Aus Dunkelheit und Stille tauchte eine Erinnerung auf, eine Episode aus seiner Jugend, die er vergessen oder vielleicht verdrängt hatte. Nicht lange nach dem Brand im Kornspeicher, Gombrowski war dreizehn und fing gerade an, sich als Mann zu fühlen, hatte seine Mutter plötzlich beschlossen, sein Zimmer auszumisten und von jenen Spielsachen zu befreien, mit denen er sich schon lange nicht mehr beschäftigte. Sie drückte ihm eine Schachtel in die Arme mit der Anweisung, sie in den Keller zu bringen, hinab zu den zerbrochenen Stühlen und leeren Einmachgläsern, in das Endlager der wertlosen Dinge. Inmitten von Sperrmüll und Spinnweben hatte sich Gombrowski hingekniet und die Schachtel noch einmal geöffnet. Darin lagen seine Spielzeugsoldaten, übereinander und durcheinander, ohne Ordnung und Aufstellung, ohne Rücksicht auf Dienstgrad oder Funktion, ein wirrer Haufen von steifen Miniaturkörpern. Wie Nadelstiche spürte er die anklagenden Blicke aus hundert kleinen Augenpaaren: Wie kannst du uns das antun? Du hast uns doch geliebt, wir waren immer für dich da, du bist doch unser General? Was haben wir getan, dass du uns die Treue brichst? Auf diese Fragen gab es keine Antwort, und Gombrowski hatte begriffen, was es bedeutet, erwachsen zu werden: den größtmöglichen und zugleich unvermeidlichen Verrat. Aus diesem Keller war er schuldig zurückgekehrt, das Echo einer zuschlagenden Tür auf ewig im Ohr. Auch heute stand er wieder auf einer abwärtsführenden Treppe, nur dass er diesmal keine Spielzeugsoldaten, sondern sein gesamtes Leben in den Keller trug.

Als der Schwindel nachließ und die Erinnerung verblasste, geriet Gombrowski mit einem Mal doch in Eile. Er glaubte, dass seine bebenden Kiefer die Taschenlampe jeden Augenblick fallen lassen würden. Er traute seinen schmerzenden Armen nicht mehr. Er würde das Brennen seiner Augen, das Jucken des schweißnassen Nackens nicht mehr lange ertragen. Er hatte keine Ahnung, wie er es in diesem Zustand schaffen sollte, auf der senkrechten Leiter die komplizierte Operation durchzuführen, die ihm noch bevorstand.

Die nächsten Sprossen nahm er in großer Hast. So fest bissen seine Zähne in den Griff der Taschenlampe, dass ihm der Speichel aus den Mundwinkeln rann. Zwei Mal glitt ein Fuß ab, ein Mal verlor die linke Hand ihren Griff am blanken Stahl. Als er plötzlich festen Boden unter den Füßen spürte, erschrak er dermaßen, dass er fast gestürzt wäre. In der Panik glaubte er sekundenlang, der Brunnen sei trocken. Bis er sich zur Ruhe zwang, unter sich leuchtete und endlich begriff, dass der Untergrund dröhnte wie ein riesiger Gong, vom Schacht um ein Vielfaches verstärkt, weil er aus Metall bestand, nicht aus Beton. Vor Erleichterung hätte er fast zu weinen begonnen. Er befand sich auf einer kleinen Arbeitsplattform, von deren Existenz er nichts gewusst hatte. Sie würde sein heikles Vorhaben zu einem Kinderspiel machen.

Er ließ sich auf dem Rand der Plattform nieder, nahm die Lampe aus dem Mund und lockerte den verkrampften Kiefer. Etwa zwei Meter unter ihm stand der glatte schwarze Spiegel des Wassers, in dem die Steigleitungen verschwanden. Wenn er gegen die Rohre trat, lief ein Zittern über die Oberfläche. Alles war gut.

