In den meisten ihrer Kommilitonen konnte Jule heute schon den Privatdozenten aus dem ICE erkennen. Bis auf wenige Ausnahmen, die nett und so langweilig waren, dass man es beim besten Willen nicht mit ihnen aushielt.

Die Idee zu Gerhard war simpel gewesen. Er konnte kein Vollidiot mehr werden, weil er sich in einem Alter befand, in dem die meisten Männer schon einer waren. Bei einem 45-Jährigen lagen die Dinge bereits auf der Hand. Ein Testlauf barg wenig Risiko.

Nach den ersten gemeinsamen Abenden war klar, dass auch Gerhard dozierte. Er brauchte keine Frau, sondern ein Publikum. Die Überraschung bestand darin, dass es Jule nichts ausmachte. Sie hörte ihm mit wachsendem Erstaunen zu. Er besaß eine Fähigkeit, die ihr wie Magie erschien. Gerhard war in der Lage, sich eine Meinung zu bilden, mehr noch, er besaß eine Ansicht zu fast allem, was er hörte oder sah. Alles ging ihn an. Weil er aus rätselhafter Quelle eine Vorstellung von »richtig« und »falsch« bezog, hatte er es nicht nötig, sich abzuschotten. Während Jule ständig in einem Meer von Informationen, Varianten und Versionen zu ertrinken drohte und deshalb darauf angewiesen war, sich für möglichst wenig Dinge zu interessieren, saugte Gerhard die chaotische Welt in sich ein, drehte sie durch seinen Prinzipienfilter und spuckte sie in ordentlich beschrifteten Päckchen wieder aus, ein Vorgang, den er »kritisches Bewusstsein« nannte. Nichts machte ihn sprachlos, nichts schüchterte ihn ein. Er nahm es mit Krisen und Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen auf, verurteilte begangene Fehler, benannte die Schuldigen und kannte die bestmögliche Lösung.

In Jules Augen der reinste Zaubertrick. Sie selbst musste nur eine beliebige Nachrichtenseite im Internet öffnen, um von einem lähmenden Schwindel erfasst zu werden. Jede Information verwies auf viele weitere Informationen, alles hing mit allem zusammen, und sicher war nur, dass es Jule besser ging als fast allen anderen Menschen auf der Welt. Trotzdem fühlte sie sich nicht glücklich, im Gegenteil. Sie wusste nicht einmal, wer sie war. In ihr gab es keinen festen Kern, nichts, was den Namen »Jule« wirklich verdiente. Immer wieder probierte sie verschiedene Rollen, die angepasste Studentin oder die aufmüpfige Rebellin, Party-Girl oder Spießerin, zynische Feministin oder feminine Verführerin. Die Rollen funktionierten ein paar Tage, manchmal Wochen oder sogar Monate, dann fielen sie von ihr ab wie zerschlissene Kleider. Übrig blieb eine Frau, die keine Überzeugungen besaß, keinen Glauben und keine Idee von einer besseren Welt.

Aber Jule wollte sich nicht im Ungefähren verlieren. Das Facebook-und-Spiegel-Online-Geschwafel ihrer Freunde ging ihr auf die Nerven. Sie wollte jemand sein. Sie war gefangen in einer Betäubung, die sich nicht abschütteln ließ – bis sie Gerhard traf. Während er sprach, verwandelte sich Jule in eine Person und die Welt in einen begehbaren Ort. Zum ersten Mal spürte sie festen Boden unter den Füßen.

Um sie herum wurde gelacht. Anscheinend hatte wieder einer aus dem Publikum einen Witz auf Kosten des Typen auf der Bühne gemacht. Jule hörte, wie Gerhard verächtlich schnaubte. Sie wollte verstehen, worum es ging, und kämpfte gegen die Müdigkeit, die ihr das Gehirn vernebelte. Mit Blicken suchte sie Oma Rüdiger im Saal und entdeckte sie in der ersten Reihe, wie sie mit halb offenem Mund und kurzsichtigen Augen auf die Projektion an der Wand starrte. Oma Rüdiger war eine wichtige Person im Dorf. Sie war mit ganz Unterleuten und noch ein paar Nachbardörfern in irgendeiner Form verwandt und trank gern Bromfelder, einen Kräuterlikör, der nach Maschinenöl mit Eukalyptus schmeckte. Oma Rüdiger war Börse und Dorfzeitung in einem. Wer etwas brauchte, ob Kantsteine oder Informationen, ging zu ihr. War die Angelegenheit komplizierter, brachte man eine Flasche Bromfelder mit. Aber das hier war keine Sache, die sich mit einer Flasche Schnaps erledigen ließ. Auch wenn Jule ansonsten wenig mitbekam, eines stand fest: Der Mann auf der Bühne stammte aus einer anderen Welt, und er war gekommen, um die Dörfler über den Tisch zu ziehen. Da galt eine alte Regel von der Uni: Wer einen Beamer mitbringt, ist ein Betrüger. Jule verspürte Mitleid mit Oma Rüdiger und den anderen und freute sich, weil das immerhin eine Art menschlicher Regung war.

Was Gerhard betraf, hatten sich Jules Hoffnungen tatsächlich erfüllt. Er unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von den Twenty-Somethings, mit denen sie seit dem Abitur das Spiel »Feste Beziehung« ausprobiert hatte. Gerhard empfand Dankbarkeit. Er war dankbar für Jules Existenz, für jede Minute ihrer Anwesenheit, für jedes Wort, das sie zu ihm sprach. Er hatte das Gefühl, kein Anrecht auf Jule zu besitzen, und dieses Gefühl war, wie sie bald erkannte, die einzig taugliche Grundlage für eine gleichberechtigte Beziehung zwischen Mann und Frau.

Sogar seine Macken hielten sich in Grenzen. Zum Einkaufen fuhr er mit einer Liste, auf der die Waren entlang des Wegs durch den Supermarkt geordnet waren. Wenn er etwas aus dem Regal nahm, strich er es von der Liste. Fiel ihm spontan ein Produkt ein, das er kaufen wollte, obwohl es nicht auf dem Zettel stand, schrieb er es auf, um es gleich wieder durchstreichen zu können. Das war verschroben, aber nicht gemeingefährlich. Außerdem las er abends vor dem Einschlafen Gebrauchsanweisungen, von Jules neuem Handy, einer Software oder der elektrischen Zahnbürste, die er sich gekauft hatte. Auch damit konnte Jule leben.

Bis Sophie zur Welt gekommen war und alles wieder zu schwimmen begonnen hatte. Vermutlich lag es daran, dass Gerhard und sie inzwischen kaum noch richtig miteinander sprachen. Ohne ihre nächtelangen Diskussionen drohte Jule sich wieder in ihrem alten Ich zu verlieren. Wie früher fühlte sie sich überall nur zu Gast, im Märkischen Landmann, im Dorf, in Deutschland, im eigenen Leben.

Wieder spürte sie Gerhards Hand, diesmal sanfter, er rüttelte sie leicht an der Schulter.

»Überleg doch mal«, flüsterte er. »Das ständige Brummen der Windräder. Die Schatten. Das ist total gesundheitsschädlich. Willst du das für Sophie?«

Die Worte »gesundheitsschädlich« und »Sophie« ließen Jules Verstand in den nächsten Gang schalten. Sie schaute sich im Saal um. Es roch noch immer nach Bratenfett und war viel zu warm. Um sie herum saßen die Dörfler wie Vieh, das nicht wusste, ob es auf Schlachtbank oder Futter wartete. Vorne stand die Brillenschlange vor den Photos von Windmühlen im Sonnenuntergang.

Erst jetzt sickerte in Jules Bewusstsein, worum es tatsächlich ging. Sie rief sich den Blick aus dem Küchenfenster vor Augen. Das freundliche Wiegen des Weizens, das milde Licht, die aufgeklappte Allee. Mitten in das leicht ansteigende Feld setzte sie in Gedanken zehn große Windräder. Mit einem Schlag verloren Feld, Wald und Allee ihre Seele. Exit Landschaft, enter Windpark.

Jule sah ihren romantischen Garten, den Blauregen, die Stachelbeersträucher, die Himbeerhecke, die Wiesenblumen, die sie beim Mähen sorgfältig verschonte, und sie sah, wie gewaltige Schatten in gnadenlosem Takt über alles hinwegstrichen. Wie sie die Farben abtrugen. Die Vögel verscheuchten. Die Idylle in Scheiben schnitten. Zehn Meter weiter die grässliche Autowerkstatt, die brennenden Autoreifen, das Tier von nebenan. Erstaunt registrierte Jule ein feines Glühen irgendwo tief in ihrem Inneren. Ein erster Funke von Kampfbereitschaft.

Gerhard gab einen Laut der Überraschung von sich und deutete mit dem Kinn nach vorn. Dort war eine junge Frau aufgestanden, höchstens 25 und damit jünger als Jule. Eine ungewöhnliche Erscheinung in dieser Umgebung, lange blonde Haare, auffälliges blaues Kleid mit tiefem Ausschnitt.

»Mein Name ist Linda Franzen.«

Ihre Stimme klang heiser und war trotzdem bis in den hintersten Winkel zu verstehen. Jule bewunderte ihren Mut, vor dem versammelten Dorf zu sprechen. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie diese Linda noch nie gesehen hatte. Es konnte nur bedeuten, dass sie erst kürzlich zugezogen war. Also nach Sophies Geburt.

»Obwohl ich noch nicht lange hier lebe, kann ich jetzt schon sagen, dass ich Unterleuten liebe. Das soll mein Zuhause werden. Ich habe die Stadt verlassen, weil ich …«

Sie zögerte und hob beide Hände, nicht um Gott anzurufen, sondern um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen.

»Weil ich den Wahnsinn dort nicht mehr ertrug. Ich will meine Ruhe.«

Linda Franzen zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Projektion an der Wand, eine moderne Jeanne d’Arc im blauen Kleid.

»So etwas wird in Städten beschlossen und auf dem Land gebaut. Jeder weiß, dass die Dinger nichts taugen. Damit wird einfach nur Geld verdient auf Kosten der Steuerzahler. So etwas brauchen wir hier nicht!«

Sie setzte sich unter anhaltendem Beifall.

»Wer ist das?«, fragte Jule leise.

»Das ist die Neue«, sagte Gerhard, ohne das Applaudieren zu unterbrechen. »Aus der Villa Kunterbunt.«

Erstaunt blickte ihn Jule von der Seite an.

»Du meinst die Pferdezüchterin? Der du die Koppelzäune verbieten willst?«

Gerhard antwortete nicht. Er nickte im Takt seiner klatschenden Hände.



8 Wachs


Als Linda sich wieder setzte, nahm Frederik sie in den Arm. Er küsste sie auf die Wange und spürte, wie heiß ihr Gesicht war. Das konnte sie: auf eine Weise reden, dass alle zuhörten. Bei ihrem Pferdetraining dauerte es keine fünf Minuten, bis die Kunden an ihren Lippen hingen. Frederiks Eindruck war, dass auch die Pferde ihr zuhörten, jedenfalls drehten sie die Ohren immer in Lindas Richtung. Sie war überzeugt, dass ihre Methode bei allen Lebewesen funktionierte, und inzwischen glaubte Frederik das auch. Als sie beschlossen hatte, das Pferdeflüstern zum Beruf zu machen, hatte er sich anfangs heimlich über sie amüsiert. Bis sie eines Tages in eine Situation gerieten, in der ihm das Lachen verging.

Sie waren gerade nach Berlin gezogen und kamen eines Nachts von einer Party zurück, als ihnen am Kottbusser Tor drei Halbstarke den Weg versperrten. Sie standen vor der Tür zur U-Bahn-Station; Frederik und Linda wollten zum Bahnsteig hinauf. Offensichtlich ging es darum, Ärger zu machen, einfach so. Ist das deine Freundin, leih uns die doch mal, dann lassen wir dich in Ruhe. Zweimal versuchte Frederik, an den Typen vorbeizukommen, dann hatte ihn der kleinste an der Jacke gepackt. Frederik hob beide Hände und wollte sich abwenden, aber es war zu spät. Sie hatten ihn von drei Seiten eingekeilt. Wer nicht hören will, muss fühlen.

Da machte Linda plötzlich einen Ausfallschritt. Sie hatte den Kleinen als Anführer der Gruppe identifiziert, fasste ihn am Ärmel und zog ihn mit einem kleinen Ruck auf sich zu. Die unerwartete Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Im selben Augenblick hob Linda die Hand, und der Kleine versuchte instinktiv, nicht gegen sie zu taumeln, und verlagerte sein Gewicht nach hinten. Als sie vortrat, wich er aus. Starr blickte sie ihm in die Augen, tat einen weiteren Schritt nach vorn, dann noch einen, der Typ ging weiter rückwärts, als vollführten sie einen Tanz. Frederik erinnerte sich an den Gesichtsausdruck des Kleinen. Die Aggression war verschwunden und hatte einer Art Entspannung Platz gemacht; die Unterlippe hing leicht herab. Linda hielt an, auch der Kleine blieb stehen. Mit einem deutlichen Ausatmen ließ sie die Spannung sinken und bedankte sich, wie sie es auch bei ihren Pferden tat: »Ja. Gut. Danke schön.« Dann wartete sie, bis der Kleine ihr die Tür zur U-Bahn-Station öffnete, und betrat gemeinsam mit Frederik das Gebäude.

Sie hatten nie darüber gesprochen, was am Kottbusser Tor passiert war. Für Linda schien es nichts Besonderes gewesen zu sein. Vermutlich hatte sie die Situation noch nicht einmal als riskant empfunden, weil sie, wie Frederik wusste, mit dem Begriff Risiko nicht viel anfangen konnte. In Lindas System existierten verschiedene Stufen der Beherrschbarkeit, und wenn die Beherrschbarkeit verloren ging, musste ein Geschehen unverzüglich beendet werden, ganz einfach. Einer ihrer Leitsätze, die sie einem schrecklichen Buch namens »Dein Erfolg« entnahm, lautete sinngemäß: »Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt.« Anders als Frederik hatte Linda nie daran gezweifelt, dass es sich bei dem, was sie tat, um ein echtes Handwerk handelte. Ihr Beruf bestand darin, Wesen zu bewegen, die hundertmal stärker waren als sie. Inzwischen bewunderte Frederik ihre Technik. Allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze. Dahinter begann der Irrsinn. Das Projekt Konrad Meiler war dabei, diese Grenze hinter sich zu lassen.

Noch während applaudiert wurde, neigte sich Meiler zur Seite und sagte Linda etwas ins Ohr, wobei er einen weiteren Blick in ihren Ausschnitt warf. Inzwischen musste er die Form ihrer Brüste aus dem Gedächtnis zeichnen können. Den ganzen Tag hatte sich Linda um ihn gekümmert. Seit dem Moment, als Meiler in seinem Angeberauto auf der gekiesten Einfahrt von Objekt 108 vorgefahren war, entfaltete sich vor Frederiks Augen eine Choreographie, der er zuerst mit Faszination, dann mit wachsendem Ekel zusah.

Vom Wohnzimmerfenster hatten sie gemeinsam beobachtet, wie Meiler bei ausgestelltem Motor am Steuer sitzen blieb und verschiedene Schalter und Regler betätigte wie der Pilot eines Airbus, der einen komplizierten Computer herunterfahren muss, bevor er aussteigen darf. Dann schwang die Fahrertür auf, und ein gut geputzter Schuh wurde auf den Kies der Einfahrt gestellt. Meiler blickte sich um, unsicher, ob er das richtige Haus erwischt hatte. Zögernd näherte er sich dem Eingang und stieg die Stufen hinauf. Gerade als er feststellte, dass es keine Klingel gab, öffnete Linda die Tür von innen. Erschrocken trat Meiler einen Schritt zurück. Lindas Lächeln signalisierte kein Willkommen, sondern Freude über ihren ersten Sieg.

Sie führte ihn durchs Haus, durch den Garten, schritt jeden Meter des Grundstücks mit ihm ab, navigierte ihn hierhin und dorthin. Sie kam ihm zu nah, so dass er auswich, fasste seinen Arm, um den Meiler-Körper in eine neue Richtung zu drehen, ließ ihn zurücktreten und führte ihn gleich darauf wieder nach vorn. Meiler hörte zu, gehorchte, ließ geschehen. Erst wirkte er verwundert, dann verunsichert, schließlich schien er sich pudelwohl zu fühlen. Ohne jede Scham betrachtete er Lindas Dekolleté, das offensichtlich zu diesem Zweck dargeboten wurde. Währenddessen erläuterte Linda ihre Pläne. In schillernden Farben ließ sie die künftige Pferdezucht entstehen, aufgebaut auf der DNA eines Wundertiers namens Bergamotte. Ausführlich schilderte sie, wie die Nebengebäude zu Stallungen ausgebaut würden, wo das Heu lagern sollte, in welcher Ecke sie eine Pferdewaschanlage plante. Zwischendurch ließ sie ihm Zeit, den romantischen Anblick der wilden Brombeeren zu bewundern.

Einstweilen tat Frederik dieses und jenes, immer in der Nähe, um das seltsame Paar im Auge zu behalten. Meiler war kleiner als Linda und fast kahl. Rund wie eine Bowlingkugel saß der von Sonne und Blutdruck gerötete Kopf auf dem kurzen Hals. Obwohl es heiß war, gab er das karierte Freizeit-Sakko nicht aus der Hand. Vielleicht glaubte er, dass Himmel, Horizont und hohes Gras von einem Mann wie ihm verlangten, mit über die Schulter geworfenem Jackett in ihrer Mitte zu stehen.

Die ganze Szene war schwer zu ertragen. Aber Frederik respektierte, dass Linda ihre Interessen durchsetzte. Dass der Kerl, den sie einwickeln musste, ein besonders widerliches Modell darstellte, war nicht ihre Schuld.

Den Blick über Meilers Land, das direkt an den Garten von Objekt 108 grenzte und in Pferdeweiden umgewandelt werden sollte, hatte sich Linda für den Schluss aufgehoben. Nebeneinander stützten Meiler und sie die Arme auf den Bretterzaun, der die Grundstücksgrenze markierte. Dahinter streckte sich eine weite Wiesenfläche, über die Wolkenschatten zogen, als grasten dort bereits die Zukunftsgeister von Bergamottes Nachkommenschaft. Alles, was Meiler jetzt sehen konnte, gehörte ihm. Nachdenklich ging sein Blick über den Landstrich hin. Man sah ihm an, dass er etwas fühlte, auch wenn unklar blieb, was das war.

Linda wandte sich zu Frederik um, machte eine unbestimmte Geste, die vermutlich »so weit, so gut« bedeuten sollte, und ließ Meiler für ein paar Minuten allein, damit in Ruhe wirken konnte, was sie ihm eingeträufelt hatte. Als Frederik sie in den Arm nehmen wollte, schob sie ihn weg und erteilte Anweisungen: Weißwein, Kartoffelsalat, anschließend Kaffee und Kuchen. Stand alles in der Küche bereit, nur noch anrichten und unter den Robinien servieren. Linda wirkte angespannt, aber nicht unzufrieden. Frederik verschwand wie befohlen im Haus, um den Imbiss vorzubereiten.

Nebenan war Karl im Garten damit beschäftigt, die Holzkonstruktion seines Tipis neu zu streichen. Er trug eine Weste und Shorts aus Wildleder. Das lange, schwarz gefärbte Haar hatte er zum Pferdeschwanz gebunden. Die Außenhaut des Tipis bestand aus Segeltuch und war innen isoliert, den Boden hatte Karl mit Fellen ausgelegt. In der Mitte eine Feuerstelle. Selbst im Winter verbrachte er die Nächte im Freien. Einmal hatte er geräucherten Rehrücken herübergebracht, der phantastisch schmeckte und, wie Karl mit einem Augenzwinkern betonte, unmittelbar aus der Region stammte. Frederik fragte sich, wer eigentlich verrückter war: Karl mit seinem Indianer-Spleen oder Linda, die eine generalstabsmäßige Offensive plante, um einem steinreichen Unternehmensberater ihren Willen aufzuzwingen. Immerhin hielt Frederik es für möglich, dass sie tatsächlich gewonnen hatte. Als er mit dem Tablett in den Garten kam, saßen Meiler und Linda einträchtig wie alte Freunde unter den Bäumen. Frederik deckte auf, goss Weißwein ein, verteilte den Salat. Das Hausmädchen zu spielen machte ihm nichts aus. Das war Teil von Lindas Inszenierung, die mit jeder Geste sagte: Die Chefin bin ich.

Dann aber fiel ihm auf, dass Meiler jede seiner Bewegungen mit geradezu wissenschaftlichem Interesse registrierte. Sein Blick war nicht mitleidig oder gar verächtlich, sondern anerkennend, amüsiert und ein wenig gerührt. Es war die Miene eines Profis, der Nachwuchskünstlern bei einer ambitionierten Darbietung zusieht.

Mit einem Mal wusste Frederik, was passieren würde. Meiler war nicht hier, um sich von irgendetwas überzeugen zu lassen. Er genoss Sonne, Salat und sorgfältig in Szene gesetzte Brüste, aß mit Appetit und freute sich an Lindas Eifer. Danach würde er sie kaltlächelnd ins offene Messer rennen lassen. Beim nächsten Blickkontakt signalisierte Meiler mit breitem Lächeln, dass er erkannt hatte, dass Frederik ihn durchschaute. Offensichtlich gefiel ihm die Anwesenheit eines Zuschauers.

Frederik wollte Linda warnen, aber es war zu spät. Nachdem alle den Kuchen probiert und gelobt hatten, lehnte sie sich zurück, schlug nach Männerart ein Bein mit abgespreiztem Knie über das andere, wobei der Rock fast ihren gesamten Oberschenkel freilegte, und fragte:

»Und, Herr Meiler, gefällt es Ihnen hier?«

»Ganz ausgezeichnet.« Meiler nickte im Takt seiner Kaubewegungen.

»Als Firmengründer haben Sie natürlich ein besonderes Gespür dafür, was es bedeutet, sich eine Existenz aufzubauen.«

»Absolut.« Meiler nahm den nächsten Schluck Kaffee und ließ seine Augen wohlwollend auf Linda ruhen.

»Dann sind Sie bereit, mich zu unterstützen.«

»Wenn ich kann.«

Über Lindas Gesicht ging ein Lächeln reinsten Triumphs. Mit gewaltiger Kraftanstrengung hatte sie den Gedanken an den Brief der Vogelschützer, über den sie am Morgen außer sich geraten war, beiseitegedrängt und sich auf das Projekt Konrad Meiler gestürzt, kühl und konzentriert wie eine Leistungssportlerin. Jetzt beging sie den Fehler, vor der Ziellinie die Arme hochzureißen. In aller Unschuld erwiderte Meiler ihr strahlendes Lächeln. Frederiks Eingeweide zogen sich vor Hass zusammen.

»Wunderbar.« Linda hielt Meiler ihr Weinglas entgegen. Er stieß mit ihr an.

»Dann müssen wir uns nur noch über den Preis unterhalten«, sagte sie.

»Preis für was?«

Linda hielt inne, das Glas vor dem Gesicht. Offensichtlich fragte sie sich, ob er tatsächlich so begriffsstutzig sein konnte.

»Für die vier Hektar, die ich Ihnen abkaufen möchte.«

»Aber, Frau Franzen.« Meiler biss in seinen Kuchen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht verkaufe.«

»Meinten Sie nicht gerade eben, dass Sie bereit wären, mich zu unterstützen?«

»Ich sagte: Wenn ich kann. Verkaufen kann ich nicht, und das wissen Sie bereits.«

Frederik sah, wie Linda ausatmete und sich verbot, gleich wieder Luft zu holen. Jetzt würde sie langsam bis dreißig zählen, bevor sie den nächsten Atemzug tat. Auch Gefühle unterdrücken gehörte zu ihrem Selbsterziehungsprogramm. Anscheinend hielt »Dein Erfolg« irgendeine Technik dafür bereit.

Das Kunststück gelang. Linda rastete nicht aus. Sie schrie Meiler nicht an. Sie fragte nicht einmal, was zum Teufel er überhaupt hier wolle. Jede seiner Antworten hätte sie nur weiter erniedrigt. Stattdessen griff sie nach dem Kuchenteller.

»Darf ich Ihnen noch ein Stück anbieten?«

Meiler ließ sich Kaffee nachschenken und vertilgte ein zweites Stück Kuchen. Offensichtlich schmeckte es ihm, die Landluft machte hungrig.

Wenig später spülte Frederik in der Küche Geschirr, als Linda hereinkam. Sie reichte ihm einen Autoschlüssel. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass der Schlüssel nicht zum Frontera, sondern zu einem Mercedes gehörte.

»Geh vors Haus und schütte ihm zwei Liter Wasser in den Tank.«

Entgeistert starrte Frederik sie an.

»Das ist nicht dein Ernst.«

Linda schnappte sich zwei leere Mineralwasserflaschen und füllte sie an der Spüle.

»Davon geht der Wagen nicht kaputt«, sagte sie. »Ich will nur, dass Meiler noch ein paar Stunden in Unterleuten bleibt.«

»Wozu denn? Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?«

»Wenn ›nein‹ immer ›nein‹ heißen würde, gäbe es keinen Fortschritt auf der Welt.«

»Linda, der Typ ist eiskalt.«

»Und ich?«, fragte sie.

Darauf wusste Frederik keine Antwort. Er nahm die Wasserflaschen und ging über den Flur zum Wintergarten, vor dem die Angeberkarre parkte. Nachdem er den Inhalt beider Flaschen in den Tank geleert hatte, schloss er wieder ab und hoffte, dass das Zwitschern der Zentralverriegelung nicht bis in den Garten zu hören war. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Nicht das Auto machte ihm Sorgen, sondern Linda. Sie übertrieb. In Bezug auf Meiler, aber auch ganz allgemein. Mit dem Haus, dem Dorf, ihren Zukunftsplänen. Seit sie Objekt 108 übernommen hatten, lief sie mit zu hoher Drehzahl. Ihre Augen und Lippen glänzten wie im Fieber. Sie schlief wenig und aß wie eine Maschine. Wenn Frederik sie einfing und festhalten wollte, begann sie nach wenigen Sekunden in seinen Armen zu zappeln, wand sich los und lief davon.

Jetzt saß sie neben ihm in diesem viel zu heißen Tanzsaal und tuschelte weiter mit Meiler, statt den Mann, der ihren Herzenswunsch mit Füßen getreten hatte, zum Teufel zu jagen. Frederik wusste nicht einmal, was sie bei der Versammlung wollten. Glaubte Linda wirklich, Meiler könnte sich wie durch ein Wunder doch noch in ihren Wohltäter verwandeln? Weil er die Gelegenheit bekam, Unterleuten beim Dorf-Sein zu beobachten, und das Ganze irgendwie lustig fand? Weil die Fritten gut schmeckten und Linda beeindruckende Spontanvorträge hielt?

Vermutlich fehlte ihr einfach die Exit-Strategie. Sie konnte nicht akzeptieren, verloren zu haben, weil Niederlagen in ihrem Weltbild nicht vorkamen. Und wenn es um Bergamotte ging, war sie noch sturer als sonst. Unbeirrt ging sie weiter auf dem eingeschlagenen Weg, als müsste man nur lang genug gegen Mauern rennen, um irgendwann ans Ziel zu kommen. Bergamotte war eine Obsession. Für dieses Pferd hatten sie ein Haus am Ende der Welt gekauft. Für das Pferd schüttete Frederik einem Unternehmensberater Wasser in den Tank und verbrachte den Abend zwischen grölenden Dörflern bei einem Vortrag über erneuerbare Energien. Er hatte niemals befürchtet, ein anderer Mann könnte ihm Linda wegnehmen. Sein wahrer Widersacher stand auf einer Weide in der Nähe von Oldenburg, ließ das cremefarbene Fell in der Sonne leuchten und warf wiehernd den Kopf hoch, wenn Linda auftauchte, um ihn zu besuchen. Manchmal stellte Frederik sich vor, wie Linda von einem sadistischen Erpresser mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurde, sich zwischen ihrem Freund und ihrem Pferd zu entscheiden. Deutlich konnte er vor sich sehen, wie sie ihm einen bedauernden Blick zuwarf und die Arme um den muskulösen Hals des Pferdes legte.

