auf den Sack.«

Linda behauptete gern, dass ihr etwas auf Sack, Eier oder Nüsse gehe. Frederik hatte es aufgegeben zu erklären, dass ihr für solche Redewendungen die biologische Ausstattung fehlte.

»Keiner war dabei«, sagte sie, »und trotzdem sind alle entsetzt. Ist doch total abgehoben.«

Ihre Stimme klang nicht, als wollte sie ihn auf den Arm nehmen. Frederik spürte einen leichten Schmerz zwischen den Rippen, eine Art Seitenstechen, das sich immer einstellte, wenn Streit mit Linda in der Luft lag. Binnen kürzester Zeit konnte das Stechen so heftig werden, dass er nachgab und der Auseinandersetzung aus dem Weg ging.

»Was ist los mit dir?«, fragte Frederik. »Hast du beschlossen, ins Mittelalter zurückzukehren?«

»Krönchen wurde entführt.«

»Wie bitte?«

»Gegen neun stand plötzlich Kathrin vor der Tür.«

»Wer ist Kathrin?«

»Wer ist Kathrin?«, äffte Linda ihn nach. »Das ist die Tochter von Kron, du Torfnase.«

Gegen seinen Willen wurde Frederik von der Frage in Anspruch genommen, ob Kron der dicke Landwirt mit dem Hundegesicht oder der Spinner war, der nach der Dorfversammlung Konrad Meiler in die Mangel genommen hatte. Schon in Unterleuten fiel es ihm schwer, sich auf das Personal von Unterleuten zu konzentrieren. Wenn er sich in Berlin aufhielt, verwandelte sich das Dorf in einen Dostojewski-Roman, bei dem jede Figur von der Frage begleitet wurde: Wer war das denn noch mal?

Linda redete, er schwieg. Das hatte er sich anders vorgestellt, als er bei ihr anrief. Die Loveparade, sein Entsetzen, der Wunsch, sich gemeinsam über die grausamen Wege des Schicksals zu empören – alles versank im Märkischen Sand. Auch das Seitenstechen ließ nach. Frederik tat, was er am besten konnte: Er hörte zu. Gegen neun also hatte Kathrin an der Tür von Objekt 108 geklingelt, um mitzuteilen, dass ihre kleine Tochter verschwunden sei. Ob Linda etwas gesehen oder gehört habe. Ob sie irgendetwas wisse.

»Wusste ich nicht«, sagte Linda. »Aber jetzt kommt der Hammer. Kathrin Kron wollte mich bei der Suchaktion nicht dabeihaben. Sie meinte, dass es wegen meiner Beziehungen zu Gombrowski besser sei, wenn ich ihrem Vater nicht unter die Augen trete.«

Den Grund für den triumphalen Tonfall begriff Frederik erst nach einigen Sekunden. Linda war tatsächlich stolz darauf, von der Suche nach dem kleinen Mädchen ausgeschlossen worden zu sein. Ihr politikbesoffenes Gehirn wertete die Ablehnung als Beweis dafür, wie tief sie bereits in die Unterleutner Verstrickungen eingedrungen war. Vermutlich gab es irgendeinen Satz von Manfred Gortz zum Thema »Feinde und Erfolg«.

»Sie haben mit zwanzig Mann im Dunkeln den Wald durchkämmt. Natürlich ohne Erfolg. Als Kathrin kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, ist Krönchen wieder aufgetaucht. Gombrowski hatte sie. Genauer gesagt, Hilde. Was nach Meinung der meisten dasselbe ist.«

»Wer ist Hilde?«

»Hilde Kessler, die beste Freundin von Gombrowski. Ich sag dir, da läuft eine heftige Geschichte. Das hat alles mit der Windkraft-Sache zu tun. Auch wenn Jule meint, dass Gombrowski ganz sicher unschuldig ist.«

»Die Frau vom Vogelschützer?«

»Wer denn sonst. Sie hat mich vor einer halben Stunde angerufen. Wollte wissen, was ich denke, verstehst du?«

Wieder der triumphale Ton. Jetzt rief das Dorf schon bei Linda Franzen an, mitten in der Nacht.

»Die ist irgendwie verknallt in mich.« Linda lachte. »Könnte nicht besser laufen. Auch wenn diese Jule eine Macke hat. Erzählt mir, sie hätte Gombrowskis Seele gesehen.«

»Was machst du da eigentlich?«, fragte Frederik.

Er konnte nicht verhindern, dass die Frage vorwurfsvoll klang. Linda zog es vor, nicht zu verstehen.

»Ich guck in die Sterne. Toller Himmel.«

»Das meine ich nicht. Dieser ganze Kron-Gombrowski-Meiler-Scheiß. Das hat doch mit Koppelzäunen und Scheune-Sanieren nichts mehr zu tun.«

Linda brauchte eine Weile, um sich eine Antwort zurechtzulegen. Oder vielleicht zählte sie die Sekunden einer Kunstpause, die Gortz für ein Gespräch wie dieses empfahl. Frederik hörte das Rauschen eines vorbeifahrenden Autos, vereinzelte Vogelstimmen und das Bellen eines Hunds. Der nächtliche Soundtrack von Unterleuten. Linda zog hörbar an ihrer Zigarette, atmete langsam aus und räusperte sich, um anzuzeigen, dass jetzt etwas Wichtiges kam.

»Typen wie Kron und Gombrowski werden hier nicht ewig am Drücker sein«, sagte sie. »Die werden bald Platz machen für eine neue Generation.«

Das Wort »Generation« ließ die Bilder aus Duisburg wieder aufsteigen. Frederik sah bunt gekleidete Menschen, die hinter langsam fahrenden Floats tanzten, und er sah die verdichtete Masse in der Unterführung, die sich selbst erdrückte. Zum ersten Mal, seit er Linda kannte, erblickte er in ihr die Vertreterin einer anderen Spezies. Linda war nur zwei Jahre jünger und trotzdem niemals auf einer Loveparade gewesen. Sie gehörte keiner Bewegung an und empfand auch kein Bedürfnis danach. Sie interessierte sich nicht für Spaß und glaubte nicht daran, dass Erfolg etwas war, das sich von selbst einstellte, wenn man nur entspannt blieb. Alles in Linda strebte, ganz egal, ob das Ziel nun Bergamotte, Objekt 108 oder Unterleuten hieß. Beängstigend war, dass es ihr letztlich gar nicht um eine bestimmte Sache ging. Sondern um die absurde Vorstellung, das eigene Schicksal kontrollieren zu können. Man musste nur immerzu alles richtig machen, Strategien entwickeln, keine Fehler begehen. An sich selbst arbeiten und überhaupt alles optimieren, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Einer Frau wie Linda kam es darauf an, sich an die Spitze von Was-auch-immer zu setzen. Jetzt stand ihm die Wahrheit so klar vor Augen, dass er sich wunderte, nicht selbst darauf gekommen zu sein: Sie wollte aus dem Windmühlenstreit als der neue Gombrowski von Unterleuten hervorgehen. Linda war das Gegenteil der Loveparade, und die Loveparade war tot.

»Man muss sich rechtzeitig in Stellung bringen«, sagte Linda. »Moment mal. Hörst du den Hund bellen?«

In Unterleuten bellten ständig Hunde.

»Das klingt aggressiver als sonst.« Mit einem Mal war sie aufgeregt. »Da vorne ist irgendetwas los.«

Frederik hörte, wie sie sich in Bewegung setzte und gleich darauf zu laufen begann.

»Wo rennst du hin?«

»Stichweg Richtung Beutelweg.« Sie sprach stoßweise. »Ich sehe den Hund. Und zwei Männer. Die prügeln sich.«

»Bleib sofort stehen!«, rief Frederik. »Linda? Nicht auflegen!«

Drei Mal wählte er ihre Nummer. Sie hatte das Handy ausgeschaltet. Oder fallen lassen und kaputt getreten.

Da waren sie wieder. Dinge, die passierten, ohne dass Frederik sie hören, sehen oder riechen konnte, und die ihn nach Lindas Meinung deshalb nichts angingen.

Perplex saß er in seinem Büro. An der Wand lief der Fernseher ohne Ton. Die Stille wurde vom Sirren des Rechners verstärkt. Kurz nach Mitternacht waren Timo und Ronny nach Hause gegangen und hatten die Hauptbeleuchtung ausgeschaltet. Nur die Schreibtischlampe brannte noch. In dem kleinen Lichtkegel fühlte sich Frederik wie in einem Zelt, das ihn von der Außenwelt abschnitt. Kein Hundegebell, keine Milchstraße. Namen von Menschen, die er anrufen wollte, schwirrten ihm durch den Kopf, Kron, Fließ, Kathrin, Gombrowski – irgendjemand musste sofort zum Beutelweg laufen, wo ein Hund bellte und Männer aufeinander einprügelten und Frederiks verrückte Freundin glaubte, dass es eine gute Idee sei, nach dem Rechten zu sehen.

Die Uhr zeigte halb zwei am Morgen, und Frederik kannte keine einzige Telefonnummer.



42 Franzen


Im Licht der Straßenlaterne erinnerte der große Hund an ein Zeichentrick-Tier, das laut bellend, aber eher verspielt als wütend um etwas herumtanzt. Linda war noch über hundert Meter entfernt, als sie Gombrowskis Mastiff erkannte. Offensichtlich ging die Aggression nicht von der Hündin aus.

Sie blieb stehen. Regel Nummer eins: auf Probleme nicht zurennen. Ruhe bewahren, sich ein Bild von der Lage machen. Ihr Telefon klingelte, wieder Frederik, sie schaltete das Gerät aus.

Weder der Hund noch die beiden Männer hatten sie bislang bemerkt. Was die Kräfteverteilung betraf, glich die Auseinandersetzung unter der Laterne einem Zusammenstoß zwischen Mücke und Elefant. Im orangefarbenen Lichtkegel stand Gombrowski, hielt Kron an der Jacke gepackt und rammte ihn rücklings gegen den Laternenpfahl, ein Mal, zwei Mal, immer wieder. Selbst Fidis Kläffen war nicht in der Lage, das Dröhnen des stählernen Mastes zu übertönen. Dem Lärm zum Trotz wirkte die Szene ruhig, beinahe routiniert. Als wären die beiden Männer nicht mit Kampf, sondern mit einer alltäglichen Verrichtung beschäftigt.

Als Kron zu Boden ging, riss Gombrowski ihn wieder auf die Beine, um ein weiteres Mal zustoßen zu können. Krons Kopf pendelte hin und her wie bei einer kaputten Puppe. Gombrowskis nächster Versuch, seinen Gegner aufzurichten, scheiterte. Kron sackte zusammen und blieb auf der Seite liegen, die Beine angewinkelt, das Gesicht zur Erde gedreht. Die Hündin senkte das Hinterteil auf die Straße, wedelte mit dem Schwanz und sah abwechselnd Kron und Gombrowski an, als wartete sie darauf, wer das Spiel fortsetzen würde.

Gombrowski berührte Kron mit der Fußspitze an der Schulter und schien zu überlegen. Sein Blick fiel auf Krons Gehstock, der am Straßenrand lag. Er hob ihn auf, wobei er den Hund ignorierte, der sich zum Apportieren bereit machte.

Von Lindas Ankunft bis zu diesem Augenblick war höchstens eine halbe Minute vergangen. Den Drang, einfach wegzulaufen und so zu tun, als hätte sie diese Szene niemals gesehen, hatte sie erfolgreich niedergekämpft. Jetzt brauchte sie eine Strategie. Einem Mann wie Gombrowski trat man nicht einfach so in den Weg.

Die Kunst im Umgang mit Pferden bestand darin, einem Stärkeren weiszumachen, dass er der Schwächere sei. Dominanz behaupten, fehlende Körperkraft durch Beharrlichkeit ersetzen. Wenn das nicht ausreichte, galt es, in kritischen Augenblicken etwas Überraschendes zu tun, um das Gegenüber zu zwingen, sich auf unerwartete Bedingungen einzustellen. Das war das Prinzip des unbewegten Bewegers: Wer eine Situation inszenierte, war ihr Herr.

Gombrowski fixierte Krons Bein und hob den Gehstock wie ein Golfspieler den Schläger.

Linda dachte kurz an die Loveparade und daran, wie rührend Frederik am Telefon gewesen war. Wie er in seinem klimatisierten Berliner Büro saß, mit weichen Händen Internet und Fernseher bediente und in helle Aufregung geriet wegen der Bilder, die er dort fand. Er kam ihr vor wie ein Kind, das im Kino vom Sessel sprang und den Helden mit lauter Stimme warnte, bloß nicht ins Geisterhaus zu gehen. Im Grunde liebte sie ihn dafür. Sie nahm sich vor, ihn später noch einmal anzurufen und ausgiebig die Katastrophe von Duisburg mit ihm zu diskutieren. Sie würden zwei Flaschen Wein leeren, während draußen die Sonne aufging. Sie zog sich ein paar Schritte in den Schatten eines Fliederbuschs zurück und warf sich mit Schwung auf den Boden.

»Mein Bein!«, rief sie und ließ einen Schmerzenslaut folgen.

Als sie aufsah, erblickte sie über sich das von der Schwerkraft verformte Gesicht des Mastiffs, die Ohren nach vorn geklappt, die Augen fast unter herabhängenden Hautfalten verborgen. Ein Speichelfaden hing an der linken Lefze.

»Nehmen Sie doch den Hund weg«, rief Linda. »Ich kann nicht aufstehen!« Mit einigen deftigen Schimpfwörtern bestimmte sie den Grad ihrer Schmerzen: unerträglich.

Gombrowskis Stiefel näherten sich im Laufschritt. Die Hundegrimasse verschwand und wurde durch eine andere ersetzt. Halb in der Hocke beugte er sich über sie.

»Frau Franzen! Was ist passiert?«

»Mein Knöchel. Scheiße, tut das weh.«

Obwohl er sie vorsichtig unter den Achseln fasste, hatte Linda das Gefühl, von einem Flaschenzug in die Höhe gerissen zu werden.

»Können Sie auftreten?«

Mit beiden Händen klammerte sie sich an seinen Arm. Sein Gestank war ein Angriff; noch nie hatte sie einen solchen Schweißgeruch wahrgenommen. Wut, Angst und Hass ergaben in der Mischung einen spezifischen Geruch männlicher Gewalt. Das Würgen gelang ohne jede Schauspielkunst.

»Ich wohne da drüben.«

»Ich weiß, wo Sie wohnen.«

Er packte sie unter den Achseln, Linda humpelte ein paar Schritte, ohne den rechten Fuß zu benutzen, und hielt gleich wieder an, als ob sie sich ausruhen müsste. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Kron am Boden regte. Alle paar Meter legte sie eine weitere Pause ein und sorgte dafür, dass sie für den kurzen Stichweg mehrere Minuten brauchten. Gombrowski schaute nicht zurück, er sagte »Geht’s?«, und »Kommen Sie« und »Wenn’s so wehtut, ist es nur verstaucht«. Halb erwartete Linda, er würde in die Knie gehen und ihr auf den Knöchel pusten. Seine Unterlippe hing herab, die Augen blickten mitleidig. Er wirkte wie ein besorgter Vater. Nur sein Geruch erzählte von Mordlust.

Auf der Treppe zu Objekt 108 trug er sie mehr, als dass er sie stützte. Oben angekommen, drehte Linda sich um. Die Stelle unter der Laterne war leer. Gombrowski folgte ihrem Blick.

»Gehen Sie nach Hause.« Linda klopfte ihm auf die Schulter.

»Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren?«

»Nicht nötig. Alles bestens.«

Den kurzen Weg zur Eingangstür bewältigte sie ohne das leiseste Hinken. Während sie die Tür öffnete und den Wintergarten betrat, stand Gombrowski reglos mit schweren Armen und sah ihr nach.






Teil V


Kommunizierende Röhren



Man dreht ein wenig, und alles sieht anders aus.


Lucy Finkbeiner



43 Schaller


Um das Geräusch eines 3,5-Liter-V8-Motors zu erkennen, musste Schaller keine geistige Anstrengung unternehmen, das erledigte sein Unterbewusstsein. Obwohl sein Herz heftig zu schlagen begann, zwang er sich, den Blick nicht von der Bremsanlage des VW Caddy abzuwenden, den die Hebebühne über seinen Kopf gestemmt hielt. Normalerweise kam Miriam an Montagnachmittagen nicht vorbei. Montags, mittwochs und freitags folgte sie ihren verschiedenen Aktivitäten, bei denen Schaller keinen Überblick gewann – Mädchenfußball, Saxophonstunde, Russischkurs. Wenn er nachzufragen versuchte, erntete er Augenrollen: »Papa, ich geh doch schon lange nicht mehr zum Fußball«; »Das Saxophon habe ich doch letztes Jahr gegen die Gitarre eingetauscht«. Er hatte es aufgegeben, das Leben seiner Tochter verstehen zu wollen, und beschränkte sich darauf, die Wochentage zu kennen, an denen mit ihrem Besuch zu rechnen war. Montag gehörte definitiv nicht dazu.

Grundsätzlich konnte ein Überraschungsbesuch nichts Gutes bedeuten. Schaller liebte seine Tochter, sie war ein Engel, aber eben auch eine Frau, und im Leben einer Frau war alles Politik. Darauf musste man sich einstellen. Die erste Regel lautete: in Deckung bleiben, solange es ging. Die zweite: den eigenen Standpunkt kennen. Schaller war vorbereitet. Was er ihr zu sagen hatte, stand fest. Vorher musste er nur herausfinden, ob sie noch wütend auf ihn war. Während der V8 hinter der Mauer im Standgas brodelte und schließlich verstummte, fuhr er fort, die Innereien des Caddy zu inspizieren, als hätte er nichts gehört.

Es gab viele Marder in der Region, und jeden Einzelnen betrachtete Schaller als persönlichen Assistenten. Zeitweise erwirtschaftete er die Hälfte seines Umsatzes mit Marderschäden – oder mit dem, was die Leute dafür hielten. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, der süßliche Geruch von Bremsflüssigkeit locke die Tiere an. Dabei war Schaller, soweit er sich erinnern konnte, noch nie ein Fall untergekommen, in dem ein Marder eine Bremsanlage beschädigt hatte. Die aggressiven Tiere kämpften unter Motorhauben gegen imaginäre Konkurrenten. Kühl- und Scheibenwaschanlagen gingen dabei regelmäßig zu Bruch, aber die Bremsschläuche waren bei normalen Fahrzeugen vom Motorraum aus schlecht zugänglich. Manchmal fragte sich Schaller, ob der Irrtum einfach zu nützlich war, um aufgeklärt zu werden.

Verena, die sich am Streik gegen die Ökologica beteiligte, war am Morgen mit ihrem Caddy zum Einkaufen gefahren und dabei kurz vor der scharfen Kurve im Wald mit dem rechten Fuß ins Leere getreten. Geistesgegenwärtig hatte sie nach der Handbremse gegriffen, den Caddy zum Stehen gebracht und Schaller angerufen.