Er legte die Taschenlampe neben sich, sah auf die Uhr und erbrach ein Lachen, in das der Brunnen bereitwillig einstimmte. Es war früher Nachmittag an einem gewöhnlichen Mittwoch, der elfte Tag des Monats August im Jahr 2010. Diese Zahlen betrafen ihn nicht mehr. Sie meinten eine Welt, die hier unten keine Gültigkeit besaß. Gombrowski beugte sich vor, um eine Hand an die Steigleitungen zu legen. Das waren die Arterien, die ihn mit Unterleuten verbanden. Wenn der Brunnen in gut einer Stunde seine Ruhephase beendet und den Oxidationszyklus abgeschlossen hatte, würde die Pumpe zu arbeiten beginnen. Das Wasser würde durch die Rohre an die Oberfläche steigen, das Vorhaltereservoir auffüllen und von dort aus durch ein verzweigtes System aus Adern in sämtliche Haushalte Unterleutens gelangen. Gombrowski dachte an Fidi, Elena, Püppi und Hilde. Alle seine Frauen waren irgendwo da draußen, weit weg von hier, und führten ihre eigenen Leben, die er nicht mehr verstand. Von hier unten war es kaum vorstellbar, dass sie tatsächlich existierten. Er überlegte, ob es etwas zu bereuen gab, aber ihm fiel nichts ein. Es galt jetzt, die letzten Handgriffe zu erledigen.

Er krempelte die Ärmel auf, griff in die Seitentasche seiner Hose und holte ein Futteral hervor, dem er ein Skalpell entnahm. Die Taschenlampe klemmte er zwischen die Knie; das Skalpell fasste er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Weich glitt die Klinge über den rechten Unterarm. Die Haut öffnete sich widerstandslos und schmerzfrei, als hätte er einen Reißverschluss aufgezogen. Die Menge an Blut überraschte ihn nicht; sein erstes Schwein hatte er geschlachtet, als er noch keine sechzehn war. Er wechselte das Skalpell in die rechte Hand und wiederholte die Prozedur am anderen Arm. Dann ließ er das Messer fallen, es verschwand mit einem kleinen, zufriedenen Geräusch. Gombrowski knipste die Taschenlampe aus und warf sie hinterher. In völliger Dunkelheit beugte er sich vor, ließ die Arme hängen und spürte, wie ihm das Blut an allen zehn Fingern hinunterlief, begleitet von einem leisen Plätschern, wie ein Rinnsal in einer Tropfsteinhöhle. Sein Herz arbeitete auf Hochtouren, als hätte es seine wahre Bestimmung darin gefunden, das Blut so schnell wie möglich aus dem Körper zu pumpen. Immer noch kein Schmerz, nur das heiße Pulsieren der geöffneten Arme. Jetzt bedauerte er es, nicht auf den Einsatz der Unterwasserpumpe gewartet zu haben. Ein höllischer Spaß wäre es gewesen mitzuerleben, wie der Brunnen sein Blut in sich hineintrank, wie er es vibrierend und dröhnend verdaute und in die Duschen, Waschmaschinen, Geschirrspüler, Kaffeetassen und Nudeltöpfe des Dorfes spuckte. Aber darauf kam es im Grunde nicht an. Von nun an würde der Brunnen Tag für Tag Gombrowski fördern, sämtliche Körpersäfte und Substanzen in allen Phasen organischer Zersetzung, und Unterleuten würde Gombrowski trinken, essen und sich mit ihm waschen, während die Polizei nach seinem Verbleib fahndete. Bis man im Rahmen der nächsten Wartung eine Wasserprobe nehmen und einen aufgeschreckten Techniker die Leiter hinabschicken würde. Ein schöner Gedanke, an dem sich Gombrowski seit Tagen erfreute. Immer schwerer fiel es ihm, seine Sinne beisammenzuhalten. Sein Verstand geriet auf Abwege, gaukelte ihm vor, am Rand eines sonnigen Felds zu sitzen, auf dem sich schwer der Mais wiegte. Etwas Schwarzes fuhr ihm durchs Blickfeld. Dann raschelte es wieder im Mais, und Fidi sprang hervor, zeigte ihr lachendes Gesicht mit heraushängender Zunge, während sie einem Hasen hinterherjagte, und Gombrowski war überglücklich, sie zu sehen, neigte sich mit letzter Kraft nach vorn, immer weiter nach vorn, bis er kippte. Das Überwinden des Schwerpunkts ein kurzer Jubel. Der Fall entging ihm, aber das Ankommen war schön, denn unten befand sich kein Wasser, sondern Bilder, die ihn in sich aufnahmen, für immer.



