Die Blonde kam ebenfalls aus dem Westen und besaß dementsprechend keine Manieren. Auch sie lebte schon geraume Weile im Dorf und hatte sich nie bei ihm vorgestellt. Statt ihn jetzt hereinzubitten und ihm etwas zu trinken anzubieten, stand sie da wie eine Statue und glotzte ihn an. Zu allem Überfluss war sie ziemlich groß, und Gombrowski konnte große Frauen nicht ausstehen. Elena reichte ihm kaum bis zur Schulter, und Hilde war sogar noch ein gutes Stück kleiner. Nach vierzig Jahren Ehe geriet Gombrowski noch immer ins Staunen, wenn er Elenas Schuhe im Flur stehen sah, so winzig, dass sie nicht für einen Menschen mit eigenem Konto und eigener Meinung gemacht schienen. Als er Elena noch berühren durfte, hatte es ihn glücklich gemacht, sie in den Arm zu nehmen und festzuhalten. Ihr zierlicher Körper hatte seiner eigenen Massigkeit Berechtigung gegeben. Bei ihr war Gombrowski ein Gehäuse, ein Futteral für eine viel zu zarte Person, und für ein paar Augenblicke spielte es keine Rolle mehr, dass er in einer Welt lebte, deren Kleidungsstücke, Möbel, Türen und Fahrzeuge nicht für ihn gemacht waren.

Eine wie die Blonde würde sich niemals von ihm festhalten lassen. Die gehörte zu einer neuen Art, genau wie Püppi. Immer dieser herausfordernde Blick. Immer voller Vorwürfe. Das kochte Männer weich, bis solche Typen herauskamen wie Wolfi, der es zuließ, dass Kathrin Kron seine Rechnungen bezahlte, während er auf dem Rasenmäher hockte. Oder wie der langhaarige Versager, der zur Blonden gehörte und sich im Hintergrund hielt, während seine Frau Standbild spielte.

»Kann man hier vielleicht irgendwo sitzen?«

Frau Franzen zögerte einen Moment, bevor sie sich in Bewegung setzte, allerdings nicht zum Eingang der Villa, sondern außen herum in den Garten. Am liebsten wäre Gombrowski gleich wieder gegangen. Normalerweise machte er keine Hausbesuche. Dass er überhaupt durch den verwahrlosten Garten der elenden Villa Kunterbunt stapfte, war einer Ausnahmesituation geschuldet, die ihm gehörig auf die Nerven ging. Aber Geschäft war Geschäft. In diesem Fall eine Bagatelle, die sich mit Geld erledigen ließ. In zehn Minuten würde er wieder in seinen Range Rover steigen und die fünfhundert Meter zurück zu seinem Haus fahren, welches von gepflegtem Rasen umgeben war und nicht von einer ungemähten Wiese, die einem in die Hosenbeine kroch. Wildwuchs in der Nähe von menschlichen Behausungen machte Gombrowski nervös. Er kannte die Natur gut genug, um zu wissen, dass es auf saubere Grenzen und klare Verhältnisse ankam.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Frau Franzen und deutete auf einen klapprigen Gartenstuhl unter den Robinien. Mit äußerster Vorsicht ließ Gombrowski sich nieder, während Frau Franzen ihm gegenüber Platz nahm und die langen Beine von sich streckte. Kurze Hosen, Arbeitsstiefel, blonde Haare und Puppengesicht, dazu Schultern wie ein Mann.

»Ziemlich heiß heute.«

Darauf ging Frau Franzen nicht ein. Auch kam sie weiterhin nicht auf die Idee, ihm etwas zu trinken anzubieten, obwohl er gegen ein kühles Bier nichts einzuwenden gehabt hätte. Ihre verächtliche Miene kannte er zu Genüge. Die Blonde hielt ihn, genau wie Püppi, für einen dummen Bauern. Immer der gleiche Weiberdünkel: Wer nicht ins Theater ging und keine Romane las, war nichts wert. Als ob das Leben in der Stadt die Leute besser machte. Als ob eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von haushoch gestapelten Heimatlosen. Frau Franzen wäre gewiss nicht nach Unterleuten gezogen, wenn sie die Stadt so toll gefunden hätte. Woher sie trotzdem das Recht nahm, auf jemanden herabzusehen, der hier aufgewachsen war, blieb schleierhaft.

Gombrowski hätte viel darum gegeben, die anstehende Verhandlung mit einem normalen Menschen führen zu können. Außerdem fand er es schwierig, über Geschäfte zu reden ohne ein Glas in der Hand, mit dem man am Ende auf das erzielte Ergebnis anstoßen konnte. Wer beim Verhandeln nicht trinkt, will sich nicht einigen, pflegte Gombrowskis Vater zu sagen. Es war traurig zu sehen, dass die Welt, zu der solche Weisheiten gehörten, nicht mehr existierte. Gombrowski gab sich einen Ruck.

»Ich möchte Ihnen ein Geschäft anbieten.«

Die Blonde schwieg.

»Kauf oder Tausch, was Ihnen lieber ist.«

Keine Reaktion.

»Ich bin bereit, den besonderen Umständen Rechnung zu tragen. Überhaupt lebe ich nach dem Motto: Wenn jeder bekommt, was ihm zusteht, ergibt das auf lange Sicht für alle Beteiligten die größte Menge Glück.«

Sie wartete. Gombrowski holte Luft.