»Marderschaden«, hatte sie gesagt. »Hört man ständig in letzter Zeit.«

Schaller war kein Zoologe, und Verena wollte eine Reparatur, kein Ermittlungsprotokoll. Es ging ihn nichts an, ob ein Marder oder ein Mensch an ihrem Auto herumgefummelt hatte. Außer den Schläuchen würde er auch noch Bremsscheiben und -klötze erneuern und eine ordentliche Rechnung stellen.

»Lässt du mich mal rein, du Schnarchsack?«

Miriams Kopf schwebte über dem Tor, was bedeutete, dass sie entweder seit letztem Donnerstag um einen Meter gewachsen war oder auf der Türklinke stand. Der Anblick ließ Schaller mit dem ganzen Körper lächeln; jede Nervosität verflog. Ob Miriam wütend war und was sie ihm zu sagen hatte, spielte keine Rolle. Solange sie am Tor hinaufkletterte, um ihn Schnarchsack zu nennen, befand sich das Universum im Gleichgewicht. Schaller wischte sich die Hände an der Hose ab und setzte sich in Bewegung.

»Mach hinne!«, rief Miriam, bevor ihr Kopf verschwand.

Kaum hatte er den Riegel gelöst, drückte Miriam das Tor auf und lief an ihm vorbei. In der Mitte des Hofs blieb sie stehen und stemmte die Hände in die Seiten.

»Was zum Teufel ist hier los?«

Keine leichte Frage. Schaller entschied sich für eine simple Antwort.

»Marderschaden«, sagte er.

Eigentlich hatte sie allen Grund, mit ihm und dem Hof zufrieden zu sein. Er hatte aufgeräumt. Müll entsorgt, Werkzeug in die Scheune geräumt, Material und Ersatzteile ordentlich an den Wänden gestapelt. Sogar den Betonboden hatte er gefegt. Am wichtigsten aber war, dass es die Feuerstellen nicht mehr gab. Er hatte nicht nur die Flammen gelöscht, sondern auch die Asche beseitigt und die gestampfte Erde entlang der Grundstücksgrenze mit der Harke bearbeitet. Seitdem atmete man im Hof wie in einem Luftkurort. Aber Miriam schien die Veränderung gar nicht zu bemerken.

»Was in Unterleuten los ist, will ich wissen.«

»Wer sagt, dass was los ist?«

»Ich bin heute zu Frau Kamp nach Beutel gefahren«, verkündete sie. »Obwohl ich erst nächste Woche dran gewesen wäre.« Wie zum Beweis streckte sie ihm die Hände hin. Die Fingernägel glänzten silbrig, auf jedem einzelnen klebte ein kleines Yin-und-Yang-Zeichen. »Wahrscheinlich kannst du dir denken, warum ich dort war.«

Während Schaller schwieg, dämmerte ihm, dass es in Berlin vermutlich keine Knappheit an Nagelstudios gab. Es musste einen anderen Grund geben, warum Miriam ständig den Weg nach Beutel auf sich nahm.

»Genau.« Wieder einmal schien Miriam zu wissen, was er dachte. »Frau Kamp betreibt einen Nachrichtendienst. Die Fingernägel sind nur Tarnung.«

Als Schaller verstand, dass sie einen Witz gemacht hatte, war es zu spät zum Lachen.

»Sie nennt es Kriegszustand.«

»Was?«

»Die Lage in Unterleuten.«

Das Gespräch wurde unangenehm. Schaller fragte sich, wann und wie er den Rundgang durch sein neues Leben beginnen sollte. Er wollte Miriam den gesäuberten Hof vorführen, dazu das Video vom nächtlichen Einbruch des Vogelschützers, und erklären, dass er sich in Zukunft aus allen Dorfangelegenheiten heraushalten würde, ganz gleich, wessen Interessen auf dem Spiel standen.

Weil Miriam offensichtlich eine Erwiderung erwartete, obwohl sie keine Frage gestellt hatte, sagte er jenen Satz, der Fluch wie Gnade seines Lebens war:

»Davon weiß ich nichts.«

»Fangen wir von vorn an. Woher hast du die Hebebühne?«

»Die gehört mir.«

»Ich weiß, dass sie dir gehört. Aber man hat sie dir gestohlen, während du im Krankenhaus lagst, erinnerst du dich? Wer hat dir geholfen, sie wiederzubekommen?«

Er kannte die Antwort, sie kannte die Antwort, und diese Antwort passte nicht zu dem, was er ihr eigentlich sagen wollte. Sie führte in die entgegengesetzte Richtung.

»Sag schon.«

»Gombrowski«, sagte Schaller.

»Und was wollte er dafür?«

»Nichts.«

»Papa!«

»Also gut«, sagte Schaller. »Er wollte den Aschezauber für die Vogelschützer. Aber …«

»Das deckt sich mit den Vermutungen von Frau Kamp«, sagte Miriam.

»Die Feuer habe ich aber nicht für Gombrowski gemacht«, sagte Schaller laut. »Ich habe sie nur für ihn ausgemacht. Gombrowski wollte eine Unterbrechung. Mehr nicht.«

»Wozu wollte er das?«

»Keine Ahnung. Die Vogelschützer können ganz schön nerven. Ich kann dir ein Video zeigen, wo …«

»Frau Kamp sagt, er übt Druck auf diesen Fließ aus, weil Gombrowski für die Pferdefrau eine Baugenehmigung braucht, die Fließ verhindern will.«

»Dann ist ja alles klar«, sagte Schaller. »Willst du ein Bier?«

»Frau Kamp sagt, da gibt es einen Kron, der das halbe Dorf aufgehetzt hat. Die bestreiken sogar die Firma von Gombrowski.«

Schaller warf Verenas Caddy einen Blick zu und schwieg.

»Hast du nicht mitgekriegt, was am Wochenende abgegangen ist? Gombrowski hat die kleine Enkelin von Kron entführt. Daraufhin haben Kron und noch ein paar andere bei Gombrowski die Fensterscheiben eingeschmissen. Noch in derselben Nacht hat sich Gombrowski diesen Kron geschnappt und ihn verprügelt.«

»Ich hole mir jetzt ein Bier.«

»Hiergeblieben!«

Wenn Miriam in diesem Tonfall mit ihm sprach, hatte Schaller das Gefühl, sich in einen Hund zu verwandeln. Die Wirbelsäule krümmte sich, die Schultern fielen herab, und er meinte zu spüren, wie sich seine Ohren flach an den Kopf legten.

»Eins versteht Frau Kamp nicht.« Miriam ließ den Blick zum Grundstück der Vogelschützer schweifen, als müssten dort alle Erklärungen verborgen liegen. »Anscheinend hat die Pferdefrau diesen Kron gerettet, als Gombrowski ihn zusammenschlagen wollte. Aber warum? Sie müsste doch eigentlich auf Gombrowskis Seite stehen.«

Schaller wollte das Gespräch beenden. Eine Frage zu diskutieren, die Gombrowski betraf, bereitete ihm körperliches Unbehagen, das sich zunehmend wie Magen-Darm-Grippe anfühlte. Aber Miriam saß am längeren Hebel. Wenn eine Tochter erwachsen wurde, bedeutete das wohl, dass sie immer leichter ohne den Vater leben konnte und er immer schlechter ohne sie.

»Frau Kamp meint, dass Gombrowski und die Pferdefrau die Prügelei wahrscheinlich getrickst haben. So schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe – Kron bekommt seine Abreibung, und nach außen sieht es aus, als würden sie gegeneinanderarbeiten.«

Die Sonne erreichte den Hof; es musste gegen sieben sein. Schaller hatte noch nicht zu Abend gegessen, traute sich aber nicht zu fragen, ob Miriam Hunger habe. Sehnsüchtig dachte er an die Ravioli-Dosen im Küchenschrank.

»Am Ende hat Frau Kamp noch etwas gesagt. Da waren wir mit den Nägeln schon fertig.« Nachdenklich betrachtete Miriam ihre Hände. »Sie sagte, dass im Grunde du an allem schuld bist, Papa.«

Schallers Gehirn stellte die Denktätigkeit ein. So, wie er stand, blendete ihn die Sonne. Dankbar nutzte er die Möglichkeit, die Augen zusammenzukneifen.

»Normalerweise reden wir ja nicht über so was.« Miriam hatte die Arme verschränkt und zog die Schultern hoch, als wäre ihr kalt, trotz der sommerlichen Abendhitze. »Aber Frau Kamp hat noch mehr Sachen gesagt. Sie meinte, das alles sei ja nun schon zwanzig Jahre her, aber tote Männer hätten bekanntlich ein gutes Gedächtnis.«

Jetzt spürte auch Schaller die Kälte. Er hörte das Krachen eines infernalischen Gewitters, als spalteten Riesen mit Äxten einen Himmel aus Holz. Wo bist du gewesen. Wo bist du gewesen. Kalte Nässe auf der Haut, ein Wollpullover klebte am Körper. Blitze stürzten in schneller Folge zur Erde und beleuchteten eine Lichtung, in deren Mitte ein alter Baum stand. Eiche. Linde. Schaller sah Krons Gesicht im Flackern der Blitze, es sah von unten zu ihm herauf.

»Im Klartext wollte Frau Kamp wohl sagen, dass du einen Mann umgebracht hast. Und diesem Kron das Bein zerschmettert.«

Wieder das infernalische Krachen. Schaller sah Funken sprühen, er sah Rauch und Feuer, und er sah, wie sich ein Teil der Baumkrone in Zeitlupe herabsenkte. Es krachte ein zweites Mal, etwas fiel, ein Schatten, groß wie ein Autobus, der Aufschlag brachte die nasse Erde zum Zittern. Aber da war Schaller schon nicht mehr vor Ort, er hatte die Lichtung verlassen, den Wald, die Nacht und das Gewitter, er stand in der Abendsonne in seinem Hof, geblendet, und sah durch zusammengekniffene Lider, dass seine Tochter näher kam. Plötzlich stand sie direkt vor ihm, ihre Finger schlossen sich um seine.

»Du zitterst ja«, sagte Miriam.

Den Ballen der freien Hand presste er erst auf das linke, dann aufs rechte Auge. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal geweint hatte. Miriams Arme schlangen sich um seinen Bauch und waren kaum lang genug, ihn zu umfassen.

»Papa«, sagte sie, den Kopf seitlich an seine Brust gelegt. »Du denkst doch nicht, dass ich diesen Unsinn glaube? Ich habe Frau Kamp erklärt, dass du niemals in deinem Leben Gewalt ausgeübt hast und es auch niemals tun wirst.«

Das war es. Das hatte er ihr versprechen wollen: niemals im Leben Gewalt auszuüben, nicht einmal zur Selbstverteidigung, was auch geschah. »Das hier ist die Unabhängige Republik Schallerland«, hatte er sagen und mit großer Geste auf den Hof deuten wollen. »Hier herrscht Gewaltverbot, und Leute wie Gombrowski haben keine Einreiseerlaubnis.« Er hatte sich vorgestellt, wie Miriam lachte und vor Vergnügen in die Hände klatschte.

»Ich wollte nur, dass du weißt, was die Leute reden«, sagte Miriam. »Damit du verstehst, was ich jetzt von dir will.«

Sie ließ ihn los und gewann Abstand, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

»Ich bin gekommen, damit du mir etwas versprichst. Halt dich aus diesen Unterleuten-Geschichten raus. Mit dem Dorf stimmt was nicht. Ganz massiv.«

Sie wartete. Schaller überlegte, wie er ihr erklären sollte, dass er ihr das doch sowieso hatte versprechen wollen. Dass sie diese elende Frau-Kamp-Geschichte ruhig zurücknehmen konnte. Aber Geschichten ließen sich nun einmal nicht zurücknehmen, und das Ganze verwirrte ihn derart, dass er einfach nickte. Das reichte Miriam, sie war schon beim nächsten Satz.

»Außerdem will ich, dass du nie wieder mit Gombrowski Geschäfte machst. Egal, was er anbietet. Nie wieder.« Dieses Mal gelang das Nicken schon flüssiger, Miriam sah zufrieden aus. »Gib mir dein Handy.«

Mit wenigen Wischbewegungen durchsuchte sie sein Adressbuch und wählte eine Nummer. Der Lautsprecher war eingeschaltet.

»Ja?«, bellte Gombrowskis Stimme aus dem Gerät. Die Tonqualität war gut, fast klang es, als stünde der alte Hund bei ihnen im Hof.

»Hier ist Miriam Schaller.«

»Was!«, schrie Gombrowski. »So eine Überraschung! Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du nicht größer als ein Hydrant.«

»Ich geh bald studieren«, sagte Miriam.

»Du warst schon immer eine ganz Aufgeweckte. Was kann ich für dich tun?«

»Sie können meinen Vater in Ruhe lassen.«

»Was redest du da?«

»Sie sollen ihn …«, vergeblich suchte Miriam nach einem anderen Begriff, »in Ruhe lassen.«

»Du meinst, ich soll ihm keine Aufträge mehr geben? Ich soll ihm nicht helfen, wenn er eine Unterkunft braucht? Ich soll nicht dafür sorgen, dass er Sachen wiederkriegt, die man ihm gestohlen hat? Ist es das, was du meinst?«

»Sie sollen ihn nicht mehr anrufen. Nie wieder.«

Für eine Weile herrschte Schweigen. Kein wütendes Schweigen, sondern ein betroffenes.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Miriam.

»Weißt du eigentlich, wer all die Jahre für euch gesorgt hat?«, fragte Gombrowski. Das Sprechen schien ihm Mühe zu bereiten. »Dein Vater hatte immer Arbeit, auch nach der Wende. Und als Susanna ihren Job verlieren sollte, wer hat da im Schulamt angerufen und die Angelegenheit aus der Welt geschafft? Weißt du das überhaupt?«

»Ich weiß, dass damit jetzt Schluss ist«, sagte Miriam tapfer.

»Ein Scheißladen ist das hier!« Gombrowski schrie so laut, dass Miriam das Handy von sich streckte. »Habt ihr alle den Verstand verloren? Mir reicht’s!«

Gleich darauf wurde es wieder still, vielleicht hatte Gombrowski das Telefon weggelegt, um sich das Gesicht zu reiben. Sekunden später schnaufte es wieder in der Leitung.

»In Ordnung«, sagte er ruhiger. »Das soll nicht deine Sorge sein, Miriam. Richte deinem Vater einen Gruß aus und sag ihm, dass er nie wieder von Rudolf Gombrowski hört.«

Die Verbindung war unterbrochen. Eine Weile schwiegen sie und sahen gemeinsam der Flugakrobatik der Mauersegler zu, die in zwei Stunden von Fledermäusen abgelöst werden würden. Miriam wirkte unzufrieden, als wäre das Telefonat anders gelaufen als erwartet.

»Wie geht’s dem MG?«, fragte Schaller nach einer Weile.

Miriam überlegte.

»Ich glaube, da klappert ein Radlager.«

»Fahr die Karre rein.«

Miriam flitzte vom Hof; draußen sprang der Motor an, acht Kolben in V-Stellung, Balsam auf Schallers Nerven. Als er ihr das Tor aufhielt, lächelte sie. Da war es wieder, sein kleines Mädchen, das gerade über den Rand der Motorhaube gucken konnte und genau wusste, was er meinte, wenn er um die Ölfilter-Spinne bat. So groß war sie geworden. So klug konnte sie reden. Schaller ließ den Caddy herunter, um Platz auf der Hebebühne zu schaffen.



44 Seidel


Arne kam es vor, als wäre das Dorf versehentlich in eine Zeitmaschine geraten. Das Fieber war nach Unterleuten zurückgekehrt, als hätten die zwei vergangenen Jahrzehnte überhaupt keine Rolle gespielt. Es zeigte sich im Schweigen des Bürgermeistertelefons, das sonst den lieben langen Tag klingelte, genauso wie im Zu-Boden-Starren von Menschen, die auf der Straße das Grüßen vermeiden wollten. Am deutlichsten aber ließ es sich im Märkischen Landmann messen, wo montagabends normalerweise reger Betrieb herrschte, während heute nur ein paar Fahrradtouristen in der Nische am Fenster ihre Schnitzel mit Pommes und Salat vertilgten. Zwei Trinker aus Groß Väter belagerten die Bar und blickten verstohlen zum Skattisch herüber, an dem Arne mit Steffen und Gombrowski Karten spielte. Alle anderen Tische standen verwaist in der ungewohnt sauberen Luft. Keinen Augenblick zweifelte Arne daran, dass die gespenstische Ruhe auf die Anwesenheit von Gombrowski zurückzuführen war. Jedermann wusste, dass montags Skatabend war. Das Dorf verhielt sich wie ein Kind, das von Hautausschlag befallen war. Die Klatschsucht war ein Juckreiz, und das Dorf kratzte sich.

Während Arnes Finger wie von selbst den Kartenstapel teilten, die beiden Hälften mit den Daumen aufbogen und ineinanderlaufen ließen, musste er wider Willen an die Zeit nach dem Mauerfall denken, als Unterleuten an derselben Krankheit gelitten hatte. Siebzig Kilometer weiter hatte sich Berlin im Freudentaumel befunden, während in Unterleuten ein fiebriger Schockzustand herrschte, der das Blut erhitzte und die Gehirne benebelte. Von denen, die fortgingen, hieß es bald, sie hätten für die Stasi gearbeitet, und mit einem Mal wohnten selbsternannte Opfer in den verlassenen Häusern. Wer sich enteignet fühlte, nahm sich etwas anderes zur Entschädigung und erzählte über jenen, dem es gehörte, die schlimmsten Geschichten. Grundsätzlich waren die eigenen Kinder nicht aus Dummheit, sondern aus politischen Gründen durchs Abitur gefallen. Berufliches Scheitern taugte plötzlich als Beweis für geleisteten Widerstand gegen das Unrechtssystem, so dass die größten Versager mit geschwellter Brust umherspazierten und den Erfolgreichen vorwarfen, sie hätten auf den Schößen der Bonzen gesessen. Brüder entpuppten sich als Neider, Freunde als Verräter und Ehefrauen als Stasi-Spitzel. Als es darum ging, die LPG vor der Auflösung zu bewahren, waren jedes zerbrochene Fenster, jedes tote Huhn und jeder liegen gebliebene Trabi das Werk von Rudolf Gombrowski gewesen.

Arne wollte gar nicht wissen, was damals wirklich alles passiert war. Er hielt nichts davon, den Dorforganismus mit der toxischen Frage nach Schuld oder Unschuld zu vergiften. Lieber wollte er die Gegenwart als ein Material behandeln, aus dem sich etwas Schönes formen ließ. Seiner Erfahrung nach wurden die schlimmsten Übel auf der Welt nicht durch böse Menschen bewirkt. Von denen gab es in Wahrheit erstaunlich wenige. Viel gefährlicher waren Leute, die sich im Recht glaubten. Sie waren ungeheuer zahlreich, und sie kannten keine Gnade.

»18«, sagte Steffen.

Gombrowski reagierte nicht, was bedeutete, dass er mitging.