62 Finkbeiner. Epilog


Einen Zufall kann man es nicht nennen, dass ich die Notiz auf Spiegel Online entdeckte. Schließlich öffne ich jeden Morgen sämtliche Beiträge der Rubrik »Panorama« und überfliege die Meldungen, während ich meine erste Tasse Kaffee trinke.

In einem Dorf der Ostprignitz im nordwestlichen Brandenburg war die Leiche eines Mannes aus einem Horizontalfilterbrunnen geborgen worden. Der 63-jährige Landwirt hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und danach unbestimmte Zeit in einem Schacht gelegen, aus dem das Trinkwasser für die angrenzende Gemeinde entnommen wird. Wie die Leiche in den Brunnen gelangt war, stand noch nicht fest. Aber im Grunde gab es nur eine Erklärung: Der Mann musste Selbstmord im Inneren des Brunnens begangen haben.

Ich weiß noch, dass ich mit wohligem Schauer innehielt und meiner Phantasie freien Lauf ließ: Nach zehn Tagen treten in der Region die ersten Fälle von Übelkeit und Durchfall auf. Zuerst glaubt man an eine grassierende Magen-Darm-Infektion, dann an einen Lebensmittelskandal, schließlich an eine geheimnisvolle Seuche. Irgendwann kommen die Behörden auf die Idee, das Trinkwasser zu kontrollieren. Tatsächlich wird Leichengift gefunden. Man lässt Taucher in den Brunnen hinab, die den Selbstmörder bergen. Der Körper ist grün und aufgedunsen wie ein Walfisch, der Leichensaft fließt aus allen Öffnungen. Ahnungslos hat das Dorf über Wochen hinweg seinen Landwirt getrunken. Eine Geschichte mit Zeug zur urban legend.

Normalerweise liest man solche Kurzmeldungen, denkt den berühmten Satz, dass das Leben die unglaublichsten Geschichten schreibt, und vergisst die Episode wieder. Aber die Leiche im Brunnen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Am Nachmittag fuhr ich in die Redaktion von Vesta, einem neu gegründeten Monatsmagazin, von dem ich gelegentlich Aufträge erhalte, und zeigte die Notiz meiner zuständigen Redakteurin. Besonders begeistert reagierte sie nicht. Wenn ich unbedingt hinfahren wolle – warum nicht. Ich könne dann ja bei Gelegenheit erzählen, ob an der Sache etwas dran sei.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Unterleuten, verbrachte drei Stunden im Märkischen Landmann und kehrte mit einer verwirrenden Sammlung von Informationen zurück. Windkraftanlagen sollten gebaut werden, ein junger Mann war bei einem Autounfall gestorben, ein älterer nach tätlichem Angriff ins Krankenhaus eingeliefert worden, eine Pferdefrau und eine Vogelfrau hatten das Dorf verlassen, es war zu einer Verhaftung gekommen, die Frau des Selbstmörders war verschwunden, ebenso wie ihr Hund, und einer gewissen Hilde waren zwanzig Katzen abhandengekommen, weshalb sie ebenfalls nicht mehr in Unterleuten lebte.

Die Redaktion sagte, das sei kein Stoff für eine Geschichte, sondern für einen Roman, und passe zudem thematisch nicht besonders gut ins Konzept von Vesta. Natürlich stehe es mir frei, der Angelegenheit auf eigene Faust nachzugehen. Wenn dabei eine magazintaugliche Reportage herauskomme, werde man zusätzlich zum Honorar die Kosten der Recherche übernehmen.