Eine Zeitlang hatte Frederik massive Lust verspürt, Bergamotte einen mit Rattengift versetzten Eimer Hafer auf die Wiese zu stellen. Als der Drang schier unwiderstehlich wurde, suchte er Rat in der größten Selbsthilfegruppe der Welt, dem Internet. Er gab »Frau« und »pferdeverrückt« als Suchbegriffe ein und klickte sich durch eine hirnzersetzende Mischung aus Reitermagazinen, Kontaktanzeigen und Pornoangeboten, bis er schließlich auf www.reiterrevue.de ein Forum fand, das unter der Überschrift »Rossfrauen« genau sein Problem behandelte. Die exakte Übereinstimmung zwischen seinen eigenen Erfahrungen und dem, was er dort las, ließ ihn nicht mehr los. Die meisten Diskutanten waren Männer. Alle lebten mit einer Reiterin zusammen. Alle fanden es demütigend, öffentlich zuzugeben, dass sie auf einen stinkenden Vierbeiner eifersüchtig waren. Alle zweifelten gelegentlich am eigenen Geisteszustand, was jedoch nichts an den Fakten änderte: Ihre Frauen liebten das jeweilige Pferd mehr als sie.

Dass die Teilnehmer »man(n) muss wissen« schrieben, nervte Frederik nicht weniger als das weibliche Pendant »frau weiß nie« in feministischen Quasselgruppen. Trotzdem hatten seine Schicksalsgenossen recht mit ihrer Analyse. Der Kern des Problems bestand darin, dass »man(n)« mit einer fremden Spezies konkurrieren musste. Man(n) konnte von Natur aus nicht größer, schneller, behaarter, muskulöser sein als ein Pferd. Jede Form von Wettkampf war chancenlos.

Deshalb hatte das Forum eine Verteidigungsstrategie entwickelt, der Frederik, wie er im Nachhinein glaubte, das Fortbestehen seiner Beziehung verdankte. Ausgangspunkt war eine simple Erkenntnis: Einen Feind, den man nicht besiegen konnte, musste man lieben lernen. Das Konzept hieß »distanzierte Anteilnahme« und bestand aus einem Set von klaren Verhaltensregeln.

Zeige niemals Eifersucht, geschweige denn Ablehnung, Kritik oder auch nur Zweifel am Pferd. Mach dich aber auch nicht mit dem Pferd gemein. Versuch nicht, reiten zu lernen. Lass dich nicht zum Stallburschen erziehen. Beschränke deine Stallbesuche auf maximal vierzehntägige Frequenz. Reagiere gelassen, wenn man deinen Respekt vor einem 600 Kilo schweren Muskelpaket als Feigheit verspottet. Merke dir Grundbegriffe aus Reiterei und Pferdekunde und platziere sie maßvoll und beiläufig in euren Gesprächen. Hör zu, wenn dir die Rossfrau vom Pferd erzählt, auch wenn es eine Stunde dauert. Lobe die Fortschritte von Pferd und Rossfrau, auch wenn du nichts davon siehst. Komm nicht auf die Idee, dich an Stallfreundschaften der Rossfrau zu beteiligen; diese werden sich ohnehin über kurz oder lang in bösartige Intrigen auflösen. Beschwere dich nicht über den Geruch der Rossfrau und auch nicht über ihre Stiefel, die vor der Heizung trocknen. Schenke ihr zu jedem Geburtstag eine Regen-, Sommer-, Fliegen-, Thermo- oder Abschwitzdecke, ohne zu fragen, warum das Pferd mehr Jacken braucht als du. Dass der Reitsport schweineteuer und saugefährlich ist, weiß jeder. Es bringt nichts, das Offensichtliche zu wiederholen. Und zum Schluss: Nicht du bist verrückt, sondern die Rossfrau. Liebe sie trotzdem, es ist deine.

Das Konzept distanzierter Anteilnahme gab Frederik den Humor zurück. Die Forumsteilnehmer tauschten Anekdoten über völlig verhaarte Waschmaschinen oder von Lederzeug besetzte Garderoben aus. Jede Anekdote endete allerdings mit der Feststellung, warum es sich trotzdem lohnte, eine Rossfrau zu lieben: Ihr Hintern blieb bis ins hohe Alter straff, sie wollte keine Kinder und ging nicht fremd.

Irgendwann hörte Frederik auf, das Forum zu besuchen. Der quälende Eindruck, Beziehungsprobleme ohne Beziehung zu haben, hatte sich in Luft aufgelöst. Von nun an betrachtete er Bergamotte als das wichtigste Mittel, um Linda glücklich zu machen. Zu seiner eigenen Überraschung stellte er fest, dass er dem Pferd gegenüber sogar eine Art Sympathie entwickelte. Als Linda Bergamotte in Oldenburg zurückließ, um Frederik nach Berlin zu folgen, stellte diese Entscheidung mangels Krieg schon keinen Sieg mehr dar.

Der Fall war klar: Frederik konnte nicht ohne Linda leben und Linda nicht ohne Bergamotte, also brauchten sie einen Ort, an dem die Rechnung aufging. In diesem Sinne war Unterleuten eine bewohnte Pferdeweide und Objekt 108 der Anbau eines Pferdestalls. Frederik hatte nichts gegen Unterleuten und nichts gegen das Haus, auch wenn er nie verstehen würde, warum man ein Gebäude mit so vielen Fenstern ausstattete, dass sich nirgendwo ein vernünftiger Schrank hinstellen ließ. Seine Heimat aber befand sich in der Stadt, genauer gesagt, an einem Schreibtisch mit Monitor und fußläufigem Zugang zu Dönerbude, Tabakladen und Kneipe, möglichst auch nachts um halb vier. Dass er trotzdem bereit war, seine berufliche Zukunft zu verpfänden, um einem Pferd ein Haus zu kaufen, hatte er dem Konzept distanzierter Anteilnahme zu verdanken.

Während im Saal gelacht wurde, ohne dass Frederik den Witz verstanden hatte, begann er langsam zu begreifen, warum ihm das Projekt Konrad Meiler solches Unbehagen bereitete. Er war in der Lage gewesen, es mit einem Pferd aufzunehmen. Aber ein Haus oder gar ein ganzes Dorf durch distanzierte Anteilnahme zu besiegen, überstieg seine Kräfte. Lindas Pläne hatten die ursprüngliche Idee, ein Zuhause für Bergamotte zu schaffen, längst hinter sich gelassen. Sie drehte frei. Sie folgte blind den Anweisungen ihres verrückten Lieblingsbuchs, das Frederik nie gelesen hatte, weil schon die Kapitelüberschriften Brechreiz verursachten. »Moral ist für die Schwachen«, »Die Kosten-Nutzen-Bilanz der Gefühle«. Das Projekt Konrad Meiler würde in die Katastrophe führen. In Berlin liefen nicht wenige Leute herum, die nach erfolglosem Ausstiegsversuch zurück in die Stadt gezogen waren. Gescheitert waren sie nicht an einstürzenden Dächern oder vollgelaufenen Kellern, sondern an den Nachbarn. Was Dorfangelegenheiten betraf, gab es eigentlich nur ein Rezept: Raushalten. Das musste er Linda beibringen, und zwar schnell, bevor sie über ihrem Fanatismus den Verstand verlor.

Gerade strich sie Meiler über den kugeligen Glatzkopf, als müsste sie eine Fliege verjagen, was dieser lächelnd geschehen ließ. Frederik sah, dass sie vor Nervosität am ganzen Körper bebte und zwischen den Atemzügen die Luft anhielt, um ihren Herzschlag künstlich zu verlangsamen. Bei einer Dorfversammlung als Erste den Mund aufzumachen stellte das Gegenteil von Raushalten dar. Dass sie ihre Ansprache nur gehalten hatte, um Meiler zu beeindrucken, machte die Sache nicht besser. Frederik nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ein ernstes Gespräch mit ihr zu führen.

Auf der anderen Seite des Saals stand ein Mann auf. Lindas Finger gruben sich in Frederiks Unterarm.

»Das ist der Mistkerl«, flüsterte sie aufgeregt. »Der will mir die Koppelzäune verbieten.«

Groß gewachsen und schlank, mit elegant angegrauten Haaren bot der Mann eine angenehme Erscheinung, wenn er auch zu nervös wirkte, um wirklich gutaussehend zu sein. Er stellte sich als »Gerhard Fließ von der Vogelschutzwarte« vor und hob einen langen Arm, um sich mit dem Taschentuch die Stirn zu wischen. Neben ihm saß eine junge Frau, hielt ein Baby auf dem Schoß und schaute zu ihrem Mann auf, als schickte der sich an, das Evangelium zu verkünden. Die Sorte Frauen kannte Frederik und hatte sie schon zu Schulzeiten nicht gemocht. Sie färbten ihr Haar mit Henna und batikten ihre Kleider und glaubten deshalb, dass sie auf der guten Seite der Welt standen, und zwar immer.

»Meine Vorrednerin hat etwas sehr Kluges geäußert«, sagte Gerhard Fließ und deutete mit einer vagen Bewegung in Lindas Richtung. »Projekte wie dieses werden in Städten beschlossen, von Leuten, die mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind.«

»Siehst du, er lobt dich«, flüsterte Frederik beruhigend und streichelte Lindas Handrücken, um danach vorsichtig ihre Finger aus seinem Unterarm zu lösen.

»In der Tat. Seltsam.«

Linda nickte nachdenklich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Tonfall verriet, dass das Ziel, ein wenig Ruhe in die Unterleuten-Sache zu bringen, in rasendem Tempo in immer größere Ferne rückte.



9 Gombrowski, geb. Niehaus


»Das europäische Vogelschutzreservat Unterleuten ist eins der letzten Einstandsgebiete der Kampfläufer. Gleichzeitig bietet die Unterleutner Heide Lebensraum für einzigartige Bestände an Rotmilanen, Störchen, und, wie die Anwesenden wahrscheinlich wissen, seit dem Jahr 2006 sogar für ein Pärchen Seeadler. Neuere Studien beweisen, dass Windkraftanlagen erhebliche Auswirkungen auf Brut-, Gast- und Zugvögel haben.«

»Herr Fließ …«, begann der Junge mit der Nickelbrille. Pilz hieß er wohl; Elena hatte nicht besonders gut aufgepasst. Seit der Vogelschützer sprach, streichelte der Pilzjunge seinen Beamer, als handelte es sich dabei um ein Exemplar der so gut wie ausgestorbenen Kampfläufer.

»Zum einen geht es um das Unfallrisiko. Das Rotorblatt eines Windrads trifft mit 230 km/h auf den Körper eines Zugvogels. Da bleibt nicht viel übrig.«

Im Saal reagierten einige weibliche Stimmen mit erschrockenen Ausrufen. Der Vogelschützer machte eine Kunstpause, um den Effekt wirken zu lassen. Sofort nutzte der Pilzjunge die Gelegenheit.

»Herr Fließ«, sagte er in sein Mikrofon, »Sie wissen so gut wie ich, dass diese Studien umstritten sind.«

»Zum anderen«, der Vogelschützer wurde lauter, »gibt es die Scheuchwirkung auf rastende Vögel. Gänse, Schwäne und Watvögel meiden die Umgebung von Windkraftanlagen.«

»Die Vento Direct«, sagte der Pilzjunge, ebenfalls lauter, »räumt Naturschutzbelangen höchste Priorität ein.«

»Wenn die Vögel ihre Rastplätze verlieren, verliert Unterleuten seine Vögel!«

»Herr Fließ, hören Sie auch mal zu?«

»Hör du doch zu!« Das war Oma Rüdiger. Neben ihr begann Opa Margot zu applaudieren. Halb erhob er sich dabei von seinem Platz in der ersten Reihe und wandte sich dem Saal zu, um auch die anderen zum Klatschen zu animieren. Ein paar Unterleutner fielen ein, hörten aber bald wieder auf, als klar wurde, dass die Schwelle zu einem echten Applaus nicht überschritten würde. Aber wenn Oma Rüdiger entschieden hatte, dass der Vogelschützer vielleicht ein Fremder, aber immer noch weniger fremd als der Pilzjunge war, würde es ohnehin nicht lange dauern, bis Ärger losbrach.

»Nirgendwo im Land gibt es noch Kampfläufer«, fuhr der Vogelschützer fort. Offensichtlich hatte er Übung darin, zu tauben Ohren zu sprechen. »Nur hier. 33 Individuen.«

»Unsere Standortplanung wurde naturschutzrechtlich geprüft. Ich versichere Ihnen …«

»Die Kampfläufer machen uns zu etwas Besonderem«, rief der Vogelschützer, bemüht, die Mikrofonstimme des Pilzjungen zu übertönen. »Dafür schulden wir ihnen Schutz!«

»So ist es! Die armen Vögel!«, rief Oma Rüdiger.

Dieses Mal klappte es, der anfeuernde Tonfall tat seine Wirkung. Applaus brach los. Auch Elena klatschte mit. Ihre Arme und Hände machten sich selbstständig, als gehorchten sie immer noch dem Zentralkomitee.

Dabei war natürlich klar, dass sich keiner der Anwesenden für Kampfläufer interessierte. Die Vogelschützer waren Sonderlinge, belächelt, solange sie mit ihren Ferngläsern und Photoapparaten durchs Unterholz krochen, verflucht, wenn sie sich in die Bauvorhaben der Dorfbewohner einmischten. Als Elena bemerkte, dass Gombrowski neben ihr über fest verschränkten Fingern vor sich hin brütete wie beim Weihnachtsgottesdienst, ließ sie das Klatschen in ein Händereiben übergehen, strich den Stoff ihres Rocks glatt und schob die Hände unter die Oberschenkel.

»Regenerative Energiegewinnung«, sagte der Pilzjunge in den Applaus hinein. »Das entspricht dem Willen der Landesregierung. Das kommt von ganz oben.«

»In den Vögeln wohnen die Seelen der Toten.« Karl, der Indianer, hatte sich für seinen Redebeitrag vom Stuhl erhoben und mit ruhiger Stimme gesprochen. Mit einer kleinen Verbeugung setzte er sich wieder hin. Normalerweise lachte das Dorf über ihn; jetzt wurde geklatscht.

»Genug gelabert!« Das war die Stimme von Lorenz, der in derselben Reihe saß wie Elena und bereits drei leere Bierkrüge unter seinem Stuhl stehen hatte. Die Aussicht auf leicht verdienten Applaus holte auch jene, die nichts zu sagen hatten, von ihren Stühlen.

»Keiner hier will deine Scheiße!«, brüllte Thomas, der Bäcker. Jede Nacht musste er um Viertel nach drei das Haus verlassen, damit er um vier Uhr früh in seiner Backstube in Plausitz stand. Ab sieben am Abend zählte er die Minuten des verbleibenden Nachtschlafs und wurde immer nervöser. Jetzt war es fast neun.

»Die Vogelschutzwarte Unterleuten wird dieses Vorhaben nicht zulassen«, sagte der Vogelschützer und setzte sich unter anhaltendem Beifall.

»Sie begreifen nicht, dass die Windenergie auf jeden Fall kommt, ob Sie wollen oder nicht«, sagte der Pilzjunge. »Ich bin hier, um gemeinsam mit Ihnen den besten Weg zu finden.«

»Bester Weg am Arsch!« Thomas fuchtelte in der Luft herum.

Auch Lorenz reckte die Faust.

»Wir zeigen dir den besten Weg! Und zwar vor die Tür!«

Damit erntete er die finale Lachsalve, der Saal schmolz im Getöse zu einer siedenden Masse. Daniel, Timmy und Mark waren auf den Beinen, stießen sich gegenseitig in die Seiten und drängten nach vorn. Hugo, der in der Nähe saß, packte Timmy am Hosenbund und versuchte, ihn zurück auf seinen Stuhl zu ziehen.

»Steffen«, rief Arne, »du kriegst jetzt sofort deine Leute in den Griff.«

»Hinsetzen!«, brüllte Steffen mit einer Stimme, die daran gewöhnt war, ganze Baustellen zu beschallen.

Elena war froh, dass sie auf ihren Händen saß. Andernfalls hätte sie sich vor Schreck die Ohren zugehalten, und dann hätte Gombrowski ihr sein schweres, weiches Gesicht zugewandt und sie ärgerlich angesehen.

Sie ertrug kein Geschrei und schon gar keine Gewalt. Jedes laute Wort erschütterte sie bis ins Mark, jede erhobene Faust fuhr ihr direkt in die Eingeweide. Im Lauf der Jahre hatte sich Elena in ein Auffangbecken für böse Worte und rüde Gesten verwandelt. Jede Form von Brutalität floss in ihre Richtung. Beschimpfungen, Drohungen, Schläge meinten immer sie. Als Püppi ins Trotzalter gekommen war und anfing, ihrem Papa Widerworte zu geben, hatte Elena gelernt, die gesamte zerstörerische Energie von Gombrowskis Wut auf sich selbst zu lenken. Fuhr eine Hand durch die Luft, stand Elena im Weg, um dem Streich eine Richtung zu geben. Es wurde zu ihrer Lebensaufgabe, Ursache und Ziel aller Gewalt zu sein, weil jeder Schlag, der sie traf, ihre Tochter verschonte.

Inzwischen lebte Püppi in Freiburg, meldete sich selten und kam noch seltener zu Besuch. Selbst wenn Elena nie wieder etwas von ihr gehört hätte – sie war dankbar für jeden Kilometer, der ihr Kind von Unterleuten trennte.

Heute gab es eigentlich wenig Grund, sich vor Gombrowski zu fürchten. Das Alter beruhigte ihn. Er gab sich Mühe, ihr im Haushalt möglichst wenig zur Last zu fallen. Er beschränkte Hildes Besuche auf die Nachmittage, an denen Elena zum Doppelkopf mit dem Frauenclub verabredet war, und beseitigte sämtliche Spuren, bevor sie zurückkam. Mit Fidi konnte er sogar richtig zärtlich sein, was ihm gegenüber Frau und Tochter nie gelungen war. Trotzdem konnte Elena nicht aufhören, ihn als tickende Zeitbombe zu betrachten. Als er sie einmal am Sonntag mit Frühstück im Bett überraschte, hatte sie keinen Bissen heruntergebracht. Je durchdringender er sie ansah, desto größer wurde ihre Angst. Sie rechnete damit, er würde ihr jeden Augenblick die Kanne mit heißem Kaffee auf den Kopf schlagen. Als er ihr endlich das kaum berührte Tablett abnahm und das Schlafzimmer verließ, bebte sie unter der Bettdecke von Kopf bis Fuß.

Bis heute war es ihr nicht gelungen, ihrem Schweigen den vorwurfsvollen Klang abzugewöhnen. Wenn sie sich aufrichtete, verlangte ihr Körper, sich gleich wieder wegzuducken. Sobald irgendwo ein Mann wütend wurde, hörte sie hinter sich ein kleines Mädchen weinen.

Steffen musste kein zweites Mal laut werden, seine Zementpanscher saßen schon wieder auf ihren Plätzen. Die beiden Richards waren Richtung Gastraum verschwunden und kamen mit einem Rad Schnäpse zurück. Stühle wurden zurechtgerückt, Kleidungsstücke geordnet. Arne schüttelte den Kopf und sortierte seine Unterlagen. Der Pilzjunge hatte den Beamer losgelassen, lehnte am Tisch und schob sich mit dem Mittelfinger die Brille auf der Nase hoch. Offensichtlich machte ihm der Tumult nicht das Geringste aus. Elena schaute ein zweites Mal hin – tatsächlich wirkte er nicht verängstigt oder auch nur erschöpft. Eher gelangweilt wie ein Schauspieler, der in einem hundertmal gespielten Stück auf den nächsten Einsatz wartet.

»Bitte, Herr Pilz«, sagte Arne, und der Junge dankte lässig mit zwei erhobenen Fingern.

»Wie bereits erwähnt, arbeitet die Vento Direct eng mit den Naturschutzbehörden zusammen. Aber auch andere Belange wie Anwohnerschutz, Landschaftsschutz und die Flugsicherheit der Luftwaffe werden berücksichtigt. Auf dieser Grundlage werden Windeignungsgebiete ausgewiesen, in denen es nicht zu einer Verletzung berechtigter Interessen kommen kann.« Er beugte sich über seinen Laptop und drückte eine Taste. »Sie sehen hier eine Flurkarte der Region.«

»Endlich wird’s interessant«, murmelte Gombrowski.

Wie so oft suchte Elena vergeblich nach einer passenden Antwort. Es war nicht so, dass sie die Dinge, mit denen er sich beschäftigte, nicht verstand. An heißen Tagen sorgte sie sich um das Getreide, und bei Regen fielen ihr die Kartoffeln ein. Aber ihr Kopf brachte keine Sätze hervor, die sie hätte sagen können. Der Kopf nickte, wenn Gombrowski gute Nachrichten brachte, und wippte bekümmert von einer Seite zur anderen, wenn es Probleme gab. Gern wäre Elena für ihren Mann eine kompetente Gesprächspartnerin gewesen. Insgeheim hatte sie immer verstanden, was er an Hilde fand. Hilde legte ihre kleinen Fäuste auf die Tischplatte und sagte: »Das können wir nicht dulden«, oder: »Da muss man abwarten«, oder: »Hauptsache, die Bilanzen stimmen«. Sie widersprach Gombrowski, sie pflichtete ihm bei, sie machte Vorschläge, und manchmal lachte sie ihn aus. Im Grunde hatte Elena nichts dagegen, dass Gombrowski seit Eriks Tod für Hildes Unterhalt aufkam. Sie wollte nur nicht wissen, warum er das tat. Sie wollte der Frau nicht begegnen und mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Insgeheim aber glaubte sie, dass Hildes Existenz und ihre eigene Bereitschaft, diese Existenz zu dulden, auf geheimnisvolle Weise das Fundament ihrer Ehe bildeten.

»Man erkennt nichts«, sagte Christina, die Kindergärtnerin.

»Heller machen«, rief das Mädchen im blauen Kleid, das vorhin schon gesprochen hatte.

»Größer«, kam es von Jakob oder Norbert, deren Stimmen zum Verwechseln ähnlich klangen. Die anderen LPG-Veteranen stimmten ein: »Hier gibt’s Leute, wo die Sehkraft nicht zum Besten steht!«

Gombrowski hatte sich vorgebeugt. Er stützte seine großen Hände auf die Knie und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Projektionswand.

»Die bunt schraffierten Bereiche sind Gebiete, die für Windkraft nicht infrage kommen. Wegen des Vogelschutzgebiets scheiden große Teile der Unterleutner Heide aus. Zu jedem Wohngrundstück ist ein Abstand von tausend Metern einzuhalten. Zudem benötigt ein Windpark nach dem Gesetz eine zusammenhängende Fläche von zehn Hektar oder mehr. Wie Sie sehen, bleibt da nicht viel übrig.«

»Wir sehen überhaupt nichts«, rief Gombrowski ungeduldig.

Sein Bass vibrierte in Elenas Zwerchfell. Vorne blickte Arne auf und hob nickend eine Hand, als hätte Gombrowski ein Grußwort an ihn gerichtet. Mit einem Fingerschnippen wies er Internet-Jochen an, sich um die Schärfeeinstellung des Beamers zu kümmern.

Eine Pause trat ein, in der Gombrowski und Arne einander musterten. Seit Gombrowski dafür gesorgt hatte, dass Arne Bürgermeister wurde, unterhielten sie eine komfortable Freundschaft. Arne begleitete Gombrowskis Projekte mit genehmigungsfreundlichem Wohlwollen; Gombrowski sorgte alle vier Jahre für Arnes Wiederwahl. Man traf sich regelmäßig zum Skat. Heute aber herrschte dicke Luft. Schon auf dem Weg zur Dorfversammlung hatte Gombrowski darüber geschimpft, dass Arne ihn nicht über das Thema des Abends informiert hatte. Die Spannung zwischen den beiden war so auffällig, dass die Umsitzenden zu tuscheln begannen. Elena hörte, wie Oma Rüdiger halblaut sagte: »Bei Gombrowskis hängt der Haussegen schief« – und wusste, dass nicht sie und Gombrowski, sondern Arne und Gombrowski damit gemeint waren.

Nachdem Jochen eine Weile an den Reglern herumgefummelt hatte, ohne dass sich die Lesbarkeit des Plans verbessert hätte, klopfte Arne ihm zum Dank auf den Arm und entließ ihn mit einem weiteren Fingerschnippen. Wieder hatte der Pilzjunge geduldig gewartet, bis die Dörfler mit ihrem Unsinn fertig waren, und nahm dann erneut das Mikrofon zur Hand.

»Ich werde Ihnen den Plan erklären. Das hier ist das große Waldgebiet zwischen Unterleuten und Plausitz. Hier die Unterleutner Heide, da das Beuteler Bruch. Dies sind die Dörfer Beutel, Groß Väter und Unterleuten.« Der Schatten des Pilzjungenzeigefingers fuhr über die Wand, machte halt, wanderte weiter. »Entlang des Waldrands sehen Sie einen Streifen, der nicht zu den Sperrgebieten zählt. Es handelt sich also um ein sogenanntes Eignungsgebiet. Aber der Wind kommt bei Ihnen meistens aus Südost. Deshalb sind die erwarteten Erträge an dieser Position nicht besonders hoch.«

Gombrowskis Stuhl folgte dem Gewicht des massigen Körpers, der sich immer weiter vorlehnte, und balancierte bereits auf den Vorderbeinen. Es sah aus, als bereitete er sich am Beckenrand auf einen Kopfsprung vor. Schließlich holte er Luft und stieß zwei Wörter aus:

»Schiefe Kappe.«

»Besser geeignet ist das Gebiet westlich der Unterleutner Landstraße.« Der Zeigefingerschatten verschwand, während sich der Pilzjunge die Brille richtete, und tauchte wieder auf, um ein Rechteck an die Wand zu malen. »Hier befindet sich ein Eignungsgebiet von etwa achtzehn Hektar. Der Flurabschnitt heißt Schiefe Kappe.«

»Da gucken wir direkt drauf«, rief eine aufgeregte weibliche Stimme; gleich darauf begann ein Kind zu schreien.

Die Frau des Vogelschützers verließ mit dem Baby den Saal. Ihr Mann hatte die Hände an die Schläfen gelegt und schüttelte ungläubig den Kopf. Als Gombrowskis Stuhl krachend auf die Hinterbeine zurückfiel, zuckte Elena zusammen wie von einem Schuss getroffen.



10 Seidel


Es hätte schlimmer laufen können. Am Nachmittag war Pilz auf einen Kaffee in der Waldstraße vorbeigekommen, um die letzten Absprachen für die Versammlung zu treffen. Dabei hatte er ein wenig aus seinem Berufsleben erzählt. Mit einem fliegenden Bierkrug müsse man immer rechnen, und letzte Woche sei er in Storchow fast verprügelt worden. Das berichtete Pilz ohne Wut oder Angst, er lachte nicht einmal. Er schaute nur immer weiter geradeaus durch seine runde Brille, als säße er in einem Berliner Konferenzraum bei einem langweiligen Montagsmeeting.

Der Junge sah aus wie ein Idiot, war aber Profi. Kaffeetrinken mit Provinzbürgermeistern und Wirtshausschlägereien gehörten zu seinem Job. Seit sechs Monaten waren er und sein Beamer im Auftrag der Vento Direct unterwegs, in über vierzig Dörfern war er aufgetreten. Inzwischen sei ihm, wie er selbst erklärte, nichts Menschliches mehr fremd.

Wieder einmal dachte Arne, dass sich die Zeiten geändert hatten. Die jungen Leute von heute besaßen erstaunliche Talente. Zum Beispiel ungeheure Effizienz bei vollständiger Abwesenheit von Humor. Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen. Keine Fehler zu begehen und dadurch unangreifbar zu werden. Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Lauf ihres Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten. Heraus kamen Arbeitszombies, die keine Angst davor hatten, von einem Dorfmob aufgemischt zu werden. Was waren ein paar gebrochene Rippen gegen den Horror, die Erwartungen der Firma nicht zu erfüllen?