»20.«

Arnes Finger hatten nicht nur das Mischen und Austeilen, sondern auch das Sortieren seines Blatts selbstständig übernommen. Ein flüchtiger Blick reichte, um zu entscheiden, dass er ausreizen würde. Die beiden Alten, Pik As und vier Herzen mit Zehn reichten für ein Farbspiel, je nach Skat für einen Grand.

»22«, sagte Steffen zu Gombrowski. »Null. 24.«

Das klang nicht gut. Offensichtlich reizte Steffen ohne Zwei und hatte bei so viel Selbstbewusstsein vermutlich auch den Karo-Buben auf der Hand.

»27.«

Gombrowski trank sein Bier aus. Er wirkte abwesend. Seit der nächtlichen Schlägerei mit Kron hatte Arne immer wieder versucht, ihn zu erreichen. Im Beutelweg war niemand ans Telefon gegangen, und in der Ökologica hatte Betty behauptet, ihr Chef sei nicht zur Arbeit gekommen, was Arne für eine Lüge hielt. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, dass Gombrowski auch zum Skatabend nicht erscheinen würde. Steffen und Arne hatten ihre Schnitzel schon aufgegessen, als die Tür an die Wand knallte und der fette alte Hund doch noch den Raum betrat. Er hatte die Fingerknöchel zur allgemeinen Begrüßung auf den Tresen krachen lassen und sich auf seinen Stuhl geworfen, schweigsam, ernst, aber von gesunder Gesichtsfarbe.

»30«, sagte Steffen.

Das war Arnes Limit. Gombrowski tat weiterhin so, als würde er sich für Steffens ehrgeiziges Reizen nicht interessieren. Er wandte sich auf dem Stuhl um und hob einen Finger, woraufhin Sabine ein Glas unter die Zapfanlage schob.

»33. 36. Weg.«

Für Steffen war es also um Kreuz gegangen, mit dem Dritten. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Wenn Gombrowski ohne drei auf Pik oder Karo reizte, saßen die Buben verteilt. Aber Gombrowski war ein harter Spieler, der kein Risiko scheute. Ihm war durchaus zuzutrauen, dass er ohne Buben mit einer starken Farbe spielen wollte. Dann hatte Arne entweder zwei Buben auf Steffens Hand gegen sich oder einer lag im Skat. Arne überlegte, ob er einen Grand riskieren sollte, und entschied sich dagegen.

»Passe.«

Gombrowski ließ den Skat liegen, warf seine Karten offen auf den Tisch und ging aufs Klo. Null Ouvert Hand.

»Der Schweinehund«, stöhnte Steffen, während er Gombrowski 59 Punkte gutschrieb.

»Pures Glück«, sagte Arne.

»Sag ich doch. Hat Schwein, der Hund.«

Steffen grinste. Flüchtig überlegte Arne, ob Steffen und Gombrowski sich eigentlich mochten. Steffen besaß eine Baufirma, und Gombrowski leitete einen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem ständig etwas saniert werden musste. Das war Grund genug, seit zwanzig Jahren Skat miteinander zu spielen. Nichts sprach dagegen, dass eine solche Geschäftsbeziehung von Sympathie begleitet wurde; eigentlich sprach aber genauso wenig dafür. Wenn Arne es sich recht überlegte, war er nicht einmal sicher, ob er selbst Gombrowski leiden konnte. Die Frage hatte nie eine Rolle gespielt. Gombrowski erwartete, dass Arne in seinem Sinn handelte und umgekehrt. Diese ungeschriebene Vereinbarung hieß weder Freundschaft noch Kameradschaft. Es war einfach so, dass ihr Umgang miteinander keinen Namen brauchte. In einer sentimentalen Anwandlung fragte sich Arne, ob es überhaupt jemanden gab, der Gombrowski freundschaftliche Gefühle entgegenbrachte. Aber dann fiel ihm auf, dass auch er selbst von niemandem solche Gefühle empfing, dass er nicht einmal mehr wusste, wie es sich anfühlte, gemocht zu werden. Selbst Kathrin, an die er so oft dachte, wünschte ihn vermutlich zum Teufel oder jedenfalls ans andere Ende des Landkreises.

Vielleicht, dachte Arne, wurden Gefühle einfach nicht so alt wie Menschen. Ab einem gewissen Alter lebten Ehepartner wie Mitbewohner in einer WG, falls sie nicht längst geschieden waren. Kinder und Eltern hörten auf, einander zu mögen, besuchten sich trotzdem und waren froh, wenn der andere wieder verschwand. Freunde verloren sich aus den Augen, Nachbarn verwandelten sich in Feinde. Liebschaften wurden lästig, alte Schulkameraden peinlich, und selbst ein Haustier fing irgendwann an zu nerven. Jenseits von jugendlichen Leidenschaften begegnete man der Welt am besten mit gut gekühltem Pragmatismus. Arne beschloss, dass das normal war, es wurde nur selten darüber gesprochen. Kein Grund zur Sentimentalität.

Sabine kam an den Tisch und knallte ein Bier so heftig vor Gombrowskis leerem Stuhl auf den Tisch, dass das Glas überschwappte. Steffen schaffte es gerade noch, die Karten in Sicherheit zu bringen.

»Diesmal kommt ihr damit nicht durch.« Sie sah Arne an. Steffen warf ihm einen schnellen Blick zu und rutschte ein Stück zur Seite, als wollte er signalisieren, dass ihn die Sache nichts anging.

»Was meinst du?«, fragte Arne.

»Kinder entführen wegen ein paar läppischen Windrädern. Das geht zu weit.«

»Wer hat ein Kind entführt?«

Gombrowski kam zurück, setzte sich auf seinen Platz und begann, die Karten zu mischen.

»Die Kleine hat bei Hilde die Zeit vergessen und ist eingeschlafen«, sagte Arne ruhig. »Gombrowski hat nichts damit zu tun.«

Sabine blickte weiter Arne an, als wäre Gombrowski aus Luft.

»Und Verena, Ingo, Patrick und Angela? Die haben sich wohl selbst gekündigt?«

»Die vier sind nicht mehr zur Arbeit erschienen«, sagte Arne. »Was würdest du machen, wenn Silke einfach nicht mehr kommt?«

»Fragen, was los ist.«

»Jeder weiß, was los ist, verdammt noch mal. Die spielen Streik, kurz vor der Erntezeit. Weil ihnen jemand eingeredet hat, die Ökologica solle geschlossen werden.«

Arne fiel ein, dass Sabine mit Angela verschwägert und außerdem die beste Freundin von Patricks Patentante war, während Silke enge Beziehungen mit einer Cousine von Verena sowie mit Ingos älterer Schwester pflegte. Er winkte ab.

»Geh an die Bar und lass uns spielen.«

Sabine rührte sich nicht von der Stelle, im Gegenteil stützte sie, um ihre Präsenz zu verdoppeln, beide Hände auf den Tisch.

»Ich sag’s euch im Guten. Den Reibach mit den Propellern zieht ihr nicht durch.«

Am Nachmittag hatte Pilz angerufen, sich nach dem Stand der Dinge erkundigt und dabei regelrecht euphorisch geklungen. Ranhalten solle man sich, die Zeichen stünden günstig wie nie. Pakistan unter Wasser, Russland abgebrannt, der Innenminister in den Brandenburger Hochwassergebieten unterwegs. Auf allen Kanälen analysierten Klimaforscher den Katastrophensommer. Potsdam und Berlin müssten positive Projekte vorweisen, als Signale an die Öffentlichkeit. Das Genehmigungsverfahren lasse sich durchziehen wie nichts. Ob man sich schon für eins der Eignungsgebiete entschieden habe.

Im Prinzip ja, hatte Arne geantwortet. Es seien nur noch ein paar Details zu klären.

»Das ganze Dorf steht gegen euch auf«, sagte Sabine.

Sie klang jetzt wirklich wütend. Arne nahm seine Karten auf. Hauptsächlich Luschen, Karo-Bube, eine blanke Zehn.

»Weg«, sagte er.

»18«, sagte Gombrowski.

»Okay«, sagte Steffen.

»Der Windkraft-Protest ist völlig übertrieben«, sagte Arne. »Angesichts der Klimakatastrophe …«

»Stell dich nicht blöd, Bürgermeister.« Sabine hieb die flache Hand auf den Tisch. »Die Leute protestieren nicht gegen die Propeller, sondern gegen ihn.« Sie zeigte auf Gombrowski, der weiterhin in seine Karten starrte, als wäre er nicht in der Lage, irgendetwas anderes wahrzunehmen. »Geht das in eure Betonköpfe rein?«

»Weißt du was? Ich hab keinen Bock mehr auf diese Leier!« Überrascht stellte Arne fest, dass er laut geworden war. Wutausbrüche in der Öffentlichkeit gehörten normalerweise nicht zu seinem Repertoire. Für einen Augenblick sah Sabine erschrocken aus. »Gombrowski hier, Gombrowski da! Die Hälfte deiner Kunden bezahlt ihr Bier mit Geld, das bei Gombrowski verdient wurde! Ohne Gombrowski gäbe es deine Kneipe schon lange nicht mehr!«

Arne wusste, dass seine Wut nichts mit Sabine zu tun hatte. Im Grunde war es Gombrowski, den er anschreien wollte. Gombrowski, der sicher nichts mit Krönchens Entführung zu tun hatte, aber dennoch kein Recht besaß, ruhig dazusitzen, sein Blatt zu mustern und zu Steffen »20« zu sagen. Vielleicht wollte Arne sich auch selbst anschreien, weil es ihm nicht gelungen war, das Fieber zu verhindern. Oder er wollte mit dem ganzen Dorf schimpfen, weil es sich der Klatschsucht überließ. Das alles war sinnlos und die ganze Situation so falsch, dass ihm die Lust am Lautwerden gleich wieder verging.

»Die Gemeinde ist pleite«, sagte er in halbwegs normalem Tonfall. »Wir wollen alle das Beste für Unterleuten. Jeder auf seine Weise.«

Sabine warf ihm einen verächtlichen Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Hey!« Jetzt blickte sie Gombrowski an. »Niemand in Unterleuten wird auch nur einen Quadratmeter an dich verkaufen.« Weil Gombrowski nicht reagierte, stieß sie ihn gegen den Oberarm. »Du kriegst das Scheißland für deine Propeller nicht, kapiert?«

»22«, sagte Gombrowski.

»Jepp«, sagte Steffen.

»Und weißt du auch, warum?« Sabine hatte sich so weit vorgebeugt, dass sie Gombrowski direkt ins Gesicht sprechen konnte. »Weil es Gerechtigkeit gibt in der Welt. Leute wie du, die nicht an Gerechtigkeit glauben, verlieren am Ende immer.«

»Null«, sagte Gombrowski.

»Das reicht jetzt.« Sie riss ihm die Karten aus der Hand und warf sie auf den Boden.

»Hast du getrunken?«, rief Arne.

»Die Rechnung geht aufs Haus. Schönen Abend, die Herren.«

Die Säufer an der Bar hatten über dem Zuhören vergessen, ihre Schnäpse zu leeren. Die Touristenfamilie saß vor halb vollen Tellern und blickte staunend herüber. Als Gombrowski und Steffen ihre Stühle zurückschoben, stand auch Arne auf. Im Gänsemarsch bewegten sie sich durch den Gastraum zur Tür.

Draußen war es noch hell, ein ungewohnter Anblick beim Verlassen des Landmanns. Einen Moment blieben sie vor dem Eingang stehen, verwirrt wie vom Jetlag, und blinzelten in den dunkelblauen Himmel, an dem Schwalben ihre eckigen Choreographien flogen. Die Luft lastete warm zwischen den Häusern wie eine zähe Masse. Klatschend erschlug Gombrowski eine Mücke in seinem Nacken.

»Okay«, sagte Steffen, fügte etwas Undeutliches von viel Arbeit und frühem Aufstehen hinzu und entfernte sich Richtung Neubausiedlung.

»Ich hatte eh ein Scheißblatt«, sagte Arne.

Gombrowski schob die Hände in die Hosentaschen und kickte einen Kieselstein auf die Straße.

»Die Leute spielen verrückt«, sagte Arne. »Das muss jetzt schnell gehen. Bis wann kannst du den Vertrag mit Linda Franzen machen?«

Gombrowski kniff die Augen zusammen und blickte nach Westen, um an der Farbe des Himmels die Regenwahrscheinlichkeit abzulesen.

»Ich wollte dich da drinnen übrigens nicht verteidigen«, sagte Arne. »Ich unterstütze die Windkraftpläne nicht deinetwegen. Sondern weil sie das Richtige für Unterleuten sind.«

Gombrowski tippte sich an eine imaginäre Mütze und ging den Beutelweg hinunter. Nicht auf dem Bürgersteig, sondern mitten auf der Fahrbahn.



45 Kron-Hübschke


Normalerweise machte ihr die Arbeit mit den Toten nichts aus. Längst war sie an den süßlichen Geruch nach Fäulnis und Formalin gewöhnt, der sich trotz Kittel und Haube überall festsetzte, in den Haaren, unter den Fingernägeln und vor allem in der Nase, so dass nach einer Obduktion selbst der Sommerwind nach Leichen roch. Wenn sie mit der elektrischen Säge eine Schädeldecke öffnete, um das Gehirn zu entnehmen, war sie nichts weiter als eine Fragende, die Antworten suchte. Daran war nichts Bizarres; Kathrin lebte mit Toten wie ein Ornithologe mit Vögeln. Sie hatte Medizinstudenten gesehen, die beim Geräusch der Knochensäge ohnmächtig auf die Kacheln schlugen. Derartige Reaktionen fand sie wesentlich seltsamer als den eigenen Gleichmut. Wenn etwas bizarr war, dann wohl eher die Weigerung, die Sterblichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich war allseits bekannt, dass Mensch-Sein stank und suppte.

Kamen ihr dennoch Zweifel, genügte ein kurzer Blick auf die Zustände außerhalb der Pathologie, um sich wieder zufrieden zu fühlen. Auf den anderen Stationen schoben die Schwestern Doppel- und Dreifachschichten, taumelten wie betäubt vor Müdigkeit durch die Korridore. Wenn nachts einmal keine Beatmungsfälle vorlagen und das ständige Rufen der Patienten nach Schlaf- oder Schmerzmitteln, offenen oder geschlossenen Fenstern, Wassergläsern und trockenen Betttüchern endlich zum Erliegen kam, legten sich die Mädchen entgegen den Vorschriften quer über ein paar Stühle, um für ein oder zwei Stunden zu schlafen. In der Cafeteria erzählten die Kollegen von den phobischen Beziehungen, die sie zu ihren Pagern entwickelten. Kathrin hörte zu und ließ unerwähnt, dass sie üblicherweise gegen 18 Uhr zu Hause war. Den Hauptteil der Arbeitszeit verbrachte sie ungestört mit dem Auge am Okular eines Mikroskops. Im Großen und Ganzen mochte sie ihren Job.

Bis heute Morgen ein Kind in den Obduktionssaal geschoben worden war, ein siebenjähriges Mädchen, Lungenentzündung nach Meinung der Pädiatrie. Das Mädchen war nicht das erste Kind auf ihrem Tisch, und Tage, an denen ein Kind starb, waren immer dunkel. Aber als sie heute den grünen Stoff von dem viel zu kleinen Körper gezogen hatte, verlor sie die Kontrolle. Zuerst zitterten ihre Hände, dann die Arme und schließlich der ganze Oberkörper. Der Pfleger, der die Bahre gebracht hatte, eilte zu ihr, um einen Sturz zu verhindern.

»Was haben Sie denn«, fragte er, »ist Ihnen nicht gut?«

Aber da schrie Kathrin bereits. »Raus hier«, schrie sie, »raus mit dem Mädchen!«, und weil der verwirrte Pfleger nicht gleich gehorchte, steigerte sie die Lautstärke, bis ihr die Ohren klangen und der Pfleger endlich die Fußbremse löste, die Stahlrohre umklammerte und im Laufschritt den Saal verließ.

Kathrin hatte sich auf einen Hocker gesetzt und geweint. Das Telefon klingelte und der Chefarzt wollte wissen, was in sie gefahren sei. Sie wollte ihm erzählen, was am Wochenende mit Krönchen passiert war, und brachte kein Wort heraus. Schließlich bat sie, jemand anderen für die Öffnung des Mädchens einzuteilen. Es gebe Ärger in der Familie, behauptete sie. Ein paar Stunden im Labor würden ihr guttun.

Aber die konzentrierte Arbeit an Mikrotom und Mikroskop half diesmal nicht. An gewöhnlichen Tagen vergaß sie alles um sich herum, sobald ein Schnitt auf dem Objektträger lag. Heute aber drehten sich die Gedanken wie ein Karussell um die immergleiche Frage.

Was war am Wochenende wirklich geschehen?

Immer wieder unterdrückte sie den Impuls, zu Hause anzurufen und zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Sie verbot sich, das Handy aus der Tasche zu nehmen und zu prüfen, ob es empfangsbereit war. Unablässig produzierte ihr Gehirn unverbundene Sätze: So grausam ist niemand. Hilde hat auch eine Tochter. Eigentlich kenne ich Gombrowski gar nicht.

Um 17:30 Uhr verließ sie das Klinikgelände, fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit nach Hause, kochte Abendessen, brachte Krönchen zu Bett und wechselte ein paar belanglose Worte mit Wolfi, der normal aussah, als hätte das vergangene Wochenende nur in Kathrins Phantasie stattgefunden. Vermutlich wäre es vernünftig gewesen, sofort zu Bett zu gehen, die Denkschleife zu stoppen und die zurückliegenden Tage aus dem Kalender zu streichen. Aber Kathrin wollte nachdenken. Sie brauchte Klarheit.

Mit einem Glas Rotwein ging sie ins Wohnzimmer, legte eine CD mit Klaviermusik ein und setzte sich in den abgewetzten Oma-Sessel, den Wolfi aus seiner Berliner Studentenbude mitgebracht hatte. Wenn das Klavier ins Pianissimo ging, hörte sie das Klappern der Tastatur durch die Wand. Im Nebenraum saß Wolfi am Computer, einen Bleistift quer im Mund wie ein aufgezäumtes Pferd, und hämmerte in die Tasten. Seit Krönchens Verschwinden schien sich die Schreibkrise in Luft aufgelöst zu haben. Kathrin hatte ihn im Verdacht, die Ereignisse in ein Theaterstück zu verwandeln, und wusste jetzt schon, dass ihr das Ergebnis nicht gefallen würde.

Sie hatte versucht, mit ihm über die Fragen zu reden, die sie bedrückten. Er hatte sie verwundert angesehen. Ob sie Krönchen nicht glaube, hatte er zurückgefragt. Ob sie ihrem Vater nicht zuhöre. Kron habe bei Marx und Engels geschworen, dass die Sache auf Gombrowskis Kappe gehe, und Kron kenne den alten Hund schließlich am besten. Es bestehe kein Zweifel daran, wie alles abgelaufen sei, und das Beste, was sie jetzt tun könnten, sei, das Ganze zu vergessen. Wiederholen werde sich eine solche Aktion mit Sicherheit nicht, und letztlich sei Krönchen ja nichts passiert. Wenn Kathrin sich jetzt in alle möglichen Fragen hineinsteigere, dann nicht, weil es Unklarheiten gebe, sondern weil sie die schlimme Geschichte nicht glauben wolle.