Die Kosten belaufen sich bis zum heutigen Tag auf 84 Regionalbahntickets im Wert von jeweils 10,40 Euro.

Ich war in Unterleuten. Ich habe mit jedem gesprochen, der zum Reden in der Lage war, mit den Hauptbeteiligten, aber auch mit Björn, Verena und Wolfi, mit einem Pressesprecher der Vento Direct und vielen anderen mehr. Ich habe Püppi Gombrowski in Freiburg und Krons Ex-Frau in Düsseldorf angerufen, ich habe Hilde Kessler im Altersheim besucht. Die transkribierten Interviews füllen zwanzig Aktenordner. An manchen Tagen geht mir das Blättern in den sperrigen Ordnern so sehr auf die Nerven, dass ich den Tag herbeisehne, an dem ich sie stapelweise ins Auto schleppen werde. Ich werde damit quer durch Berlin fahren und im absoluten Halteverbot direkt vor dem Redaktionsgebäude von Vesta parken. Der Portier wird mir nicht beim Ausladen helfen, weil er seinen Platz hinter der Glasscheibe nicht verlassen darf. Ich werde alle zwanzig Ordner nach und nach in den Fahrstuhl tragen, dabei einen Ordner verwenden, um die Tür zu blockieren, und meine Last auf diese Weise in die Redaktion transportieren, die mit der Erstattung der Recherchekosten das Eigentum an sämtlichen Unterlagen erworben hat. Inzwischen wird das Telephon des Portiers mehrmals klingeln, weil sich die Kollegen im siebten Stock über den blockierten Fahrstuhl beschweren.

Mit anderen Worten, ich habe eine Menge Material gesammelt. Sämtliche Beteiligten fühlen sich im Recht und verspüren deshalb einen starken Drang, ihre Version zu erzählen. Inzwischen kann ich behaupten, Unterleuten recht gut zu kennen, was nicht bedeutet, dass ich etwas verstanden habe. Manche Einwohner rufen mich immer noch an. Kathrin zum Beispiel, die nun doch ihren Job in der Pathologie aufgibt, nachdem sie von Arne das Bürgermeisteramt übernommen hat. Krönchen macht sich nicht so gut in der Schule, aber ich habe ihr von Anfang an gesagt, dass sie das Kind zu sehr verwöhnt. Den Namen des Dorfs musste ich ändern, ebenso die Namen von lebenden Personen, soweit diese darauf bestanden. Nicht allen war das wichtig. So heißt Gerhard Fließ tatsächlich Gerhard Fließ, aber Kathrin Kron heißt nicht Kathrin Kron.

Je mehr ich erfuhr, desto stärker erinnerte mich die Geschichte an mein Lieblingsspielzeug aus Kindertagen, ein rotes Kaleidoskop, in dem man Muster aus winzigen bunten Perlen betrachten konnte. Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus. Ich konnte stundenlang hineinsehen. Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen.

So behauptet Kathrin, ihr Vater sei an einer Intoxikation mit Leichengift zugrunde gegangen. Feststeht, dass er kurz nach Gombrowskis Tod erkrankte und sie ihn sechs Monate in seinem Haus im Wald gepflegt hat, bevor er im Februar 2011 im eigenen Bett verstarb. Dass Kron unter keinen Umständen bereit war, sich in ein Krankenhaus verlegen zu lassen, versteht sich von selbst. Sein Standardsatz lautete: »Wozu hat meine Tochter den Quatsch denn gelernt?«

Gerade als Medizinerin sollte Kathrin eigentlich wissen, dass so etwas wie Leichengift gar nicht existiert. Hätte Gombrowski vor lauter Hass beschlossen, sich eine Portion Rhizin in die Taschen zu stecken, wäre nicht nur Kron gestorben, sondern ganz Unterleuten, und das nicht erst nach sechs Monaten Pflege.