Armes Würstchen, dachte Arne, hielt aber den Mund.

Immerhin hatte er guten Gewissens versprechen können, dass es in Unterleuten nicht zu einer Schlägerei kommen würde. So waren seine Schäfchen nicht. Natürlich gab es immer wieder Reibereien, die der Bürgermeister zu schlichten hatte. Die Leute waren in der Lage, sich wegen eines angeblich vom Nachbarn angefahrenen Zaunpfahls in die Haare zu kriegen. Es konnte vorkommen, dass ein Siebzigjähriger einer Sechzigjährigen wegen einer kleinen Katze den Krückstock auf den Kopf schlug. Aber letztlich waren das Lappalien. Unter Leuten, die daran gewöhnt waren, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, ging es eben manchmal etwas rau zu. Natürlich gab es auch haufenweise Legenden, die dabei halfen, sich gegenseitig verdächtig zu finden. Wie Gombrowski mit seiner LPG-Umwandlung das halbe Dorf betrogen habe. Wie es bei dem schrecklichen Unwetter, in dem Erik sein Leben und Kron die Beweglichkeit eines Beins verloren hatte, nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Wer alles für die Stasi gearbeitet habe.

Derlei Blödsinn diente der Unterhaltung. Den meisten Menschen fiel es schwer zu akzeptieren, dass das Leben eine Mischung aus alltäglicher Langeweile und sinnlosen Tragödien war. Sie vermuteten hinter jedem Ereignis das planvolle Wirken einer übergeordneten Macht. Wenn nicht Gott, dann Gombrowski. Die einzige Person, die tatsächlich für die Staatssicherheit tätig gewesen war, hatte Arne seinerzeit besser gekannt, als ihm lieb gewesen wäre – und das hatte keine Klatschtante der Welt vorhergesehen. Der Rest war Humbug. In Wahrheit waren die Unterleutner viel zu anständig, um sich bei einer Versammlung auf einen Einzelnen zu stürzen. Das hatte er Pilz erklärt, und Pilz war es vollkommen gleichgültig gewesen.

In allen Ecken des Saals wurde gemurmelt und geflüstert wie in einer Schulklasse, die der Lehrer für ein paar Minuten verlassen hat. Arne musste nicht zuhören, um zu wissen, worüber die Leute sprachen. Auf der verwaschenen Projektion an der Wand ließ sich unmöglich erkennen, welche Flurstücke die Windeignungsgebiete genau umfassten. Auf die Schnelle konnte also niemand wissen, wem die Flächen gehörten, um die es ging. Die Unschärfe stellte keinen Zufall dar. Selbst das Drehen an den Einstellungen des Beamers war Teil einer sorgfältigen Inszenierung. Im Lauf der vergangenen Monate hatte der erstaunliche Herr Pilz eine Methode entwickelt, nach der er seine Arbeit tat.

Pilz war ein paar Schritte zur Seite getreten und lehnte an der Wand, während er darauf wartete, dass sich die Zuhörer müde diskutierten. Bei Steffens Jungs war es schon so weit, sie starrten mit leerem Blick vor sich hin und hatten den Anschluss an das Geschehen verloren. Die LPG-Veteranen debattierten. Gombrowski trug eine versteinerte Miene zur Schau. Der Vogelschützer sah aus, als hätte er gerade seine ganze Familie bei einem Terroranschlag verloren. Der würde Ärger machen, so viel stand fest. Auf die anderen wartete nach viel Peitsche das Zuckerbrot. Auch das gehörte zu Pilz’ Strategie, die er Arne beim Kaffeetrinken offenbart hatte. Es galt, die Ablehnung bis zum kritischen Punkt zu steigern, dann die Wut verrauchen zu lassen und anschließend Argumente nachzulegen, die das ganze Projekt alternativlos erscheinen ließen. Auf diese Weise entstand der Eindruck, es handele sich um eine komplexe Materie mit einer gewissen Ausweglosigkeit. Das verwirrte die Leute. Pilz brauchte keine Zustimmung, er brauchte nur Resignation. Arne kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Junge sprach wie die Bundeskanzlerin.

Zu regenerativen Energien vertrat Arne keine persönliche Meinung, aber eins wusste er mit Sicherheit: Die Gemeindekassen waren leer. Den Kindergarten bedrohte die Schließung, Groß Väter und Beutel brauchten neue Bürgersteige, und die Feuerwehr war seit Langem von Spenden abhängig. In der letzten Gemeinderatssitzung hatten sie darüber diskutiert, die Straßenbeleuchtung aus Kostengründen nach Mitternacht abzuschalten. Damit noch mehr Katzen überfahren würden. Eines Tages wäre dann auch mal ein Betrunkener dabei. Pilz hatte eine einfache Kalkulation im Gepäck. Ein Windpark brachte pro Megawatt bis zu 13000 Euro Gewerbesteuer im Jahr. In Unterleuten waren zehn Kraftwerke mit insgesamt fünfzehn Megawatt denkbar. Das Ergebnis ließ sich im Kopf ausrechnen. Sicherheitshalber hatte Arne einen Taschenrechner benutzt. Die Einkünfte würden die bescheidenen Mittel des Dorfs fast verdoppeln.

Eigentlich hatte sich Arne nie zur Politik berufen gefühlt. Die glücklichste Zeit seines Lebens verdankte er vielmehr der Fähigkeit, den Mund zu halten. Als junger Mann hatte er sich in der DDR zum Veterinäringenieur ausbilden lassen und nach dem Studium eine Anstellung in der LPG »Gute Hoffnung« bekommen. Deshalb war er im Jahr 1979 nach Unterleuten gezogen, wo man ihm ein schönes Haus in der Waldstraße zuwies, das seit der Fluchtwelle im sozialistischen Frühling leer stand. Er kümmerte sich um den Großviehbestand der LPG, setzte das Haus instand und heiratete Barbara, die den LPG-Kindergarten leitete. Obwohl sich herausstellte, dass sie keine eigenen Kinder bekommen konnten, war Arne zufrieden. Er mochte Unterleuten, und er mochte seinen Job. Weil er sich wie die meisten Menschen im Dorf nicht für Politik interessierte, gab es wenig Berührungspunkte mit dem System. Man schimpfte auf die Bonzen aus Berlin und hielt im richtigen Moment den Mund.

Zu einem nicht unwesentlichen Teil bestand Arnes Arbeit darin, Kälber zur Welt zu bringen und alte oder kranke Tiere zu töten. Fast täglich überquerten Lebewesen unter seinen Händen die Schwelle zwischen Leben und Tod in die eine oder andere Richtung. Mit der Zeit entwickelte Arne ein entspanntes Verhältnis zur eigenen Existenz. Dass er sterblich war, erschien ihm nicht als Dilemma. Für Arne war das Älterwerden eine Straße, auf der er freiwillig voranschritt.

Bis zur Wende. Monatelang glaubte Arne, selbst diese Entwicklung gehe ihn nichts an. Schließlich interessierten sich Geburt und Tod nicht für Kommunismus oder Kapitalismus, sondern bestanden darauf, in jedem beliebigen System stattzufinden. Irgendwie würde es schon weitergehen. Dann aber stellte sich heraus, dass die neue Bundesrepublik Arnes Abschluss als Veterinäringenieur nicht anerkannte. Gombrowski versuchte alles, um ihn zu behalten, musste aber am Ende einsehen, dass er einen Mann ohne Berufsabschluss nicht als Tierarzt beschäftigen konnte. Plötzlich hatte Arne kein Geld mehr, dafür viel freie Zeit. Zum ersten Mal spürte er das Fehlen von Kindern wie ein gleichförmiges Brummen im Kopf.

Das Brummen wurde zu einem schrillen Ton, als Barbara von ihrem Besuch in einem Westberliner Krankenhaus nach Hause kam. Weil sie seit einiger Zeit an Migräne litt, war sie auf Arnes Drängen in die Charité gefahren, hatte die Maschinen bestaunt und im Scherz gefragt, ob man Patienten mit diesen Geräten in die Zukunft verschicke, um dort Diagnosen erstellen zu lassen. Von ihrer persönlichen Zeitreise kehrte sie mit einem Todesurteil zurück. Bösartig. Inoperabel. Prognose unklar.

Arne nahm ihr übel, wie schnell sie starb. Als hätte sie es eilig, von ihm wegzukommen. Er hatte genug Tiere in den Tod begleitet, um zu wissen, wie es aussah, wenn ein Wesen kämpfte. Barbara kämpfte nicht. Es war, als hätte ihr die untergehende DDR ein Loch in den Kopf gebohrt, durch das sich ihre Seele geräuschlos davonstahl. Arnes Liebe, Arnes Fürsorge, Arnes verzweifelte Versuche, sie zurückzuholen, nahm sie einfach mit ins Nichts.

»Lass mich doch gehen«, sagte Barbara. Dann ging sie.

Als er vier Wochen später die Sachen seiner verstorbenen Frau sortierte, fand er zwischen den Seiten eines Buchs eine Notiz, welche die Worte »Bericht« und »Magdalena« sowie Zeit und Ort für ein Treffen enthielt. Einen Abend lang saß er vor dem ausgeschalteten Fernseher. Am nächsten Tag forderte er seine Akte an.

»Magdalena« war fleißig gewesen. Sie hatte nicht nur die betrieblichen Abläufe in der »Guten Hoffnung« dokumentiert. Nicht nur die Kinder in der KiTa gefragt, was bei ihnen zu Hause geredet wurde. »Magdalena« hatte auch ihren Ehemann bespitzelt. Arne saß im Lesesaal der Gauck-Behörde, während um ihn herum die Welt versank. Vor ihm lagen Protokolle von Gesprächen, die er mit Barbara geführt hatte. Auflistungen seiner Vorlieben und Abneigungen. Ein Stundenplan seines Tagesablaufs. Die Buchstaben verschwammen auf dem Papier, als sich seine Augen mit Tränen füllten. Eine Mitarbeiterin der Behörde näherte sich mit den sanften Schritten einer Krankenschwester und fragte, ob sie etwas für ihn tun könne. Stumm schüttelte er den Kopf. Er wollte nach Hause. Bis ihm einfiel, dass er kein Zuhause mehr besaß.

Weil ihm nichts anderes übrig blieb, fuhr er trotzdem zurück nach Unterleuten, legte sich auf die Couch und stand nicht mehr auf. Er hatte geglaubt, Barbaras Tod habe eine Leere hinterlassen. Jetzt lernte er, was echte Leere war. Es spielte keine Rolle, dass er seine Frau nicht mehr zur Rede stellen konnte. Er wusste auch so, was sie gesagt hätte. Dass man sie unter Druck gesetzt hatte. Dass es darum ging, ihr gemeinsames Leben zu bewahren. Dass sie ihn beschützt hatte, indem sie nur Positives oder Belangloses über ihn berichtete. Das alles hätte sie Arne unter Tränen erzählt, und zu allem Überfluss wäre es nicht einmal gelogen gewesen. Sie hätte alles versucht, damit Arne ihr verzieh, und am Ende hätte er sich noch als Unmensch fühlen müssen, weil er ihr unmöglich verzeihen konnte. So gesehen war es gut, dass sie tot war. Was dem Krebstod nicht gelungen war, hatte der Verrat mit Leichtigkeit geschafft – er hatte Arne die Frau genommen.

Mit einem Mal wurde Arne klar, dass sein munteres Voranschreiten niemals etwas mit Freiwilligkeit zu tun gehabt hatte. Jetzt wollte er umkehren. Er wollte zurück ins Jahr 1979, genauer gesagt, zurück zu dem Tag, an dem er seinen ersten Spaziergang durchs Dorf unternahm. Plötzlich hatte eine Frauenstimme aus vollem Hals »Kathrin! Kathrin!« geschrien. Gleichzeitig war ein kleines Mädchen die Dorfstraße hinuntergerannt, einer Katze nachjagend, im Jagdfieber taub gegen alle Rufe, mit fliegenden blonden Locken und flatterndem Kleid. Die Frau, die gerufen hatte, hielt ein Baby auf dem Arm und hatte einen großen Bollerwagen bei sich, in dem zehn weitere Kinder saßen. Arne lief der rennenden Kleinen ein Stück entgegen, parierte ihr Ausweichmanöver und fing sie ein. Das Mädchen wand sich, strampelte und schrie, während er es zu seiner Betreuerin zurückbrachte. Einen Augenblick standen sie sich gegenüber, und die kleine Kathrin in Arnes Armen fühlte sich plötzlich an wie ein gemeinsames Kind.

Arne wollte ins Jahr 1979 zurück, um in diesem Augenblick nicht zu lächeln. Er wollte Barbara nicht die Hand geben und nicht seinen Namen nennen. Er wollte sie eine Woche später nicht zum Tanzen in den Märkischen Landmann einladen. Er wollte sie nicht heiraten. Stattdessen wollte er eine andere Frau kennenlernen, mit der er Kinder kriegen konnte und die ihn nicht erst verraten und dann verrecken würde.

Die schreckliche Einsicht bestand darin, dass es gleichgültig war, was er wollte. Für Arne würde es weitergehen, ohne Kinder, ohne Frau, ohne Job, mit anderen Worten, ohne den geringsten Sinn.

Er blieb auf der Couch. Gelegentlich schlief er, gelegentlich stand er auf, ging auf die Toilette, holte sich ein Glas Wasser oder durchstöberte die Schränke nach Essbarem. Am zehnten Tag erkannte er sich nicht mehr im Spiegel. Er hatte abgenommen. Hose und Hemd hatten sich in stinkende Fetzen verwandelt, das Haar klebte ihm am Schädel, ein ungepflegter Bart bedeckte sein Gesicht. Er staunte, wie schnell sich ein Mensch in ein Gespenst verwandeln konnte. Sein Erstaunen nahm er mit auf die Couch.

Bis Gombrowski dreimal klopfte und dann die Tür eintrat. Er zerrte Arne vom Sofa und schüttelte ihn wie eine Puppe. Dabei schrie er: »Du hast sie wohl nicht mehr alle.«

Mehr hatte er zu Arnes Unglück nicht zu sagen. Wenn Arne ehrlich war, traf der Satz seine Lage nicht einmal schlecht.

Gombrowski schleifte ihn zum neuen Auto, um ihn ins neue Geschäftsführerbüro der neuen Ökologica GmbH zu verfrachten. Dort wartete Hilde, die schwarz trug wegen Eriks Tod und einen Schirm dabeihatte, damit ihr der blaue Himmel nicht auf den Kopf fiel. Gombrowski und Hilde eröffneten Arne, dass er sich als Bürgermeisterkandidat zur Wahl stellen und gewählt werden würde. Arne widersprach nicht. Das Gespräch dauerte keine zehn Minuten. Im Anschluss daran ging Arne zu Fuß nach Hause und duschte.

Seitdem versuchte er, der beste Bürgermeister der Welt zu sein. Der Dienst am Dorf hatte ihm das Leben gerettet, also widmete er sein Leben dem Dorf. Was nicht immer einfach war. In Unterleuten gab es keine Kanalisation, die Straßen besaßen keine Bürgersteige, und die Dorfbeleuchtung stammte noch aus der DDR. Sämtliche Versuche, etwas an den Zuständen zu ändern, waren am Widerstand der Unterleutner gescheitert. Streng genommen hatte Arne während seiner gesamten Amtszeit nur ein einziges Projekt realisiert, nämlich den Bau einer Trinkwasserversorgungsanlage, welche Unterleuten die Unabhängigkeit vom Plausitzer Zweckverband sicherte. Auf einer üppigen Wiese zwischen Unterleuten und Groß Väter stand ein Horizontalfilterbrunnen modernster Bauart. Arne fuhr gern dorthin, um nach dem Rechten zu sehen, besonders, wenn er traurig war.

Herr Pilz beendete seine Kunstpause. Er stieß sich von der Wand ab, ging betont langsam zum Tisch, nahm das Mikrofon in die Hand, ordnete das Kabel, überprüfte den Beamer, sah auf die Uhr. Er zog sein Vorbereitungstheater in die Länge, bis es im Saal stecknadelstill war. Wieder dachte Arne, wie merkwürdig die Jugend von heute veranlagt war. Pilz konnte nicht älter als 30 sein und besaß die Abgeklärtheit eines alten Haudegens.

»Verehrte Damen und Herren, liebe Zuhörer.« Sein Tonfall hatte sich geändert. Er klang, als spräche er an diesem Abend zum ersten Mal mit dem Publikum. »Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich Ihnen gleich vorweg ein paar wichtige Informationen liefern. Nach Bundesgesetz ist die Errichtung von Windkraftanlagen im Außenbereich privilegiert zulässig. Trotz des hohen umweltpolitischen Nutzens der Windenergie bedarf es allerdings einer räumlichen Steuerung, um Konflikte mit anderen Nutzungen und Belangen, insbesondere dem Schutz von Natur und Landschaft, zu minimieren. Die überörtliche Steuerung von Windenergieanlagen erfolgt durch die Ausweisung von Eignungsgebieten in den Regionalplänen. Unterleuten gehört zum Bereich Prignitz-Oberhavel. Zuständig sind also die regionalen Planungsgemeinschaften, welche wiederum von den Landkreisen und kreisfreien Städten gebildet werden.«

Pilz lächelte, und in diesem Lächeln lag das ganze Wissen darüber, dass niemand im Raum ein einziges Wort verstand.

»Soll heißen, nicht zuständig sind die Gemeinden. Auch nicht Ihr netter Bürgermeister, Herr Arne Seidel.«

Wieder machte Pilz eine Pause, als müsste er überlegen, wie er den Sachverhalt noch nachvollziehbarer zusammenfassen könnte.

»Das Wesentliche wird nicht in Unterleuten entschieden. Nicht einmal in Plausitz. Sondern in Neuruppin.«

Der Saal schwieg. Die Menschen waren daran gewöhnt zu hören, dass sie nichts zu entscheiden hatten. Seltsamerweise löste diese Ansage keine Wut, sondern schlechtes Gewissen aus. Arne kannte das Phänomen und hatte darüber nachgedacht. Vielleicht fanden sie es peinlich, dass sie überhaupt für eine Sekunde auf die Idee verfallen waren, eine Stimme zu besitzen. Oder sie schämten sich, weil sie nichts gegen die Entmachtung unternahmen. Am wahrscheinlichsten aber war, dass sich das schlechte Gewissen auf ihre heimliche Erleichterung bezog. In Wahrheit war jeder froh, wenn er nichts entscheiden und folglich auch nichts verstehen musste. Auf diese Weise ersparte man sich das anstrengende Nachdenken über komplizierte Sachverhalte und behielt trotzdem das Recht, sich nach Herzenslust zu beschweren. Arne spürte, wie sich die Leute bereit machten, den Rest des Vortrags zu verdösen, um nachher vor der Tür lautstark auf Die-da-oben zu schimpfen.

»Im Rahmen der Regionalpläne«, sagte Pilz, »bleibt den Gemeinden die Möglichkeit, die ausgewiesenen Eignungsgebiete zu konkretisieren.«

Übersetzt bedeutete das: Bauen würde die Vento Direct auf jeden Fall. Die Frage war nur, wo.

»Ein paar Worte zu den Abläufen. Die Gemeinde stellt einen Bebauungsplan auf, wenn sie den von uns projektierten Windpark ermöglichen will. Sie alle hier sind befugt, an diesem Planungsverfahren mitzuwirken. Lassen Sie mich jetzt erklären, warum regenerative Energien in Ihrem eigenen Interesse sind.«

Nun würde die frohe Botschaft folgen. Arne hörte auf, in seinen Unterlagen zu blättern, und lehnte sich zurück, um seinen Schäfchen ins Gesicht zu sehen. Ganz links saß Kathrin, die Tochter von Kron. Jenes Mädchen, dass er eingefangen und zu den anderen Kindern zurückgebracht hatte, an dem Tag, als er Barbara zum ersten Mal sah. Inzwischen eine schöne Frau. Auf ihrem Schoß das zappelnde Krönchen. Als Kathrin merkte, dass Arne sie ansah, senkte sie den Kopf. Es gehörte zu ihren Eigenheiten, sich ständig für irgendetwas zu schämen.

Vor dreißig Jahren waren Barbara und Arne für Kathrin wie Ersatzeltern gewesen. Das kleine Mädchen wuchs ohne Mutter auf, und Kron tat sich als Vater oft schwer. An den Nachmittagen hatte Arne die Kleine gern mit in die LPG genommen. Sie liebte die Kühe und ging ihm bei der Arbeit zur Hand, so gut sie konnte. Bis heute hatte er nicht aufgehört, Kathrin auf besondere Weise zu mögen. Ihr war das unangenehm, besonders, weil sie Zaun an Zaun wohnten und sich täglich sahen, seit Kathrin mit ihrem Mann Wolfi nach Unterleuten zurückgekehrt war. Manchmal machte Arne sich einen Spaß daraus, sie in Verlegenheit zu bringen. Wenn sie abends mit Wolfi auf ein Bier in den Märkischen Landmann kam, trat er von hinten an sie heran und hob sie an den Hüften hoch, wie er es getan hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Sie kreischte noch genau wie damals, in einer Mischung aus Angst und Vergnügen, nach der Arne regelrecht süchtig war. Nach dem ersten Schreck wurde sie wütend und schickte ihn weg, mit einer kleinen Zornesfalte auf der Stirn.

Seltsamerweise hatte sich seine Zuneigung nicht auf Kathrins Tochter Krönchen übertragen, auch wenn die Kleine genauso aussah wie die junge Kathrin von damals. Aber sie besaß ein völlig anderes Naturell. Bei offenem Fenster im Arbeitszimmer hörte Arne regelmäßig, wie Krönchen im Nachbargarten spielte. Mit Spielzeugautos inszenierte sie nichts als tödliche Unfälle und mit ihren Puppen Krieg. War ein Elternteil in der Nähe, drangen unentwegt schrille »Guck mal! Guck mal!«-Rufe zu Arne herüber, abgelöst von »Geh weg!« und »Du nicht!«, wenn sich Wolfi oder Kathrin näherten. Krönchen war falsch, liebte Intrigen und spielte die Eltern gegeneinander aus. Arne war überzeugt, dass mit ihrem Charakter etwas nicht stimmte. Da sie derartige Defekte nicht von Kathrin haben konnte und Wolfi ein harmloser Trottel war, musste sich wohl das Genmaterial von Krönchens Großvater durchgesetzt haben.

Arne wandte sich zur anderen Seite und rückte sich so auf dem Stuhl zurecht, dass er den alten Kron ins Visier nehmen konnte. Er saß halb verborgen hinter den beiden Neuen, Frederik und Linda, die mit einem Unbekannten gekommen waren, vermutlich ein älterer Verwandter auf Besuch. Arne wollte sehen, wie Kron die nächsten Informationen aufnehmen würde.

»Ihrer Gemeinde würde der Windpark jährlich knapp 200000 Euro Gewerbesteuer bringen«, sagte Pilz.

Auch wenn Kron entgegen den Gerüchten gewiss niemals mit der Stasi zusammengearbeitet hatte, besaß er ein paar Eigenschaften, die ihn unbequem machten. Er war ein Querulant, ein Störenfried. Außerdem ein guter Redner. Häufig erschien er als einziger Zuhörer bei den Gemeinderatssitzungen. Kron kritisierte Vergabeverfahren und verlangte Nachweise für verwendete Mittel. Sosehr sich Arne wünschte, mehr Menschen für seine Arbeit und die Belange der Gemeinde begeistern zu können – insgeheim gestand er sich ein, dass es besser voranging, wenn die Leute wegblieben. Bürgerbeteiligung war ein Name für die Einmischung von Leuten, die keine Ahnung hatten, jede Menge Ärger verursachten und am Ende darüber meckerten, dass sich alles in die Länge zog.

»Und der Eigentümer, auf dessen Grundstück die Kraftwerke gebaut werden, bekommt pro Anlage einen Pachtzins von 15000 Euro im Jahr. Bei zehn Windrädern ergibt das ein hübsches Grundeinkommen.«

Der Saal reagierte mit Raunen.

»Außerdem fühlt sich die Vento Direct traditionell für ihre Standorte verantwortlich. Wir engagieren uns für lokale Belange. Spenden für die Feuerwehr gehören ebenso dazu wie die Unterstützung von Sportvereinen und Kindergärten. Und wenn mal ein Dorffest stattfindet, dann weiß die Vento Direct, dass man dazu das eine oder andere 50-Liter-Fass braucht.«

Der Jubel blieb aus, aber es protestierte auch niemand. Manche tuschelten, die meisten starrten vor sich hin. Gombrowski flüsterte aufgeregt mit Betty, die neben ihm saß. Auch ohne etwas zu verstehen, kannte Arne den Inhalt des Gesprächs. Betty erhielt gerade Anweisung, die Flurpläne einzusehen. Aus dem Kopf wusste Gombrowski genauso wenig wie die anderen, wem die Grundstücke auf der Schiefen Kappe gehörten.

Das Erstaunliche war, dass Kron ganz ruhig auf seinem Platz saß. Der Mund stand halb offen, und seinem Blick war anzusehen, dass der Verstand angestrengt nach einem Ansatzpunkt suchte. Im Stillen gratulierte Arne sich selbst. Die Geheimhaltungsstrategie hatte sich als goldrichtig erwiesen. Niemand hatte Zeit gehabt, sich auf das Thema Windkraft vorzubereiten. Kron war wie ein Messinstrument, das auf der Oberfläche der Öffentlichkeit schwamm und ihre Temperatur registrierte. Wenn Kron den Mund hielt, wusste auch sonst niemand, auf welcher Seite er stand.



11 Kron-Hübschke


»Reingehen und denen auf die Fresse hauen. Alle erschlagen wie räudige Hunde.«

Immer musste er übertreiben. Immer gleich aufs Maul, in die Fresse, vors Schienbein. Dabei wusste er doch selbst nicht, wen er überhaupt mit »alle« meinte. Gombrowski, klar, der war immer gemeint. Den sollte der Schlag treffen, der Teufel holen, die Pest erwischen. Aber sonst? Den kleinen Vento-Jungen, der sich sein erstes Aktienpaket verdiente? Oder Arne, den einzigen Menschen weit und breit, der es gut mit dem Dorf meinte und nicht immer nur an sich selbst dachte?

Wenn sich Kathrin an ihre Kindheit erinnerte, sah sie ihren Vater stets wütend oder mürrisch. Sie hatten niemals zusammen gelacht. Bis heute hielt Kron seine schlechte Laune für etwas Besonderes. Am liebsten pflegte er sie in aller Öffentlichkeit. Seiner Meinung nach plagte ihn kein alltäglicher Frust, sondern ein höherer Weltschmerz, der auf speziellen Kenntnissen über die Schlechtigkeit der Menschen beruhte. Kron glaubte, die Leute als Einziger so zu sehen, wie sie wirklich waren. Daraus folgte ein Leiden am Sein, das er seiner Umwelt präsentierte wie eine Trophäe. Da die Menschen sein Elend verursachten, sollten sie gefälligst auch hineinblicken wie in einen Spiegel.

Mit anderen Worten, Krons schlechte Laune hatte pädagogische Qualität. Das fand Kathrin so peinlich, dass sie sich unausweichlich zu einem sonnigen Gemüt verpflichtet fühlte. Um keinen Preis wollte sie in den Verdacht geraten, die demonstrative Miesepetrigkeit ihres Vaters geerbt zu haben.

»Stundenlanges Gelaber, und am Ende machen sie doch, was sie wollen. Das nennt sich dann Demokratie.«

Kron lehnte an der Mauer vor dem Märkischen Landmann, schwang seine Krücke und spielte Partisanenführer. Der einsame Kämpfer für die Gerechtigkeit. Nach Ende der Versammlung hatte Kathrin ihren Mann und Krönchen nach Hause geschickt und war vor dem Märkischen Landmann stehen geblieben, um den Vater zu beaufsichtigen.