Damit hatte er nicht unrecht, auch wenn er gar nicht verstand, worum es ging. Wolfi kam nicht von hier. Für Kathrin war Unterleuten nicht nur ein beliebiger Punkt auf der Erdoberfläche, an dem sich zweihundert Individuen zufällig zum gemeinsamen Leben versammelt hatten. Unterleuten war ein Lebensraum, eine Herkunft, ja, sogar eine Weltanschauung. Lebensräume konnten vergiftet, eine Herkunft zerstört und Weltanschauungen in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Ob sie Anzeige gegen Gombrowski und Hilde erstatten wolle, hatte Wolfi gefragt und dabei ironisch geklungen. Selbst als Zugezogener war ihm klar, wie ein solcher Versuch ablaufen würde. Ein Beamter aus Plausitz, der auf einen Kaffee vorbeikäme, das Gesicht in mitleidige Falten legte und erklärte, dass man da mangels eindeutiger Beweise so gut wie gar nichts tun könne.

Aber es kam Kathrin ohnehin nicht auf eine polizeilich ermittelte Wahrheit an. Was sie durchlitten hatte, stand jenseits von Strafverfolgung. Jede einzelne Sekunde der schrecklichen Nacht hatte sich mit Widerhaken in ihr Gedächtnis gegraben und war in der Lage, sich in endlosen Schleifen bis in alle Ewigkeit zu wiederholen. Weder Polizei noch Richter konnten eine Erinnerung tilgen, die der inneren Landkarte unauslöschlich eingeschrieben war. Es ging nicht um Schuld und Sühne, sondern um die Frage, ob Kathrin, falls tatsächlich Gombrowski und nicht nur ein schrecklicher Zufall hinter den Ereignissen steckte, weiterhin an dem Ort leben konnte, den sie ihre Heimat nannte.

Natürlich war Gombrowski eine Einzelperson und nicht mit dem Dorf identisch. Aber die Grausamkeit einer solchen Tat konnte den gesamten Landkreis in unbewohnbares Gebiet verwandeln. Kathrin hatte nichts dagegen, dass Unterleuten seine Probleme selbst löste, auch wenn es dabei gelegentlich etwas rauer zuging; daran war sie von kleinauf gewöhnt. Aber Unterleuten, Kathrins Unterleuten, vergriff sich nicht an Unschuldigen. Schon gar nicht an Kindern. Es fügte seinen Bewohnern keine bleibenden Schäden zu, weder in körperlicher noch in seelischer Hinsicht.

Kathrins Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte. In den Jahrzehnten der sozialistischen Diktatur hatten die Menschen erfahren, dass Macht im Abstrakten und Irrealen waltete. Deshalb hielten sie sich lieber an das Reale und Konkrete. Der globalen Einschüchterung, die den ganzen Planeten im Griff hielt, boten sie keine Angriffsfläche. Wer nichts las, schaute, klickte oder hörte, wurde auch nicht regiert, weder von Politikern noch von Informationen und Ängsten, und schon gar nicht von einer Kombination aus alledem. Unter der ruppigen Oberfläche von Kathrins Unterleuten wohnte vielleicht keine Menschenliebe, aber doch eine Art Menschenfreundschaft. Mochte es auch mal poltern – ein Unterleuten, das Kinder entführte, gab es nicht. Krönchens Verschwinden drohte Unterleuten auszulöschen.

Aber wohin sollte sie? Nach Berlin? Ein sanfter Sommerregen begann, an die Scheiben der Wohnzimmerfenster zu tippen. Wolfi konnte überall arbeiten; er wäre vielleicht sogar glücklich, in die Hauptstadt zurückzukehren. Kathrin konnte sich um einen Job an der Charité bewerben. Sie konnte lernen, ohne Haus, ohne Garten und ohne Wald zu leben, in der von Mietwohnungen portionierten Anonymität der Großstadt. Krönchen war jung genug, um Unterleuten zu vergessen; in ein paar Jahren wäre das Dorf für sie nur noch eine vage Erinnerung an den Geruch von Kiefern und warmem Sand.

Nur, es gab auch noch Kron. Er war mit dem Boden verbunden wie die Häuser, Gärten und Straßen, aus denen das Dorf bestand. Kathrin war schon einmal an dem Versuch gescheitert, ihren Vater zu verlassen. Bei der Vorstellung, ihm Krönchen wegzunehmen, spannte sich etwas in ihrem Inneren bis zum Zerreißen. Wahrscheinlich würde er den Fortgang von Tochter und Enkelin nicht überleben.

Mit einem Ruck stand sie aus dem Sessel auf, stellte die Musik ab und trat ans Fenster. Ein beunruhigender Gedanke war ihr gekommen. In all den Jahren war sie fraglos davon ausgegangen, ihr Vater und sie lebten im selben Universum. Sie hielt ihn für neurotisch, weil die Welt, die sie kannte, keinen Anlass für jahrzehntelange Unversöhnlichkeit, für Jähzorn, Wutausbrüche und Rachefeldzüge gab. Wenn Kron die Aggressivität des Kapitalismus anprangerte, hatte sie ihn nicht ernst genommen; wenn er Gombrowskis Bösartigkeit beschwor, hatte sie ihm nicht geglaubt. Was aber, wenn er gar nicht verrückt war, sondern schlicht und ergreifend recht hatte?

Unwillkürlich bedeckte sie die Augen mit den Händen, als ihr noch etwas klar wurde. Möglicherweise hatte sie sein Schweigen über den Schicksalstag vor zwanzig Jahren, an dem Erik gestorben war, immer falsch gedeutet. Sie war davon ausgegangen, dass Kron schwieg, weil es nichts Skandalöses zu berichten gab. Weil stumme Anklage das Höchste war, was sich aus der Situation herausholen ließ. Weil er sich nur auf diese Weise zum Opfer stilisieren konnte.

Niemals hatte sie in Erwägung gezogen, dass sein Schweigen vielleicht gar nicht gegen Gombrowski oder das Dorf gerichtet war. Dass es vielmehr dazu gedient haben könnte, seine Tochter und ihr heiles Weltbild zu schützen.

Im Grunde wusste Kathrin fast nichts über Eriks Tod und Krons Unfall. Gombrowski hatte die beiden damals in den Wald bestellt, um ihnen sein Angebot zu unterbreiten: ein großes Stück Forst gegen widerstandsloses Ausscheiden aus der LPG. Dann brach ein heftiges Unwetter los. Kathrin war nicht einmal sicher, ob Gombrowski überhaupt zum Treffen erschienen war. Ein Baum wurde vom Blitz getroffen, ein herabstürzender Ast begrub Erik und Kron unter sich. War das alles? Im Dorf kursierten Gerüchte, zu denen Kron hartnäckig schwieg. Kathrin hatte nie ernsthaft nachgefragt. Vielleicht, dachte sie jetzt, hatte sie wieder einmal nichts Genaues wissen wollen.

Der Regen draußen wurde stärker, trommelte für Minuten mit voller Kraft gegen die Fenster und versiegte dann plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Das bisschen Niederschlag würde den vertrockneten Garten eher ärgern als retten. Kathrin nickte dem eigenen Spiegelbild in der Fensterscheibe zu. Sie wusste nun, was zu tun war. Sie brauchte Klarheit. Es ging nicht mehr um die Vergangenheit, nicht um alte Geschichten über den verrückten Kron und den groben Gombrowski. Es ging um die Zukunft, um Kathrins Leben und das Glück ihrer Familie. Plötzlich erkannte sie, dass Krönchens Verschwinden über die Jahrzehnte hinweg mit einem herabstürzenden Ast in Verbindung stand. Wenn Kathrin wissen wollte, in welcher Sorte Welt sie lebte, würde sie nicht darum herumkommen, mit ihrem Vater zu reden. Sie musste ihn zum ersten Mal richtig befragen und ihm richtig zuhören. Es galt herauszufinden, wessen Unterleuten das reale war, seines oder ihres. An Krons Sicht auf die Dinge führte kein Weg vorbei.

»Ich kann nicht schlafen.«

Kathrin schreckte aus ihren Gedanken; sie hatte Krönchens nackte Füße auf der Treppe nicht gehört. Jetzt stand die Kleine im Türrahmen, die zerzausten Locken fielen ihr auf die Schultern. Sie hatte ihr Lieblingsstofftier dabei, eine zwei Meter lange Schlange namens Pitala, die Kathrin ihr zum vierten Geburtstag aus bunten Flicken genäht und mit Watte ausgestopft hatte. Pitala war die Hauptfigur in Krönchens Lieblingsbuch, das davon handelte, wie eine Schlange die bunten Früchte und Schmetterlinge des Urwalds verspeist und dabei deren Farben annimmt, bis sie selbst schön wie ein Paradiesvogel ist, während sich der Dschungel in ein Schwarz-Weiß-Bild verwandelt hat. Während Krönchen näher kam, presste sie sich Pitalas Kopf an die Wange; der lange Schlangenkörper schleifte hinter ihr über den Boden.

»Ist Pitala gar nicht müde?«

Krönchen schüttelte den Kopf.

»Dann kommt mal her, ihr beiden.«

Kathrin setzte sich wieder in den Sessel und nahm ihre Tochter auf den Schoß. Sie schwiegen eine Weile. Seit ihrem Verschwinden war Krönchen ungewöhnlich still. Friedlich spielte sie in ihrem Zimmer, statt unablässig nach Aufmerksamkeit zu verlangen. Kein Kampf beim morgendlichen Anziehen, kein Streit wegen Herumschreien im Garten, keine Trotzanfälle beim Abendessen. Es war, als versuchte das Mädchen, sich unsichtbar zu machen. Wolfi ging davon aus, dass die Kleine noch immer unter Schock stand. Er behandelte sie wie eine Kranke. Ständig strich er ihr übers Haar und sprach mit hoher Stimme auf sie ein.

Es war nie leicht gewesen, Krönchen zu durchschauen. Ihre Stimmungen wechselten schnell, und Kathrin hatte sie schon im Alter von drei Jahren dabei ertappt, wie sie mit einem Handspiegel im Badezimmer saß und Gesichtsausdrücke übte: schmollen, lächeln, flirten, Wut. Was, wenn Krönchen log, nicht aus bösem Willen, sondern so, wie Kinder eben manchmal die Wahrheit verdrehten, wenn die Phantasie mit ihnen durchging? Ein Abgrund öffnete sich vor Kathrins Füßen. Im nächsten Augenblick krampfte sich ihr Herz zusammen bei der Vorstellung, welche Ängste die Kleine in Hildes nächtlichem Haus ausgestanden haben mochte. Die Sehnsucht danach, ihrer Tochter zu glauben, war exakt gleich stark wie der Wunsch, die schlimme Geschichte möge nur in Krönchens Einbildung passiert sein. Zwischen diesen beiden Fronten wurde Kathrin auf das Format einer Rabenmutter zusammengedrückt.

Als ihr auffiel, dass sie Krönchens Kopf seit geraumer Zeit mechanisch streichelte, nahm sie die Hand fort, was das Mädchen als Aufforderung zum Reden verstand.

»Es tut mir leid«, sagte es mit seiner kleinsten Stimme.

Krönchen hielt den Kopf gesenkt und drehte Pitalas linkes Knopfauge zwischen den Fingern. Der Knopf würde abreißen, Kathrin würde ihn wieder annähen.

»Was denn?«

»Dass ich weggelaufen bin.«

»Aber das hatten wir doch schon geklärt.«

Kathrin fasste ihre Tochter um die Taille, drehte sie um und setzte sie so auf ihre Knie, dass sie der Kleinen ins Gesicht sehen konnte.

»Hör mal zu.« Mit einem Finger hob sie Krönchens gesenktes Kinn. »Du hast versprochen, dass du nie wieder das Grundstück verlässt, ohne uns Bescheid zu sagen. Damit ist es gut.«

»Ihr seid böse auf mich.«

»Sind wir nicht.«

»Ihr redet komisch mit mir.«

»Wir haben uns furchtbar Sorgen gemacht und sind noch ein bisschen verwirrt. Verstehst du?«

Krönchen überlegte, ob sie nicken sollte, und entschied sich dagegen.

»Ich muss dich noch etwas fragen«, sagte Kathrin. »Es ist wichtig, dass du genau zuhörst und die Wahrheit sagst. Okay?«

Jetzt nickte Krönchen, die blauen Augen ein wenig zu weit geöffnet.

»Tante Hilde ist doch deine Freundin, stimmt’s?«

»Ihre Katzen sind meine Freunde.«

»Und Tante Hilde?«

Krönchen dachte nach.

»Ist auch meine Freundin.«

»Wenn sie deine Freundin ist, bist du sicher, dass sie dich eingesperrt hat?«

Krönchen schwieg. Kathrin rüttelte sie leicht an den Schultern.

»Vielleicht hast du dich ja in Hildes Haus versteckt. Manchmal spielst du doch gern, dass du von zu Hause abgehauen bist, nicht wahr? Du wolltest uns eins auswischen, weil wir gemein zu dir waren.«

Kathrin merkte, dass sich ihr Griff um die Schultern des Mädchens verkrampft hatte; sie lockerte die Finger und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Körperwärme vereinigte sich mit der ihrer Tochter, mit einem Mal wurde es unerträglich heiß.

»Du kannst es ruhig sagen, mein Schatz. Vielleicht bist du bei Hilde im Haus eingeschlafen, und dann war es plötzlich mitten in der Nacht, und dann hattest du Angst, dass wir schrecklich mit dir schimpfen. Wir waren ja auch alle sehr aufgeregt. Und deshalb hast du gesagt, Tante Hilde hätte dich eingesperrt. War es so?«

Krönchens Augen füllten sich mit Tränen; die Unterlippe schob sich vor und begann zu zittern.

»Es ist wirklich wichtig.« Kathrin hatte ihre Stimme nicht unter Kontrolle. Sie merkte, dass sie laut wurde, und konnte es nicht verhindern. »Papa, Mama, Opa und Tante Hilde kommen in fürchterliche Schwierigkeiten. Du musst mir die Wahrheit sagen, hörst du? Krönchen!«

Krönchen hatte begonnen, sich in Kathrins Armen zu winden. Als Kathrin sie an den Schultern festhielt, warf sie den Kopf hin und her, um ihrem Blick auszuweichen. Schließlich begann sie haltlos zu weinen.

»Oh mein Gott, Krönchen. Es tut mir so leid.«

Mit geschlossenen Augen und zusammengepressten Lippen wünschte Kathrin, jedes einzelne Wort zurücknehmen zu können. Sie drückte die Kleine an sich, wiegte sie und spürte, wie ihr selbst die Tränen kamen, während Krönchens Weinkrampf ihr die Bluse durchnässte. Sie hatte die Kraft nicht, um ihr eigenes Kind der Lüge zu bezichtigen. Wie giftig diese ganze Geschichte war. Während Kathrin »sch-sch« flüsterte und ihre Tochter hielt, kam das Stimmengewirr im Kopf endlich zum Erliegen. Alle Zweifel wichen einer simplen Wahrheit.

Kathrin wurde ruhig, küsste ihre Tochter, stand auf und trug sie und Pitala auf den Armen durchs Zimmer, über den Flur, die Treppe hoch. Auch Krönchen beruhigte sich. Kathrin legte sie ins Bett, küsste sie noch einmal und sagte: »Ich bin dir nicht böse, mein Schatz.« Da ging ein Lächeln über das Gesicht des Kindes; es rollte sich auf die Seite, nahm die Schlange in den Arm und antwortete: »Gute Nacht, Mama.«

Auf Zehenspitzen verließ Kathrin das Kinderzimmer. In ihr war alles Ruhe und Klarheit. Sie besaß einen einfachen Auftrag, der darin bestand, ihre Familie zu beschützen. Wenn sie es schon niemals geschafft hatte, dem eigenen Vater Glauben zu schenken, dann wollte sie wenigstens lernen, zu ihrer Tochter zu halten. Damit waren alle Fragen beantwortet, und sie beschloss, ebenfalls sofort zu Bett zu gehen.



46 Franzen


Gombrowski hatte gefragt, ob er auf ein Bier vorbeischauen könne. Sie hatte ihn stattdessen unter eine ganz bestimmte Laterne im Beutelweg bestellt.

»Bei Einbruch der Dunkelheit«, hatte sie gesagt und hinzugefügt: »Die Stelle kennen Sie ja.«

Sie freute sich über die Formulierung, die ironisch klang wie aus einem Tarantino-Film.

Interessant war, dass sich der Täter bei ihr meldete und nicht das Opfer. Kron hatte sich seit seiner Rettung überhaupt nicht gerührt. Kein Anruf, kein Blumenstrauß, keine Postkarte. Die Idee, ihn selbst aufzusuchen und nach seinem Befinden zu fragen, hatte Linda gleich wieder verworfen. Die Starke handelte und schwieg.

Und Linda war stark. Sie platzte schier vor Tatendrang. Täglich fuhr sie mit dem Auto 200 Kilometer über Land, um Kundenpferde zu betreuen, kam abends gegen neun nach Hause, schlang ein paar belegte Brote hinunter und verbrachte weitere zwei Stunden mit dem Schleifen der Fensterrahmen im Obergeschoss. Gegen Mitternacht fiel sie wie ein Stein ins Bett, schlief bis sechs und erwachte beim Klingeln des Weckers mit einem kribbeligen Gefühl, einer Mischung aus Nervosität und freudiger Erwartung, als stünde irgendein großes Ereignis bevor. Meistens blieb sie noch ein paar Minuten liegen und überlegte, worauf sich die Aufregung bezog – auf die Arbeit mit einem besonders schwierigen Pferd, die Sanierung von Objekt 108 oder das Wiedersehen mit Frederik am Wochenende? Nichts ließ sich mit dem Vibrieren ihrer Nerven in Verbindung bringen. Ihr Lampenfieber war ein abstrakter, auf die Zukunft gerichteter Vorwärtsdrang, der alle Bewegungen und Gedanken beschleunigte, die Arbeitskraft verdoppelte und dafür sorgte, dass sie langsam fahrende Mähdrescher anhupte und gelegentlich kleinere Gegenstände fallen ließ.

Frederik hatte beschlossen, die ganze Woche in Berlin zu bleiben. Wahrscheinlich war er noch sauer wegen ihrer Ignoranz gegenüber der Loveparade. Obwohl Linda ihn vermisste, kam es ihr entgegen, dass sie keine Zeit an gemeinsame Abendessen, Sex oder Gespräche über die Computerbranche verlor. Ohnehin hatte er sich wieder mal als Spielverderber erwiesen. Voller Begeisterung hatte sie ihn in der späten Nacht zum Sonntag noch angerufen und die Gombrowski-Geschichte zum Besten gegeben. Wie sie Schmerzen und Humpeln simuliert hatte, um Kron Gelegenheit zur Flucht zu verschaffen. Wie sie dann plötzlich leichtfüßig und völlig frei von Hinken im Haus verschwunden war.