Laut Wikipedia sind die biogenen Amine, die beim Fäulnisprozess eines Kadavers entstehen, weitgehend ungiftig. In alten Zeiten funktionierte das klassische Brunnenvergiften mit Leichen aufgrund von bakteriellen Infektionen, vor allem in Phasen von Pest oder Cholera. Da manche Unterleutner ihr Wasser direkt aus der Leitung trinken, sind leichte Erkrankungen denkbar, weshalb nicht ausgeschlossen ist, dass Gombrowski tatsächlich nur aufgrund von Brechdurchfällen gefunden wurde. Auch wenn Arne hartnäckig bestreitet, dass es irgendwelche Symptome gegeben habe. Seiner Aussage nach kann Gombrowski nicht länger als drei Tage im Brunnen gelegen haben und war bei der Bergung weder verwest noch gequollen, sondern einfach nur blass, was Arne beschwört, weil er, wie er sagt, persönlich dabei war. Das deckt sich allerdings nicht mit dem Bericht der Gerichtsmedizin; zudem liegt Gombrowskis Verschwinden fast vier Wochen vor dem Tag seiner Entdeckung.

Wovon sich Kron nie wieder erholt hat, ist in Arnes Augen die Tatsache, dass Gombrowski ihm aus dem Jenseits eine lange Nase dreht, weshalb er ihm gar nicht schnell genug folgen konnte, um den Kampf in einer anderen Welt wiederaufzunehmen. Wenn ich in Unterleuten eins gelernt habe, dann dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat.

Von Frederik heißt es im Dorf, er sei tot, dabei habe ich ihn im letzten Herbst mehrmals im Krankenhaus besucht. Wie es zu dem Gerücht kam, liegt auf der Hand – beim Autounfall hat er sich das Genick gebrochen. Anscheinend fällt dem Schicksal auch nicht immer etwas Neues ein. Anders als Schaller hat Frederik immerhin das Gedächtnis nicht verloren. Gesundheitlich geht es ihm inzwischen wohl wieder recht gut. Die Polizei kam zum Ergebnis, dass es sich um ein selbstverschuldetes Unglück ohne Fremdeinwirkung gehandelt habe, und Frederik sagt, er habe nicht widersprochen. Er lag schon die achte Woche im Krankenhaus und hatte wieder angefangen, an seinem Konzept für ein digitales Naturschutzgebiet zu arbeiten, als die Nachricht kam, dass Traktoria an einen großen Spielekonzern verkauft wurde. Timo und Ronny wollen mit Weirdo und einem neuen Projekt richtig durchstarten, aber davon ein andermal.

Von Linda hat man im Dorf niemals wieder etwas gehört; laut Frederik ist sie nach Oldenburg zu ihrem Pferd zurückgekehrt. Die Villa Kunterbunt steht wieder zum Verkauf. Es heißt, sie bringe ihren Besitzern Unglück.

Aus der Untersuchungshaft wurde Gerhard Fließ bald wieder entlassen, da keine Fluchtgefahr bestand. Während er auf seinen Prozess wartet, lebt er wieder im Haus am Ortsrand mit Blick auf die Birnbaumallee. Das Gras im Garten ist sorgfältig gemäht, die Himbeeren wurden gegen Forsythien ausgetauscht. Die Anstellung beim Vogelschutzbund ist er los, aber es heißt, dass er als Aushilfe bei der Ökologica eingesprungen ist und sich inzwischen in der Leitung des Betriebs unverzichtbar gemacht hat. Böse Zungen sagen, dass Fließ in Betty die einzige Frau Unterleutens gefunden hat, die genauso jung ist wie Jule. Wobei Jule eher glaubt, dass Bettys Attraktivität in ihrem Erbe besteht. Wahrscheinlich will Gerhard bei der Ökologica einen Fuß in die Tür kriegen, bevor er vielleicht eine Weile ins Gefängnis muss.

Jule ist das alles erstaunlich gleichgültig. Sie bereitet ihre Doktorarbeit vor, in der sie eine moderne Soziologie des Ruralen entwickeln will, hat die Scheidung eingereicht und sich eine kleine Wohnung in Schöneberg genommen. Gegen Gerhards Besuchsrecht wehrt sie sich bislang mit Erfolg. Manchmal ist Sophie vormittags ein paar Stunden bei mir, wenn Jule in die Bibliothek muss. Ab dem Sommer bekommt sie ein Stipendium, und einen Krippenplatz für Sophie hat sie dann auch. Zwischen uns hat sich eine Freundschaft entwickelt, von der ich hoffe, dass sie die Arbeit an der Geschichte überdauert.