»Dagegen hilft nur draufhauen.«

Schon als kleines Mädchen hatte Kathrin gelitten, weil Kron immer zu viel, zu laut und in belehrendem Tonfall redete. Mit den Jahren fing sie an, ihn besser zu verstehen. Er fühlte sich so allein, dass schon die bloße Existenz anderer Menschen einen Angriff darstellte. Im Grunde war seine schlechte Laune eine Art Selbstverteidigung. Niemand mochte Kron. Bis zur Wende hatte er als Hundertprozentiger gegolten, den das halbe Dorf für einen Stasi-Spitzel hielt. Seit dem Fall der Mauer nannte man ihn einen Vorgestrigen, der seine Irrtümer nicht einsehen wollte.

Das Verständnis für seine traurige Lage machte die Sache leider nicht besser. Die Scham wurde nicht kleiner, dafür wuchs das Mitleid – und damit der Schmerz. Es tat weh zu sehen, wie Kron im Kampf gegen Windmühlen die Faust reckte, den Mund aufriss und die Augen verdrehte. Wie er affektiert mit seiner Krücke fuchtelte, ohne die er niemals das Haus verließ. Eine tragbare Anklage. Manchmal wollte Kathrin ihrem Vater die Krücke entreißen und ihn anschreien. Dass er aufhören sollte, sich für etwas Besseres zu halten, und endlich anfangen, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen.

Aber Kathrin schrie nicht. So sehr sie sich für ihn schämte, so sehr war sie ihm auch zu Dank verpflichtet. Als die Mutter kurz nach Kathrins zweitem Geburtstag die Familie verlassen hatte, war Kron von einem Tag auf den anderen zum ersten alleinerziehenden Vater der Region mutiert. Er hatte sein Leben umgekrempelt, um Kathrin die Mutter zu ersetzen. Neben seiner Arbeit in der LPG erledigte er den Haushalt, kochte, putzte, wusch die Wäsche. Die Tage verbrachte Kathrin bei Barbara im Kindergarten, nachmittags holte Kron sie ab, schob sie im Kinderwagen nach Hause, wickelte sie, badete sie, schnitt Hühnerbrust und Kartoffeln in winzige Stücke. Wenn Kathrin nachts ihre Hustenanfälle bekam, stand er stundenlang mit ihr vor dem offenen Kühlschrank, weil die kalte Luft die Bronchien beruhigte. Wenn ihr schlecht war, saß er an ihrem Bett, fütterte sie mit Salzkeksen und quirlte Kohlensäure aus der Vita-Cola. Nie würde sie seinen verletzten Blick vergessen, wenn sie wieder gesund war und als Erstes zu Arne und Barbara lief.

LPG, Hausarbeit und Tochter ließen Kron keine Zeit für eine neue Frau, und so wurde er immer älter und blieb allein. Dann kam die Wende, die alles durcheinanderwarf. Als Kron nach dem Waldunfall aus dem Krankenhaus kam, Gesicht und Oberkörper blau und verschwollen, das rechte Bein komplett in Gips, wurde Kathrin zur Mutter und er zum Kind. Das fünfzehnjährige Mädchen hielt den Vater im Arm, als er auf Eriks Beerdigung zusammenbrach. Sie sorgte dafür, dass er morgens das Bett verließ und abends eine warme Mahlzeit zu sich nahm. Als sie erfuhr, dass Gombrowski ihm ein großes Stück Wald überschreiben wollte und Kron sich weigerte, die Schenkung anzunehmen, schimpfte sie mit ihm, bis er sich endlich bereit erklärte, seinen Namen ins Grundbuch eintragen zu lassen. Seit Unfall und Umwandlung der LPG hatte Kron keine Arbeit mehr; die Invalidenrente reichte hinten und vorne nicht. Auf die Erträge des Walds waren sie bitter angewiesen.

Nach der Wiedervereinigung arrangierte sich Kathrin leicht mit dem neuen System. Sie wollte Abitur machen und Medizin studieren, sparte auf einen Computer und betrachtete die Zukunft als etwas, auf das sie ein Recht besaß. Kron hingegen bockte. Er wollte keine D-Mark, weigerte sich, den neuen Supermarkt in Plausitz zu betreten, und schimpfte über das Fernsehprogramm. Kathrin wurde erwachsen, während ihr Vater auf bestem Weg schien, sich in ein Kleinkind zurückzuverwandeln. Nach dem Studium kehrte Kathrin mit Wolfi nach Unterleuten zurück und akzeptierte eine Stelle am Krankenhaus in Neuruppin, obwohl sie im Westen viel mehr verdient hätte. Zweimal pro Woche schaute sie im Jagdhaus vorbei, überprüfte, ob sich etwas im Kühlschrank befand, und ermahnte Kron, sich den Bart zu stutzen, mehr Gemüse zu essen und vor allem um Himmels willen keinen Streit anzufangen.

»Dem ganzen verlogenen Pack die Ohren lang ziehen. Dann wissen sie, wo sie sich ihre Windräder hinstecken können!«

Rings um Kron hatte sich die übliche Gefolgschaft aus LPG-Veteranen versammelt. Wolfgang, Heinz und Norbert mit ihren Frauen, dazu Jakob, Ulrich und Björn. Gemeinsam bildeten sie einen kettenrauchenden Rentnerclub, zusammengeschweißt durch den festen Glauben, vom Leben betrogen worden zu sein. Wenn Kron irgendwo die Krücke schwang, waren seine Jünger nicht weit.

Aber auch ein paar ungewohnte Zuhörer waren stehen geblieben, um Krons Tiraden zu lauschen. Der Vogelschützer Fließ und seine Frau, die an ihrem Baby klebte, als stünde ein Bombenangriff bevor. Dazu die beiden Neuen, die seit ein paar Monaten in der Villa Kunterbunt lebten und ein bisschen aussahen wie Teenager, die von zu Hause weggelaufen waren. Etwas abseits stand der Fremde mit den teuren Schuhen, vermutlich ein Onkel der beiden, und tippte auf seinem Blackberry herum. Den Vorbesitzern hatte die heruntergekommene Villa kein Glück gebracht. Einer nach dem anderen war auf Kathrins Tisch in der Pathologie gelandet. Hirntumor, Schlaganfall, Selbstmord. Fehlte nur noch ein Autounfall, um das Quartett der beliebtesten Todesursachen zu komplettieren. Nach Meinung des Dorfs lastete ein Fluch auf der Villa Kunterbunt. Obwohl Kathrin nicht abergläubisch war, wünschte sie den Neuen Glück. Die beiden wirkten nett und normal, wie sie an der Mauer vor dem Landmann lehnten und Kron zuhörten. Solche Leute brauchte das Dorf. Kathrin fand, dass man jedem Normalen, der nach Unterleuten zog, ein Begrüßungsgeld zahlen sollte.

Vereinzelt kamen noch Gäste aus dem Landmann, die ein letztes Bier getrunken oder im Flur ein paar Worte gewechselt hatten. Sie musterten die Gruppe um Kron mit kurzem Blick und machten, dass sie weiterkamen. Arne, Gombrowski und der Windmühlen-Pilz waren noch nicht aufgetaucht. Vermutlich warteten sie drinnen, bis Kron seine Belagerung aufgegeben hatte und nach Hause gegangen war. Natürlich wusste der Bürgermeister, dass er bei den Dörflern mit Konfrontation nicht weiterkam. Zwar trugen die meisten das Herz auf dem rechten Fleck, aber stur waren sie alle, und Kron stellte im Reich der Sturköpfe den Kaiser dar. Kathrin mochte Arne für seine ruhige Art, für seine Selbstlosigkeit und dafür, dass er zuhören konnte. Als sie klein war, hatte sie in manchen Phasen mehr Zeit bei ihm und Barbara verbracht als zu Hause. Er hatte sie mit in die Ställe genommen, und manchmal durfte sie zusehen, wie er ein Kalb zur Welt brachte. Den lieben Gott hatte sie sich immer wie Arne vorgestellt, im Stroh kniend, von Eimern mit heißem Wasser und verschiedenen Zangen umgeben.

Irgendwann hatte Kathrin angefangen, sich in ihrem Zimmer einzuschließen, statt zu Arne zu laufen. Nicht dass sie aufgehört hätte, ihn zu mögen. Aber mit fünfzehn kam ihr die Freundschaft zu einem älteren Mann plötzlich unangebracht vor. Während des Studiums dachte sie nur noch selten an ihn, und es war allein dem Zufall geschuldet, dass sie direkt neben ihm einzog, als sie sich mit Wolfi für ein Leben in Unterleuten entschied.

Trotz ihrer Sympathie für Arne hielt Kathrin die Begegnungen am Gartenzaun möglichst kurz. Sie ertrug die Art nicht, wie er sie ansah. Sie ertrug seine Einsamkeit nicht und auch nicht den Gedanken daran, was Barbara ihm angetan hatte. In der Ausweglosigkeit der Kindheit war Arne ihr bester Freund gewesen. Nun hätte sie ihm in der Ausweglosigkeit des Alters beistehen müssen. Aber Kathrin hatte eine schwierige Tochter, einen Job in der Klinik, mit dem sie die Familie ernährte, weil Wolfi als Schriftsteller nichts verdiente, und einen Vater, der aller Welt Prügel androhte und zu Hause vergaß, den Herd auszuschalten. In ihrem Leben war einfach kein Platz für Arne und seinen sehnsüchtigen Blick. Dafür viel Platz für jede Menge schlechtes Gewissen.

»Wir lassen uns nicht mehr verarschen! Damit ist Schluss! Ein für alle Mal!«

In die Gruppe vor dem Landmann kam Bewegung. Das Mädchen aus der Villa Kunterbunt war ein paar Schritte vorgetreten und stand jetzt direkt hinter Kron. Sie schaute zur Seite, als beobachtete sie etwas auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, und ordnete mit erhobenen Armen ihren Pferdeschwanz.

»Mit Ruhe erreicht man mehr«, sagte sie. Dabei schaute sie nicht Kron an, sondern schien mit jemandem zu sprechen, der auf der anderen Straßenseite stand.

Die LPG-Veteranen starrten sie an wie eine Geistererscheinung. Normalerweise wagte es niemand, Kron in die Parade zu fahren. Alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich jetzt auf die junge Frau, die sich unbefangen in der Mitte der Gruppe hielt und den Blick in unbestimmte Ferne richtete. Betont langsam drehte Kron sich um.

»Wer bist du denn?«

Mit dieser Frage hatte er zu lange gezögert, was sein traditionelles Duzen weniger unverschämt als hilflos klingen ließ.

»Ich bin Linda«, sagte die junge Frau.

Als sie Kron ins Auge fasste, schnappte etwas ein. Plötzlich konzentrierte sich ihre ganze Energie auf Kron, eine Willenskraft, die sie fast sichtbar wie eine Aura umgab. Kathrin staunte. Es verstrichen mehrere Sekunden, in denen ihr Vater und Linda sich anstarrten. Erst als Krons Blick zur Seite wanderte, entspannte sich Linda. Sie lockerte die Schultern und fing an, allen Anwesenden der Reihe nach und ohne Eile die Hand zu geben. Ihr Freund zog mit und stellte sich ebenfalls vor. Hände wurden geschüttelt, Namen gemurmelt.

Auch Kathrin sagte ihren Namen und lächelte die beiden an, so herzlich sie konnte. Sie hatte es bemerkenswert gefunden, dass Linda in der Dorfversammlung aufgestanden war und das Wort ergriffen hatte. Aber was sie hier mit Kron abzog, war noch ungewöhnlicher. Hätte jemand verlangt, dass Kathrin Eintritt dafür bezahlte, wäre sie gerne bereit gewesen.

»Jetzt pass mal auf, Linda«, begann Kron.

Der Vogelschützer schob sich dazwischen.

»Ich werd gleich morgen früh mit der Naturschutzbehörde reden«, sagte er atemlos. »Das muss sofort … die können doch nicht einfach …«

Kron sah ihn mitleidig an.

»Vergiss deine scheiß Behörde. Die stecken alle unter einer Decke. Ich sag dir, wie das läuft.« Er reckte die Krücke. »Da plant einer den großen Reibach. Einen gewissen Verdacht habe ich, wer das sein könnte.«

Björn und Ulrich lachten dreckig. Jakob war wie gewöhnlich betrunken, schwankte leicht und schaute Norbert an, um an dessen Miene abzulesen, wie er reagieren sollte. Wolfgang steckte die nächste Zigarette in seinen nach unten gezogenen Mundwinkel und nickte ununterbrochen.

»Es gibt hier einen alten Hund, der sich gern auf Kosten anderer mästet«, fuhr Kron fort. »Der hat irgendwo ein wertloses Stück Land, auf das er sich jetzt mithilfe des Bürgermeisters einen Windpark stellt. Die Propeller blasen ihm Kohle in die Taschen, während unsere Häuser das letzte bisschen Wert verlieren. Dafür gibt es ein Wort: Enteignung.«

Zustimmendes Johlen von den LPG-Veteranen. Auch Fließ nickte eifrig, obwohl es ihm vorhin noch um die Kampfläufer und nicht um den Wert seines Besitzes gegangen war. Seine Frau hatte sich auf die Bordsteinkante gesetzt und mit Stillen begonnen.

»Es wurde ein Bebauungsplan erwähnt«, sagte Linda, auf die Krons Ansprache offenbar nicht den geringsten Eindruck machte.

»Apropos Enteignung«, sagte Kron langsam.

Sein Blick verließ den Kreis der Umstehenden, suchte ein Ziel, sog sich voll mit bösem Vergnügen.

»He, du da!«

Der Typ, der wahrscheinlich Lindas Onkel war, sah von seinem Blackberry auf. Bitte nicht, dachte Kathrin. Sie wollte etwas sagen und konnte nicht. Wiederholte nur stumm im Kopf die beiden Wörter: Bitte nicht.

»Man muss Unterschriften sammeln«, sagte Linda. »Einen Bürgerprotest organisieren. Der Erlass eines Bebauungsplans ist ein demokratischer Prozess.«

»Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wer ich bin!«, sagte Kron zu dem Blackberry-Mann.

»Sie sind also auch gegen Windkraftanlagen?«, fragte Fließ in Lindas Richtung.

»Kennst mich nicht mehr?« Kron ging auf den Blackberry-Mann zu, der sich umschaute, als könnte ein anderer gemeint sein. Oder vielleicht suchte er nach einem Fluchtweg.

»Auf der Versteigerung hatten wir schon einmal das Vergnügen.« Wie ein Schauspieler wandte sich Kron an die LPG-Veteranen, die langsam aufrückten. »Hat er vergessen. Dieser Kerl gibt 2,5 Millionen aus und vergisst es gleich wieder. Peanuts, was?«

Die letzten Worte waren wieder an den Blackberry-Mann gerichtet, der sein Gerät wegsteckte und einfach stehen blieb, die Mauer des Landmanns im Rücken.

»Was wollen Sie?«, fragte er und klang weniger gelassen, als er vermutlich beabsichtigt hatte.

»Pssst!« Kron hob einen Zeigefinger. »Einfach nur zuhören. Ist doch ein irrer Zufall, dass wir uns heute hier treffen. Kleine Landpartie nach Unterleuten? Ein Tag im Grünen? Alte Freunde besuchen?« Kron lachte künstlich. »Wo kommst du her? Baden-Württemberg?«

Der Blackberry-Mann schwieg und wippte in seinen rahmengenähten Schuhen.

»Jetzt darfst du reden«, herrschte Kron ihn an. »Ich hab dich was gefragt.«

»Ingolstadt«, sagte der Mann, und gleich darauf: »Was wird das hier eigentlich?«

Er wollte gehen, aber der Kreis der LPG-Veteranen hatte sich um ihn geschlossen. Schräg hinter Kron stand Linda, hielt die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete das Geschehen mit einem Gesichtsausdruck, als löse sie gerade eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Auch Fließ war herangetreten und wirkte handlungsbereit, auch wenn er offensichtlich nicht begriff, was vor sich ging. Seine junge Frau saß auf der Bordsteinkante und schien außer Brust und Baby nichts wahrzunehmen.

Lindas Freund, der sich als Frederik vorgestellt hatte, trat neben Kathrin. Er knickte seinen langen Körper in der Mitte, um ihr ins Ohr flüstern zu können.

»Läuft das hier immer so?«

Am Rand seines schmalen Gesichts schwangen die ungeschnittenen Haare vor und zurück. Er sah nett aus und ein bisschen albern, typischer Wahl-Berliner, mit ausgelatschten Turnschuhen, künstlerischen Ambitionen und dem festen Entschluss, lieber zu sterben als erwachsen zu werden.

Kathrin konnte sich vorstellen, wie er später im Kreis seiner Freunde, die vor lauter Individualität alle genauso aussahen wie er, die Anekdote mit den verrückten Dörflern vor dem Märkischen Landmann zum Besten geben würde. Sie hatte nichts dagegen. Sie wusste, dass Unterleuten aus Sicht der Städter ein Witz war. Gern hätte sie noch etwas Geistreiches gesagt, einen flotten Spruch, den Frederik später als Pointe zitieren konnte. Vielleicht würde er an sie denken und hinzufügen: »Aber einen trockenen Humor haben sie, die Landeier, das muss man ihnen lassen!«

Leider fielen Kathrin flotte Sprüche immer erst später ein. Wenn überhaupt.

»Ingolstadt!«, schrie Kron. »So weit fährst du, um uns die Erde unterm Hintern wegzukaufen. Hab mich ja schon bei der Versteigerung gefragt, was du mit 250 Hektar Ost-Prignitz willst.« Wieder wandte sich Kron an die Veteranen. »Kann es sein, dass dieses Rätsel mit dem heutigen Tag gelöst ist?«

Unsicheres Gemurmel zeigte an, dass die Gefolgschaft noch nicht wusste, worauf er hinauswollte. Da packte Kron den Blackberry-Mann am Kragen seines Freizeithemds.

»Papa!«, rief Kathrin und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund.

Sie hasste es, wenn ihre Stimme schrill wurde. Es bedeutete, dass Krons Peinlichkeit auf sie übergriff. Geh nach Hause, befahl sie sich selbst. Sieh nach, ob Krönchen gut schläft. Trink ein Glas Wein, rede mit Wolfi über die Krise des deutschen Regietheaters.

Aber ihre Füße machten keine Anstalten, den Befehl auszuführen. Kron sprach dem Fremden aus wenigen Zentimetern Entfernung ins Gesicht. Kathrin konnte Bier und Essiggurken in seinem Atem fast selbst riechen.

»Ich werde deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Vor zwei Jahren hast du irgendwie Wind von der Sache bekommen. Vielleicht kennst du jemanden im Ministerium. Bist in deinen A8 gestiegen und nach Dunkeldeutschland gefahren. Du hast doch einen A8, oder etwa nicht? Sag schon!«

»Mercedes.« Der Blackberry-Mann sah in die Runde, als hätte er einen Witz gemacht. Niemand lachte.

»Aus Ingolstadt und fährt Mercedes! Bist wohl kein Lokalpatriot, was? Hast überhaupt keine Werte im Leib?«

Kathrin sah Speichelspritzer fliegen. Normalerweise spuckte Kron beim Reden nicht, er machte das absichtlich.

»Weil du für deinen Deal Kontakte brauchst, hast du ein bisschen recherchiert, und siehe da, ein gewisser Gombrowski ist für jede Schandtat zu haben, solange die Kohle stimmt. Er hat den Bürgermeister in der Hand und regelt die Einzelheiten.«

»So ein Schwachsinn«, sagte Frederik vernehmlich. »Herr Meiler kennt hier überhaupt niemanden.«

Kron ignorierte den Einwand. Er griff fester ins Hemd des Blackberry-Manns, der jetzt einen Namen hatte, hob ihn halb von den Füßen und knallte ihn gegen die Mauer. Kathrin schrie, Meiler stöhnte, die Veteranen lachten. Die Frau des Vogelschützers blickte kurz auf, bewertete das Geschehen als irrelevant und kümmerte sich weiter um ihr Baby.

»Jetzt reicht’s aber!«, rief Frederik.

»Wir wollen doch alle dasselbe«, sagte Fließ, ohne dass klar wurde, mit wem er sprach. »Wir müssen die Kräfte bündeln.«

Ein zweites Mal knallte Meiler mit dem Rücken gegen die Mauer.

»Ihr werdet kein einziges Windrad bauen, verstanden?«, brüllte Kron. »Du setzt dich jetzt in deinen Mercedes und verschwindest. Wenn ich dich hier noch mal sehe, mach ich dich kalt!«

In diesem Augenblick kam Bewegung in die Szene. Linda war auf Kron zugetreten und hatte ihm blitzschnell etwas in die Hand gedrückt. In der Überraschung ließ Kron den Gegenstand gleich wieder fallen. Es klirrte auf dem Asphalt. Alle sahen zu Boden. Dort lag ein Messer mit blanker Klinge und glänzte in den Strahlen der Abendsonne. Linda musste es aus Jakobs Werkzeuggürtel gezogen haben.

»Na los«, sagte sie zu Kron. »Schneid Herrn Meiler die Kehle durch.«

Kron schaute auf das Messer, auf Meiler, in die Runde. Selten hatte Kathrin ihn so verwirrt gesehen.

»Was soll das denn?«, fragte er schließlich lahm.

»Ich mag Leute nicht, die groß reden und klein handeln.«

Im Hintergrund ordnete Meiler sein Hemd, nahm den Blackberry aus der Tasche, als wollte er jemanden anrufen, und steckte ihn wieder weg.

Kron straffte den Rücken und ging drohend auf Linda zu, in der sicheren Erwartung, dass sie zurückweichen würde. Aber sie blieb stehen.

»Magst du nicht, was?« Krons Stimme klang unsicher.

»Mag ich nicht«, sagte Linda in schönster Gelassenheit.

Das Schauspiel war zu Ende, das Kräftemessen entschieden. Kron versuchte, das Messer beiseitezukicken, verfehlte es, strauchelte und musste sein Gleichgewicht mithilfe der Krücke suchen. Die LPG-Veteranen glotzten wie Kühe, die man im Wald ausgesetzt hatte.

In Kathrins Kehle stieg ein Lachen auf. Sie konnte es nicht unterdrücken. Es platzte aus ihr heraus, mitten in die Stille hinein. Sie lachte über den eigenen Vater, während ihr nach Heulen zumute war. Kron sah sie an, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten.

Nach ein paar Sekunden betroffenen Schweigens legte Kron den Kopf in den Nacken und musterte den Himmel, wie um zu prüfen, ob die Nacht schon hereinbrach.

»Ab nach Hause«, sagte er dann.

Sofort löste die Gruppe sich auf. Jakob hob sein Messer vom Boden auf, die Veteranen wandten sich ab und gingen davon, jeder in seine Richtung. Meiler war noch immer mit dem Ordnen seiner Kleidung beschäftigt.

»Sie kriegen eine Anzeige, die sich gewaschen hat«, sagte Meiler zu Kron, der nicht mehr zuhörte.

»Kommen Sie noch mit zu uns?«, fragte Linda.

Überrascht nahm Kathrin zur Kenntnis, dass Linda den Fremden siezte.

»Das könnte Ihnen so passen.« Meilers Stimme zitterte. Offensichtlich stand er kurz vor einem Wutanfall. »Ich hole mein Auto und bin weg.«

»Ziemliche Pleite«, sagte Frederik, während Meiler davonging.

»Da bin ich gar nicht so sicher«, erwiderte Linda.

Sie sah zufrieden aus. Sie nahm Frederik an der Hand, grüßte in die Runde, und schon schlenderten die beiden den Beutelweg hinunter, wo sie auf der Höhe von Gombrowskis Haus in den Stichweg zur Villa Kunterbunt einbiegen würden.

»Wir telefonieren«, sagte Fließ zu niemand Bestimmtem. »Wir bleiben in Kontakt.«

Kurz darauf waren Kathrin und Kron allein. Die Straßenbeleuchtung schaltete sich ein. Am Ende der Kette aus trüben Lichtern schloss sich der Wald zu einer schwarzen Wand. Irgendwo dort in der Dunkelheit stand das Kron’sche Jagdhaus, auf einer Lichtung, über die bei Nacht äsendes Dammwild zog. Als Kathrin klein war, hatte ihr Vater sie manchmal auf den Arm genommen und reglos mit ihr am Fenster gestanden, wenn die Hirsche dicht ans Haus herangekommen waren.

Jetzt standen sie dicht beieinander und sprachen kein Wort. Gern hätte Kathrin etwas gesagt, eine Bemerkung gemacht, die ihrem Lachen von eben das Verächtliche nahm. Aber ihr fiel nichts ein.

Sie liebte ihren Vater und wusste, dass er sie ebenfalls liebte. Trotzdem konnten sie nicht mehr tun, als schweigend nebeneinanderzustehen. Kathrin war traurig. Unterleuten ist ein Gefängnis, dachte sie, obwohl das mit der Situation nicht viel zu tun hatte.

»Nacht, Schatz«, sagte Kron schließlich.

Flüchtig spürte Kathrin seine Hand auf ihrer Schulter. Dann lauschte sie dem vertrauten Walzertakt seiner Schritte, während er unter den Laternen davonging. Der Klang des Krückstocks wurde leiser, verklang ins Schweigen des Dorfes, in die Schwärze des Waldes hinein. Im Gebüsch auf der anderen Straßenseite begann eine Nachtigall zu schlagen. Der durchdringende Ton schraubte sich in die Höhe, fiel plötzlich ab, ging in ein Rattern über, auf das ein komplizierter Triller folgte, der wiederum von eine Reihe hohler Pfiffe abgelöst wurde.

Kathrin fragte sich, ob Dichter, die von Nachtigallen schwärmten, jemals eine gehört hatten.






Teil II


Das Tier von nebenan



Unterleuten bedeutet Freiheit.


Gerhard Fließ



12 Gombrowski


Es hörte nicht auf. Es war wie eine Krankheit, die den einmal befallenen Körper niemals wieder verließ. Sie konnte jahrelang im Verborgenen schlummern und dann plötzlich wieder hervorbrechen. Man griff zu den bewährten Mitteln der Hausapotheke. Danach zu den wissenschaftlichen Methoden der Schulmedizin. Man gab Freunden nach, die einen zur Homöopathie bekehren wollten. Man versuchte, die Symptome zu ignorieren, in der Hoffnung, sie würden an mangelnder Aufmerksamkeit eingehen. Weil alles nicht half, ging man schließlich zum Gegenschlag über, ignorierte die Fachleute und unterzog sich einer selbsterfundenen Rosskur. Ohne Rücksicht auf Verluste. Daraufhin schien sich das Leiden tatsächlich zurückzuziehen, Erleichterung trat ein, trügerische Normalität. Aber die Keime, die Körper und Seele befallen hatten, wühlten weiter, fraßen heimlich an der Lebenskraft, verwandelten einen gutmütigen Mann in einen reizbaren Choleriker, der sich gegenüber Frau und Kind vergaß und anschließend in stummen Selbsthass verfiel, von dem sich die Krankheit weiter nährte. Bis sie eines Tages erneut zuschlug, aus heiterem Himmel und mit zehnfacher Kraft.

Manchmal nachts, wenn Gombrowski den Fehler begangen hatte, allein in der Küche sitzen zu bleiben und zu trinken, verfiel er auf die Idee, der Name dieser Krankheit sei »Schuld«. In nüchternem Zustand aber wusste er, dass sein Leiden »Morbus Kron« hieß. Gombrowski war kronisch krank.

Als er den Range Rover auf das Betriebsgelände der Ökologica lenkte, blieb einer der Melker verwundert stehen und hob zögernd die Hand zum Gruß. Es war zu früh für den Chef. Die Traktoren parkten noch in den Unterständen, die Pelletieranlagen schwiegen. Abgesehen vom gelegentlichen Brüllen der Kühe war es still. Gombrowski parkte den Wagen vor dem Eingang zum Büro, blieb noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen und rieb sich das Gesicht.