Frederik hatte nicht mitgelacht. Zuerst glaubte er, sie habe sich wirklich am Fuß verletzt, und wiederholte ständig die Frage, ob auch nichts gebrochen sei. Als er endlich begriff, dass es ihr gut ging, wurde er wütend. Er klang wie ein Vater, der mitten in der Nacht seine sechzehnjährige Tochter anschreit, vor lauter Erleichterung, dass ihr nichts zugestoßen ist.

Aber Linda war zu gut drauf, um sich von Frederiks Griesgrämigkeit die Laune verderben zu lassen. Sie genoss das Gefühl, in einem neuen Universum mit eigenem Energiehaushalt unterwegs zu sein. Seit sie in Unterleuten wohnte, war sie zu einem echten Mover im Sinne von Manfred Gortz geworden. Das lag an Objekt 108. Inzwischen wusste Linda, wie stark Grundbesitz das gesamte Lebensgefühl veränderte. Eigentlich gehörte sie zu einer Generation, deren turnschuhtragenden und Sushi-essenden Vertretern schon der Besitz einer Hauskatze als unerträgliche Verantwortung erschien. »Haus bauen, Baum pflanzen, Kind zeugen« war kein Glücksrezept mehr, sondern eine Horrorvision. Die Ewigpubertierenden wollten sich alles offen halten und wunderten sich dann über Orientierungslosigkeit.

Linda hingegen hatte eine Entscheidung getroffen. Ein Haus verwandelte das beängstigende Möglichkeitenlabyrinth der Zukunft in überschaubares Terrain. Ein Haus beantwortete die Frage nach dem »Wo« und damit auch Teile der Fragen nach »Was«, »Wie« und »Warum«. Das Land, auf dem das Haus stand, wollte bewirtschaftet und verteidigt werden. Land verlangte nach Expansion. Land brachte Menschen zusammen und verheiratete Nachbarn zu vielköpfigen Zwangsehen. Inzwischen glaubte Linda, dass das menschliche Schicksal nicht an Gott, sondern am Grundbesitz hing. Transzendentale Obdachlosigkeit war keine Folge des Religionsverlusts, sondern der Inflation von Mietwohnungen. Sie war stolz darauf, mit ihrer großen, heruntergekommenen Villa ein Bollwerk gegen den Zeitgeist zu errichten.

Objekt 108 war ein Aussichtsturm, von dem aus sie in die Zukunft blicken konnte, und was sie dort sah, gefiel ihr immer besser. Unterleuten hatte ein altes Herz. Seine Anführer wie Gombrowski, Kron oder Arne hatten die sechzig überschritten. Bald würden andere diese Plätze einnehmen, junge Menschen mit eigenen Zielen. Es stand Linda frei, ihre Rolle zu wählen. Früher hatte sie sich manchmal gefragt, warum es Menschen gab, die ihr ganzes Leben darauf richteten, Parteichef oder Vorstandsvorsitzender zu werden. Inzwischen kannte sie den Grund. Sie wusste jetzt, dass Macht süßlich roch. Wie Manfred Gortz sagte: Alles ist Wille. Das Machtgefüge in Unterleuten war eine Maschine, und Linda musste nicht mehr tun, als die Mechanismen zu erlernen. Sie hatte bereits ein paar Knöpfe und Schalter ausprobiert und begonnen, die ersten Interessenhebel zu bedienen. Die Resultate konnten sich sehen lassen. Dass Gombrowski sie unbedingt sprechen wollte, wertete sie als hervorragendes Zeichen.

Es war schon fast dunkel, als sie das Haus verließ. Um die Laternen kreisten Fledermäuse wie Vergrößerungen der Motten, die sie jagten. Drüben bei Karl, dem Indianer, brannte ein großes Feuer, das Bäume und Tipi zum Tanzen brachte. Es duftete so stark nach gebratenem Fleisch, dass Linda das Wasser im Mund zusammenlief. Mindestens einmal pro Woche grillte Karl mitten in der Nacht, was die Vermutung nahelegte, dass das, was gerade so köstlich roch, noch vor einer Stunde im Wald herumgesprungen war. Irgendwann musste Linda herausfinden, welche Funktion Karl in der Dorfmaschine besaß, aber für heute stand ein anderer Kandidat auf der Agenda.

Schon auf dreihundert Meter sah sie, dass Gombrowski am Laternenpfahl lehnte, genau an der Stelle, gegen die er in der Nacht zum Sonntag Krons Körper gestoßen hatte. Er hatte die Arme verschränkt, ein Bein leicht vorgestellt und eine Zigarre im Mund, deren Rauch eine leere Sprechblase über seinem Kopf bildete. Linda überlegte, ob ihm Selbstironie zuzutrauen war. Wenn die Zigarre eine Antwort auf Ort und Zeit des Treffens darstellen sollte, hatte sie ihn unterschätzt.

Ruhig sah er zu, wie sie näher kam, ohne Anzeichen von Entdecken oder Erkennen, als hätten seine Augen sie schon seit Stunden verfolgt. Linda achtete darauf, das Tempo nicht zu verlangsamen, ging mit zügigen Schritten auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen. Seine Zunge transportierte die Zigarre vom einen Mundwinkel in den anderen. Zufrieden nahm Linda die Abwesenheit des Mastiffs zur Kenntnis. Offensichtlich hatte Gombrowski begriffen, dass ihr Hunde keine Angst einjagten.

Eine Weile blickten sie sich an. Beiläufig nahm Linda die gleiche Haltung ein wie er, die Arme verschränkt, ein Bein vorgestellt. Dazu bewegte sie die Zunge, als transportiere sie eine Zigarre hin und her. Nach ein paar Sekunden stellte sich Gombrowski anders hin und nahm den Stumpen aus dem Mund. Linda lächelte freundlich. Durch Nachahmung eine unbewusste Reaktion hervorrufen und sofort belohnen – mit diesem Trick erlangte man Kontrolle über ein fremdes Bewusstsein.

Statt einer Begrüßung sagte Gombrowski schließlich: »Nein.«

Linda wartete.

»Ich habe die kleine Kron nicht entführt. Falls Sie das fragen wollten.«

»Wollte ich nicht.«

»So?« Die Zigarre verharrte auf dem Weg zum Mund; Gombrowskis Brauen hoben sich.

»Ich frage nicht«, sagte Linda, »weil ich fest davon ausgehe, dass Sie dahinterstecken.« Das stimmte zwar nicht, schien ihr aber als kleiner Schuss vor den Bug geeignet zu sein.

»Ach so.« Gombrowskis überraschte Miene sank in sich zusammen. »Ich dachte, Sie wären klüger als die ganzen Idioten hier. Egal.« Er sog an der Zigarre und schien zu überlegen. »Hat sich Kron bei Ihnen bedankt?«

Linda schüttelte den Kopf.

»Das sieht ihm ähnlich. Wer sich immer im Recht glaubt, sagt niemals danke.« Plötzlich lachte er. »Sie müssen ja einen schönen Eindruck von Unterleuten bekommen! Kinder verschwinden, alte Männer schlagen aufeinander ein. So ein Drecknest.«

»Komischerweise denke ich das nicht«, sagte Linda.

»Sollten Sie aber. Ich werde Ihnen jetzt ein paar Wahrheiten über Unterleuten erzählen. Das Dorf ist eine Schlangengrube.«

»Bislang kommen mir die Leute eigentlich ganz nett vor.«

»Nett!«, lachte Gombrowski. »Alle Menschen sind nett, wussten Sie das nicht? Hitler war nett, Milosevic war nett, Ahmadinedschad ist nett. Dazu gebildet und charmant. Gott sei Dank fehlen uns in Unterleuten Bildung und Charme. Deshalb sind wir wenigstens keine Massenmörder, sondern nur Kleinkriminelle.«

»Das klingt, als würden Sie Unterleuten hassen.«

»Tue ich auch. Und Unterleuten hasst mich. Kron sowieso samt Tochter, Schwiegersohn und Enkelin, dazu seine Veteranen-Truppe und deren gesamte Sippschaft. Weiterhin hasst mich, wer mir etwas schuldet, also praktisch jeder, allen voran Arne und Schaller.«

»Soll ich für Sie beten?«

»Halten Sie mich nicht für wehleidig. Ich rede über schlichte Tatsachen. Sogar meine Frau und meine Tochter hassen mich aus Gründen, die ich nie ganz verstanden habe. Meine Theorie dazu: Altlasten.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Linda. »Offene Rechnungen aus DDR-Zeiten?«

»Ich meine Sondermüll. Sie haben keine Ahnung, was der Unterleutner Boden alles in sich hineingeschlungen hat. Die abgerissene Hühnerfarm im Beuteler Bruch. Die Asbestdächer der ehemaligen Getreide-Lagerhallen. Die komplette LPG-Tankstelle samt unterirdischen Tanks. Kaputte Traktoren, Heizöl, Farben, Leichen, Bauschutt, tote Verkabelung – das liegt hier alles ein paar Zentimeter unter der Erde. Hat doch nie einer was weggeräumt in der DDR. Der ganze Müll von vierzig Jahren Superfortschritt liegt hier begraben. Schau dich um, es wächst ja nichts. Um was Essbares anzupflanzen, musst du nicht Landwirt sein, sondern Hexenmeister.«

»Die Felder stehen voll.«

Gombrowski winkte ab.

»Schweinefutter und Biodiesel. Die Tomaten bei Rewe kommen aus Spanien.« Er zog an seiner Zigarre. »Das Gift schlägt den Leuten aufs Gemüt. Wer schlau ist, haut ab. Wer nicht wegkommt, fängt an zu hassen. Oder krepiert. Deine Villa Kunterbunt hat noch keiner überlebt.«

»Das läuft nicht, Gombrowski.«

Er hob das Kinn, damit sie sich erkläre.

»Sie machen mir keine Angst«, sagte Linda.

Lachend trat er einen Schritt vor, um ihr auf die Schulter zu klopfen.

»Weiß ich, Schätzchen! Wenn du von der ängstlichen Sorte wärst, hättest du keine Freude daran, dich mitten in der Nacht mit dem fetten alten Hund zu treffen. Du bist hart, und du hast was im Kopf. Gute Mischung. So eine wie dich hätte ich mir als Tochter gewünscht.«

Linda musste sich eingestehen, dass er sie rührte. Ein Einzelkämpfer, hässlich wie kein Zweiter, mächtig, aber unbeliebt, von Frau und Tochter im Stich gelassen. Dabei klug genug, um zu wissen, dass seine Partie zu Ende ging. Gleichzeitig registrierte sie, wie perfekt er es verstand, das Spiel zu machen. Das war sein Auftritt, seine Szene. Er war es, der Linda zum Reagieren zwang, nicht umgekehrt. Dabei hatte sie es noch nicht einmal geschafft, ihn zu fragen, was er von ihr wollte. Warum er um dieses Treffen gebeten hatte. Sie beschloss, ihn noch eine Weile reden zu lassen. Je mehr sie über ihn erfuhr, desto besser.

»Du wirst deine eigenen Erfahrungen machen«, sagte Gombrowski.

Das »Sie« war im Lauf seines Vortrags auf der Strecke geblieben, und Linda hätte gern gewusst, ob Achtlosigkeit oder Kalkül dahintersteckten. Sie ermahnte sich, von Letzterem auszugehen. Der tollpatschige Grobian konnte ein Avatar sein, den Gombrowski an tausend feinen Fäden führte. Sie wusste selbst am besten, wie nützlich es war, von anderen Menschen falsch eingeschätzt zu werden.

»Wenn Unterleuten so furchtbar ist«, fragte sie, »was machen Sie dann noch hier?«

»Wo sollte ich sonst sein?« Er lehnte sich wieder gegen die Laterne. »Geh mal auf deinen Dachboden und schau aus der Luke neben der zugemauerten Esse nach Osten.«

Daran, dass jeder in Unterleuten ihr Haus besser kannte als sie selbst, hatte sich Linda inzwischen gewöhnt.

»Alles, was du dann siehst bis zum Horizont, hat meinem Vater gehört. Sie haben ihn gezwungen, seinen Besitz in die LPG einzubringen. Mächtig angestrengt haben sie sich, um Land und Leute zu verderben, mit äußerster Effizienz, denn im Verderben waren sie einsame Spitze. Nach der Wende habe ich dafür gekämpft, die Flächen zusammenzuhalten, den Betrieb zu retten, bevor ein Investor aus dem Westen kommt, der sich von der EU fürs Brachlegen bezahlen lässt. Jetzt sitze ich hier, auf dem lieben, armen, verdorbenen Land zwischen lieben, armen, verdorbenen Leuten und mache weiter, so gut ich kann.«

»Als Einziger völlig unverdorben.«

»Jetzt kommen wir zum Punkt.«

Er stieß die Zigarre gegen den Laternenpfahl, verteilte die herabstürzende Glut mit dem Fuß und zertrat schließlich noch den verlöschenden Stummel. Das jedenfalls war keine Show. Die wochenlange Trockenheit bedeutete Waldbrandgefahr, höchste Gefahrenstufe.

»Verdorben bin ich genau wie der Rest«, fuhr Gombrowski fort. »Hier ein zugedrücktes Auge, da ein paar Tricks. Auch mal eine harte Hand, wenn mir der Kragen platzt.«

Er sah auf und lächelte schief.

»Danke übrigens wegen Kron«, sagte er. »Ich war außer mir. Was auch immer passiert wäre, ich hätte es nicht gewollt.«

Er sah sie direkt an, und am Grund seines triefäugigen Blicks wohnte Aufrichtigkeit. Linda nickte. Die Szene gefiel ihr immer besser.

»Ich habe eine Grundregel«, machte Gombrowski weiter. »Hab ich dir vielleicht schon mal erzählt. Sie lautet: Es gibt immer eine Lösung, die alle glücklich macht. Die muss gefunden werden. Nicht aus Menschenliebe, sondern aus Vernunft. Größtmögliche Zufriedenheit bringt den größtmöglichen Nutzen. Auch wenn manche Leute zur Zufriedenheit gezwungen werden müssen.«

»Kron zum Beispiel«, sagte Linda.

»Wer auch immer. Passen Sie auf. Jetzt kommt das Geheimnis. Da können Sie noch was lernen.«

Beeindruckt nahm Linda die Rückkehr zum »Sie« zur Kenntnis.

»Prinzipien«, sagte Gombrowski, »sind nicht nur das beste Gegenmittel gegen das Unterleutner Gift. Sie sind überhaupt die Rettung vor dieser seltsamen Welt.«

»Klingt altmodisch.«

»Nicht Rettung der Welt«, rief Gombrowski. »Rettung vor der Welt. An Prinzipien kannst du dich festhalten wie Kron an seiner Krücke. Damit du nicht verloren gehst. Und deshalb entführst du, Scheiße noch mal, keine kleinen Kinder.«

»Darf man stehlen?«

»Wenn’s sein muss.«

»Lügen?«

»Geht ja nicht anders.«

»Betrügen?«

»Das heißt jetzt Kapitalismus.«

»Töten?«

»Je nachdem.«

»Fremdgehen?«

»Nein«, sagte Gombrowski ohne Zögern.

»Interessant.« Linda tat so, als müsste sie nachdenken. Das Gespräch nahm definitiv surreale Züge an. »Und was ist mit Hilde Kessler?«

»Jetzt willst du’s aber wissen, was?« Gombrowski rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Hast gemerkt, dass der alte Mann heute Abend mit dem Rücken zur Wand steht und reden will. Weil man ihm mal wieder voll in die Eingeweide getreten hat. Hätte gar nicht gedacht, dass da noch irgendwas wehtun kann.« Als er aufschaute, waren seine Tränensäcke durchs Reiben geschwollen und verwandelten ihn endgültig in einen traurigen Bernhardiner. »Es gibt in Unterleuten jemanden, der mich noch zehnmal mehr hasst als Kron und meine Frau zusammen. Das ist Hilde Kessler. Meine liebe Freundin, der einzige Mensch, dem ich in diesem Drecknest vertraue. Gott hatte Spaß daran, Hilde und mich ein paar Jahre zu spät miteinander bekannt zu machen, obwohl er ganz genau wusste, dass wir füreinander bestimmt waren. Stattdessen waren wir dann beide mit der falschen Person verheiratet. Aber man betrügt seine Familie nicht.«

»So, wie man keine kleinen Kinder entführt.«

»Ganz genau.« Gombrowski klatschte sich die flache Hand in den Nacken und betrachtete anschließend, was er erschlagen hatte. »Als Hildes Mann starb, war Püppi gerade aus dem Haus. Hilde ging fest davon aus, dass ich Elena verlassen und sie heiraten würde. Alles schien zu passen, der tote Erik, Püppis Auszug, Elena, die mich schon lange nicht mehr ertrug. Dass ich trotzdem bei meiner Frau blieb, ging über Hildes Kräfte. Sie verlangte eine Erklärung, ich hatte keine. Es gehörte sich einfach so. Hilde hat mir das nie verziehen. Kurz darauf fing das mit den Katzen an und dass sie nicht mehr aus dem Haus ging. Auf diese Schuld zahle ich ein Leben lang.«

Sie schwiegen. Linda verspürte Lust, dem alten Bernhardiner über den Kopf zu streicheln. Er tat ihr leid. Gleichzeitig war sie stolz darauf, dass er ausgerechnet ihr seine Geschichte erzählte. Bestimmt hatte er schon lange nicht mehr so offen mit jemandem gesprochen. Von außen betrachtet waren sie zwei Wesen völlig unterschiedlicher Art, aber im Kern verband sie eine Gemeinsamkeit: Sie waren Kämpfer. Mit ihrem Eingreifen Samstagnacht hatte Linda seinen Respekt erworben. Eine leichte Gänsehaut überzog ihre Unterarme, als sie dachte, dass unter dieser Laterne vielleicht gerade eine merkwürdige Freundschaft begann.

»Pass auf«, sagte Gombrowski und lächelte sie an. »Schluss mit den alten Geschichten. Es gibt auch neue. Im Dorf ist die Hölle los, die drehen alle komplett durch.«

»Wie meinst du das?«, fragte Linda, und das klang so vertraut, als würden sie täglich ihre Angelegenheiten miteinander besprechen.

»Das mit der kleinen Kron war der berühmte letzte Tropfen. Das Fass ist mehr als voll. Wir sollten uns beeilen.«

Gombrowski wartete, bis sie verstanden hatte.

»Kein Problem«, sagte sie, »ich mag Tempo«, und freute sich schon darauf, diese Antwort später gegenüber Frederik zu zitieren.