Von Betty weiß ich, dass Hilde im Altersheim eine Katze halten darf, die sie immer öfter zu füttern vergisst. Krönchen fährt schon allein mit dem Bus in die Grundschule nach Plausitz und spricht davon, dass sie später Jäger werden und im Haus ihres Großvaters leben will. Elena ist weder für die Beerdigung ihres Mannes noch für Räumung und Verkauf des Hauses nach Unterleuten zurückgekehrt. Ich stelle mir gern vor, dass sie wenigstens nach Hannover ins Tierheim gefahren ist, um Fidi zu sich nach Freiburg zu holen; leider handelt es sich dabei vermutlich um eine reine Wunschphantasie. Vor ein paar Tagen fand ich im Internet eine kurze Notiz zu einem Theaterstück namens »Fallwild« von Wolf Hübschke. Es dreht sich um eine Dorfgemeinschaft, die am Streit über ein paar Windräder zerbricht, und wurde an einer kleinen Bühne in Graz uraufgeführt. Die Rezensionen sind spärlich und mittelmäßig, vermutlich wird das Stück bald wieder abgesetzt.

Seltsamerweise denke ich am häufigsten an Schaller. Daran, wie er allein in einem ansonsten unbesetzten Mehrbettzimmer des Plausitzer Krankenhauses liegt, kein Buch liest, nicht fernsieht, sondern immer nur unverwandt aus dem Fenster schaut, mit dem leeren Blick eines Tiers, das nicht versteht, warum es geschlagen wird. Er wartet darauf, dass sein Körper die Metallplatten im rechten Oberschenkel akzeptiert, und lauscht währenddessen auf das Röhren eines postgelben MG, der nicht kommt. Er begreift nicht, warum Miriam nicht an seiner Bettkante sitzt. Warum sie ihm nicht über die Stirn streicht und seine Hand hält wie beim letzten Mal. Mit mir hat er kaum geredet. Einmal fragte er mich, ob er tatsächlich eine Tochter habe oder ob das nur eine Einbildung sei. Nach meinem letzten Besuch bei ihm rief ich Miriam an. Sagte ihr, dass er an der Schlägerei mit Gerhard absolut unschuldig sei und nichts mit dem Tod von Gombrowski zu tun habe. Dass sie ihn endlich besuchen solle. Vielleicht war das unprofessionell, aber das ist mir egal.

Seit Arne das Bürgermeisteramt an Kathrin abgegeben hat, geht er viel spazieren. An den Straßenrändern türmt sich schmutziger Schnee zu hüfthohen Wällen und sieht nicht aus, als hätte er vor, jemals wieder zu verschwinden. Eine braun verfärbte, völlig nutzlose Substanz, im Überfluss vorhanden. Seit einigen Jahren sind die Unterleutner Winter ungewöhnlich hart. Sie krallen sich bis Mitte April am Boden fest, um dann schlagartig einer wüstenartigen Hitze Platz zu machen. Als hätte das Wetter vergessen, wie Frühling geht. Arne trägt eine mit Fell gefütterte Ledermütze, deren linke Ohrenklappe er mit einem Druckknopf oben am Kopf befestigt, wenn auf dieser Seite jemand neben ihm geht.

»Na, und der Wie-heißt-er-noch. Konrad Meiler. Der soll eine Weile überlegt haben, die Villa Kunterbunt zu kaufen. Hat sich offensichtlich dagegen entschieden. Was hier im Dorf weder begrüßt noch bedauert wurde.«

Dann sitzt Meiler also zu Hause in Ingolstadt bei seiner Mizzie und überlegt, welches Projekt er als Nächstes anschieben soll, um die Drogensucht seines Sohns zu finanzieren. Vielleicht wartet er einfach darauf, dass sich seine Investition in die ostdeutsche Scholle durch den Bau von Autobahnen oder Einkaufszentren in eine Goldgrube verwandelt. Falls er überhaupt noch an Unterleuten denkt.