Nach der Dorfversammlung am Vorabend hatte er an der Bar des Landmann gesessen, Bier und Bromfelder bestellt und darauf gewartet, dass Kron draußen auf der Straße mit seinem Affentheater fertig wurde. Durch die geöffneten Fenster war Stimmengewirr hereingedrungen, immer wieder überlagert von Krons herausforderndem Geschrei. Wie so häufig hatte der Alte irgendeinen Mist veranstaltet, und Gombrowski hatte wenig Lust verspürt, mitten hineinzugeraten. Als es draußen endlich still wurde, hatte Sabine ihm gerade die dritte Runde hingestellt, und danach sprach nichts mehr gegen eine vierte und eine fünfte.

In der Nacht hatte er schlecht geschlafen, weil Krons Stimme immer weiter in seinem Kopf krakeelte. Als der Morgen endlich weit genug fortgeschritten war, hatte er das Bett mit Erleichterung verlassen.

Den Schlüssel zum Büro musste er eine Weile suchen. Normalerweise kam Betty morgens vor ihm und verließ die Ökologica am Abend, wenn er schon lange nach Hause gegangen war. Ohne Betty wirkte der lang gestreckte Raum mit der niedrigen Decke so mürrisch, wie Gombrowski sich fühlte. Es roch nach alten Gummistiefeln. Missmutig betrachtete er die beiden Kaffeemaschinen auf dem Aktenschrank. In der blauen Kanne kochte Betty mehrmals am Tag einen ölig schwarzen Kaffee, den jeder vorgesetzt bekam, der das Büro der Ökologica betrat, egal ob Traktorfahrer, Tierarzt oder Bürgermeister. Die rote hingegen enthielt Gombrowskis Spezialgetränk, zwei Löffel Pulver auf einen ganzen Liter. Die durchsichtige Brühe stellte das Ergebnis von zähen Verhandlungen mit dem Hausarzt dar, der ihm das Kaffeetrinken ganz verbieten wollte. Jeden Abend nach der Arbeit schüttete Betty den Inhalt der roten Kanne in die Spüle, ohne dass jemand davon getrunken hätte. Die Existenz der roten Kanne sorgte dafür, dass der Inhalt der blauen, an der sich Gombrowski heimlich bediente, noch viel besser schmeckte.

Er hatte Lust auf Kaffee, entschied sich aber nach kurzer Überlegung gegen den Versuch, selbst welchen aufzusetzen. Betty hätte ihn ausgelacht. Unschlüssig stand er vor dem großen Doppelschreibtisch in der Mitte des Raums und haderte mit der Erkenntnis, dass er ohne ihre Hilfe auch nicht in der Lage war, die Pläne zu finden. Während seine Seite des Tischs bis auf ein paar Unterschriftenmappen relativ aufgeräumt wirkte, verschwand Bettys Arbeitsplatz unter einer Lawine von Papier. Aktenordner, Arbeitspläne, Antragsdossiers und dicke Handbücher zum Recht der Europäischen Union. Völlig unmöglich, in dem undurchschaubaren System eine bestimmte Flurkarte zu finden. Versuchsweise öffnete Gombrowski einen der Aktenschränke, die das Zimmer säumten, aber auch die Beschriftung der Ordner sagte ihm nichts. Betty kümmerte sich um das Ablagesystem. Wenn er wissen wollte, wem die Windkraft-Eignungsgebiete gehörten, musste er notgedrungen warten, bis sie im Büro erschien.

Schwer ließ er sich in den Schreibtischsessel fallen, dessen Lehne unter seinem Gewicht weit nach hinten federte. Auch ohne einen Blick in die Pläne war er ziemlich sicher, dass das zweite Eignungsgebiet am Unterleutner Waldrand zu Krons Besitz gehörte. Nur unter diesen Vorzeichen ergab der erneute Ausbruch der Kron’schen Krankheit einen Sinn. Gombrowski schloss die Augen und sah Krons Gesicht vor sich, wie er es als Dreizehnjähriger erblickt hatte, verzerrt von teuflischer Freude, beleuchtet vom flackernden Schein eines Feuers, das sein Zuhause zerstörte. Gombrowski glaubte zu spüren, wie das Virus einer fünfzigjährigen Feindschaft erneut in seinen Adern zu wimmeln begann.

Damals hatte das Feuer im Kornspeicher auf mehrere Nebengebäude übergegriffen und die halbe Ernte vernichtet. Die ganze Nacht waren Gombrowskis Eltern und ihre Leute im Einsatz, um die Tiere zu evakuieren und zu verhindern, dass die Flammen das Dorf erfassten. Danach hatte der Vater kapituliert. Am 2. April 1960 brachte er 170 Hektar Land sowie sämtliche Maschinen in eine LPG ein, die »Gute Hoffnung« genannt wurde und das Gegenteil verhieß.

In den Monaten nach der Enteignung verwandelte sich der tatkräftige, polternde Mann in einen Schatten seiner selbst. Noch weniger als das erzwungene Nichtstun ertrug er zu sehen, was dem Betrieb widerfuhr, dem er und seine Vorfahren ihr Leben gewidmet hatten. Jetzt mussten die Gombrowskis aus dem schönen Gutshaus ausziehen, es wurde umgehend abgerissen. Ebenso die Ziegelscheunen, soweit sie nicht schon dem Brand zum Opfer gefallen waren. Wochenlang brachten Lastwagen Zement, um eine gewaltige Betonplatte zu gießen, auf der gesichtslose Stallungen und Lagerhallen errichtet wurden.

Schon bald zeigten sich auf den Feldern die ersten Folgen der Misswirtschaft. Als Gerüchte aufkamen, dass die Planwirtschaft auf eine industrialisierte Trennung von Vieh- und Pflanzenproduktion hinauslief, verließ der alte Landwirt das Bett nicht mehr.

Gombrowski war sechzehn, als die Ärzte seinen Vater aufgaben. In seiner Verzweiflung versprach er dem sterbenden Mann, dass er Agrarwissenschaften studieren, in die LPG eintreten und sich eine Führungsposition erarbeiten werde. Eines Tages würde es ihm gelingen, die Ländereien in den Besitz der Gombrowskis zurückzubringen, zum Wohl der Familie und des ganzen Dorfs. Der Alte winkte ab, schloss die Augen und schickte ihn aus dem Raum.

Nach seinem Studienabschluss im Jahr 1971 fing Gombrowski bei der LPG an. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kron bereits zehn Dienstjahre hinter sich. Sie hatten einander eine ganze Weile nicht gesehen. Vor seiner künftigen Arbeit hatte Gombrowski keine Angst. Er fürchtete sich nur davor, Kron wiederzubegegnen. Wie es sein würde, ihn täglich um sich zu haben, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Was auch immer er sich ausgemalt hatte – die Banalität der Wirklichkeit verspottete die Phantasie. Im Eingangsflur des Verwaltungsgebäudes liefen sie einander in die Arme. Kron reichte ihm die Hand und stellte sich mit vollem Namen vor, als wären sie einander noch nie begegnet. Danach verschwand er im Büro des Vorsitzenden, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Seltsamerweise regte sich auch in Gombrowski nicht das geringste Gefühl. Der Mann, dem er gerade im Flur begegnet war, hatte nichts mit dem wilden Gesicht zu tun, das ihn seit seiner Kindheit verfolgte. Er fühlte sich erleichtert. Gleichgültigkeit war die beste Voraussetzung für eine gelingende Zusammenarbeit.

Kron stammte aus einer besitzlosen Familie, glaubte an den Kommunismus und sah seinen Lebenszweck darin, so hart wie möglich für die Ernährung der sozialistischen Gemeinschaft zu arbeiten, während Gombrowski ein schlechter Genosse, dafür aber studierter Landwirt war. Fachkenntnisse brauchte die »Gute Hoffnung« mindestens ebenso dringend wie politische Überzeugung. Anders als sein Vater besaß Gombrowski die Fähigkeit, im richtigen Augenblick den Mund zu halten, was ihm die Führungskader in Berlin als Linientreue anrechneten. Er verstand es, sich mit den Funktionären gut zu stellen, überholte den dienstälteren Kron im Nu auf der Karriereleiter und löste Anfang der Achtziger den amtierenden Vorsitzenden ab. Binnen kürzester Zeit holte er die rückständige LPG in die Gewinnzone, was ihm Ehrbezeigungen eintrug, die er mit gemischten Gefühlen entgegennahm. Keinen Tag seines Lebens vergaß Gombrowski, was er dem Vater versprochen hatte.

Es schien ihm nur folgerichtig, den fleißigen und zuverlässigen Kron zu Weiterbildungen anzuhalten, ihn zum Vorarbeiter und schließlich zum Brigadeführer in der Pflanzenproduktion zu befördern, auch wenn ihm Krons politische Didaktik auf die Nerven ging. Kron war kein Mensch, in dessen Gegenwart man ein offenes Wort zur Lage im Land geäußert hätte. Gombrowski respektierte ihn für seinen Fleiß, hätte ihn aber niemals in die Geheimnisse der Geschäftsführung eingeweiht. Es war nicht Kron, sondern Hauptbuchhalterin Hilde Kessler, die mit ökonomischer Musikalität dazu beitrug, die »Gute Hoffnung« trotz sinnloser Vorgaben als vorbildlichen Betrieb zu führen.

Die Wende kam, als kaum noch jemand daran glaubte. Montagsdemonstrationen, Massenflucht, Mauerfall – die Welt verwandelte sich in ein Kartenhaus, das ringsum in sich zusammenfiel. Aus Gombrowskis Sicht besaß das Durcheinander ein Zentrum, welches »Gute Hoffnung« hieß. Die LPG hatte in den letzten Jahren nicht nur 800 Hektar Land bewirtschaftet, sondern bildete auch in anderer Hinsicht das Herz Unterleutens. Sie betrieb Kindergarten, Erholungsheim und ärztlichen Versorgungsdienst. Sie hatte sich um Instandhaltung der Straßen, Leerung der Sammelgruben und Beleuchtung des öffentlichen Raums gekümmert. Jedes Jahr wurden Weihnachtsfeier und Sommerfest ausgerichtet, und gelegentlich gab es im Aufenthaltsraum schlecht besuchte Kulturabende mit zähen Romanen, unbedenklicher Lyrik oder »Paul und Paula«. Seit Gombrowski den Vorsitz innehatte, florierte die LPG nicht nur in ökonomischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Der Kampf um die Bewahrung des Familienerbes trat in eine neue Phase. In schlaflosen Nächten sah Gombrowski immer wieder, wie sein Vater abwinkte, die Augen schloss und ihn aus dem Zimmer schickte.

Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung bestand die LPG aus 42 Mitgliedern, darunter dreizehn Landeinbringer, die Anteile am Betrieb hielten. Anfang 1991 beauftragte Gombrowski einen Umwandlungsberater aus dem Westen, Rack mit Namen, der sofort anreiste und bis auf Weiteres Wohnsitz im Märkischen Landmann nahm. Zwei Fragen waren schnell geklärt. Würde Gombrowski versuchen, den alten Familienbesitz aus der LPG herauszulösen, musste die »Gute Hoffnung« unweigerlich zugrunde gehen, und sie würde vierzig Arbeitsplätze sowie die Zukunft der Unterleutner Region mit in den Abgrund reißen. Eine Liquidation hingegen bedeutete faktisch den Verkauf unter Wert an einen Investor aus dem Westen, wobei von der Kaufsumme nach Abzug der Verbindlichkeiten für jedes einzelne Mitglied kaum etwas übrig bliebe. Es musste eine Alternative gefunden werden, was Umwandlungsberater Rack nach besten Kräften versuchen wollte, für ein beträchtliches Honorar und im Rahmen der Gesetze, oder doch wenigstens im Rahmen der Vernunft.

Das neue Landwirtschaftsanpassungsgesetz sah vor, dass Betriebe, die nicht bis Ende des Jahres zu einer neuen Form gefunden hatten, als aufgelöst galten. Es blieb also nicht viel Zeit. Hinauslaufen sollte es auf die Gründung einer GmbH nach bundesrepublikanischem Recht, die »Ökologica« heißen würde. Die Sache hatte nur einen Haken. Die LPG konnte sich kaum Austritte leisten. Das Gesetz garantierte ausscheidungswilligen Mitgliedern eine Abfindung, die sich am Wert ihres Anteils bemaß. Selbst wenn man, was Rack in Gombrowskis Arbeitszimmer sofort auf einem Stück Rechenpapier unternahm, eine Rückstellung in Höhe von 1,5 Millionen zur dringend nötigen Asbestsanierung bildete und eine weitere halbe Million für die Anschaffung neuer Mähdrescher zurücklegte, um das verteilungsfähige Eigenkapital der LPG um die Hälfte zu reduzieren, würden ein paar Wiedereinrichter, die mit ihrer Abfindung eine eigene Wirtschaft gründen wollten, dem Betrieb das Genick brechen. Mit anderen Worten, die »Gute Hoffnung« würde nur dann als Ökologica überleben, wenn alle an einem Strang zogen.

Gombrowski konnte allerdings weder Haken noch Problem erkennen. Die anderen 41 LPG-Mitglieder, erklärte er Rack, seien Freunde oder doch wenigstens Nachbarn und gute Bekannte. Sie schuldeten ihm so viele Gefallen, dass er noch drei weitere Betriebe von einer Rechtsform in die andere und wieder zurück umwandeln könne, wenn es darauf ankomme.

Rack sagte: Umso besser.

Sie begannen mit der Ausarbeitung des Umwandlungskonzepts. Die Abschlussbilanz der »Guten Hoffnung« sah weitere Rücklagen in Höhe einer halben Million vor; das Abfindungsangebot an ausscheidungswillige Mitglieder fiel bescheiden aus. Die Satzung der künftigen Ökologica GmbH machte Gombrowski zum alleinigen Geschäftsführer, der volle Prokura sowie siebzig Prozent der Gesellschaftsanteile erhielt. Ein Aufsichtsrat war nicht vorgesehen. Die Kompetenzen der Gesellschafterversammlung wurden durch die Satzung stark eingeschränkt, zudem erfolgte die Stimmverteilung nicht nach Köpfen, sondern nach Kapitalanteilen. Zusätzlich erstellte Rack einen Umwandlungsbericht, der wenig Zahlen, dafür viele schöne Worte zum Thema Arbeitsplätze, Strukturwandel und blühende Landschaften enthielt. Dieses Papier wurde in der Kantine der »Guten Hoffnung« ausgelegt, auf dem Getränkeautomaten, mit einem Feldstein beschwert.

Mit den meisten Mitgliedern hatte Gombrowski schon gesprochen, bevor die erste Informationsveranstaltung stattfand. Beim Bier im Märkischen Landmann, auf dem Marktplatz in Plausitz oder mitten auf der Landstraße nach Groß Väter, wo man, wenn ein bekanntes Auto entgegenkam, einfach anhalten und Fenster an Fenster ein paar Minuten plaudern konnte, bevor sich ein weiteres Fahrzeug näherte, für das man die Straße freigeben musste. Einem nach dem anderen hatte er erklärt, dass eine GmbH im Wesentlichen das Gleiche wie eine LPG sei, nur besser. Die Beteiligten hießen nicht mehr Mitglieder, sondern Gesellschafter, das eingebrachte Land nenne sich Stammeinlage. Vor allem aber habe die »Gute Hoffnung« alias Ökologica GmbH in Zukunft nicht mehr die unsinnigen Ideen der Bonzen zu verwirklichen, sondern könne vernünftige Landwirtschaft betreiben. Und das Beste: Wenn es gut laufe, sei Gombrowski nach neuem Gesellschaftsrecht in der Lage, am Jahresende eine Dividende auszuzahlen. Ansonsten werde sich gar nichts ändern.

Nach anfänglichem Unbehagen reagierten die Angesprochenen wohlwollend, manche sogar erleichtert. Das überraschte Gombrowski nicht. Vergangenheit und Zukunft waren dabei, sich in Luft aufzulösen, weshalb sich die Gegenwart schon aufgrund ihres bloßen Stattfindens wie ein Irrtum anfühlte. Inmitten allumfassender Unsicherheit war die »Gute Hoffnung« ein Bollwerk, ein Fels in der Brandung. Wenn es gelang, den Betrieb zu retten, behielt Unterleuten seine Vergangenheit und gewann eine neue Zukunft hinzu. Demgegenüber trat die Frage nach Gombrowskis Familienbesitz völlig in den Hintergrund. Es ging nicht um Recht oder Unrecht, sondern darum, die Unterleutner Heimat vor dem Zerfall zu bewahren.

Als Gombrowski diesen Satz auf der Informationsveranstaltung sagte, setzte Applaus ein. Mitten in den Applaus erhob sich Kron. Er sah mit seinen fünfzig Jahren noch immer aus wie ein junger Mann, und er war noch immer Kommunist. Er zeigte auf Rack, der möglichst unauffällig in einer Ecke der Kantine saß, und nannte ihn einen Besatzer aus dem Westen. Die Wiedervereinigung bezeichnete er als Kolonisierung und sagte, dass man sich hier versammelt habe, um dabei zuzusehen, wie der Kapitalismus seine Zähne in den Leib der »Guten Hoffnung« schlage. Im peinlichen Schweigen erklang eine weitere Stimme. Ausgerechnet Hildes Mann Erik kam Kron zu Hilfe. Erik war kein politischer Mensch, sein Tonfall war gelassener. Von Kapitalismus oder Kommunismus wollte er nichts wissen. Stattdessen fragte er die Versammlung, ob es die Bedeutung der Sache nicht verlange, über Alternativen zu sprechen. Ob keiner der Landeinbringer in den letzten Jahren davon geträumt habe, seinen eigenen Grund und Boden wiederzubekommen, um selbst eine Wirtschaft zu führen, wie es für ihre Eltern und Großeltern selbstverständlich gewesen sei. Im Saal entstand Unruhe. Die Anwesenden begannen untereinander zu diskutieren, einige murrten.

Gombrowski und Hilde tauschten einen Blick. Erik stammte nicht aus einer Familie, die gezwungen worden war, ihr Land an die LPG abzutreten. In diesem Spiel hatte er absolut nichts zu gewinnen. Aber seine Frau verbrachte seit Monaten fast jeden Tag im Haus der Gombrowskis, während sich Elena so viel wie möglich in der Nachbarschaft herumtrieb. In den vergangenen Jahren war Erik immer wieder durch Eifersüchteleien aufgefallen. Anscheinend war der Punkt gekommen, an dem er zum Gegenschlag ausholte.

Als Kron hinzufügte, dass Gombrowski nichts anderes im Sinn habe, als sich einen Betrieb unter den Nagel zu reißen, der ihnen allen gehöre, kippte die Stimmung. Gombrowski wurde laut. Er bezeichnete Kron als Randalierer und Erik als Idioten und bat alle anderen inständig, bei Verstand zu bleiben. Es gebe nur einen Weg in die Zukunft, und den werde er, Gombrowski, für sie alle gehen, so wie er in den vergangenen Jahrzehnten mit seiner ganzen Kraft dafür gesorgt habe, dass Unterleuten trotz der schwierigen Bedingungen ein lebenswerter Ort geblieben sei.

Rack ging dazwischen und vertagte die Versammlung, bevor die Lage eskalieren konnte. Er und Hilde nahmen Gombrowski in die Mitte und führten ihn aus der Kantine, über den Hof und zu seinem Auto. Gombrowski blickte starr vor sich hin, als wäre er ganz woanders, in einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort.

In den folgenden Wochen führte er Gespräche. Nicht mehr im Landmann oder auf der Straße nach Groß Väter, sondern im Vorstandsbüro der »Guten Hoffnung«. Er lud die LPG-Mitglieder einzeln ein. Schenkte Kaffee und Bromfelder aus. Wiederholte Argumente. Leistete Überzeugungsarbeit. Betonte die Wichtigkeit einer gemeinsamen Kraftanstrengung. Bat um Unterstützung. Vor allem erklärte er immer wieder, dass die »Gute Hoffnung« am letzten Tag des Jahres um 24 Uhr ganz von selbst zu existieren aufhören werde, wenn es nicht gelinge, ihr eine neue Form zu geben.

Die Gespräche liefen gut. Jeder der Eingeladenen sagte Gombrowski seine Stimme in der Vollversammlung zu, die im November stattfinden sollte. Gleichzeitig aber gingen in schneller Folge vier Austrittserklärungen ein, alle von Landeinbringern. Die Erklärungen waren wortgleich verfasst und die Fristen korrekt berechnet, woraus Rack folgerte, dass auch Kron und Erik Gespräche führten und sich nach juristischem Beistand umgesehen hatten.

Gombrowski verhandelte mit den Austrittswilligen. Machte Angebote für den Fall, dass die Kündigungen zurückgezogen würden. Warb für Verständnis, dass allzu hohe Abfindungszahlungen die »Gute Hoffnung« ruinieren konnten.

Was er auch tat, er verlor weiter an Boden. Weitere Austrittserklärungen landeten auf seinem Tisch. Als ihm zu Ohren kam, dass Kron ein Gegenkonzept entwickelte, nämlich die Gründung einer eingetragenen Genossenschaft unter dem Namen »Agrar Unterleuten e.G.«, wurde es Zeit für ein Gipfeltreffen.

Sie wählten den Märkischen Landmann, weil Kron auf neutralem Gebiet bestand. Kron kam mit Erik, Gombrowski mit Rack. Hilde blieb zu Hause, weil sie, seit sich Erik auf Krons Seite geschlagen hatte, bei jedem Wort explodierte, das ihr Mann von sich gab.

Gombrowski redete vernünftig, Rack ebenso. Aber schon nach fünf Minuten begann Kron zu schreien. Er warf Gombrowski Betrug vor. Die Satzung der Ökologica hatte er bis ins Detail studiert, in jedem Wort fand er Hinweise auf Gombrowskis Niedertracht. Die Prokura, dazu siebzig Prozent der Geschäftsanteile. Dabei gehöre doch alles, formell wie moralisch, den Genossen, das Land, die Maschinen, die vollen Getreidespeicher. Er, Kron, werde niemals zulassen, dass sich ein habgieriger Kapitalist alles unter den Nagel reiße.

Der Fanatismus malte rote Flecken auf seine Wangen. Jeder wusste, dass Kron den Zusammenbruch der DDR nicht verkraftet hatte. Seit Wochen wurde Hilde nicht müde zu wiederholen, dass es nicht lohne, sich über einen Verrückten aufzuregen. Trotzdem spürte Gombrowski, der Krons Theater mit starrer Miene über sich ergehen ließ, wie wachsende Wut ihm den Magen umgrub. Er hatte den Mann, der einst Feuer an sein Zuhause gelegt hatte, zwanzig Jahre lang gefördert und unterstützt. Jetzt stieg ein Wort in ihm auf und wollte an die Oberfläche, und schließlich sagte er es laut, mitten in Krons Tiraden hinein:

»Verräter.«

Kron griff einen Aschenbecher vom Tisch und zielte auf Gombrowskis Kopf. Er war zu aufgebracht, um gut zu werfen; der Aschenbecher zerschellte hinter Gombrowski an der Wand. Noch bevor die Scherben ruhig am Boden lagen, hatte Kron die Tür erreicht und war aus dem Landmann gerannt. Auch Erik, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, stand auf und ging Richtung Tür. Bevor er die Kneipe verließ, sagte er:

»Du denkst, dir gehört hier alles, Gombrowski, aber dieses Mal bist du zu weit gegangen. Wir verklagen dich. Wir machen dich fertig. Davon wirst du dich nie mehr erholen.«

Dann war auch er verschwunden. Es war der Abend des 31. Oktober 1991 und ungewöhnlich warm, sowohl für die späte Stunde wie auch für die Jahreszeit.

Gombrowski und Rack blieben im Landmann sitzen und berieten das weitere Vorgehen. Die »Gute Hoffnung« würde Kron ein letztes Angebot machen. Wenn er seinen Widerstand aufgab und die LPG ohne weitere Agitation verließ, würde er als Abfindung ein dreißig Hektar großes Waldstück erhalten, auf das der Betrieb nicht lebensnotwendig angewiesen war. Sie setzten ihm eine Frist von fünf Tagen, Rack schrieb alles auf und überbrachte das Dokument noch in derselben Nacht.

Hilde war überzeugt, dass sich ein Fanatiker wie Kron nicht kaufen lasse. Gombrowski sah die Lage optimistischer. Hinter Fanatismus, meinte er, verberge sich Neid, und dreißig Hektar würden Kron zu etwas machen, das er vermutlich von Kindesbeinen an hatte sein wollen: ein kleiner Großgrundbesitzer.

Bis heute wussten sie nicht, wer recht behalten hätte. Weil niemand sagen konnte, wie Krons Entscheidung ohne die Ereignisse vom 3. November ausgefallen wäre. Jedenfalls bildete der Knall, mit dem der tonnenschwere Ast vom Baum brach, den Startschuss zur Gründung der Ökologica GmbH. Noch aus dem Krankenhaus ließ Kron seine Kapitulation überbringen. Zudem schien Eriks Tod auch die anderen Unterleutner zur Vernunft zu bringen. Die meisten Austrittswilligen nahmen ihre Kündigungen zurück, bis auf Wolfgang, Heinz, Norbert, Ulrich, Jakob und Björn, die zu Krons engsten Anhängern zählten. Doch auch diese machten keinen ernsthaften Ärger mehr, erklärten sich auf Gombrowskis Verlangen mit einer symbolischen Abfindung einverstanden und traten geräuschlos aus der LPG aus. Niemand sprach mehr von Betrug, Klage oder alternativen Gesellschaftsformen. Am zweiten Jahrestag des Mauerfalls bestätigte die Vollversammlung ohne Gegenstimme die Umwandlung der »Guten Hoffnung« in die Ökologica GmbH und verabschiedete die geplante Satzung. Bei einer Enthaltung, weil Kron noch immer im Krankenhaus lag.

Nicht Kron persönlich, sondern seine jugendliche Tochter Kathrin forderte die dreißig Hektar Wald aus Racks Angebot, und Gombrowski sorgte dafür, dass Kron das Land so schnell wie möglich bekam. Das war Ehrensache. Danach stürzte er sich in die Arbeit. Endlich konnte er den Grund und Boden seiner Väter so bewirtschaften, wie es Erfahrung und Fachwissen befahlen. Die Umstrukturierung der Ökologica GmbH machte weniger Schwierigkeiten als erwartet. Die Agrarfunktionäre, mit denen er schon zu DDR-Zeiten erfolgreich zusammengearbeitet hatte, saßen jetzt im Landwirtschaftsministerium oder im Vorstand des Bauernverbands. Die Treuhand und ihre Nachfolgerin BVVG verkauften oder verpachteten das ehemals volkseigene Land bevorzugt an ihn, weil seine Bilanzen vielversprechender waren als jene der wenigen neuen Kleinbauern in der Region. Frühzeitig stellte Gombrowski auf Bio-Anbau um; auf jeden Hektar gab es Subventionen. Binnen weniger Jahre wurde die Ökologica ein in jeder Hinsicht sauberer und gesunder Betrieb. Die Probleme, die Gombrowski heute das Leben schwer machten, hatten nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern mit der Zukunft. Altlasten gab es keine. Außer Kron.

Mit einem Knall, der Gombrowski auffahren ließ, schlug die Tür gegen die Wand, als Betty eintrat. Es gehörte zu ihren Eigenarten, für jeden Handgriff etwas zu viel Kraft aufzuwenden. Sie hatte weder die Zierlichkeit noch die geringe Körpergröße ihrer Mutter Hilde geerbt. Böse Zungen behaupteten, dass sie mit kompaktem Oberkörper, stämmigen Beinen und einem großflächigen Gesicht, das sich darauf vorbereitete, in einigen Jahren das Kinn auf dem Brustbein abzulegen, viel eher Gombrowski ähnlich sehe. Ihr voluminöser Körper steckte in einem grauen Overall mit dunkelblauem Besatz an Knien und Ellenbogen, wie ihn auch die Feldarbeiter trugen. Das stumpfblonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie.

»Ich dachte, das wäre mein Büro.«

»So früh am Morgen?«

»Ich suche …«

»Hier.«

Betty zog ein paar gefaltete Blätter aus der Cargotasche ihres Overalls und glättete sie vor Gombrowski auf dem Tisch. Es waren Kopien der Arbeitsfolien, die der Vento-Knabe während der Dorfversammlung gezeigt hatte. Gestrichelte Linien markierten die geplanten Eignungsgebiete.