»Wir regeln das alles schriftlich«, sagte Gombrowski. »Wenn du willst, kannst du auch Bargeld haben statt der Sanierung deiner Ställe. Hauptsache, wir kriegen das fix über die Bühne.«

»Die Baugenehmigung«, sagte Linda.

Gombrowski warf ihr einen schnellen Blick zu und hatte fast im gleichen Augenblick eine abwinkende Hand in der Luft.

»Ist längst angeleiert.«

»Angeleiert reicht nicht. Das Ding muss vorliegen. Vorher unterschreibe ich nichts.«

»Hab ich verstanden, hab ich verstanden.« Gombrowski schob die Hände in die Hosentaschen und prüfte mit zurückgelegtem Kopf, ob die Milchstraße noch da war. »Einen Vorteil hat die Sache mit der kleinen Kron: Sie erhöht das Drohpotenzial. Die Vogelschützer werden mir deine Baugenehmigung auf dem Silbertablett servieren. Freiheit fängt da an, wo die Leute einem alles zutrauen.«

Linda lachte und hörte wieder damit auf, als sie verstand, dass er keinen Witz gemacht hatte.

»Übernächste Woche bei Söldner«, sagte er.

»Wer ist Söldner?«

»Notarin in Berlin-Charlottenburg.«

Da war es wieder, das Kribbeln im Zwerchfell. Gombrowski war kein Mann, der Versprechen gab, die er nicht halten konnte. Wenn er es tatsächlich schaffte, die Baugenehmigung innerhalb von zehn Tagen zu besorgen, in einem Verfahren, das sich eigentlich über Monate, wenn nicht über Jahre hingezogen hätte, dann konnte Linda sofort mit den Umbaumaßnahmen beginnen und Bergamotte vielleicht noch vor Ende des Jahres ins Winterquartier holen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie wollte Frederik anrufen, sofort. Sie spürte, wie sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Gombrowski bemerkte ihre Miene und grinste ebenfalls.

»Lass den alten Hund nur machen.« Er streckte ihr die Hand hin, sie schlug ein. »Alles klar, Frau Franzen«, sagte er und ging.

Linda sah zu, wie er den Beutelweg hinunterschlenderte, wobei er die Transparente ignorierte, auf denen heute »Windkraft – nein danke« und »Kein Platz fur Kindentfuhrer« stand; die Ü-Punkte waren vergessen worden. Gombrowski öffnete und schloss das gusseiserne Tor vor seinem Haus; eine Fichte entzog ihn Lindas Blicken. Sie hörte, wie die Mastiff-Hündin anschlug, wie Gombrowski etwas sagte und die Haustür ins Schloss fiel. Dann herrschte Stille.

Linda stand reglos, in die Richtung starrend, in die Gombrowski verschwunden war. Mit seinem Abgang hatte sich die Atmosphäre verändert, als wäre Linda nach Ende eines Films plötzlich auf die nächtliche Dorfstraße hinausgetreten. Sie kämpfte mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Die Erkenntnis kam so unvermittelt, dass ihre Wangen kalt wurden, während die Handflächen zu schwitzen begannen.

Sie hatte versäumt, sich über den Grund klar zu werden, aus dem Gombrowski sich unbedingt mit ihr treffen wollte. Jetzt stand ihr die Sachlage klar vor Augen. Er hatte befürchtet, dass Linda nach den Ereignissen vom Wochenende vielleicht nicht mehr bereit war, an ihn zu verkaufen – oder jedenfalls nicht zu denselben Bedingungen. Gleichgültig, wie viel er mit Krönchens Verschwinden zu tun hatte, er stand zweifellos unter Druck, was bedeutete, dass die Welt für ihn teurer geworden war. Aber Linda, die angehende Super-Geschäftsfrau, hatte nicht einmal versucht, ihn in die Mangel zu nehmen, um den Preis zu treiben. Stattdessen war sie nach ein paar rührseligen Geschichten bereit gewesen, sich über eine längst erfolgte Zusage zu freuen. Die angekündigte Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens stellte keine Aufbesserung des Angebots dar, sondern war der Tatsache geschuldet, dass Gombrowski es eilig hatte.

Die Kälte ihrer Wangen wich einer schamvollen Hitze. Vielleicht sollte sie ihm für dieses Propädeutikum in taktischer Gesprächsführung eine Seminargebühr überweisen. Bei allem Ärger musste sie anerkennen, dass er es auf diesem Gebiet zu wahrer Meisterschaft brachte. Sie hatte geglaubt, ihn genau zu beobachten, aber er vollführte seine Tricks wie ein Hütchenspieler, nicht obwohl, sondern weil man ihm auf die Finger sah.

Linda beschloss, sich nicht weiter zu ärgern, und machte sich auf den Heimweg. Gortz empfahl, Niederlagen als nützliche Erfahrungen zu verbuchen. Immerhin hatte sie heute ein für alle Mal gelernt, dass zwischen Pferden und Menschen gewisse Unterschiede bestanden. Am Ende würde sie Gombrowski trotzdem ins Gesicht lachen.

Sie hatte die mächtigen Steinpfosten neben der torlosen Einfahrt von Objekt 108 erreicht, als sie den Handschuh entdeckte. Er lag auf der untersten Stufe der Eingangstreppe, sauber drapiert, damit man sofort sah, dass der Mittelfinger fehlte. Offensichtlich war ihr Treffen mit Gombrowski im Dorf nicht unbemerkt geblieben; jetzt versuchte sich jemand in mafiösen Drohgebärden. Lächelnd bückte sie sich, hob den Handschuh auf und steckte ihn in die Hosentasche, bevor sie die restlichen Stufen zur Haustür hinaufging. Ihre gute Laune war endgültig wiederhergestellt. Sie mochte ein Frischling sein, der sich von einem alten Haudegen einwickeln ließ. Aber sie war klug genug zu wissen, dass ihr etwas Besseres als eine solche Drohung gar nicht passieren konnte.



47 Fließ


Nie laut die Meinung sagen. Man könnte ja falschliegen. Immer zweite Reihe, immer ausführendes Organ. Zu wenig Selbstvertrauen. Das war sein Problem, damit hatte er sich von Anfang an die Karriere versaut. Wie oft war es in seiner Zeit an der Universität vorgekommen, dass ein Kollege mit einer von Gerhards Ideen Furore machte! Für die Leistungsgesellschaft spielte es keine Rolle, wer einen Gedanken als Erster gefasst hatte. Es kam nur darauf an, wer ihn verkaufte. Und Gerhard war nun einmal in erster Linie Denker und nur in zweiter ein Mann der Tat. Wie sollte sich ein intelligenter Mensch überhaupt zum Handeln entschließen, wenn doch die Hauptaufgabe des Verstandes darin bestand, zu jedem »Für« ein »Wider« zu präsentieren? Schließlich hieß es cogito und nicht ago ergo sum, weshalb sich Gerhard für die akademische Laufbahn und nicht für den Kriegsdienst entschieden hatte. Lieber ein kluger Zauderer als ein dummer Draufgänger. Im Grunde seines Herzens vertrat Gerhard die Auffassung, dass nicht er selbst schuld war an seinen mangelnden Erfolgen, sondern das korrumpierte Uni-System. Er zog mit Jule aufs Land.

Aber leider waren Probleme anhänglich wie Hunde, sie folgten ihrem Herrn überallhin. Seit vier Tagen dachte Gerhard darüber nach, wo er jetzt stünde, wenn er in der Nacht zum Sonntag seiner Ahnung nachgegeben und die Initiative ergriffen hätte. Von der ersten Sekunde an war ihm klar gewesen, dass sich das Kind in Gombrowskis Händen befand. Er hatte sogar geahnt, dass Gombrowski zu klug war, um die Kleine bei sich zu Hause zu verstecken. Dass Gerhard zunächst fälschlicherweise auf Schaller getippt hatte, war ein verzeihlicher Irrtum und hätte seinen Sieg am Ende umso strahlender erscheinen lassen.

Statt mit der Suche im Wald Zeit und Kraft zu verschwenden und am Ende noch mit dem vor Angst verrückten Kron aneinanderzugeraten, hätte er Ingo und zwei weitere kräftige junge Männer auswählen und sich an die Spitze eines Sondereinsatzkommandos setzen können. Sie wären bei Schaller einmarschiert und hätten den Hof durchsucht, und wenn das Tier von nebenan versucht hätte, sie daran zu hindern, hätte es von den jungen Männern mächtig was zwischen die Hörner bekommen. Allein die Vorstellung wärmte Gerhard das Herz.

Danach hätte er sein Kommando in den Beutelweg geführt. Die verschreckte Elena hätte die Hände gerungen und immer wieder »oh Gott« gerufen, während Gombrowski ungerührt zugesehen hätte, wie sie erfolglos Raum für Raum durchsuchten. Am Ende hätte er Gerhard und seine Männer zur Tür begleitet und einen schönen Abend gewünscht.

An dieser Stelle wäre ein Moment der Ratlosigkeit eingetreten. Ingo hätte verlangt, dass sie nun endlich beim Indianer vorbeischauten. Aber dann wäre Gerhard plötzlich die zündende Idee gekommen. Er hätte seine Leute herangewunken und wäre mit ihnen ein Haus weitergegangen, um dort höflich zu klingeln. Hilde hätte geöffnet und sofort gewusst, dass das Spiel aus war. Auf seinen Armen hätte Gerhard das verängstigte Krönchen aus dem Haus getragen und im Triumphzug zu Eltern und Großvater zurückgebracht.

Durch diese Tat wäre er binnen Sekunden zum wichtigsten Mann im Dorf avanciert. Im Kampf gegen Gombrowskis Windräder hätte er ganz Unterleuten hinter sich versammeln können. Das Tier von nebenan hätte es nie wieder gewagt, ihnen das Leben schwer zu machen. Im Gegenteil wäre es mit seinem Schrotthaufen von Autowerkstatt pleitegegangen und verschwunden, weil niemand im Landkreis etwas mit den Feinden der Familie Fließ …

Das Telefon klingelte. Gerhard schreckte aus seinem Tagtraum. Johannes, ein junger Kollege, reichte ihm den Telefonhörer über den Schreibtisch. Drei Minuten später saß Gerhard im Auto und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach Unterleuten.

Er hatte Jule in letzter Zeit oft hysterisch erlebt. Aber dieses Mal besaß der Anfall neue Qualität. Sie lief Kreise wie ein gefangenes Tier, rechts um den Couchtisch herum, links ums Sofa, eine Acht um Gerhard und die Bananenstaude, dann zurück zum Couchtisch. Dabei schob sie die schreiende Sophie von einer Hüfte auf die andere und raufte sich mit der freien Hand die Haare. Wenn Gerhard sie in den Arm nehmen wollte, riss sie sich los; wenn er etwas fragte, schrie sie immer den gleichen Satz:

»Ich will nach Hause! Ich will nach Hause!«

Aus Erfahrung wusste Gerhard, dass es manchmal gelang, die Hysterie zu durchbrechen, indem man laut wurde.

»Wo ist denn dein Zuhause?«, rief er, und tatsächlich blieb Jule einen Moment stehen.

Sie sah ihn an, als müsste sie nachdenken. Dann nahm sie ihren Kurs durchs Wohnzimmer wieder auf.

»Ich will hier weg«, weinte sie, aber es klang nicht mehr ganz überzeugt.

Danach gelang es ihm mit Geduld und Hartnäckigkeit, seine Frau auf die Couch zu bugsieren und zum Sprechen zu bringen. Aus den Satzfetzen, die sie hervorstieß, ließ sich rekonstruieren, was in etwa passiert sein musste.

Seit Anfang der Woche brannten die Feuer an der Grundstücksgrenze nicht mehr. Es war wie ein Wunder. Der Wind hatte die giftigen Dämpfe vertrieben und auch den Ascheteppich mitgenommen, als hätte es die Hölle rings ums Haus niemals gegeben. Einen vollen Tag hatten sie gebraucht, um dem Frieden zu trauen. Dann öffneten sie alle Fenster. Gerhard hatte den Rasensprenger in Stellung gebracht, um das gelb vertrocknete Gras neu zu beleben. Gemeinsam hatten sie das bemalte Kinderbettchen aus dem Keller getragen, das sie bei einem Antiquitätenhändler extra für den Garten gekauft hatten.

Heute war Jule gleich nach dem Aufstehen mit Sophie und einer Tasse Kaffee nach draußen gegangen. Der Wein wollte gewässert, die Himbeeren zurückgeschnitten, heruntergefallene Äste eingesammelt werden. Als Gerhard zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Sophie auf einer gefalteten Decke im Kinderbettchen gelegen, mit den Beinen gestrampelt und die Arme nach den Ästen des Holunders ausgestreckt, der ihr Schatten spendete. Das friedliche Bild hatte ihn mit Glück erfüllt.

Stockend berichtete Jule, dass Sophie den ganzen Morgen bester Laune gewesen sei. Immer wieder habe sie nach dem Baby gesehen, zwischendurch gestillt, woraufhin die Kleine eingeschlafen sei. Ein perfekter Vormittag. Sie habe dann begonnen, hinter der Himbeerhecke Unkraut zu jäten, bis sie plötzlich von einer seltsamen Unruhe befallen worden sei. Sie sei sofort aufgesprungen und zum Kinderbettchen gegangen. Leer. Außer Sophie habe auch die bunte Decke gefehlt.

Der Gedanke an diesen Augenblick schüttelte Jules Körper, als hielte etwas Großes sie an den Schultern gepackt. Das Grauen konnte Gerhard am eigenen Leib spüren. Seit Sophie auf der Welt war, gab es Ängste, die er früher nicht gekannt hatte. Keine Temperaturschwankungen innerhalb einer gemäßigten emotionalen Klimazone, sondern Erschütterungen, die alles mit sich rissen. Er konnte vor sich sehen, wie Jule blind und taub hin und her gerannt war, den Namen ihrer Tochter rufend, nicht klüger als eine Tiermutter, die nach ihrem Jungen schreit. In Jules Erinnerung hatte es eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie in der Lage war, die Umlaufbahn des Kinderbettchens zu verlassen. Immer wieder hatte sie nachgeschaut, ob Sophie nicht doch darin lag. Dass es sich dabei vermutlich nur um Minuten gehandelt hatte, spielte keine Rolle. Blankes Entsetzen wusste nichts von Zeit.

Irgendwann war sie dann doch ums Haus herum gelaufen, um das Telefon zu holen und Gerhard anzurufen oder gleich die Polizei. Sie stolperte um die Ecke – und blieb wie angewurzelt stehen. Unter dem Goldregen vor dem Haus, direkt neben der Bank, auf der sie und Gerhard früher ganze Abende verbracht hatten, saß Sophie auf ihrer sauber ausgebreiteten bunten Decke und schlug mit beiden Händchen lachend auf eine unsichtbare Trommel. Sie hatte sich zum ersten Mal aus eigener Kraft aufgesetzt. Vor Freude über diesen Erfolg strahlte sie wie eine kleine Sonne. Es verging eine halbe Ewigkeit, bis Jule begriff, dass dieses Baby erstens real und zweitens ihre Tochter war.

Gerhard wusste, dass Jule ausrasten würde, wenn er Fragen stellte, aber es ließ sich nicht vermeiden. Die Geschichte, die sie erzählt hatte, war zu seltsam. Er versuchte, seiner Stimme einen möglichst milden Klang zu geben.

Ob es vielleicht so gewesen sein könnte, dass sie selbst Sophie unter den Goldregen gebracht, es dann aber vergessen habe? Ein winziger Blackout, wie er im Gehirn nicht selten vorkomme? So gern sich der menschliche Verstand als unfehlbar betrachte, so unzuverlässig sei er doch in Wahrheit …

Jule sprang vom Sofa und fing wieder an, durchs Zimmer zu streunen. Ihr Lachen zischte wie das Drohgeräusch eines Raubtiers.

»Hältst du mich für geisteskrank? Willst du sagen, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe?«

Gerhard bat sie, sich zu beruhigen. Er versuche nur, sich den Ablauf der Ereignisse genau vorzustellen. Er frage sich, ob es wirklich denkbar sei, dass jemand in den Garten eindringe und die schlafende Sophie unbemerkt aus dem Bettchen nehme, während Jule hinter den Himbeeren hockte.

Sie bedachte ihn mit einem Blick voll abgrundtiefer Verachtung.

»Wegen Kathrins Tochter spielst du den Ritter auf dem weißen Pferd. Und wenn sich jemand an Sophie vergreift, leide ich unter Halluzinationen?«

»Nehmen wir mal an, es war so, wie du sagst.«

»Keine Minute länger rede ich mit dir, wenn du mir nicht glaubst!«

»Ich glaube dir doch, Jule. Das ist eine furchtbar ernste Angelegenheit, verstehst du? Wir müssen uns gemeinsam klarmachen, was vorgefallen ist.«

Sie schwieg.

»Jemand hat also Sophie aus dem Bettchen genommen, um uns einen teuflischen Schrecken einzujagen.«

Sie nickte zögerlich.

»Wer«, fragte Gerhard, »ist das deiner Meinung nach gewesen?«

Jule starrte ihn an wie einen Feind, ihre Augen wirkten entzündet. Der Streit der letzten Tage hatte sich immer wieder um Gombrowski gedreht. Ob er hinter Krönchens Entführung stecke oder nicht. Im Grunde hatte Jule zu den Auseinandersetzungen gar nicht viel beigetragen. Sie machte sich nicht die Mühe, nach Argumenten zu suchen. Sie wiederholte nur, dass Gombrowski kein Entführer sei – und fertig. Gerade dieses irrationale Beharren ließ Gerhard keine Ruhe; er kam immer wieder auf die Fakten zurück, die doch jeden denkenden Menschen überzeugen mussten. Zu Gombrowskis Täterschaft gab es schlicht und ergreifend keine logische Alternative. Abgesehen davon war ein Mann, der einen anderen aus Profitgier umbrachte und einen weiteren schwer verstümmelte, ebenso gut in der Lage, ein kleines Mädchen zu verstecken. Aber Jule hatte nicht nachgegeben. Angesichts ihrer Sturheit hatte Gerhard sich zu fragen begonnen, auf welcher Seite sie eigentlich stand. Konnte es sein, dass Gombrowski es geschafft hatte, sie um den Finger zu wickeln, genau wie Linda Franzen? Hatte er ihr etwas angeboten?

Mit einem Mal flog ihn der Gedanke an, Jule könnte sich die Geschichte mit Sophie nur ausgedacht haben. Sie könnte ihm etwas vorspielen. Um Gombrowski zu helfen, indem sie Gerhard unter Druck setzte. Er legte beide Hände an die Schläfen, als wollte er sich die Paranoia aus dem Gehirn pressen. Es war schrecklich, solche Dinge zu denken. Er fühlte sich vergiftet. In den vergangenen Wochen hatten er und Jule eine Menge durchgemacht, aber der ganze Ärger hatte nicht ihre Beziehung angegriffen. Im Gegenteil hatte er gespürt, wie die Ereignisse sie fester zusammenschweißten. Gerhard verstand nicht, was sich nun änderte und warum. Er hob den Kopf und sah Jule an.