»Und Gombrowski«, sagt Arne. »Der dumme, alte Hund. Was für eine Geschichte.«

Er schüttelt den Kopf. Neben ihm geht das, was in Romanen eine junge Frau genannt wird, also ein weibliches Wesen, das sich gerade noch im gebärfähigen Alter befindet. Ihre bunte Wollmütze und die Fellstiefel mit zu hohen Absätzen machen sie in dieser Gegend zu einem Ortsschild von Berlin. Das bin ich, Lucy Finkbeiner. Ich muss mich anstrengen, um mit Arne Schritt zu halten, der ein kräftiges Tempo vorlegt. Unter den Sohlen meiner idiotischen Stiefel sammelt sich der Schnee in Klumpen, die sich mit jedem Schritt vergrößern; ich gehe mit gebeugten Knien wie auf Plateaus. Wir verlassen das Dorf über den Beutelweg. Arne will mir etwas zeigen. Wir haben so lange von früher geredet, dass er vergisst, wie gut ich das gegenwärtige Unterleuten kenne. Ich habe die blinkenden Schwertransporter mit den gewaltigen Bauteilen gesehen. Dann Kräne, die für das Aufrichten der Masten zuständig waren. Trotzdem lasse ich mich von Arne bis zu der Stelle führen, von der aus man einen freien Blick zum Waldrand hat.

Früher sind mir die Dinger in der Landschaft kaum aufgefallen. Heute sehe ich sie überall, bekomme jedes Mal eine Gänsehaut und denke, dass alles mit allem zusammenhängt. Aber das glauben Menschen ja immer.

Arne bleibt stehen und legt mir eine Hand auf die Schulter, mehr um sich abzustützen als um der väterlichen Geste willen.

»Da oben drehen sie sich«, sagt er schließlich. »Sehen eigentlich ganz unschuldig aus, finden Sie nicht?«

Eine Weile schauen wir schweigend. Zehn träge Rotoren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand die Frage, ob es sich dafür gelohnt hat, mit »ja« beantworten würde.

Dann gehen wir zurück und trinken noch ein Bier im Märkischen Landmann. Wir sind die einzigen Gäste. Silke sagt, dass Sabine und sie über Ostern in Urlaub fahren und noch nicht wissen, ob sie den Landmann danach wieder öffnen werden. Arne murmelt etwas von »mal halblang« und »wird schon«. Er klingt wie jemand, der nicht mehr zuständig ist.

Fallwild sind tote Tiere, die im Wald herumliegen, ohne erschossen worden zu sein. Wild, das sich selbst erledigt hat.

Arne sagt, dass er manchmal denkt, auf Unterleuten laste eine Art Fluch. Er fragt mich, ob ich glaube, dass Unglück etwas mit Orten zu tun hat. Ob mit Leuten wie Linda Franzen oder Gerhard Fließ alles genauso gelaufen wäre, wenn sie in ein anderes Dorf gezogen wären. Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.

Von der Theke her sagt Silke, dass es komisch sei, wie sich immer alles ändere und irgendwie trotzdem genau wie früher bleibe.

Draußen legt sich die frühe Nacht dem Dorf wie eine beruhigende Hand auf den Scheitel.