»Wo hast du die her?«

»Die brauchen wir.«

Gombrowski lächelte, er liebte ihre Art zu antworten. Mit siebzehn Jahren war Betty als Auszubildende in die Ökologica gekommen, hatte drei Jahre später den Abschluss als Landwirtin erworben und war seitdem mit dem Betrieb verheiratet. Wenn Gombrowski der Kopf der Ökologica war und Hilde die Seele, dann war Betty Arme, Beine und Verdauungsapparat. Seine eigene Tochter Püppi hätte sich eher den Arm abgehackt, als einen Finger in der Landwirtschaft krumm zu machen. Mit zigtausend Euro hatte er ihr jene Bildung gekauft, die sie brauchte, um ihn und seine Arbeit lächerlich zu finden. Betty hingegen fungierte seit zehn Jahren als seine rechte Hand. Fehlende Beweglichkeit im Denken glich sie durch minutiöse Kenntnis der Betriebsabläufe aus. Dass nicht Püppi, sondern Betty eines Tages die Ökologica übernehmen würde, war ein offenes Geheimnis. Auch wenn sie mit Nachnamen Kessler hieß und allen Gerüchten zum Trotz nicht seine außereheliche Tochter war. Gombrowski war der letzte Vertreter der Gombrowski-Dynastie in Unterleuten. Sein großes Lebensprojekt, die Unterleutner Landwirtschaft in den Familienbesitz zurückzuholen, erschien angesichts dieser Tatsache so gehaltvoll wie eine hohle Nuss.

Nachdenklich beobachtete Gombrowski, wie Betty in den Unterlagen auf ihrer Schreibtischseite zu kramen begann. Während sie Aktenordner öffnete und schloss, murmelte sie leise vor sich hin. Es gab Tage, an denen ihn die Frage, wofür er sich in den letzten Jahrzehnten abgerackert hatte, regelrecht lähmte. Dann brauchte er Betty, nicht nur als Mitarbeiterin, sondern als Antwort. Wenn er sie anschaute, den gebeugten Nacken, den heiligen Ernst auf ihrer Stirn, während sie sich mit den Belangen der Ökologica beschäftigte, wusste er, dass es sich irgendwie doch gelohnt hatte. Er mühte sich ab, um Hildes Tochter eines Tages eine gesunde Wirtschaft hinterlassen zu können. In letzter Zeit hatte dieses Vorhaben angesichts der ökonomischen Lage immer unrealistischer gewirkt. Aber seit gestern Abend wusste er, wie es funktionieren konnte: mit zehn Windrädern, die Jahr für Jahr eine anständige Rendite abwarfen.

»Hier.«

Betty hatte die richtige Flurkarte gefunden und entfaltete das quadratmetergroße Dokument auf dem Tisch. Es kostete sie nur Sekunden, die schlampig gezeichneten Eignungsgebiete mit dem amtlichen Plan zu vergleichen. Jeweils einen Zeigefinger legte sie auf die betreffenden Stellen. Den einen auf die Schiefe Kappe, unweit der Landstraße, die nach Plausitz führte. Den anderen an den Rand des Unterleutner Walds. Gombrowski beugte sich vor.

»Und wem gehören die Gebiete?«

»Willst du einen Kaffee?«, fragte Betty.



13 Fließ


Er war nicht aufs Land gezogen, um zu erleben, wie der urbane Wahnsinn die Provinz erreichte. Er verzichtete nicht auf Theater, Kino, Kneipe, Bäcker, Zeitungskiosk und Arzt, um durchs Schlafzimmerfenster auf einen Maschinenpark zu schauen, dessen Rotoren die ländliche Idylle zu einer beliebigen strukturschwachen Region verquirlten. Gerhard war ein Exilant, geflohen vor dem Gespinst aus Belästigungen, zu dem das moderne Leben geworden war. Größenwahnsinnige Arbeitgeber, unfreundliche Verkäuferinnen, Dauerbaustellen auf Hauptverkehrsstraßen, stundenlange Parkplatzsuche, Kinderwagen in überfüllten U-Bahnen. Überall Werbung, die den Verstand beleidigte. Nachbarn, die am Samstagmorgen Regale an die Wände schraubten. Kinder, die in der Wohnung oben Fangen spielten. Leute, die nicht wussten, dass es zum Musikhören Kopfhörer gab. Zehn verschiedene Paketdienste, die alle zwanzig Minuten klingelten, um eine Sendung für die Nachbarn abzugeben. Zugeschissene Bürgersteige. Überwachungskameras und flimmernde Monitore an jeder Ecke. Unternehmensberater am Arbeitsplatz. Berufsverkehr, Rollschuh-Demos, neurotische Hunde, überquellende Mülltonnen und Menschen, die den lieben langen Tag auf ihre Smartphones starrten, um jene ungesunde Mischung aus Panik und Langeweile nicht zu spüren, die für den aktuellen Zeitgeist typisch war.

Die Welt wurde in Städten erfunden, verwaltet, regiert und dekoriert. Also sollten die Irren mit ihrem Irrsinn auch in den Städten bleiben. Kein Schwein interessierte sich für Unterleuten, wenn es darum ging, Breitbandkabel zu verlegen, verarmte Rentner zu unterstützen oder eine Arztpraxis zu eröffnen. Dann sollten sie gefälligst auch ihre Windräder im Berliner Tiergarten errichten.

Unterleuten bedeutete Freiheit, Symbol der Freiheit war ein unverstellter Horizont. Unverstellte Horizonte gehörten zu Gerhards Job.

Mit Grauen dachte er daran, dass moderne Windkraftwerke die Höhe des Kölner Doms erreichten. Als wären Schaller und seine Müllverbrennungsanlage nicht Strafe genug. Der alte Kron mit seiner Krücke mochte nicht ganz bei Trost sein, aber seine Worte vor dem Märkischen Landmann hatten ins Schwarze getroffen.

Wenn auf der Anhöhe im Westen ein Windpark stünde, wäre Gerhards Haus, für dessen Sanierung er sich bis an sein Lebensende verschuldet hatte, keinen Pfifferling mehr wert. Das würde bedeuten, dass sie nicht wegziehen konnten, selbst wenn sie es wollten. Und Jule wäre bestimmt niemals in der Lage, sich mit dem Anblick der drehenden Rotoren zu arrangieren.

Mal abgesehen von ihrer persönlichen Betroffenheit, machte schon die Existenz der Kampfläufer das Vorhaben zur Farce. Man investierte doch nicht Millionen in ein EU-finanziertes Naturschutzgebiet, um es dann durch das Aufstellen von Windrädern in sein Gegenteil zu verkehren. Das Vogelschutzreservat Unterleuten lag auf dem Gebiet von drei benachbarten Gemeinden und war mit knapp 200 Hektar eines der größten in Europa. Gemeinsam mit vier Kollegen bewachte Gerhard auf diesem Territorium eine Population von 16 Brutpaaren. Gemäß Anlage 1 zur Bundesartenschutzverordnung gehörten die Kampfläufer zu den streng geschützten Vögeln. Sie waren 30 Zentimeter hoch, graufleckige Vögel von Größe und Statur einer kleinen Mülltüte, allerdings mit erstaunlicher Flugfähigkeit. Im Balzkleid präsentierten die Männchen einen weißen oder orangefarbenen Kragen. Traditionell besaßen die Vögel sogenannte Arenen, in denen sie ihre Werbungsläufe aufführten, während die Weibchen am Rand standen und sich ein Männchen für die Paarung aussuchten.

Den Winter verbrachten die Vögel in Westafrika. Von Anfang März bis Ende August wurde das Reservat abgeriegelt, damit die Kampfläufer bei Brut und Aufzucht ihrer Jungtiere nicht durch Spaziergänger gestört wurden. Aus ganz Europa reisten Ornithologen zur Beobachtung an. Sie kletterten auf einen der speziell errichteten Holztürme und richteten ihre Objektive auf die weiten Grasflächen der Unterleutner Heide. Meist stellten die Kampfläufer die Geduld ihrer Besucher auf eine harte Probe. Zeigte sich eine Gruppe in einiger Entfernung, die Männchen womöglich im Prachtkleid, mit gerecktem Kopf und gespreiztem Kragen ihre komplizierten Schleifen trippelnd, ratterten die Auslöser der Kameras, als liefe die Besetzung eines Hollywoodfilms über den roten Teppich.

Allein die Vorstellung, am Rand dieser Idylle einen Windpark zu errichten, löste bei Gerhard einen Lachreiz aus, der in Grauen überging, wenn er sich klarmachte, dass es sich nicht um einen Witz handelte.

Nach dem Abend im Märkischen Landmann hatte er noch lange mit Jule am Küchentisch gesessen. Er hatte sie zu einem Glas Wein genötigt und den Rest der Flasche allein getrunken. Sie redeten, wie sie schon lange nicht mehr miteinander geredet hatten. Über den tollwütigen Fortschrittsdrang der kapitalistischen Gesellschaft. Über die Idiotie der Politik. Über die Egozentrik und Aggressivität der modernen Welt, für die auch die brennenden Autoreifen des Tiers von nebenan ein gutes Beispiel abgaben. Selbstverständlich war Gerhard als Umweltschützer der ersten Stunde ein leidenschaftlicher Befürworter der Energiewende. Auch Jule vertrat die Auffassung, dass die Zukunft der Menschheit von der Umstellung auf erneuerbare Energien abhing. Aber alles mit Augenmaß.

Fuhr man von Berlin Richtung Unterleuten, überquerte man auf dem letzten Streckenabschnitt die Plausitzer Platte, eine in der letzten Eiszeit entstandene Hochfläche, auf der links und rechts der Straße rund 180 Windkraftanlagen standen. Bei Tag verbreitete die träge Bewegung der Rotoren einen schwer beschreibbaren Weltschmerz. Bei Nacht erzeugte das rhythmische, aber niemals synchrone Blinken der Warnleuchten hypnotische Zustände.

Jule hatte ihren Laptop geholt und zu googeln begonnen, während Gerhard ihr über die Schulter sah. Der Albtraum auf der Plausitzer Platte hatte auch nur mit acht Windrädern begonnen; in Unterleuten waren zehn geplant. Unter Jules flinken Fingern kam die Wahrheit nach und nach ans Licht. Windkraftanlagen zerstörten nicht nur die Landschaft, töteten Vögel und beeinträchtigten die Gesundheit der Anwohner. Sie waren auch unwirtschaftlich und ergaben in ökologischer Hinsicht überhaupt keinen Sinn. Da sich Strom nicht effizient speichern ließ, führte die Unzuverlässigkeit des Windes zu einer miserablen Energiebilanz. Außerdem war der CO2-Ausstoß bei Herstellung der Anlagen enorm. Offensichtlich dienten die Propeller weniger dem Erzeugen von umweltfreundlicher Energie als dem Abgreifen von Steuergeldern.

Als das Baby zu schreien begonnen hatte, war Jule ins Schlafzimmer gegangen und nach dem Stillen zu Gerhard zurückgekommen. Seit Monaten hatte er seine Frau nicht so entspannt erlebt. Sie war keine narkotisierte Mutter mehr. Jeden Gedanken, den er formulierte, erfasste sie sofort und spann ihn weiter. Er genoss es, sie anzusehen. Wie sie nickte, während er sprach. Ihr konzentriertes, vom Schein des Monitors beleuchtetes Gesicht. Fast kam es ihm vor, als wäre sie monatelang verreist gewesen und heute überraschend nach Hause zurückgekehrt. Bei aller Wut über die Pläne des Bürgermeisters – das Zusammensein mit Jule machte ihn glücklich. Es war weit nach Mitternacht, als sie endlich zu Bett gingen.

Jetzt zeigte die Uhr neun am Morgen und das Thermometer im Arbeitszimmer bereits 32 Grad. Die Sehnsucht danach, ein Fenster zu öffnen, fühlte sich an wie Durst. Im Nebenzimmer schrie Sophie, während Jule sie zu stillen versuchte.

Gerhard ging über den Flur ins Wohnzimmer, wo Jule auf der Couch saß und ihn müde anlächelte. Er hatte nicht gefragt, wie viele Stunden sie geschlafen hatte. Er wollte die Antwort nicht hören.

»Ich würde jetzt den Anruf machen. Könntest du Sophie …«

»Ist gut.«

Das Weinen des Babys wurde leiser, während Jule über den Flur ging, die Küche betrat und die Tür hinter sich schloss.

Gerhard setzte sich wieder an den Schreibtisch und nahm das Telefon zur Hand.

Uwe Kaczynski leitete die Naturschutzbehörde in Plausitz. Er war ein kleiner, tonnenförmiger Mann, der nach Kaffee und kaltem Zigarettenrauch roch. Er besaß weder Studium noch Abitur, war fünfzehn Jahre jünger als Gerhard und trotzdem sein Vorgesetzter. So gut es ging verbarg Gerhard seine Schwierigkeiten, Kaczynski ernst zu nehmen. Im Gegenzug behandelte Kaczynski ihn mit ausgesuchtem Respekt, war rund um die Uhr für ihn zu erreichen und begrüßte ihn am Telefon jedes Mal fröhlich mit »Na, Herr Professor«.

»Na, Herr Professor. Was kann ich für Sie tun?«

Die Dorfversammlung vom Vorabend schilderte Gerhard auf eine Weise, als könne es sich nur um einen Irrtum handeln.

Er wollte es Kaczynski leicht machen zu sagen, dass Unterleuten in Wahrheit gar nicht betroffen sei. Dass es die Leute von der Vento Direct eben überall versuchten, in diesem Fall aber ohne Chance. Brandenburg war schließlich groß genug.

Kaczynski hörte schweigend zu, bis Gerhard zu Ende gesprochen hatte. Dann ließ er noch ein paar Sekunden verstreichen, seufzte und setzte zu einem längeren Vortrag an. Plötzlich entbehrte die Professor-Anrede jeden Humors.

Es tue ihm leid, aber Professor Fließ müsse wissen, dass es sich hier nicht um eine kommunale Angelegenheit, sondern letztlich um große Politik handele. Brandenburg habe sich in der Energiestrategie 2020 verpflichtet, die durch Windkraft erzeugte Leistung innerhalb der nächsten zehn Jahre um das Fünffache zu steigern. Ob Professor Fließ sich das vorstellen könne: das Fünffache? Auf zwanzig Prozent des Energiebedarfs! Gleichzeitig werde die Inbetriebnahme des neuen Flughafens in Schönefeld den CO²-Ausstoß beträchtlich erhöhen. Das werde denen die Energiebilanz versauen, sagte Kaczynski, wenn sie sich nicht ranhielten. Der Ministerpräsident habe ausdrücklich klargestellt, dass neue Windparks kämen, ob das den Leuten gefalle oder nicht.

Weil Gerhard einhaken wollte, erhöhte Kaczynski das Sprechtempo.

Dieser Tanz finde auf einem anderen Parkett statt, da seien sie, nämlich Professor Fließ und Kaczynski, mit ihrem Naturschutz nur ein paar Sandkörner unter den Schuhsohlen. Leider sei die Vento Direct keine dahergelaufene Räuberbande, sondern ein offiziell anerkannter Partner des Ministeriums im Rahmen der Energiestrategie. Da wolle er lieber gleich sagen, wie die Aktien in Unterleuten stünden. Nämlich schlecht. Zwar seien die Gemeinden über das Bauplanungsrecht an der Projektierung beteiligt. Nur gehe es dabei nicht mehr um die Frage, ob die Propeller gebaut würden. Sondern nur noch darum, ob sie einen Kilometer weiter links oder rechts zu stehen kämen. Die Vento Direct grase das gesamte Umland ab, die seien schon überall gewesen, um ihre Wunschstandorte vorzustellen. Natürlich rege sich Widerstand. Schließlich wolle jeder Windkraft, nicht wahr, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.

Gerhard wollte protestieren, aber Kaczynski redete einfach über ihn hinweg.

Ein Satz noch, um die Sache zu Ende zu bringen, das sei vielleicht auch für Professor Fließ interessant. Deren Strategie bestehe in Schnelligkeit. Die Planung werde mit einem Affenzahn durch die Gemeinderäte gepeitscht, bevor die Leute richtig aufwachten. Viele Dörfer versuchten, sich zu wehren. Aber die meisten würden verlieren. So sei das eben.

»Und wer gewinnt?«, fragte Gerhard.

»Der Stärkere«, sagte Kaczynski.

Nachdem das Gespräch beendet war, ließ Gerhard das Telefon fallen wie einen schmutzigen Gegenstand. Der Deckel vom Akkufach sprang ab und rutschte klappernd über den Tisch. Er ging zu Jule in die Küche, stützte die Hände auf die Fensterbank und sah hinaus. Die aufgeklappte Allee lag friedlich in der Morgensonne. Sanft stiegen die Felder zum Waldrand hinauf. Weil Gombrowskis Bio-Betrieb keinen Unkrautvertilger verwendete, war die gelbe Fläche des Weizens bepudert vom Rot und Blau der Mohn- und Kornblumen. Gerhard versuchte, die Windräder zu sehen, zehn an der Zahl. Es gelang ihm nicht. Er schlug eine Faust auf das Fensterbrett.

»Was hat Kaczynski gesagt?«, fragte Jule.

»Den haben sie gekauft«, antwortete Gerhard.



14 Schaller


»He, Schaller. Kannst du dich an mich erinnern?«

Zwei Jahre nach dem Unfall geschah es immer noch, dass Menschen oder Dinge aus der Vergangenheit plötzlich an die Oberfläche seines Bewusstseins drangen, ein wahres Störfeuer verursachten und wieder verschwanden, wenn er sie zu begreifen versuchte. Er hatte festgestellt, dass es kaum eine Rolle spielte, ob er sich tatsächlich erinnerte. Die meisten Menschen waren so einfach gestrickt, dass ein Blick genügte, um das Wichtigste über sie zu wissen.

Der magere Rothaarige mit der körnigen Haut zum Beispiel war ein kleiner Gauner, der sich für clever hielt, wenn es ihm gelang, andere Menschen über den Tisch zu ziehen. Schaller hoffte, dass er in seinem früheren Leben vernünftig genug gewesen war, mit dieser Pfeife nicht zusammenzuarbeiten. Vermutlich war der Kerl ein Handlanger des Russen. Mit seinem quadratköpfigen Kumpel, der gerade vom Beifahrersitz des Transporters sprang, verständigte er sich durch Handzeichen und ein paar Brocken slawischen Kauderwelschs.

Schaller musste sich nicht erheben, um zu erkennen, dass es sich bei den Eisenteilen, die der Pritschenwagen geladen hatte, nicht um seine Hebebühne, sondern um einen Haufen Altmetall handelte. Mit baumelnden Beinen saß er auf der Bank und sah zu, wie Rothaariger und Quadratkopf auf die Ladefläche ihres Fahrzeugs kletterten und begannen, den Schrott mit großem Radau in den Hof zu werfen. Schaller blieb sitzen. Auch das hatte ihn sein gebrochenes Genick gelehrt: Viele Probleme erledigten sich von selbst, wenn man nicht aufstand. Die nächste Metallplatte fiel mit ohrenbetäubendem Scheppern in den Hof. Den Wert des Altmetalls schätzte Schaller auf dreihundert Euro. Der Russe ließ sich sein Statement etwas kosten. Es ging nicht nur darum, dass sie die gestohlene Hebebühne nicht zurückgeben wollten. Sie wollten zeigen, was für Schwergewichte sie waren. Eine Episode, die sie beim Bier im Landmann zum Besten geben konnten. Wie sie dem Schaller, der glaubte, einfach so ins Geschäft wiedereinsteigen zu können, einen Haufen Schrott in den Hof geworfen hatten.

»He, Schaller«, rief der Rothaarige. »Ich hab gehört, dass deine Birne jetzt wieder einigermaßen funktioniert. Weißt du dann auch noch, was Autotausch ist?«

Jeder wusste das. Zwei Besitzer von etwa gleichwertigen, fabrikneuen Limousinen wurden an unterschiedlichen Orten Opfer von Autodieben. Etwas später »kaufte« der eine bei einem kleinen Autohändler den Wagen des anderen und umgekehrt. Gleichzeitig wurden beide Versicherungssummen in voller Höhe fällig. Das Geschäft brachte eine anständige Provision für den Vermittler. Trotzdem glaubte Schaller nicht, jemals in eine so abgegriffene Gaunerei verwickelt gewesen zu sein. Aber sicher sein konnte er nicht.

»Dann schlage ich vor, du freust dich über unsere kleine Aufmerksamkeit und lässt in Zukunft die Latten am Zaun. Andernfalls kannst du deinen Freunden von der Bundespolizei erklären, wie viel Spaß der Autotausch immer gemacht hat.«

Derart lange Sätze hätte Schaller dem Rothaarigen nicht zugetraut. Vielleicht hatte der Russe ihn gezwungen, seine dämliche Ansage auswendig zu lernen. Während der leere Pritschenwagen mit pfeifendem Keilriemen vom Hof schlingerte, wuchs Schallers Ärger. Die Belästigungen gingen einfach immer weiter. Die Menschen konnten ihn nicht in Ruhe lassen. Egal, wo er wohnte, was er machte, mit wem er sprach – sofort fingen die anderen an, ihm übel mitzuspielen. Das zu wissen war schlimmer als die Tatsache, dass er sich jetzt mit der Sache befassen musste. Er brauchte seine Hebebühne so dringend, dass sich irgendeine Lösung finden würde. Ob mit Gombrowski oder dem Knüppel, konnte er später entscheiden.



15 Kron


Ausgerechnet in dem Moment, als er auf Hildes Schwelle stand, die Klingel drückte und dabei wie ein Komödien-Kavalier einen Strauß Rosen hinter dem Rücken versteckte, fuhren Malte und Wojtek mit dem Pritschenwagen vorbei. Malte, der am Steuer saß, ging vom Gas, hupte zum Gruß und lehnte sich halb aus dem offenen Fenster, um lachend auf die Rosen in Krons Hand zu zeigen. Dann beschleunigte der Pritschenwagen und verschwand am Ende des Beutelwegs im Wald.

Es gab nicht viele Situationen, in denen Kron nicht gesehen werden wollte, aber diese gehörte dazu. Unterleuten war das reinste Panoptikum. Wenn sich Datenschützer in der Zeitung wegen Überwachung im Internet ereiferten, musste Kron regelmäßig lachen. Man musste nur ein handelsübliches Dorf besuchen, um zu verstehen, was der gläserne Mensch tatsächlich war.

Kron klingelte noch einmal und hörte Schritte im Flur. Als sich die Tür einen Spalt öffnete, streckte er schnell die Hand mit dem Blumenstrauß hindurch, um zu verhindern, dass Hilde die Tür sofort wieder schloss.

»Was willst du?«, fragte sie.

»Mich entschuldigen.«

»Die Rosen hast du doch in meinem Garten abgerissen.«

Weil Kron nicht widersprechen konnte, schwieg er. Sein Lächeln war ein wenig eingerostet, er spürte es, als er die Wangen breit zog. So freundlich er konnte, blickte er auf Hilde hinunter. Seit Eriks Tod färbte sie sich die Haare schwarz. Der Streifen heller Kopfhaut im Scheitel hatte etwas Rührendes. Auch wenn sie ihm blond besser gefallen hatte, übten ihre hellen Augen und die winzigen Hände noch die gleiche Wirkung auf ihn aus wie vor dreißig Jahren.

»Darf ich reinkommen?«

Sie verzog keine Miene und trat nicht zur Seite, protestierte aber auch nicht, als er die Tür vorsichtig aufdrückte und an ihr vorbei in den Flur trat. Überall Katzen. Drei saßen hinter Hilde am Boden und sahen ihn an, eine weitere schlief kissenförmig auf dem Telefontischchen, die fünfte floh durch eine angelehnte Tür.

Kron hasste dieses Haus. Gombrowski hatte es gekauft, Gombrowski hatte es saniert, Gombrowski hatte Hilde hier hineingepflanzt wie eine verkümmerte Pflanze in einen neuen Topf.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte er.

Hilde reagierte nicht. Kron ging voran und machte eine einladende Geste, als wäre er hier zu Hause.

Das kleine Wohnzimmer war mit zwei Sofas, mehreren Sesseln und einer Unmenge von Stühlen vollgestellt. Die Einrichtung wirkte zusammgewürfelt, als hätte Gombrowski einige Stücke aus der alten LPG-Ausstattung mit alten Möbeln von Püppi kombiniert. Nur einen Augenblick fragte sich Kron, wozu Hilde so viele Sessel und Stühle brauchte – natürlich handelte es sich um Liegeplätze für die Katzen. Kron hatte nichts gegen Katzen, aber hier befanden sich so viele von ihnen, dass er sich ekelte wie vor einer Ansammlung Insekten.

Die Möbel waren von Katzenkrallen ramponiert, Teppiche und Polster von einer dichten Schicht Haare überzogen. Es roch. Kron suchte nach einem halbwegs sauberen Stuhl, fand keinen und setzte sich trotzdem. Hilde blieb stehen. Auf diese Weise waren sie etwa gleich groß. Den Anblick des Mullverbands auf Hildes Stirn fand Kron so beschämend, dass er den Blick zu Boden richtete. Dort saß das silberne Kätzchen und legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Der kleine Körper schwankte, als wollte das Tierchen vor lauter Konzentration im nächsten Moment hintenüberkippen. Krons Beschämung wandelte sich in Wut. Das war eine Erleichterung. Er zeigte auf das kleine Tier.

»Ich dachte, die Katze ist vergeben.«

»Die Familie holt das Kätzchen am Wochenende, Kron. Warum hältst du immer alle außer dir für Lügner und Betrüger?«

»Weil ihr alle welche seid.«

Obwohl Kron den Kopf nicht hob, wusste er, dass Hilde ihn ansah.

»War das jetzt deine Entschuldigung?«, fragte sie.

Das Kätzchen duckte sich, rüttelte mit dem Hinterteil und setzte auf Krons Schnürsenkel an. Hilde bückte sich und nahm das Tier auf den Arm. Kron hatte wirklich vorgehabt, ihr ein paar freundliche Worte zu sagen und gleich wieder zu gehen, aber nun musste er loswerden, was ihm auf der Zunge lag.

»Das Windmühlentheater ist doch wieder ein neues Verbrechen aus dem Hause Gombrowski«, sagte er.

»Wovon redest du?«

»Und Arne sitzt natürlich mit im Boot. Geht’s der Ökologica so schlecht, dass der fette alte Hund auch noch den Wind bestehlen muss?«

»Du bist paranoid, Kron.«

»Schallers Unfall vor zwei Jahren. Das hab ich damals nicht begriffen. Wer hatte es plötzlich auf Schaller abgesehen? Nach so langer Zeit?«

»Hör auf damit.«

»Fast zeitgleich hat ein Geldsack aus dem Westen den halben Landkreis gekauft. Ich konnte den Zusammenhang nicht erkennen. Seit gestern verstehe ich alles. Geschickt eingefädelt, das muss ich schon sagen.«

»Geh jetzt nach Hause, Kron.«

»Ihr wusstet damals schon von den Windmühlenplänen, stimmt’s? Aber euch hat das nötige Kleingeld gefehlt, um das Land selbst zu kaufen. Also habt ihr einen Investor gesucht. Und Schaller, der alte Idiot, sollte beiseitegeräumt werden, damit er euch nicht mit alten Geschichten dazwischenfunken kann. Zu blöd, dass diese Fleischmaschine sogar einen Genickbruch überlebt.«

»Hau ab!«, schrie Hilde.

Erschrocken wand sich das Kätzchen aus ihren Armen und sprang auf den Boden.

Hilde zitterte, ob vor Wut, Angst oder Scham, konnte Kron nicht entscheiden. Er stand auf und ging zurück in den Flur.