»Wer?«, wiederholte er, ein wenig heftiger als beabsichtigt.

»Wer wohl«, sagte Jule. »Das Tier von nebenan.«

»Du hast mir tagelang erzählt, dass Gombrowski kein Entführer ist.«

»Ich sagte nicht Gombrowski, ich sagte: das Tier von nebenan.«

»Bodo Schaller tut doch nichts auf eigene Rechnung! Der ist nur ein Handlanger von Gombrowski.«

»Das ist mir scheißegal.« Sie begann zu zittern. »Solange das Tier da drüben sitzt …«

Das Zittern wurde so stark, dass Gerhard zu ihr eilte, um zu verhindern, dass sie fiel. Behutsam bugsierte er sie zur Couch zurück, setzte sich neben sie und bemühte sich, sie von der Seite zu umarmen, ohne Sophie in Bedrängnis zu bringen.

»Solange das Tier …« Obwohl sie von einem Weinkrampf geschüttelt wurde, wollte sie den Satz unbedingt zu Ende bringen. »Da drüben …«

»Okay«, sagte Gerhard. »Sch-sch. Hör mir zu.«

Ihren Tränen hatte er nichts entgegenzusetzen. Mitleid ergriff von seinem Körper Besitz wie ein Schwächeanfall. Er wusste jetzt, was sich zwischen ihn und Jule schob, was sie auseinanderdrängte, Misstrauen säte, die Stimmung verdarb. Es war pure Erschöpfung. Sie konnten nicht mehr, alle beide.

»Ich kann machen, dass das aufhört. Möchtest du das?«

»Solange …«

»Ich gebe Gombrowski, was er will. Dann lässt er uns in Ruhe.«

Das Schluchzen hinderte Jule am Sprechen, Gerhard fasste sie fester.

»Es wäre eine schmerzhafte Kapitulation. Ein Verrat an allem, was uns heilig ist. Ein weiteres Mal hätte Gombrowski gewonnen. Mit seinen Einschüchterungen, seinem ganzen Terrorismus.«

Jules Weinen wurde stärker, jetzt begann auch Sophie zu wimmern.

»Nicht«, sagte Gerhard. »Pass auf. Ich gehe kurz an den Rechner und schreibe zwei Mails. Franzen kriegt ihre Baugenehmigung, damit sie das Land an Gombrowski verkauft, und der Naturschutz wird keine Einwände gegen den projektierten Windpark erheben. Dann ist der Zauber in ein paar Tagen vorbei. Gut?«

Das Schluchzen versiegte, auch wenn Jules Schultern noch immer so stark bebten, dass Gerhard kaum wagte, sie loszulassen. Er küsste sie und merkte, dass er alle Kraft zusammennehmen musste für den nächsten Schritt. Schon an der Tür hörte er, wie es Jule endlich gelang, ihren Satz zu vollenden.

»Solange das Tier da drüben sitzt, habe ich kein Zuhause.«

Er lächelte ihr zu, winkte mit kleiner Hand und ging ins Arbeitszimmer, wo er den Computer hochfuhr. Minuten später hatte er im bauordnungsrechtlichen Verfahren gegen Linda Franzen sein Einvernehmen nach § 18 Bundesnaturschutzgesetz erklärt. Als Nächstes machte er sich daran, eine Stellungnahme aufzusetzen, in der er darlegte, dass und warum ein Windpark in der Unterleutner Heide keine Schäden an bestimmten Arten, insbesondere an den Lebensräumen der geschützten Kampfläufer verursachen würde, mithin naturschutzrechtlich unbedenklich sei. Die Größe des Selbstverrats ließ ihn frösteln. Jede Formulierung schnitt er sich wie mit Rasierklingen aus dem Gehirn. »Unter Berücksichtigung aller Umstände … in Abwägung zwischen dem Staatsziel des Artenschutzes und den berechtigten Anliegen der Energiewende … teilt die Naturschutzbehörde nach nochmaliger Prüfung mit …«

Während der Buchstabenwurm auf dem Monitor wuchs, schwor sich Gerhard im Geiste, dass Gombrowski damit nicht durchkommen würde. Weder er noch Bodo Schaller noch die kleine Hexe Linda Franzen.



48 Kron


Er ließ sich Zeit mit dem Aussuchen. In aller Ruhe schritt er den Holzweg ab, der hinter den Gärten der Waldsiedlung verlief. Außer von Forstfahrzeugen wurde der Weg vom Tankwagen der Plausitzer Klärwerke benutzt, weil einige der Sammelgruben nur von der hinteren Grundstücksgrenze zugänglich waren. Mehrmals lief Kron hin und her, wobei er Abstecher in den Forst unternahm, um die Stämme einzelner Kiefern zu streicheln, als müsste er aus einer Herde braven Viehs ein paar Schlachttiere auswählen. Bäume konnten weder weglaufen noch kämpfen. Sie waren dazu verurteilt, zu wachsen und zu sterben, wie es dem Menschen gefiel. Im Grunde widerstrebte es Kron, sein Geld als Waldbesitzer zu verdienen. Der Holzernte wohnte etwas Unfaires inne. Er tötete Wesen, die älter waren als er selbst. Wenn er einen Saumschlag durchführen ließ und die mit Stämmen beladenen Forwarder aus dem Wald kommen sah, befiel ihn stets eine unbestimmte Traurigkeit. Nichts von dem, was er heute in seinen Wäldern pflanzte, würde er aufwachsen sehen.

Am liebsten hätte er sich für ein krankes oder schwächliches Exemplar entschieden, aber die meisten seiner Bäume erfreuten sich bester Gesundheit. Abgesehen davon wurde die Auswahl von den Bedingungen eingeschränkt. Der Baum musste schräg über den Weg fallen. Er durfte nicht zu dicht bei den anderen stehen, damit er im Sturz keinen Nachbarn mitriss. Auch nicht zu weit vorn, weil er sonst die rückwärtigen Zäune der Grundstücke gefährden würde. Schließlich markierte Kron eine hochgewachsene Kiefer mit blauer Kreide. Motorsäge, Helm und Handschuhe lagen bereit.

Statt gleich mit der Arbeit zu beginnen, setzte er sich auf die Erde, den Rücken an sein Opfer gelehnt, und streckte die schmerzenden Beine von sich. Es war sechs Uhr früh, in den Spinnennetzen zwischen den Farnen glänzte der Tau. Die Atmosphäre des frühmorgendlichen Waldes schloss ihn ein, jene besondere Stille, die keine war, sondern ein Konzert aus Geräuschen, die weder von noch für Menschen gemacht waren. Insekten summten, ein Specht klopfte, ein Eichelhäher warnte, irgendwo schlug eine verwirrte Nachtigall. Kron spürte, wie er zum ersten Mal seit Tagen zur Ruhe kam.

Den Wald hatte er schon geliebt, lange bevor er ihm gehörte. Ganz anders als in der Welt der Menschen besaß hier alles einen Sinn. Was existierte, bot einem anderen Wohnung oder Nahrung. Was verging, diente dem Überleben des Nächsten. Sterben bedeutete hier keinen Skandal. Es war nur eine unter vielen Funktionen des Seins. Im Wald gab es Töten ohne Hass, Fortpflanzung ohne Liebe, Kooperation ohne Gesetze, Ernährung ohne Wissenschaft und Lebensfreude ohne Philosophie. Im Wald herrschte eine gelassene Zweckmäßigkeit, der sich Kron mit erleichtertem Aufatmen überließ. Für eine Weile durfte er aufhören, eine Persönlichkeit zu sein und deshalb alles persönlich zu nehmen. Er konnte einfach am Fuß einer Kiefer sitzen und sich ohne jede Anstrengung logisch fühlen.

Dass der Flecken, auf dem er saß, zu seinem Eigentum gehörte, bereitete ihm zusätzliche Befriedigung. Er empfand besondere Sympathie für Käfer und Ameisen, die auf seinem Grund herumkrabbelten. Er liebte die unzähligen Vögel, Hasen, Rehe, Füchse und Hirsche, die alle seine Untermieter waren. Selbstverständlich hätte der Wald über die Idee, im Eigentum eines anderen zu stehen, nur gelacht. Trotzdem bedeutete es Kron etwas, ein Gebiet von der doppelten Ausdehnung Unterleutens zu besitzen. Hinter seiner ständig auf kleiner Flamme brodelnden Wut wohnte ein heimliches Einverständnis mit den Dingen. Niemals hätte er zugegeben, dass er um keinen Preis mit Gombrowski tauschen wollte. Aber die Wahrheit war, dass ihm schon die Vorstellung, Gombrowskis großes Haus zu bewohnen, umgeben von einer verholzten Ehefrau, einer eingeschrumpften Geliebten, einer entlaufenen Tochter und einem sabbernden Hund, den Magen umdrehte. Dagegen erschien ihm sein einsames, spitzgiebeliges Jagdhaus wie ein Stück vom Paradies. Nachts hörte er das Rauschen der Bäume und das Miauen der Eulen und manchmal den Todesschrei eines Beutetiers.

Bäume besaßen keine Vergangenheit. Auch Käfer und Ameisen, Vögel, Hasen oder Rehe hielten sich nicht mit dem auf, was hinter ihnen lag, sondern folgten den Befehlen des jeweiligen Augenblicks. Nur der Mensch wollte das Leben partout als Straße und nicht als Zustand verstanden wissen, weshalb er sich selbst und andere mit Ereignissen quälte, die schon stattgefunden hatten oder noch kommen sollten. Wenn nichts und niemand außer dem Menschen so etwas wie Vergangenheit kannte, lag die Vermutung nahe, dass es sich um eine menschliche Erfindung handelte. Wer Kron für einen Ewiggestrigen hielt, einen Rückwärtsgewandten, der sein Heil im Gewesenen suchte, befand sich im Irrtum. Im Gegenteil war er in der Lage, ein armes Schwein wie Schaller zu beneiden. Auch er hätte statt eines Beines lieber das Gedächtnis verloren. Dann hätte er sich Kathrin gegenüber darauf berufen können, dass er sich an nichts erinnerte.

Gestern Abend war sie gegen sieben im Jagdhaus erschienen, ohne Krönchen, ohne Wäschekorb oder Einkaufstüten. Sie musste gleich nach der Arbeit zu ihm gefahren sein. Äußerlich ruhig, von innen aber wie mit schwelender Glut durchsetzt. Den Most aus eigener Pressung hatte sie abgelehnt. Setzen wollte sie sich auch nicht. Sie kam gleich zur Sache. Vor ein paar Jahren hatte sie schon einmal versucht, ihn wegen des Schicksalstags und Gombrowski zur Rede zu stellen. Damals ohne Erfolg. Kron wusste, wie man Fragen nicht beantwortete, er hatte sein halbes Leben nichts anderes getan. Aber diesmal meinte Kathrin es ernst. Als er ein paar Bemerkungen darüber probierte, dass die Vergangenheit doch ohnehin nichts weiter als eine Erfindung des Menschen sei, wurde sie wütend. Mit großen Schritten lief sie durch die Wohnstube des Jagdhauses und bombardierte ihn mit Fragen, als ginge es um Leben und Tod.

Warum er an jenem Novembertag des Jahres 1991 gemeinsam mit Erik Kessler in den Wald gegangen sei. Ob er sich mit Gombrowski getroffen habe. Wer noch dabei gewesen sei. Ob sie gestritten hätten. Wo Gombrowski sich aufhielt, als der Ast herabstürzte.

Als Kron wissen wollte, warum sie nicht gleich zu Gombrowski gehe, wenn sich 90 Prozent ihrer Fragen um Gombrowski drehten, schrie sie ihn an. Sie habe ein Recht auf die Wahrheit. Denn die Vergangenheit sei dabei, ihre Zukunft zu zersetzen wie ein langsam wirkendes Gift.

Es war typisch für Kathrin, gleich nach einem Schuldigen zu suchen, wenn etwas nicht so lief, wie sie es wünschte, und nach alter Familientradition war Kron an allem schuld. Er konnte es ihr nicht verdenken. Zum einen wurden alle Eltern schuldig an ihrem Nachwuchs, schließlich hatten sie die Kinder ungefragt gezeugt und zur Welt gebracht. Zum anderen hatte er Kathrin die Mutter genommen, indem er es nicht schaffte, attraktiver zu sein als ein Leben im Westen. In alter Gewohnheit war er auch diesmal davon ausgegangen, dass Kathrins Fragen einzig dem Zweck dienten, ihm die Schuld an Krönchens Verschwinden in die Schuhe zu schieben. Alles sollte eine Folge des alten Streits zwischen Kron und Gombrowski sein. Das war Kathrins Logik: Wenn Kron endlich bereit wäre, die ewige Fehde ruhen zu lassen, müssten sie und Krönchen nicht für seine Sturheit büßen.

In diesem Fall aber hatte er keine Lust gehabt, den Sündenbock zu spielen. Selbst wenn es ein geheimes Gesetz gab, nach dem man für die Taten seines schlimmsten Feindes verantwortlich war, lag die Sache anders. Aus einem simplen Grund: Gombrowski war unschuldig. Seit Kron wieder klar denken konnte, wusste er, dass die Entführung eines Kindes nicht zum Stil seines Widersachers passte. Abgesehen davon kannte er seine Enkelin gut genug, um zu ahnen, was passiert war. Das Mädchen hatte sich in Hildes Haus versteckt, um ihren Eltern eins auszuwischen. Eingeschlafen war sie mit Sicherheit nicht. Vielmehr reichte ihr starker Wille mühelos für ein paar Stunden Trotz. Kron konnte das Mädchen vor sich sehen, mit geballten Fäusten im Versteck kauernd und sich an der Vorstellung berauschend, wie Kathrin und Wolfi alle Gemeinheiten bereuten, die sie ihr jemals angetan hatten. Erst als die Kleine schließlich nach Hause zurückkehrte, verstand sie, was sie angerichtet hatte. Sie hatte Angst bekommen und gelogen. Gut möglich, dass die ganze Geschichte Gombrowski zupass kam, aber eingefädelt hatte er sie nicht.

Für Kron selbst machte das wenig Unterschied. Dass er noch in derselben Nacht Gombrowskis Fenster mit Keramikfröschen eingeworfen hatte, stand nicht mit der Frage in Zusammenhang, was Gombrowski tatsächlich getan hatte, sondern nur damit, wonach es aussah. Genauso stellte Gombrowskis anschließender Angriff auf Kron keinen Ausdruck von Hass, sondern von Logik dar. Warum die seltsame Pferdefrau eingegriffen hatte, obwohl sie mit Gombrowski unter einer Decke steckte, wusste Kron nicht; das gehörte zur Welt der Zugezogenen und damit zu den Dingen, die er nicht verstand. Die Behauptung des Dorffunks, es habe sich bei der Rettungsaktion um eine Inszenierung von Seiten Gombrowskis gehandelt, hielt Kron für unwahrscheinlich. Aber da ihm diese Sichtweise nützte, widersprach er nicht.

Letztlich waren die Einzelheiten der Angelegenheit vollkommen gleichgültig. Im Grunde zählte nur eine schlichte Tatsache. Gombrowski würde für Krönchens Verschwinden bezahlen und wusste das. Die Menschen, die das begriffen, waren alt. Die Jüngeren wie Kathrin erhoben Anklage ohne die geringste Ahnung.

Genau das hatte er ihr gesagt. Schon während er sprach, wunderte er sich darüber, dass sie ihn ausreden ließ. Sie hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt, als würde sie tatsächlich zuhören. Nur einmal unterbrach sie ihn mit einer Nachfrage:

»Du glaubst also, Gombrowski hat nichts damit zu tun?«

Der fehlende Widerspruch ließ Krons Rede versiegen. Verunsichert schaute er seine Tochter an. Sie legte einen Finger an die Nase, als wollte sie eine Brille hochschieben, die sie gar nicht besaß, und sagte:

»Es ist wichtig für mich, Papa. Ich muss herausfinden, ob das hier noch mein Zuhause ist.«

Da durchfuhr ihn ein kalter Schreck. Plötzlich erkannte er, worum es tatsächlich ging – nämlich um alles. Kathrin befand sich jenseits der Schuldfrage. Sie dachte darüber nach, Unterleuten zu verlassen. Für Kron war diese Vorstellung viele Male schlimmer als der Tod. Nachtschwarz wie ein Abgrund tat sich vor seinem inneren Auge das Dilemma auf. Weil seine Tochter erstmalig in Erwägung zog, den Streit mit Gombrowski nicht nur für ein Hirngespinst zu halten, erschien ihr das Dorf plötzlich als unsicherer Ort. Wenn Gombrowski tatsächlich so schlimm war, wie Kron immer behauptet hatte, wollte sie nicht mehr hier leben. Mit anderen Worten: In dem Augenblick, da Kathrin aufhören würde, ihren Vater für verrückt zu halten, würde er sie verlieren. Fast hätte Kron gelacht. Sollte es doch einen Gott geben, hatte der gewiss helle Freude an dieser Zwickmühle.

Langsam hatte er sich aus seinem Sessel erhoben, noch langsamer war er auf Kathrin zugegangen, um seinem mit zehnfacher Geschwindigkeit arbeitenden Gehirn Zeit zu geben, eine Lösung zu entwickeln. Als er seine Tochter erreicht hatte, war er zu einem Ergebnis gekommen.

»Los«, sagte er, griff nach dem Krückstock und führte Kathrin aus dem Haus.

Sie hatten kaum zehn Minuten zu gehen. Kron verzichtete auf den Umweg über den Plattenweg und wählte die kürzeste Strecke direkt durchs Unterholz, schonte Ameisenhaufen, wich Brombeerbüschen aus, stieg mithilfe des Krückstocks über Fallholz. Es gab kein Gelenk in seinem Körper, das nicht schmerzte. Die Anstrengungen des vergangenen Wochenendes steckten ihm in den alten Knochen. Aber wenn es darauf ankam, einen Wald zu durchqueren, machte niemand der Familie Kron etwas vor. Selbst Krönchen verfügte bereits über die Trittsicherheit einer Gemse.

Der kurze Spaziergang gab ihm Gelegenheit, ein wenig Ordnung in seine Überlegungen zu bringen. Das Ergebnis stand fest: Die Zeit des Schweigens war vorbei. Er würde alles daransetzen, Kathrin und Krönchen in Unterleuten zu halten, und er wusste auch schon, was er dazu brauchte: eine Lüge.