Inhalt

Teil I


Geliebte Babys

1 Fließ

2 Franzen

3 Meiler

4 Schaller

5 Gombrowski

6 Kron

7 Fließ-Weiland

8 Wachs

9 Gombrowski, geb. Niehaus

10 Seidel

11 Kron-Hübschke

Teil II


Das Tier von nebenan

12 Gombrowski

13 Fließ

14 Schaller

15 Kron

16 Fließ-Weiland

17 Meiler

18 Fließ-Weiland

19 Seidel

20 Wachs

21 Gombrowski

22 Kron-Hübschke

23 Franzen

24 Kron

Teil III


Falsche Freunde

25 Meiler

26 Wachs

27 Gombrowski, geb. Niehaus

28 Gombrowski

29 Seidel

30 Fließ-Weiland

31 Fließ

32 Schaller

Teil IV


Nachts sind das Tiere

33 Kron-Hübschke

34 Fließ

35 Schaller

36 Fließ-Weiland

37 Seidel

38 Kron

39 Gombrowski, geb. Niehaus

40 Gombrowski

41 Wachs

42 Franzen

Teil V


Kommunizierende Röhren

43 Schaller

44 Seidel

45 Kron-Hübschke

46 Franzen

47 Fließ

48 Kron

49 Fließ-Weiland

50 Gombrowski, geb. Niehaus

Teil VI


Fallwild

51 Wachs

52 Gombrowski

53 Meiler

54 Fließ

55 Wachs

56 Fließ-Weiland

57 Franzen

58 Seidel

59 Fließ

60 Kron

61 Gombrowski

62 Finkbeiner. Epilog

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Zeh, Juli


Leere Herzen


Kostenlos reinlesen

Sie sind desillusioniert und pragmatisch, und wohl gerade deshalb haben sie sich ‎erfolgreich in der Gesellschaft eingerichtet: Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak Hamwi. Sie haben sich damit abgefunden, wie die Welt beschaffen ist, und wollen nicht länger verantwortlich sein für das, was schief läuft. Stattdessen haben sie gemeinsam eine kleine Firma aufgezogen, "Die Brücke", die sie beide reich gemacht hat. Was genau hinter der "Brücke" steckt, weiß glücklicherweise niemand so genau. Denn hinter der Fassade ihrer unscheinbaren Büroräume betreiben Britta und Babak ein lukratives Geschäft mit dem Tod. Als die "Brücke " unliebsame Konkurrenz zu bekommen droht, setzt Britta alles daran, die unbekannten Trittbrettfahrer auszuschalten. Doch sie hat ihre Gegner unterschätzt. Bald sind nicht nur Brittas und Babaks Firma, sondern auch beider Leben in Gefahr... "Leere Herzen" ist ein provokanter, packender und brandaktueller Politthriller aus einem Deutschland der nahen Zukunft. Es ist ein Lehrstück über die Grundlagen und die Gefährdungen der Demokratie. Und es ist zugleich ein verstörender‎ Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist.

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Table of Contents

Teil I Geliebte Babys

1 Fließ

2 Franzen

3 Meiler

4 Schaller

5 Gombrowski

6 Kron

7 Fließ-Weiland

8 Wachs

9 Gombrowski, geb. Niehaus

10 Seidel

11 Kron-Hübschke

Teil II Das Tier von nebenan

12 Gombrowski

13 Fließ

14 Schaller

15 Kron

16 Fließ-Weiland

17 Meiler

18 Fließ-Weiland

19 Seidel

20 Wachs

21 Gombrowski

22 Kron-Hübschke

23 Franzen

24 Kron

Teil III Falsche Freunde

25 Meiler

26 Wachs

27 Gombrowski, geb. Niehaus

28 Gombrowski

29 Seidel

30 Fließ-Weiland

31 Fließ

32 Schaller

Teil IV Nachts sind das Tiere

33 Kron-Hübschke

34 Fließ

35 Schaller

36 Fließ-Weiland

37 Seidel

38 Kron

39 Gombrowski, geb. Niehaus

40 Gombrowski

41 Wachs

42 Franzen

Teil V Kommunizierende Röhren

43 Schaller

44 Seidel

45 Kron-Hübschke

46 Franzen

47 Fließ

48 Kron

49 Fließ-Weiland

50 Gombrowski, geb. Niehaus

Teil VI Fallwild

51 Wachs

52 Gombrowski

53 Meiler

54 Fließ

55 Wachs

56 Fließ-Weiland

57 Franzen

58 Seidel

59 Fließ

60 Kron

61 Gombrowski

62 Finkbeiner. Epilog

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