»Dieses Mal mache ich ihm einen Strich durch die Rechnung«, sagte er, die Türklinke schon in der Hand. »Das kannst du dem fetten alten Hund ausrichten.«

Sie stand auf der Schwelle und wirkte in ihrer Fassungslosigkeit wie ein Kind, das sich verlaufen hat. Glasklar erkannte Kron, dass sie unschuldig war. Nicht sie, sondern Gombrowski besaß ein schwarzes Herz. Hilde hatte in den langen Jahren der Abhängigkeit nur aufgehört, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Sie war in alle Pläne eingeweiht – das bedeutete aber nicht, dass es ihre Pläne waren. Und wie Kron sie so stehen sah, ein alt gewordenes Mädchen, wich die Wut mit einem Mal doch wieder dem schlechten Gewissen.

»Dass ich dich geschlagen habe, tut mir wirklich leid«, sagte er.

Wenn Hilde lächelte, erschienen in ihren Mundwinkeln zwei Grübchen, die sonst völlig unsichtbar waren.



16 Fließ-Weiland


Es war eine Wiedergeburt. Der Himmel blau, die Gärten grün, die Luft schwanger vom Geruch nach Staub, Kiefernnadeln und heißem Asphalt. Der Boden unter Jules Füßen schien zu federn wie ein Trampolin. Sie sah sich selbst in Zeitlupe, sie sah ihr eigenes Gesicht in Großaufnahme, entschlossen und voller Lebenskraft. Sie sah sich selbst von oben, wie sie in langem Rock und Sandalen die Dorfstraße entlanglief, mit einer Hand den Kopf ihres Babys stützend, das im Tragetuch vor ihrem Bauch schlief. Eine Frau mit einer Mission.

Die Idee war ihr gekommen, während Gerhard von seinem Scheitern bei Kaczynski berichtete. Frustriert hatte er am Küchenfenster gestanden und nicht weitergewusst. Mit einem Mal hatte Jule begriffen, dass sie gar nicht zu Hause herumsitzen und darauf warten musste, was ihr das Schicksal als Nächstes antun würde. Sie war keine Gefangene des Tiers von nebenan. Sie konnte sich Sophie vor den Bauch binden und gehen, wohin sie wollte. Im Gegensatz zu Gerhard arbeitete sie nicht bei einer Behörde und unterlag keinen Einschränkungen in Bezug auf politisches Engagement. Und sie hatte eine Verpflichtung gegenüber dem Dorf, das spürte sie jetzt deutlich. Seit ihrem Umzug hierher genoss sie das Gefühl, von einer langwierigen Krankheit genesen zu sein. Sie war der uneigentlichen Welt entkommen. Das Dorf war ein Lebensraum, den sie überblickte und verstand. Die Unterleutner lasen keine Zeitungen, sahen wenig fern, benutzten das Internet nicht. Dass sie alle vier Jahre ihren Arne zum Bürgermeister wählten, war Ehrensache; den Namen des Bundespräsidenten kannten sie vermutlich nicht. Die Politik interessierte sich nicht die Bohne für Unterleuten – warum sollte sich Unterleuten für Politik interessieren? Im Dorf gab es keine Geschäfte, keinen Arzt, keinen Pfarrer, keine Post, keine Apotheke, keine Schule, keinen Bahnhof – es gab nicht einmal Kanalisation. Es gab den »Märkischen Landmann«, an dessen Außenwand ein Briefkasten neben einem Zigarettenautomaten hing. Einige Kilometer außerhalb des Dorfs befand sich ein Horizontalfilterbrunnen, auf den der Bürgermeister unendlich stolz war, weil er die Gemeinde von der Trinkwasserversorgung des Zweckverbands unabhängig machte. Ein weiterer Schritt, der Unterleuten von aller Staatlichkeit entfernte. In den Gärten wuchs Gemüse, nicht, weil sich ein paar Öko-Aussteiger im nachhaltigen Ackerbau übten, sondern weil man den Keller vor dem Winter mit Kartoffeln füllen musste. Wer keinen Kartoffelkeller besaß, züchtete Hühner oder mästete Enten, konnte Stromleitungen verlegen, wusste, wie man billig an Dachziegel herankam oder fuhr alle zwei Wochen zum Zigarettenholen nach Polen. Tagsüber arbeiteten die Leute in Gombrowskis Ökologica oder schuppten Fische in einer Plausitzer Touristenküche. Abends speisten sie Waren und Dienstleistungen in die Tauschgesellschaft ein. Weil niemand Geld hatte, war wenig davon im Umlauf. Man tapezierte bei Silke und Sabine das Wohnzimmer und nahm dafür eine fette Gans mit nach Hause. Aufgeschrieben wurde nichts. Unterleutner besaßen einen sechsten Sinn dafür, wer wem einen Gefallen schuldete. Es war wichtig, nicht zu weit in Rückstand zu geraten.

Vor Sophies Geburt hatten Jule und Gerhard halbe Nächte damit verbracht, über das Unterleutner Soziotop zu reden. Über das Phänomen der Tauschgesellschaft konnten sie sich begeistern wie Naturforscher, die unverhofft einen neuen Käfer entdeckt hatten. Wenn Jule allerdings ihren Berliner Freunden davon erzählte, schüttelten diese ungläubig die Köpfe. Sie konnten nicht glauben, dass es in Deutschland Menschen gab, für die das Anbauen von Gemüse kein Hobby war. Was Jule erzählte, klang für sie nach Weißrussland oder Kasachstan. Wenn sie dann noch behauptete, dass sich ihre Nachbarn selbst gar nicht als arm bezeichnen würden; dass sie, im Gegenteil, zufriedener wirkten als manch ein Bewohner des Prenzlauer Bergs; dass sie die Abende nicht biertrinkend vor dem Fernseher, sondern mit Gartenarbeit, Nachbarschaftshilfe oder Informationsaustausch am Gartenzaun verbrachten, weil die Tauschgesellschaft sie ständig auf Trab hielt, runzelten die Freunde misstrauisch die Stirn. Spätestens wenn Jule den Gartenzaun scherzhaft das Dorf-Internet nannte und von »Fencebook-Profilen« sprach, stiegen die Zuhörer aus. Sie warfen ihr Sozialromantik vor und dass sie ihre Zivilisationsflucht hinter Provinzverklärung verberge.

Die Verabredungen wurden seltener. Die Berliner Freunde hatten wenig Zeit für Landbesuche, und Jule fing an, die Stadt als Vergangenheit zu betrachten. Unterleuten war ihr neues Leben, die Erde, auf der sie mit beiden Beinen stand.

Alles das galt es nun zu verteidigen. Die Zeit drängte. Jule musste loslegen, bevor die Strippenzieher anfingen, Unterleuten das Gehirn zu waschen. Das hatte sie Gerhard erklärt und sich über seine Verwunderung gefreut. Er hatte sie in den Arm genommen und gesagt, wie stolz er auf sie sei. Dann hatten sie sofort begonnen, die Einzelheiten zu klären. Trotz des Gestanks hatte Jule ihn zum Auto begleitet und die Feuer an der Grundstücksgrenze keines Blickes gewürdigt. Noch durchs offene Fahrerfenster hatte Gerhard letzte Anweisungen erteilt und dabei ihre Hand gehalten.

»Schaffst du das?«, hatte er gefragt. »Auch mit Sophie?«

Und ob sie das schaffte. 122 Haushalte gab es in Unterleuten, an zwanzig Türen hatte sie bereits geklingelt. Unter dem Arm trug sie ein Klemmbrett mit einer Unterschriftenliste, die sie selbst am Computer erstellt hatte. »Gegen Windkraft in Unterleuten« stand in großen Buchstaben am oberen Rand, darunter eine Tabelle, in der sich bereits elf Unterschriften befanden, jeweils mit vollständiger Adresse der Unterzeichner. Neun Familien waren nicht zu Hause gewesen, da konnte sie es am Abend noch einmal versuchen. Niemand hatte sie weggeschickt. Natürlich nicht. Auch die anderen sahen, was Jule selbst spürte. Sie war eine Ikone des Gemeinschaftssinns. Eine junge Mutter, die ihren Säugling mit auf die Straße nahm, um sich politisch zu engagieren. Ein älterer Mann hatte ihre Hand genommen und ihr gedankt. Dass es noch Menschen gibt, die sich wehren! Eine nette Frau wie Sie! Dabei sind Sie gar nicht von hier.

Jule verstand nicht mehr, was in letzter Zeit mit ihr los gewesen war. Jetzt war der Knoten geplatzt. Sie wusste wieder, dass Unterleuten tatsächlich existierte. Nicht irgendwo, sondern direkt vor der Tür, als ihr persönlicher Lebensraum. Als der Ort, an dem Sophie groß werden sollte. Ebenso wirklich wie das Dorf war die Bedrohung des Dorfs durch die Pläne einer sich selbst subventionierenden Gutmenschenbürokratie. Es würde schwierig werden, sich dagegen zu wehren. Seit die Wirtschaft gelernt hatte, die Sprache der Moral zu sprechen, lag das politische Engagement im Koma. Das hatte sie heute Morgen zu Gerhard gesagt, woraufhin er ihr Gesicht in beide Hände genommen und sie auf die Stirn geküsst hatte.

Jule passierte die Mauer des Märkischen Landmann und dachte an die blonde Frau, die gestern dem alten Krawallbruder seine Grenzen gezeigt hatte. Mutig war sie gewesen, hoch aufgerichtet und förmlich bebend von einem kompromisslosen Willen. Diese Linda war nicht älter als Jule selbst, eher ein paar Jahre jünger. Trotzdem schien das Material, aus dem man sie hergestellt hatte, aus einer anderen Kiste zu stammen. Wäre Jule ein Mann gewesen, hätte sie sich in diese Frau verliebt. Nicht das Gespräch mit Gerhard, sondern Lindas Anblick hatte sie aus ihrer geistigen Umnachtung gerissen. Linda stand am Tor zur Welt und machte eine einladende Geste, und Jule freute sich jetzt schon darauf, mit ihrer Unterschriftenliste in die Villa Kunterbunt zu gehen.

Aber erst einmal war das Haus mit dem blauen Dach an der Reihe. Die Sonne brachte die glasierten Dachziegel zum Leuchten und ließ sie aussehen wie aus buntem Plastik gemacht. Es war nicht nur das größte, sondern auch das scheußlichste Gebäude im ganzen Beutelweg.

Im Lauf des Vormittags hatte Jule ein Spiel daraus gemacht, anhand der Außenansicht eines Hauses zu erraten, ob man ihr Bier, Zigaretten, Kaffee oder Bromfelder anbieten würde. Die meisten Treffer erzielte sie, wenn sie auf Bromfelder tippte, aber das Haus mit dem blauen Dach war eindeutig ein Kaffee-Haus. Es thronte auf einem weitläufigen Grundstück. Mehrere Rasensprenger vereinten ihr rhythmisches Zischen zu einem melancholischen Lied; wo sie nicht hinreichten, war das sauber gestutzte Gras von der Hitze gelb verfärbt. Zwei Gipslöwen bewachten die Treppe zur Eingangstür. Eine Klingel gab es außerhalb des Zauns nicht. Als Jule gerade das Gartentor öffnen wollte, hörte sie ein Geräusch auf dem Nachbargrundstück und hielt inne. Nebenan ging die Tür auf, ein Mann trat aus dem kleinen Häuschen. Ein paar Rosen flogen an seinem Kopf vorbei, dann fiel die Tür ins Schloss.

Ein Moment der Stille. Langsam drehte sich der Mann zu Jule um, als hätte er schon gewusst, dass sie dort stand und die Szene beobachtete. Es war der Alte, mit dem Linda am Vorabend aneinandergeraten war. Sein Name fiel Jule nicht ein. Obwohl sie schon zwei Jahre in Unterleuten lebte, kannte sie wenig Leute. Oma Rüdiger und Opa Margot sowie Arne, den Bürgermeister. Kathrin, von der Jule zunächst geglaubt hatte, dass sie Arnes Tochter, dann, dass sie seine Geliebte sei, bis sie begriff, dass es sich nur um Nachbarschaft handelte.

»Was machst du da?«, fragte der Alte.

Die Frage traf Jule unvorbereitet. Sie war noch bei der Überlegung, ob sie den Mann grüßen sollte oder nicht.

»Unterschriften sammeln«, sagte sie schließlich.

»Was?«

»Gegen Windkraft.«

»Was?«

»Wollen Sie vielleicht unterschreiben?«

»Was?«

Sie überlegte, ob er nicht ganz richtig im Kopf war. Oder vielleicht schlecht hörte. Er verließ das Nachbargrundstück und kam zu ihr auf die Straße.

»Zeig her.«

Ein paar Meter vor ihr blieb er stehen und streckte die Hand aus, so dass sie zu ihm gehen musste, um ihm die Liste zu geben. Mit schnellem Blick überflog er Überschrift und Namen.

»Hat sich jemand geweigert?«

»Ein paar waren nicht zu Hause.«

»Ob sich jemand geweigert hat!«

»Bis jetzt nicht.«

Der Alte nickte und gab ihr das Klemmbrett zurück.

»Unterschreiben Sie jetzt? Die Windkraftanlagen bedrohen nicht nur die landschaftliche Schönheit der Region, sondern auch …«

»Schätzchen.« Der Alte streckte die Hand aus und tätschelte Jules Wange. »Das Einzige, was ich in diesem Leben noch unterschreiben werde, ist mein Testament.«

Plötzlich hielt er inne und sog Luft durch die Nase.

»Du stinkst«, sagte er. »Nach verbranntem Gummi.«

Jule spürte, wie sie rot anlief.

»Das liegt an …«

Der Alte griff ihr ins Haar und roch an einer Strähne.

»Bei Schaller steigt seit ein paar Tagen Rauch auf«, sagte der Alte.

»Wir wohnen nebenan«, erwiderte Jule vorsichtig.

»Der räuchert euch ein?«

Jule antwortete nicht. Noch einmal roch der Alte an ihrem Haar, ohne dass sie sich gewehrt hätte. Seine Dreistigkeit machte sie hilflos.

»Interessant«, sagte er. »Sehr interessant.«

Damit drehte er sich um und hinkte den Beutelweg hinauf Richtung Wald.

Jule sah ihm eine Weile nach, bevor sie sich wieder dem Haus mit dem blauen Dach zuwandte. Sie trat durchs Gartentor und stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf. Als sie die Klingel drückte, schlug drinnen ein Hund an. Fast alle Dörfler besaßen Hunde, die an den Zäunen entlangrannten, wenn sie nicht in Zwingern eingesperrt waren. Bei Nacht stimmten die Köter wahre Wolfskonzerte an. Mit einer Einzelstimme nahm das Geheul seinen Anfang und breitete sich aus, bis das ganze Dorf im Mondlicht tönte wie ein unheimliches Rieseninstrument. Jule hatte sich oft gefragt, wie es den Leuten gelang, von ihren eigenen Hunden nicht genervt zu sein. Was sie bislang noch nicht gesehen hatte, war ein Hund, der im Haus lebte. Schon gar nicht so ein Riesentier. Durch das Türfenster konnte sie verfolgen, wie der Hund mit langen Sätzen den Flur herunterkam. Er war so groß, dass seine Bewegungen wie Zeitlupe wirkten. Er bremste und schlitterte den letzten Meter bis zur Tür, wo er sich auf die Hinterbeine stellte und die Pranken gegen die Scheibe stemmte. So standen sie Auge in Auge, gleich groß, getrennt durch das Glas. Jule hatte Hunde nie besonders gemocht. Seit Sophie auf der Welt war, vertrat sie die Auffassung, dass diese überflüssigen Monster verboten gehörten.

»Fidi, aus!«

Eine etwa sechzigjährige Frau mit kurzen grauen Haaren und biederem Rock packte den Hund am Halsband, zerrte ihn mit ganzer Kraft von der Haustür weg und schob ihn in eins der angrenzenden Zimmer. Erst dann öffnete sie die Tür.

»Entschuldigung«, sagte die Frau. »Der Hund gehört meinem Mann.« Sie sandte ein schüchternes Lächeln aus, als wäre sie auf der Suche nach einer Verbündeten. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Jule Fließ. Ich sammele Unterschriften gegen den Bau von Windkraftanlagen in Unterleuten.«

Die Frau reagierte nicht. Ihr Blick wanderte zwischen Jules Augen hin und her, als suchte sie Antwort auf eine Frage. Vielleicht hatte sie nicht verstanden, worum es ging.

»Das Kapital unserer infrastrukturell schwachen Region liegt in den Naturschönheiten, in der Unberührtheit der Landschaft und im reichen Artenbestand. Deshalb wäre es ein unverzeihlicher Fehler …«

Jule verstummte. Das Gesicht der Frau hatte einen gehetzten Ausdruck angenommen.

»Was ist denn in Sie gefahren?«, fragte sie. »Wenn der Hund da ist, ist auch mein Mann zu Hause.«

Darauf fiel Jule keine Erwiderung ein. Sie wippte ein wenig auf den Fersen, um die schlafende Sophie zu schaukeln. Die Rasensprenger brachten die nächste Umdrehung hinter sich, ein kühler Luftzug war zu spüren, wenn das Wasser in die Nähe kam. Die Frau blickte über die Schulter in den Flur. Sie schien vor irgendetwas Angst zu haben. Gerhard hatte mehrmals betont, dass es bei solchen Aktionen vor allem darauf ankam, sich nicht abwimmeln zu lassen.

»Außerdem wird der Wert unserer Grundstücke sinken«, versuchte Jule es noch einmal. »Das ist Enteignung.«

»Gehen Sie jetzt bitte. Sofort.« Die Frau sprach schnell und leise. »Sie kommen von außerhalb. Sie wissen gar nicht, wo Sie sind.«

Dann schlug die Tür zu.



17 Meiler


Eigentlich hatte er schon beschlossen gehabt, dem Drecknest für immer den Rücken zu kehren, den albernen Namen »Unterleuten« zu vergessen und den gestrigen Tag aus dem Gedächtnis zu streichen. Selbst die Lust darauf, die ganze Bande zu verklagen, war mit dem Verrauchen des Ärgers auf null gesunken.

Aber dann war sein Mittagstermin in Berlin überraschend geplatzt, und die nächste Verabredung stand erst für 15 Uhr im Kalender. Konrad Meiler saß am Rand eines Abgrunds aus unverplanten Stunden. Freizeit hasste er fast ebenso sehr wie Zeitverschwendung. Eine Weile saß er auf der Kante des Hotelbetts und starrte ins Leere. Dann holte er, einem spontanen Impuls folgend, das Handy hervor und rief Mizzie an.

In der Regel musste er es mehrmals versuchen, wenn er sie persönlich erreichen wollte. Oft begnügte er sich mit der Mailbox, sprach aufs Band, wie es ihm ging und was er in letzter Zeit gemacht hatte, oder erzählte einfach nur, was er sah, wenn er aus dem Fenster schaute. Auch jetzt war er auf einen Monolog eingestellt und erschrak, als sich Mizzies Stimme meldete.

»Hallo, Konrad«, sagte sie freundlich. »Wie geht es dir?«

Auf die Schnelle fiel ihm kein sinnvoller Anfang ein. »Mizzie, wie findest du Windräder?«, fragte er schließlich.

Es entstand eine Pause. Im Hintergrund hörte er die Lautsprecheransagen des Münchner Hauptbahnhofs.

»Diese kleinen, die man in der Hand hält und pustet? Die hat Philipp geliebt, als er ein Kind war.«

»Ich meine die großen. Mit denen man Windenergie erzeugt.«

»Ach so.« Mizzie schien zu überlegen. »Die erinnern mich an die kleinen. Ich denke, die großen mag ich auch.«

»Willst du einen Windpark?«

»Wie bitte?«

»Ob du dir einen eigenen Windpark wünschst.«

»Warum nicht.« Mizzie lachte. »Bist du betrunken?«

»Noch nicht.« Auch Meiler lachte. Eine weitere Pause entstand. »Ist Philipp bei dir?«

»Wir sind verabredet.« Mizzies Stimme war die Freude über Meilers Frage anzuhören. Normalerweise vermied er es peinlich, sich nach seinem Sohn zu erkundigen.

»Wie geht es ihm?«

»Oh, zurzeit richtig gut. Wir suchen gerade eine Wohnung für ihn. Vielleicht kann ich ihn auch überreden, es noch einmal in Grafrath zu versuchen. Ich bin ganz optimistisch, dass wir bis Ende September …«

»In Ordnung, Mizzie«, sagte Meiler.

Grafrath war eine Fachklinik für Suchtkranke, in der Philipp bereits mehrere Entzugsversuche hinter sich gebracht hatte; Meiler wusste nicht mehr, wie viele. Das Thema ertrug er nicht. Er hielt es nicht aus, seine Frau das Wort »Optimismus« gebrauchen zu hören.

»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte er. »Grüß ihn von mir, ja?«

»Mach ich«, sagte Mizzie glücklich. »Da wird er sich freuen.«

Das kurze Gespräch hatte Meiler angestrengt wie ein Langstreckenlauf. Er schob es auf die Entscheidung, die er währenddessen gefällt hatte. Sofern eines der Eignungsgebiete zu seinem Besitz gehörte, würde er den Windpark in Unterleuten errichten lassen. Nicht für sich, sondern für seinen Sohn. Den jährlichen Pachtertrag von 150000 Euro würde er auf Philipps Konto überweisen, treuhänderisch verwaltet durch Mizzie.

Jahrelang hatte Meiler es abgelehnt, seinen Sohn finanziell zu unterstützen, solange er das Geld für die Beschaffung von Drogen ausgab. Dabei wurde Mizzie nicht müde, ihm zu erklären, dass Philipp bei Verwendung von sauberem Stoff ein langes und gesundes Leben führen könnte. Aber Meiler verabscheute Schwäche, und die Vorstellung, Philipps Kapitulation vor der Sucht zu finanzieren, bereitete ihm Übelkeit. Dass er jetzt plötzlich von seinem Grundsatz abrückte, hatte weniger mit Philipp als mit Mizzie zu tun. Es würde sie überglücklich machen, mit dem Geld für ihren geliebten Sohn sorgen zu können. Ihrer Meinung nach wusste niemand so gut wie sie, was das Richtige für Philipp war. Wenn Meiler selbst nichts mehr tun konnte, um zu Mizzies Glück beizutragen, dann sollte eben der Unterleutner Wind ihr den größten Wunsch erfüllen. Schließlich hatte er die Ländereien genau für solche Fälle ersteigert – Umgehungsstraße, Supermarktfiliale, Outletcenter oder eben Windkraft. So machte man Geld, und beim Geldmachen hatte er immer in erster Linie an seine Familie gedacht.

Meiler erhob sich von seinem Kingsize-Bett im Berliner Adlon, wo er abzusteigen pflegte, wenn er sich in der Hauptstadt aufhielt, nahm den Autoschlüssel vom Tisch und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage.

Eine knappe Stunde später stand er vor einem Neubau im Zentrum der Kreisstadt Plausitz und stemmte sich vergeblich gegen die Glastür. Noch einmal kontrollierte er die Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 8 bis 12 Uhr. Es war Freitag, der 16. Juli 2010, 11:45 Uhr. An einem leisen Surren erkannte er schließlich, dass sich die Glastür sehr wohl bewegte. Sie öffnete sich automatisch, mit einer unfassbaren Langsamkeit, die Meiler für Stillstand gehalten hatte.

Im vierten Stock belegten die Bausachen mehrere Büros. Auf gut Glück klopfte Meiler an die erste Tür. Frau Liebkind war höchstens dreißig und von Kopf bis Fuß kariert. Sie saß in einer Kammer, die den Schreibtisch eng umschloss. An der Wand ein selbstgebastelter Kalender mit Katzenphotos. Nach einer einladenden Handbewegung ihrerseits kauerte sich Meiler auf ein Stühlchen und betrachtete die Rückseite des Monitors.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Frau Liebkind. »Schiefe Kappe auf der Plausitzer Höhe, südlich der Unterleutner Landstraße. Das sind die Flurstücke 27/3 und 27/4 sowie die 28/1. Insgesamt etwa zwanzig Hektar. Was wollen Sie wissen?«

»Ich möchte wissen, ob ich auf der Schiefen Kappe Land besitze.«

»Das tun Sie, Herr Meiler, und zwar das Flurstück 28/1. Acht Hektar.«

»Das reicht nicht.«

Frau Liebkind lachte.

»Ich meine, es reicht nicht für das Vorhaben.«

»Windkraft?« Sie nickte, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. »Dafür brauchen Sie zehn Hektar, und zwar zusammenhängend. Am besten, Sie kaufen das mittlere Flurstück dazu. Zwei Hektar.«

»Wer ist der Eigentümer?«

»Die Datensätze sind leider vertraulich. Aber wenn Sie ein Kaufinteresse anmelden wollen, kann ich den Eigentümer für Sie kontaktieren. Dann müssen Sie warten, ob sich der Betreffende bei Ihnen meldet. Kann natürlich dauern.«

Frau Liebkinds Fingernägel waren orange lackiert, dazu passte ihr Lippenstift. Meiler lehnte sich zur Seite, um ihr in die Augen zu sehen und herauszufinden, ob sich der Bildschirm darin spiegelte. Unmöglich, etwas zu erkennen. So etwas funktionierte nur in Filmen.

»Es sind insgesamt drei Eigentümer auf der Schiefen Kappe?«

Frau Liebkind nickte und lächelte.

»Außer Ihnen noch zwei.«

»Wohnen die beiden anderen in Unterleuten?«

Frau Liebkinds Lächeln vertiefte sich.

»Das darf ich Ihnen eigentlich nicht sagen.«

Verzweifelt sah Meiler sich in dem winzigen Raum um. Ein Kaufinteresse anzumelden, einfach ins Blaue hinein, konnte einen unverzeihlichen Fehler bedeuten. Er überlegte, eine Frage zu den Katzenphotos zu stellen, um etwas Zeit zu gewinnen. Frau Liebkind lächelte noch immer. Sie war halb so alt wie er und blickte ihn an wie eine nachsichtige Mutter, die sich heimlich über die Seelennöte ihres Kinds amüsiert. Dann stand sie auf.

»Herr Meiler, ich gehe jetzt kurz raus und hole mir einen Kaffee.« Mit dem Zeigefinger strich sie über die obere Kante des Bildschirms und drehte ihn wie zufällig ein Stück in Meilers Richtung. »Bis gleich.«

Ihr bezauberndes Lächeln blieb noch eine Weile im Raum, nachdem sie schon verschwunden war.



18 Fließ-Weiland


»Haben Sie Probleme mit den Nachbarn?«, fragte Jule.

»Wie bitte?«

Alleine hatte Jule dem Bürgermeister noch nie gegenübergesessen. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er ihrem ehemaligen Geschichtslehrer ähnelte. Allerdings ein wenig schlaff, als wäre er einst ein stattlicher Mann gewesen, der in kurzer Zeit viel Gewicht verloren hat.

»Das macht sehr viel Lärm«, sagte Jule.

»Ach, das.« Arne schloss das Fenster. Das Knattern des Rasentraktors wurde leiser, war aber immer noch deutlich zu hören. »Das ist Herr Hübschke von nebenan.«

»Wenigstens müssen Sie das nur einmal die Woche ertragen.«

»Er mäht täglich.«

»So schnell wächst Gras doch gar nicht.«

»Er mäht zur Entspannung. Stundenlang.«

Arne Seidel setzte sich hinter den Schreibtisch, legte die Hände vor sich auf die Filzunterlage und lächelte Jule auffordernd an. Offensichtlich wollte er, dass sie jetzt zur Sache kam, aber der Rasenmäher bannte ihre Aufmerksamkeit.

»Das heißt, Sie wohnen und arbeiten hinter geschlossenen Fenstern?«

»Meistens.«

»Und können auch im Sommer nicht lüften?«

»Nur kurz.«

»Das muss doch furchtbar sein.«

»Frau Fließ.« Arne Seidel kniff die Augen zusammen. Das hatte der Geschichtslehrer, dessen Name Jule nicht einfallen wollte, auch immer getan, wenn ihm etwas nicht gefiel. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Wasser? Tee?«

Er war der Erste, der Kaffee oder Alkohol gar nicht erst vorschlug.