Sie erreichten jene Lichtung, die dafür gesorgt hatte, dass Gombrowski heute in seinem Luxushaus vor dem Flachbildfernseher saß, während Kron mit seiner Tochter im Wald stand – und nicht umgekehrt. Obwohl weiches Gras den Boden bedeckte, so gleichmäßig, als würde es von einem Gärtner gepflegt, fiel Kron das Weitergehen schwer. Vor seinen Füßen verwandelte sich ein trockenes Blatt in einen Laubsänger und flog auf; neben ihm stieß Kathrin einen leisen Schreckenston aus; offensichtlich war sie genauso angespannt wie er. Zwanzig Jahre lang hatte Kron diesen Ort auf seinen Streifzügen gemieden, jetzt lag die Lichtung unschuldig in der Abendsonne. Alles war schmeichelndes Licht, Moosgeruch und Vogelgesang. Kron wusste nicht, worüber er sich wunderte. Vielleicht hatte er heimlich geglaubt, auf der Lichtung tobe bis zum heutigen Tag das infernalische Gewitter. In der Mitte der Grasfläche stand die Buche, noch ein Stück breiter als damals und augenscheinlich völlig unverletzt. Kron kannte die Selbstheilungskräfte der Bäume. Der Wald hatte nichts zu erzählen, und genau dafür liebte er ihn.

Gemeinsam traten sie unter den Baum und legten die Köpfe in den Nacken. Ein Ringeltauben-Pärchen saß auf einem Ast, beugte sich vor und starrte zurück, bis es den Vögeln unheimlich wurde und sie davonflogen.

»Ich sehe nichts«, sagte Kathrin.

»So ist das beim Blick in die Vergangenheit«, sagte Kron.

Bevor sie wieder wütend werden konnte, streckte er den Arm aus und zeigte auf eine Stelle im mittleren Drittel, wo das Blattwerk dichter und die Strukturen ein wenig unklar wirkten.

»Da«, sagte er. »Die Wunde ist vernarbt und überwuchert. Dabei hat der Ast damals ein großes Stück vom Stamm mitgerissen.«

»Gab es eine Untersuchung?«, fragte Kathrin.

»Nachdem die Polizei den Ast gesehen hatte, stellte sie nicht mehr viele Fragen. Fremdeinwirkung ausgeschlossen.«

»Aber Gombrowski.« Kathrin stand jetzt vor ihm. Zu allem Überfluss griff sie nach seinen Händen. Kron spürte, wie sich seine Unterarme verkrampften. Er liebte seine Tochter, aber in körperlicher Nähe hatte er wenig Übung. »Erzähl mir, was passiert ist, Papa. Ich werde dich nicht unterbrechen.«

Kron räusperte sich. Dass er genau wusste, was er erzählen musste, machte die Sache nicht leichter.

»Bitte.« Kathrin klang nicht erbost, nicht einmal ungeduldig. Flehend sah sie ihn an. »Wo stand Gombrowski? Wie kommt es, dass er nicht vom Ast getroffen wurde? Hat er euch angegriffen? Lag Erik vielleicht schon verletzt im Gras, und du hast versucht, ihn zu retten, als der Ast herabstürzte?«

Kron hatte damit gerechnet, dass sie eine Theorie besaß, aber nicht damit, dass ihre These ihn zum Helden machte. Für einen Moment konnte er sehen, was sie sich vorstellte – ein rührendes Bild: Wie er im strömenden Regen verzweifelt versuchte, den verletzten Erik von der Buche wegzuziehen. Wie sich das Gewitter zum Inferno steigerte. Wie Kron trotzdem nicht aufgab, bis der Blitz einschlug und der gewaltige Ast beide unter sich begrub.

Leider konnte nichts falscher sein als diese Version. In dem Augenblick, als ein ohrenbetäubender Knall die Luft zerriss und ein riesiger Schatten aus der Buche herabstürzte, war Kron gerade dabei gewesen, in besinnnungsloser Wut auf seinen Gegner einzuschlagen. Unzählige Male hatte er sich seitdem gefragt, ob er in seinem Kampfrausch überhaupt mitbekommen hatte, dass Erik unter dem Ast begraben lag. Die Antwort war er sich schuldig geblieben, vielleicht, weil sie zu schrecklich war. Fest stand, dass er nicht den Hauch eines Versuchs unternommen hatte, dem Freund zu helfen.

Trotzdem hatte er sich immer gewünscht, vor seiner Tochter als Held dazustehen. Zwanzig Jahre lang hatte sein Schweigen Platz für jede erdenkliche Legende gelassen; Krückstock und Hinken hatten als stumme Herolde fungiert. Und jetzt, da Kathrin endlich glaubte, was sie stets hatte glauben sollen – jetzt musste er widersprechen. Er brauchte eine Version, die Gombrowski entlastete, auch wenn das bedeutete, sich vor Kathrins Augen endgültig in einen Popanz zu verwandeln.

»Gombrowski hatte dich um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Richtig?«

»Er wollte mir die Kapitulation abkaufen. Ich sollte den Widerstand gegen die LPG-Umwandlung aufgeben und dafür ein Stück Wald bekommen.«

»Deshalb hat er dich hierherbestellt. Um mit dir das angebotene Gebiet abzuschreiten.«

»Mir schien das merkwürdig. Schließlich kam es nicht auf konkrete Flurstücke an. Kein Mensch macht in solchen Fällen eine Waldbegehung.«

»Also hast du Erik mitgenommen. Als Verstärkung.«

Kron nickte. Bis hierher war die Geschichte bekannt. Zuletzt hatte er sie Kathrin vor ein paar Jahren erzählt und wie immer behauptet, sich an alles Weitere nicht zu erinnern. Heute würde er zum ersten Mal die selbstgezogene Grenze überschreiten, wenn auch nicht in Richtung Wahrheit.

»Okay, Papa. Dann kam das Gewitter.« Kathrin hatte seine Hände endlich losgelassen, weil sie die eigenen für ermutigende Gesten brauchte. Ein bisschen kam sich Kron vor wie ein Vieh, das auf den Transporter zum Schlachthof gescheucht werden sollte.

»Es donnerte schon, als wir gegen halb fünf das Dorf verließen«, sagte er. »Der Wind stand massiv aus Osten, mindestens 60 km/h. Während wir in den Wald eindrangen, holte das aufziehende Wetter uns ein. Es wurde dunkel wie in der Nacht.«

»Regnete es?«

»Wie aus Kübeln.«

»Ihr habt Schutz unter dem Baum gesucht«, sagte Kathrin, fasste Kron am Arm und drehte ihn so, dass sie beide mit dem Rücken zum Stamm standen. »Buchen sollst du suchen.«

»Was übrigens völliger Unsinn ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein glatter Buchenstamm bei durchgängig feuchter Rinde …«

»Ich weiß, Papa. Ich weiß. Wo ist Gombrowski?«

»Wie bitte?«

»Gombrowski, Papa! Wann kommt er hinzu? Zeig mir die Stelle, an der er steht. Hier, direkt vor uns? Oder weiter drüben, da vorn vielleicht, wo es zum Plattenweg geht?«

Krons Blick wanderte über die Lichtung und direkt in die Vergangenheit. Es ist dunkel und der Regen so stark, dass die Sicht verschwimmt. Im Sturm verneigt sich der Wald nach Westen, als wohne dort ein Wesen, das es um Gnade anzuflehen gilt. Am südlichen Rand der Lichtung tritt eine Gestalt zwischen den Bäumen hervor. Groß, schwer, von einem zeltförmigen Regenmantel verhüllt, auf dem Kopf ein Wachshut mit breiter Krempe, die das Gesicht beschattet.

»Gombrowski kommt nicht«, sagte Kron.

Es dauerte eine Weile, bis Kathrin den Sinn dieser Worte begriff. Kron konnte förmlich sehen, wie sich die Räder in ihrem Kopf widerwillig drehten. Zweifelnd schaute sie ihn an. Dabei hatte er bis jetzt noch gar nicht gelogen. Der Mann unter der Hutkrempe war nicht Gombrowski gewesen.

»Wie meinst du das, er kommt nicht?«

Kron zuckte die Achseln. Gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass es höchste Zeit war, eine schuldbewusste Miene aufzusetzen. Er wandte das Gesicht ab, sah zu Boden und tat so, als untersuche er etwas mit der Stiefelspitze im Gras.

»Vielleicht dachte er, dass unsere Verabredung bei dem Unwetter nicht mehr gilt«, sagte er. »Wer geht schon bei strömendem Regen in den Wald.«

»Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich richtig verstanden habe«, sagte Kathrin. »Kam er später?«

»Er ist überhaupt nicht aufgetaucht.« Kron hielt den Blick zu Boden gerichtet. Tatsächlich verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, seine Tochter anzusehen.

»Und dann?«, fragte Kathrin.

Dann hatte Kron den Mann unter der Hutkrempe erkannt und begriffen, dass Gombrowski ihnen einen Schläger geschickt hatte. Auf der Lichtung im Wald sollten keine Verhandlungen geführt, sondern Denkzettel erteilt werden. In Kron war eine Wut aufgestiegen, die ihm die Sinne raubte. Seit der Wende und besonders seit der Sache mit der LPG-Umwandlung hatte sich die Stimmung in Unterleuten immer weiter aufgeheizt. Die untergegangene DDR hatte alte Stillhalteabkommen mit in den Abgrund gerissen. Plötzlich standen die Menschen gegeneinander auf. Verratene gegen Verräter. Betrogene gegen Betrüger. Erniedrigte gegen Unterdrücker. An den alten Mustern hatte der Sozialismus nicht das Geringste ändern können. Arbeiter blieben Arbeiter und Landbesitzer blieben Landbesitzer. Kaum zeigte sich die Gelegenheit, entblößte Gombrowski sein Junkergesicht. Dazu passten die klassischen Methoden: Aufmüpfige Leibeigene wie Kron bezogen Prügel. Was da im Regenmantel auf ihn zukam, war nicht nur Gombrowskis schlagkräftigster Handlanger. Es war die personifizierte Ungerechtigkeit.

In ihrer Heftigkeit hatte Krons Wut dem Gewitter an nichts nachgestanden. Er sah nicht, dass Gombrowskis Abgesandter doppelt so schwer war wie er selbst. Er sah die kurze Eisenstange nicht, die aus dem Ärmel des Regenmantels ragte. Er sprang los wie ein Raubtier, das Blut gerochen hat. Die Gnadenlosigkeit seiner Attacke machte den Angreifer zum Opfer. Der schwere Mann ging zu Boden, verfing sich im Regenmantel und wälzte sich, den Kopf mit den Armen schützend, im nassen Gras. Minutenlang behielt Kron die Oberhand. Er ließ nicht ab, als Blitz und Donner in eins zusammenfielen und hinter ihm das Krachen von splitterndem Holz erklang. Was auch immer er wirklich gesehen und gehört hatte – in diesem Augenblick wusste er nichts von Erik und von herabstürzenden Ästen. Er prügelte wie ein Besessener und hatte alles andere um sich herum komplett vergessen.

»Dann haben wir gewartet«, sagte Kron.

»Auf Gombrowski?«

»Das Gewitter war so laut, dass wir schreien mussten, um uns zu verständigen. Ich schrie: Fünf Minuten, dann hauen wir ab. Erik schrie: Alles klar. – Das waren seine letzten Worte.«

Kathrin schwieg, perplex.

»Und dann«, fragte sie noch einmal, zaghafter.

»Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall.«

»Und der Ast stürzte herab?«

Kron nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln.

»Ich denke, ich habe sofort das Bewusstsein verloren.«

»Du meinst: Das ist alles?«

Wieder blickte Kron zu Boden und bohrte mit der Fußspitze im Gras.

»Einfach nur ein Unfall?«, fragte Kathrin. »Gombrowski hatte überhaupt nichts damit zu tun?«

Es verging eine nicht unbeträchtliche Menge völlig leerer Zeit.

»Oh, Papa«, sagte Kathrin dann. »Das Dorf denkt seit zwanzig Jahren, dass Erik ermordet wurde und dass man dir das Bein zertrümmert hat. Und dass Gombrowski schuld daran ist.«

»Das habe ich nie behauptet«, sagte Kron leise.

»Du hast alle in dem Glauben gelassen.«

Kron schwieg. Der wichtigste Teil der Lüge bestand darin, an dieser Stelle nicht weiterzusprechen. Nicht davon zu erzählen, wie seine Kräfte nachgelassen hatten. Wie der Riese im nassen Gras die Chance erkannt und sich mühelos aufgerichtet hatte, nahezu unverletzt, Kron abschüttelnd wie eine Fliege. Ein paar gezielte Schläge, und Kron lag hilflos auf dem Rücken, betäubt, aber noch bei Bewusstsein. Er erinnerte sich daran, wie sich sein Angreifer über ihn beugte. Die leicht hängende Unterlippe, der ausdruckslos stierende Blick. Bodo Schaller, der Mann fürs Grobe. Kron sieht, wie er sich aufrichtet und den Arm hebt. Die Eisenstange fährt durch die Luft, einmal, noch einmal, immer wieder. Schmerzen empfindet er nicht. Trotzdem weiß er, dass es sein rechtes Bein ist, das getroffen wird. Sein Gehirn funktioniert einwandfrei. Es denkt: Das Schwein schlägt mich zu Brei. Und: Wo ist Erik?

Irgendwann wird er durchs Gras geschleift, sein Körper vollkommen gefühllos, das Bewusstsein bereits am Rand zur inneren Nacht. Der heruntergebrochene Ast zeigt die Silhouette eines riesigen schwarzen Insekts. Schaller steigt in das Wirrwarr aus zerbrochenen Zweigen, zerrt Kron mit sich, lässt ihn zu Boden plumpsen und schiebt ein paar Äste über ihn.

Das Letzte, was Kron sieht, ist ein dunkler Körper neben sich, ein nasses Bündel unter den Trümmern der hölzernen Explosion. Er streckt die Hand aus, erreicht einen Ellbogen oder ein Knie. Rüttelt daran. Sagt einen Namen, Erik, mehrmals, und erhält keine Antwort. Dann verliert er das Bewusstsein.

Kron konnte nicht ewig seine Schuhspitze betrachten. Irgendwann musste er den Blick heben, um seiner Tochter ins Gesicht zu sehen. Als es passierte, wünschte er, es nicht getan zu haben. Die Mischung aus Enttäuschung und Entsetzen in ihrer Miene schnitt ihm ins Herz, dass er nach Luft schnappte. Als Vater war er längst beerdigt. Nun starb auch die Hoffnung, in Kathrins Augen als Mensch zu bestehen.

»In all den Jahren«, begann Kathrin, »wenn du mit deiner Krücke herumgefuchtelt hast, um zu zeigen, dass du ein Opfer bist, immer, wenn einer wagte, an dir zu zweifeln – hast du dich da eigentlich nie geschämt? Erik gegenüber?«

An dieser Stelle entfuhr Kron ein Schmerzenslaut, den er in einen Hustenanfall verwandelte. Er wusste nicht, in wie vielen Nächten er sich gefragt hatte, ob er Erik hätte retten können, wenn er sich beherrscht hätte, statt sich wie ein Irrer in einen sinnlosen Zweikampf zu stürzen. Das kaputte Bein war Eriks Mahnmal und Gombrowskis Anklage und als Strafe doch nicht schwerwiegend genug, um Krons Schuld zu tilgen.

Plötzlich lächelte Kathrin. »Der böse Gombrowski ist also eine Erfindung.« Das Lächeln vertiefte sich. Langsam begann die Bedeutung der Geschichte in ihren Verstand einzudringen. »Jetzt weiß ich, warum du so sicher bist, dass er nicht hinter Krönchens Verschwinden steckt. Stimmt’s Papa? Sieh mich an und sag es mir.«

Da musste sich Kron mit dem Ärmel übers Gesicht wischen, um zu verbergen, dass ihm die Tränen kamen. In voller Überzeugung konnte er noch einmal versichern, dass Gombrowski mit Krönchens Verschwinden nichts zu tun hatte. Es gab überhaupt keinen verbrecherischen Gombrowski, sondern nur einen halb verrückten Kron, der jahrelang einen tragischen Unfall benutzt hatte, um sich zum Opfer eines Komplotts zu stilisieren. Für Kathrin war das vielleicht Grund zur Erschütterung, aber kein Grund, Unterleuten zu verlassen. Kron hatte gewonnen. Er hatte sich zum peinlichsten Hanswurst unter der Sonne gemacht, aber im Gegenzug würde er Tochter und Enkelin behalten. Dafür war ihm kein Preis zu hoch.

»Okay, Papa«, sagte Kathrin. »Ich glaube, ich muss jetzt ein bisschen nachdenken. Vielen Dank für deine Ehrlichkeit.«

Mit diesen Worten hatte sie die Lichtung verlassen, auf der Kron allein und erschöpft, aber friedlich zurückgeblieben war.

Seit dem Gespräch mit Kathrin waren zwei Tage vergangen. Sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet, was er als gutes Zeichen wertete. Je länger sie keine Lust verspürte, ihn zu sehen, desto sicherer konnte er sein, dass sie ihre Angst vor Gombrowski begraben hatte. Außerdem konnte er auf diese Weise in Ruhe seinen Geschäften nachgehen.

Jetzt war es 6:30 Uhr und Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Kron streckte sich und stand auf, wobei Rücken, Hüfte, Schulter und rechtes Bein schmerzhaft rebellierten. Mit geübten Bewegungen legte er Helm und Handschuhe an und machte die Motorsäge startklar. Er hatte bis halb sieben gewartet, um Kathrin nicht vor der Zeit zu wecken. Jetzt gerade war sie damit beschäftigt, in der Küche das Frühstück für die Familie vorzubereiten. Die Vorstellung, wie ihr nichtsnutziger Ehemann beim Aufheulen der Säge aus dem Bett fallen würde, bereitete Kron Vergnügen. Auch Arnes alarmierte Verwunderung stellte er sich gerne vor. Kathrin würde nur den Kopf heben und sich fragen, ob ein Holzdieb zugange war oder ob ihr Vater einen Schlag durchführte, von dem sie nichts wusste.

Noch einmal schätzte er die leichte Schräglage der Kiefer, die der geplanten Fallrichtung entgegen stand, aber durch den einseitig ausgeprägten Astbewuchs ausgeglichen wurde. Die Rückzugsbahn war frei; mit krummem Wuchs oder unregelmäßigen Wurzelansätzen bekam man es bei Kiefern normalerweise nicht zu tun. Mit einem einzigen geübten Ruck startete Kron die Motorsäge, ging in die Knie und machte sich daran, die Fällkerbe zu setzen. Er tat es mit kühlem Kopf, ohne eine Spur von Hass. Seine einzige Empfindung war ein leichtes Bedauern, von dem er nicht hätte sagen können, ob es sich auf die Kiefer oder auf sein eigenes Leben bezog.



49 Fließ-Weiland


Eine gute halbe Stunde hatte Jule mit Sophie auf der Veranda des Jagdhauses gesessen und gewartet. Als Kron erschien, erhob sie sich und stand wie eine Gastgeberin vor dem Eingang, während der eigentliche Hausherr in der Rolle eines zögernden Besuchers in mehreren Schritten Entfernung verharrte. Er trug eine Motorsäge, einen Gummihammer und ein sauber aufgenommenes Seil unter dem Arm. Auf dem Kopf saß ein Helm, der mit hochgeklappten Ohrenschützern und Schutzbrille überdimensioniert wirkte und ihn aussehen ließ wie ein Astronaut aus einem Zeichentrickfilm.

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