»Nein, danke.«

»Braucht das Baby etwas?«

Er war auch der Erste, der sich nach Sophie erkundigte, die schon wieder schlief, als wollte sie die letzten vier Nächte nachholen. Wenn Jule ans Schlafen dachte, wurde ihr schwindlig. Der Besuchersessel war so bequem, dass sie ihn kaum spürte. Ein Gefühl, als säße sie auf einer Wolke. Jule fixierte das Kinn des Bürgermeisters, bis das Zimmer zu schwanken aufhörte.

»Ein schönes Glas Milch für die Kleine?«

Höflich lachte sie über seinen Witz. Sie hatte Arne Seidel immer gemocht. Am Anfang, als Gerhard und sie in Unterleuten einfach alles gut fanden, pflegten sie einander nach jeder Begegnung mit Arne zu versichern, das Dorf habe den Bürgermeister, den es verdiene. Ein außergewöhnlich nettes Dorf mit einem außergewöhnlich netten Bürgermeister. Sie beugte sich vor und legte ihm die Unterschriftenliste auf den Tisch. Er nahm sich Zeit, Titel und Namen in Ruhe zu mustern.

»Hören Sie, Frau Fließ.« Bei der Tatsache, dass er sie ständig mit Namen ansprach, musste es sich um eine Berufskrankheit handeln. »Ich freue mich, wenn sich die Bürger engagieren. Gerade bei Zugezogenen. Das ist ein Zeichen von Gemeinschaftssinn. Aber ich kann das nicht unterschreiben.«

Er schob das Klemmbrett bis an den äußersten Rand der Tischplatte. Gewiss hätte Jule sich erheben sollen, um es an sich zu nehmen. Aber sie konnte nicht. Sophies Gewicht drückte schwer auf ihre Brust, die regelmäßigen Atemzüge der Kleinen wirkten wie ein Schlafmittel.

»Als Gemeindevorsteher muss ich in dieser Angelegenheit neutral bleiben. Dafür haben Sie sicher Verständnis.«

Jules Konzentration glitt an seinen Worten ab. Der Rasentraktor schrie und nörgelte. Jule glaubte, das fette Tier von nebenan geduckt auf der Maschine kauern zu sehen, wie es mit höhnischem Grinsen seine Runden zog.

»Wann bekommen wir unsere Baugenehmigung?«, hörte sie sich murmeln. »Für die Mauer.«

Überrascht blickte Arne auf. »Das Verfahren geht seinen gewöhnlichen Gang.«

Der Bürgermeister verschwamm an den Rändern. Der Geschichtslehrer hatte Herr Hoppe geheißen. Es war eine Erleichterung, sich daran erinnern zu können. Jule spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen, obwohl das eigene Gesicht nicht mehr zu ihr gehörte.

»Das Tier macht uns fertig«, flüsterte sie.

»Frau Fließ?«

Das Geräusch des Rasenmähers verlor sich in der Ferne. Schwoll an, schwoll ab. Menschen besaßen kein Recht, einander zu quälen. Das wollte sie Arne sagen.

»Frau Fließ?«



19 Seidel


Es polterte an der Tür wie bei einem Auftritt Knecht Ruprechts.

»Da ist er ja«, sagte Arne leise zu sich selbst.

Soeben hatte er die schlafende Frau Fließ samt Baby aus dem Besuchersessel gehoben und ins Wohnzimmer getragen, wo er sie aufs Sofa bettete. Er legte sie auf den Rücken und stabilisierte ihren Körper mit einem Kissen, um zu verhindern, dass sie im Schlaf das Baby unter sich begrub. Dann lockerte er den Stoff des Tragetuchs, damit kein Hitzestau entstand, und beugte sich vor, um am Hinterkopf der schlafenden Kleinen zu riechen. Der Geruch war so intensiv, dass er beschämt zurückzuckte, als hätte er versucht, etwas zu stehlen, das ihm nicht gehörte.

Das Poltern an der Tür steigerte sich zu einem regelmäßigen Wummern. Jemand schlug mit der flachen Hand gegen das Holz und rüttelte mit der anderen am Knauf. Arne hatte diesen Auftritt vorhergesehen. Seit der Versammlung am Vorabend wartete er auf das Erscheinen seines Freundes. Er wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn ihn das Hämmern an der Tür mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hätte. Gombrowski kam, wann er wollte, und benutzte grundsätzlich keine Klingeln.

Als Arne die Tür öffnete, walzte Gombrowski ohne ein Wort des Grußes an ihm vorbei und strebte schnurstracks ins Arbeitszimmer, wo er schnaufend stehen blieb. Arne folgte gemächlich und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er hatte nicht nur geahnt, dass Gombrowski kommen, sondern auch, wie sich die Situation abspielen würde. Und er behielt recht. Von der ersten Sekunde an lief Gombrowskis Besuch wie auf Schienen. Arne bot ihm etwas zu trinken an und wusste, dass er ablehnen würde. Er forderte ihn auf, sich zu setzen, und wusste, dass er stehen bleiben wollte. Gombrowski begann, vor dem Schreibtisch auf und ab zu laufen und eine Ansprache zu halten, der Arne nicht zuhörte, weil er sich jedes Wort selbst denken konnte. Entspannt lehnte er im Schreibtischstuhl und bewunderte Gombrowskis Stimme, die in wütenden Stößen dröhnte wie eine Tuba.

Weil der Bürgermeister von Unterleuten kein Amtszimmer zur Verfügung gestellt bekam, hatte Arne sein ehemaliges Esszimmer zum Büro umfunktioniert. Von hier aus besaß man den besten Blick in den Garten, der ab der Mitte zunehmend von großen Kiefern dominiert wurde, als versuchte der angrenzende Wald, sich ans Haus heranzupirschen. Nach hinten hin wurde der Rasen löchrig und kümmerlich und ging schließlich in eine Sandfläche über, weil das Gras kein Licht mehr bekam.

Bevor Kathrins nichtsnutziger Ehemann auf die Idee mit dem Rasentraktor gekommen war, hatte Arne viel Zeit damit verbracht, am Fenster zu sitzen und hinauszusehen. Tagsüber hatte er Spechte, Hasen, Eichelhäher und Bussarde beobachtet. Inzwischen trauten sich nur noch Nachttiere in den Garten. In der Abenddämmerung kamen Fledermäuse, Waschbären, Füchse und Marder. Manchmal zog eine Eule ihre lautlose Bahn, oder ein Reh wagte sich nah ans Haus heran, um das gut gedüngte Gras im vorderen Teil zu fressen. Arne freute sich über jedes Tier. Nur wenn Wildschweine auftauchten, rannte er schreiend hinaus und schwenkte ein Handtuch über dem Kopf.

Leider half das Handtuch nicht gegen Wolfi. Während Gombrowski weiter hin und her lief und dabei schimpfte, sah Arne zu, wie Wolfi immer wieder möglichst dicht am Zaun entlangfuhr, weil er sich einen Sport daraus machte, einzelne Grashalme im direkten Umfeld der Zaunpfosten zu erwischen. Gemocht hatte Arne den hageren Möchtegern-Schriftsteller noch nie, aber inzwischen konnte sich seine Genervtheit in veritablen Hass verwandeln, wenn er die leicht gekrümmte Gestalt auf dem knatternden Traktor betrachtete. Besonders hasste er den runden Kopf, von dem sich das Haar bereits zurückzog und an dem seitlich die Micky-Maus-Ohren eines Lärmschützers saßen, mit dem sich Wolfi gegen jenen Krach abschottete, der Arne in den Wahnsinn trieb. Er würde nie verstehen, was Kathrin an diesem Dünnbrettbohrer fand. An Werktagen lag Wolfi bis zehn in den Federn, weil er angeblich nachts an seinen Theaterstücken arbeitete. In Wahrheit guckte er auf seinem Computer Filme, sobald Kathrin zu Bett gegangen war, was Arne am bunt flackernden Widerschein an den Wänden von Wolfis Arbeitszimmer erkennen konnte. Statt sich wenigstens anständig um Krönchen zu kümmern, die ein immer größerer Quälgeist wurde, hätschelte Wolfi seine Neurosen und ließ sich das schriftstellerische Versagen seelenruhig von seiner Frau finanzieren.

Einmal hatte Arne Kathrin am Gartenzaun gefragt, warum sie kaum noch Kontakte im Dorf pflege und nicht einmal zum Osterfeuer oder Erntedankfest erscheine. Erst hatte sie sich auf ihre Arbeit herausgeredet und darauf, dass Krönchen sie ständig auf Trab halte. Weil Arne das nicht gelten ließ, sagte sie schließlich:

»Du musst das verstehen. Wolfi kommt nicht aus Unterleuten. Er ist nur meinetwegen hier.«

Übersetzt hieß das: Er hält sich für etwas Besseres und hat keine Lust auf euch Dörfler.

Für Arne stand fest, dass Kathrin einen besseren Mann verdiente. Einen, der sie ernst nahm und der ihr zuhörte. Der arbeiten ging und die schweren Tätigkeiten im Haushalt erledigte. Manchmal fühlte sich Arne wie ein eifersüchtiger Vater. Er musste erleben, wie ihm ein minderwertiger Schwiegersohn die Ersatztochter wegnahm und ihm dann noch die Tage mit seinem knatternden Hobby vergällte.

Plötzlich trat Ruhe ein. Wolfi leerte den Fangkorb. Arne breitete die Arme aus und dehnte den schmerzenden Rücken. Langsam begannen ihm Gombrowskis Tiraden auf die Nerven zu gehen. Warum Arne ihm nicht rechtzeitig von der Windkraftoption erzählt habe. Dass sie gemeinsam ein besseres Eignungsgebiet ausgesucht hätten. Auf der Schiefen Kappe besitze er, Gombrowski, nur acht Hektar, für den Windpark brauche er aber mindestens zehn, und zwar zusammenhängend. Wie Arne ganz genau wisse, gehe es der Ökologica nicht besonders gut, sie sei aber immerhin der größte Arbeitgeber in der Region, und die Propeller könnten sie retten. Da capo, da capo.

Natürlich war ein Bürgermeister immer auch Prügelknabe für alle Frustrierten. Ein Großteil des Jobs bestand darin, an allem schuld zu sein. Trotzdem hatte Arne mit einem Mal keine Lust mehr, sich beschimpfen zu lassen. Der alte Hund hatte genug Zeit bekommen, um sich abzureagieren.

»Einigt euch«, sagte Arne.

Gombrowski blieb so abrupt stehen, dass Arne schon dachte, er müsse stürzen. Aus schweren Augen blickte er Arne an. In der plötzlichen Stille traf Arne eine Entscheidung. Er würde Wolfis Treiben ein Ende setzen. Alle Versuche, mit Kathrin über den Rasenmäher zu reden, waren erfolglos geblieben. Jetzt würde er die Sache selbst in die Hand nehmen, und er wusste auch schon, wie. Nur weil er versuchte, ein guter Bürgermeister zu sein, musste ihm nicht das ganze Dorf auf der Nase herumtanzen.

Einstweilen hatte Gombrowski die Sprache wiedergefunden.

»Willst du mich verarschen?«

»Du wirst doch wohl in der Lage sein, das mittlere Stückchen dazuzukaufen.«

»Es gibt aber noch einen dritten Eigentümer auf der Schiefen Kappe! Wenn der das mittlere Stückchen kauft, hat er ebenfalls genug Platz für den Windpark. Weißt du, was für eine beschissene Verhandlungssituation das ist?«

»Und weißt du, wem das andere Eignungsgebiet gehört?«, gab Arne zurück. »Das schmale Stück direkt am Waldrand?«

Statt einer Antwort schnaufte Gombrowski, wie er es tat, wenn er sich beim Skat verrechnet hatte. Arne hatte trotzdem Lust, den Namen zu sagen.

»Es gehört Kron. Ich kann dafür sorgen, dass er den Zuschlag bekommt. Wäre dir das lieber?«

Gombrowski starrte ihn an.

»Die Auswahl der Eignungsgebiete läuft unter Beteiligung der Landesregierung«, sagte Arne. »Mehr konnte ich nicht für dich tun. Kommst du am Montag zum Skat?«

Lächelnd schaute er dem breiten Rücken nach; Gombrowski kannte den Weg hinaus.

Die Haustür war noch nicht ins Schloss gefallen, als ein Baby zu schreien begann. Der Schreck hob Arne vom Stuhl. Die junge Frau Fließ hatte er vollständig vergessen. Fast im selben Moment erschien sie auf der Bildfläche, das Baby im Arm, und sah sich verschlafen um. Eine Sekunde hoffte Arne, Gombrowski wäre bereits gegangen und hätte die Tür ausnahmsweise geräuschlos ins Schloss gezogen. Unruhe im Dorf würde sich bei dieser Sache nicht vermeiden lassen. Was Arne allerdings nicht brauchte, waren streitende Parteien, die gleich in seinem Hausflur aneinandergerieten. Aber schon dröhnte die Stimme des alten Hunds durchs Haus, das Babygeschrei mühelos übertönend.

»Was machen Sie denn hier?«

»Unterschriften sammeln«, antwortete Frau Fließ.

»Wofür denn?«, polterte Gombrowski. »Oder wogegen?«



20 Wachs


»Bleib auf deiner Spur, verdammt!«

Auf dem Weg von Plausitz nach Unterleuten durchquerte man ein Waldstück, in dem die Bäume so dicht an der Straße standen, dass sie kleine Bugwellen in den Asphalt drückten. Die weißen Linien der Fahrbahnbegrenzung waren verschwunden, die Straßenränder halb in den Waldboden gesackt. Wer die Anordnung der Schlaglöcher nicht kannte und keinen Geländewagen fuhr, tat gut daran, die Geschwindigkeit auf 40 km/h zu begrenzen. Linda fuhr grundsätzlich 120 km/h. In Dörfern ging sie zähneknirschend und nur deshalb vom Gas, weil sie schlecht über Autofahrer schimpfen konnte, die ungebremst durch Unterleuten bretterten, wenn sie es selbst in Käffern wie Seelenheil, Wassersuppe oder Mantel nicht anders machte.

Es wäre Frederik wesentlich lieber gewesen, selbst am Steuer zu sitzen. Aber Linda konnte auf dem Beifahrersitz den Mund nicht halten, und auch Frederiks Geduld kannte Grenzen. Fahr schneller, halt Abstand, schalt doch mal runter, da vorn kannst du überholen. Das führte über kurz oder lang zum Krieg. Ein ungeschriebenes Gesetz ihrer Beziehung sah vor, dass Linda den Wagen fuhr.

Mitten im Wald krümmte sich die Straße zu einer scharfen Linkskurve. Auf beiden Seiten versperrten Bäume die Sicht. Wie immer ließ Linda den Frontera nach rechts treiben, bis der Schotter vom Straßenrand gegen den Unterboden prasselte, zog vor dem Scheitelpunkt nach links, suchte die Ideallinie und durchquerte die Kurve ohne Abbremsen auf der Gegenfahrbahn. Frederik hasste es, wenn sie das tat. Er wusste, dass sie sich heimlich darüber amüsierte, wie seine Hand den Griff der Beifahrertür umklammerte und der rechte Fuß ins Leere bremste. Als das Heck ausbrach, juchzte sie wie ein Kind in der Achterbahn. Sie steuerte leicht gegen und beschleunigte, bis der schwer beladene Wagen seine Stabilität wiederfand. Im Kofferraum lagerte eine Schleifmaschine für die Dielen, die sie im Baumarkt ausgeliehen hatten, ein Gerät von der Größe eines Kinderwagens und dem Gewicht eines Kühlschranks.

»Wenn hier einer entgegenkommt, sind wir tot.«

»Man sieht, wenn einer kommt.«

»Im Winter vielleicht, wenn die Bäume kahl sind. Jetzt sieht man überhaupt nichts.«

»Man sieht es zwischen den Bäumen flimmern. Vor allem bei roten Autos.«

Sie machte sich über ihn lustig. Jedes weitere Wort hätte nur als Steilvorlage für ihren Lieblingsmonolog zum Thema »Frederik ist ein Feigling« gedient. Um sich zu beruhigen, wandte er den Kopf zum Fenster. Der Birkenwald, den sie gerade passierten, war sein Lieblingsabschnitt auf der Fahrt von Plausitz nach Unterleuten. Er mochte es, wie das Gras den Boden zwischen den Stämmen polsterte. Langsam ließ der Wunsch nach, Linda vom Fahrersitz zu zerren und ihr ein paar Ohrfeigen zu verpassen. Frederik hätte gern gewusst, ob es normal war, dass große Liebe nur durch eine dünne Membran von großem Hass getrennt wurde. Leider konnte er niemanden fragen, weil er niemanden kannte, der seine Freundin aufrichtig liebte.

Ein paar hundert Meter voraus standen mehrere Autos am Fahrbahnrand, gesäumt von einer Reihe Schaulustiger.

»Da ist ein Unfall passiert«, sagte Frederik. »Fahr langsamer!«

»Kampfläufer«, antwortete Linda, ohne vom Gas zu gehen.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass sie nicht von den Schaulustigen, sondern von Vögeln sprach. Jetzt erkannte er auch, dass die Menschen am Straßenrand mit Ferngläsern und Photoapparaten bewaffnet waren und in den Wald schauten, alle in dieselbe Richtung. Frederik kannte die Stelle. Zwischen den Bäumen standen auch in Trockenzeiten flache Tümpel. Für einen Augenblick sah er drei schuppenartig gemusterte Vögel im Gras. Schon war der Frontera mit unverminderter Geschwindigkeit vorbeigebraust.

»Das wird dem Fließ gefallen, wenn er nachher hier vorbeikommt«, sagte Linda. »Hast du sein Lächeln gesehen? Falls das ein Lächeln sein sollte. Schwer zu sagen, bei diesem quadratischen Mund.«

Sie hatten den Vogelschützer in der Holzabteilung des Baumarkts getroffen. Mit dem Stapel Vierkanthölzer, der auf seinem Wagen balancierte, hätte er um ein Haar Linda gerammt, die vor dem Regal mit Hartölen meditierte. Als er sie erkannte, war er über die Begegnung in helle Aufregung geraten.

»Ach, Frau Franzen, wie gut, Frau Franzen, was für ein schöner Zufall.«

Seit sie wieder im Auto saßen, um vom Baumarkt nach Hause zu fahren, vertrieb sich Linda die Zeit damit, Fließ zu imitieren. Jetzt drehte sie den Innenspiegel zu sich und überprüfte, ob sie ihrem Mund eine quadratische Form geben konnte. Den nörgelnden Tonfall des Vogelschützers traf sie schon ziemlich genau.

»Frau Franzen, wir müssen uns unterhalten. Kräfte bündeln, Allianzen schmieden, Synergien bilden.«

Wider Willen musste Frederik lachen. Fließ hatte alles darangesetzt, Linda zu einem Treffen zu überreden. Je kühler sie sich gab, desto aufgeregter geriet seine Charmeoffensive. Offensichtlich begriff er nicht, dass er für Linda nicht einfach ein beliebiger Dorfnachbar war, sondern ein feindlicher Kombattant. Er versuchte, ihr etwas zu verbieten, und zwar nicht irgendetwas, sondern Bergamottes Koppelzäune. Damit hatte er eine Todsünde begangen. Vor jeder weiteren Begegnung musste der Kriegsrat tagen. Der Kriegsrat befand sich in Lindas Kopf. Frederik kam Beobachterstatus zu. Die Sitzung begann.

»Ich kapiere nicht, was der will«, sagte Linda. »Klar sucht der Verbündete wegen der Windkraft-Geschichte. Aber wie der sich vorhin an mich rangeschmissen hat, das war nicht normal. Weiß der etwas, das ich nicht weiß? Was kann das sein?«

Natürlich waren solche Fragen rhetorisch gemeint. Linda wollte nicht, dass Frederik antwortete. Sie brauchte ihn nur als Zuhörer, vor dem sie ihre Überlegungen ausbreiten konnte. Er rutschte tiefer in den Sitz, streckte die Beine und überließ Linda ihrer Analyse des Vogelschützers. Seine Wut war verflogen. Linda sprach in heiligem Ernst, und er fand es rührend, wie sie beim Reden die Fäuste auf dem Lenkrad ballte.

Langsam breitete sich die angenehme Erkenntnis in ihm aus, dass ihn der Vogelschützer samt Freizeithemd, grauen Professorenschläfen und leichtem Schweißgeruch nichts anging. Sollte Linda doch ihr Dorf-Spielzeug in die Luft werfen und herausfinden, ob es beim Herunterfallen zerbrach oder ihr die Finger zerquetschte. Er konnte sie ohnehin nicht davon abhalten. Letztlich war sie eine erwachsene Frau, auch wenn es nicht immer den Anschein hatte. Anders als am Vortag schien es ihm nicht mehr so wichtig, ihrem Fanatismus entgegenzuwirken. Sie würde sich immer wieder ein neues Schlachtfeld suchen. Im Rossfrauen-Forum hatte Frederik gelernt, dass jeder Versuch, die Partnerin zu ändern, ins Unglück führte. Ändere dich selbst oder lerne, mit den Problemen zu leben, lautete die Devise.

Während vor den Fenstern das Niemandsland vorbeizog und Linda über Dorfpolitik sprach, dachte Frederik an die Glas-und-Steine-Welt Berlins. An Straßen, auf denen sich Unmengen von Menschen bewegten, und an den Lärm, den diese Bewegung verursachte. Er dachte an die Firmenräume von Weirdo mit ihren bunt gestrichenen Wänden, mit den vielen Sitzecken, Spielecken, Chill-Ecken und Yoga-Ecken, mit Monitoren, auf denen die Entwürfe für ein neues Traktoria-Level liefen, und mit Kühlschränken auf allen Fluren, die täglich mit Magnum-Eis und Bionade gefüllt wurden. Vermutlich würde sich Frederik an keinem anderen Ort auf dem Planeten jemals so zu Hause fühlen wie in der Weirdo-Welt. Spontan beschloss er, am Abend nach Berlin zu fahren und die nächsten Tage in der Firma zu arbeiten, umgeben von Leuten, deren Lebenssinn darin bestand, sich mit möglichst intelligenten Maschinen zu verbinden, auf hochauflösende Monitore zu starren und ihre Handys zu streicheln.

Wurde Timo von Journalisten gefragt, ob es ihn glücklich mache, mit 25 Jahren über ein Privatvermögen von 50 Millionen Euro zu verfügen, pflegte er zu antworten, dass er schon mit vierzehn und null Euro glücklich war, als er sein erstes Jump ’n’ Run programmierte, auch wenn die Figuren wie Klorollen mit Beinen ausgesehen hatten. Menschen wie Frederik und Timo hatten keine Meinung zu Windrädern. Politischen Protest fanden sie peinlich, es sei denn, er passierte im Internet und sah so schick aus wie Ronnys kleine Animation zur Vorratsdatenspeicherung, die ein Renner auf YouTube geworden war.

Wenn es Frederik nicht gelungen wäre, Linda zu erobern, hätte sich sein gesamtes Leben zwischen Bildschirm, Späti, Eckkneipe und Dachwohnung über dem Landwehrkanal abgespielt. Inzwischen wusste er, dass das ein verfehltes Leben geworden wäre. Sosehr ihm die Freundlichkeit, der Erfolg und die verblüffende Totalabwesenheit von Problemen in Timos Universum gefielen – nach ein paar Tagen wurde ihm langweilig. Dann sehnte er sich nach dem Holz- und Farbgeruch von Objekt 108 und nach Lindas Art, das Leben mit beiden Händen zu würgen – so wie er sich jetzt nach der Berliner Uneigentlichkeit sehnte. Frederik konnte sich in der Großstadt vom Land und auf dem Land von der Stadt erholen. Sein persönlicher Luxus bestand nicht darin, in einer Welt alles zu erreichen. Sondern darin, zwischen verschiedenen Welten hin- und herwechseln zu können.

Der Frontera schoss aus dem Wald. Linda ließ das Gaspedal los, weil der Schwung ab jetzt ausreichen würde, um mit gut 60 km/h am Ortsschild von Unterleuten anzukommen, weiter auszurollen und an der Kirche mit 30 km/h abbiegen zu können, ohne einmal auf Gas oder Bremse treten zu müssen. Frederik fand es unheimlich, dass Linda über solche Dinge nachdachte und daran arbeitete, ihre Technik zu verbessern.

Immerhin konnte er bei abnehmender Geschwindigkeit die Anfahrt aufs Dorf genießen. Die Allee mit den schräg nach außen wachsenden Birnbäumen, die satt gelben Weizenfelder, der dunkelgrüne Saum des Waldes und der makellos blaue Himmel darüber, alles sauber abgegrenzt und eingeteilt wie der Bildschirmhintergund einer alten Windows-Oberfläche. Ein paar Windräder würden das Panorama in seinen Augen eher perfektionieren als stören, aber diese Auffassung behielt er lieber für sich.

»Was will der denn?«

Sie hatten den Stichweg erreicht, der zu Objekt 108 führte, und näherten sich dem gekiesten Vorplatz. Dort stand ein klobiger Range Rover, an dessen Fahrertür ein nicht weniger klobiger Mann lehnte, in die Betrachtung seiner Stiefelspitzen versunken.

»Das ist der Ökologica-Chef«, sagte Linda. »Heute habe ich irgendetwas an mir, das Groupies anlockt.«

Sie bremste, dass Kies unter den Reifen aufspritzte. Der Ökologica-Chef schaute nicht einmal auf, als hätte er den ankommenden Frontera gar nicht bemerkt. Beim Anblick der stoischen Gestalt wurde Frederik mulmig zumute.

»Sei vorsichtig, ja?«, bat er leise.

Linda löste mit einer Hand den Gurt, zog mit der anderen die Handbremse an und schob mit dem Fuß bereits die Fahrertür auf, als sie sich noch einmal zu ihm herüberbeugte und ihn küsste.



21 Gombrowski


»Womit kann ich dienen?«

Er mochte ihren Tonfall nicht. Frau Franzen klang, als würde sie sich über ihn lustig machen, wozu wahrlich kein Anlass bestand.

»Guten Tag erst mal«, sagte Gombrowski.

Statt den Gruß zu erwidern, stand sie einfach vor ihm und sah ihn an. Vielleicht war sie nicht ganz richtig im Kopf; immerhin war sie eine Frau. Gombrowski verstand nicht, wie Frauen funktionierten. Erst vor einer knappen Stunde war in Arnes Hausflur die rothaarige Kleine vom Vogelschützer aufgetaucht wie eine Geistererscheinung, und als Gombrowski fragte, warum sie mit einer Unterschriftenliste herumlaufe, statt ihn, wenn ihr etwas nicht passe, einfach mal im Büro zu besuchen, hatte sie fast zu heulen begonnen. Weil er trotz allem ein Gentleman war, machte er sie nicht zur Schnecke, sondern fuhr sie und ihr Baby nach Hause. Ihre Überraschung darüber, dass er in ganzen Sätzen sprechen konnte, hatte sie nicht einmal zu verbergen versucht.

Das war typisch Frau und typisch Wessi. Seit zwei Jahren lebte die Rothaarige im Dorf und war kein einziges Mal auf ein Schwätzchen in die Ökologica gekommen. Ihr Mann hatte sich bei seinem Antrittsbesuch als neuer Obervogel vorgestellt und trat seitdem vor allem in Form von Briefen in Erscheinung, mit denen er ankündigte, das eine oder andere Vorhaben der Ökologica aus Naturschutzgründen verbieten zu wollen. Gombrowski hielt sich nicht für einen Umweltschützer, aber er war grundsätzlich bereit, über Bedenken jeder Art zu reden. Bei einem Bier im Landmann oder einer Tasse Kaffee im Büro. Man sprach miteinander, fand eine Lösung. Man gab sich die Hand und ging als Freunde auseinander. In der Welt von Frauen und Westdeutschen kam ein solches Verhalten nicht vor. Sie schickten Briefe oder gleich den Anwalt oder fingen an zu schreien und zu heulen und wunderten sich hinterher, wenn man ihnen nur mit äußerster Vorsicht begegnete.

Загрузка...