»Fünfzehntausend pro Hektar.«

Das war ein gesalzener Preis; der Bodenrichtwert lag bei knapp über fünf. Die Miene der Blonden blieb unverändert. Fast hätte Gombrowski gelacht; fast begann die Sache ihm Spaß zu machen. Keiner seiner Skatfreunde, kein Großkunde und kein Politiker hatte ihm jemals ein solches Pokerface gezeigt wie dieses blonde Miststück. Jetzt galt es, schnell zu entscheiden, ob er sofort erhöhen oder lieber nach Hause gehen und sein Angebot wirken lassen sollte.

Darüber dachte Gombrowski nach, als ihn die Erkenntnis traf wie ein Schlag. Seit er seinen Preis genannt hatte, wanderte der Blick der Blonden unablässig zwischen seinen Augen hin und her. Plötzlich begriff er, warum: Frau Franzen machte gar kein Pokerface. Sie hatte schlicht keine Ahnung, worum es ging.

Die Wut trieb Gombrowski den Schweiß auf die Stirn. Statt gleich einen astronomischen Preis zu bieten, hätte er damit rechnen müssen, dass die Blonde ahnungslos war. Bei Städtern hatte er das schon öfter erlebt: Sie kauften ein Anwesen auf dem Land, waren aber nicht in der Lage, das Grundbuch zu lesen. Anschließend wussten sie gar nicht, was ihnen gehörte, oder wo sich der Besitz, den sie erworben hatten, genau befand. Zwei Hektar irgendwo auf der Schiefen Kappe – das ließ sich leicht übersehen. Immerhin hatte er selbst erst einmal die Flurkarten einsehen müssen, um die Lage zu klären.

Die zwei Hektar der Blonden lagen genau zwischen zwei größeren Flurstücken von jeweils rund acht Hektar, von denen das westliche Gombrowski und das östliche einem gewissen Konrad Meiler gehörte. Über Letzteren wusste Gombrowski, was man wissen musste. Konrad Meiler hatte die halbe Gemeinde aufgekauft und danach in der Ökologica angerufen, um mitzuteilen, er werde das Auslaufen der Pachtverträge für eine Erhöhung der Preise nutzen. Dass es sich bei den Ländereien in der Gegend von Unterleuten um kargen Boden handelte, den die Ökologica mit minimalen Gewinnspannen bewirtschaftete, interessierte den Superkapitalisten nicht. Vier Prozent Rendite, hatte Meiler am Telefon erklärt, könne er legitimerweise erwarten.

Die Flurstücke von Meiler, Gombrowski und Frau Franzen bildeten zusammen das Eignungsgebiet, welches sich die Vento Direct für den Bau ihres Windparks auserkoren hatte. Da mindestens zehn zusammenhängende Hektar benötigt wurden, musste einer der beiden großen Eigentümer das kleine Mittelstück kaufen. Genauer gesagt: Frau Franzen, deren Flurstück in der Mitte lag, musste an Gombrowski verkaufen, bevor Meiler den Braten riechen und ein konkurrierendes Angebot abgeben konnte. Mit etwas Geschick und einer rührseligen kleinen Geschichte hätte Gombrowski sie vielleicht gleich hier auf dem Klappstuhl zu einem Vorvertrag nötigen können. Stattdessen hatte er das Schnäppchen übersehen und durch sein plumpes Angebot klargemacht, dass es etwas zu holen gab. Wäre er sein eigener Angestellter gewesen – Gombrowski hätte sich entlassen.

Seine Fußknöchel juckten vom hohen Gras, das ihn unter den Hosenaufschlägen kitzelte. Eine Gruppe Spatzen zwitscherte hysterisch in der Robinie über seinen Kopf. Ein weiterer Fehler bestand darin, Fidi nicht mitgebracht zu haben. Sie hätte im Garten der Villa Kunterbunt herumgestöbert, und Gombrowski hätte etwas Zeit gewinnen können, indem er aufstand, um nach dem Hund zu sehen.

Wenigstens gehörte die Blonde nicht zu den Menschen, die unentwegt reden mussten. Sie saß einfach da und wartete, was er als Nächstes tun oder sagen würde. Unangenehm war nur, wie sie jeder seiner Regungen mit Blicken folgte. Gombrowski versuchte, sich auf dem Stuhl zurückzulehnen, und sah an Frau Franzen vorbei zu den Gebäuden hinüber. Die Stirnseite des ehemaligen Schweinestalls war eingestürzt. Das Dach des Getreidespeichers bestand fast nur noch aus Löchern, und an der rückwärtigen Fassade der Villa bröckelte der Putz. Direkt nach der Wende hatte ein Aussteigerpaar das Anwesen erworben und war noch vor dem Reparieren der ersten Zaunlatte in Gombrowskis Büro erschienen, um ihm eine Mitnutzung seiner Vertriebswege für jenes nachhaltige Gemüse abzuschwatzen, das sie auf ihrem Handtuch von Land zu produzieren gedachten. Wenige Monate später stand das Anwesen wieder zum Verkauf, die Frau hatte eines Morgens tot im Bett gelegen. Die nächsten Käufer brachten Geld mit, zwei Architekturdiplome und den Plan, die Villa in ein Vorzeigeprojekt für ländliches Wohnen zu verwandeln. Sie begannen mit der Sanierung, wobei der Mann einen Schlaganfall erlitt und von der Leiter stürzte. Auch tot. Der letzte Eigentümer vor Frau Franzen und ihrem langhaarigen Freund war bei Gombrowski erschienen, um ihn zu einem Aufrollen der mafiösen Strukturen auf dem Spargel-Markt zu überreden. Der Kerl erhängte sich, bevor die Gasheizung eingebaut war.

Mit einem Mal war Gombrowskis Wut verraucht. Die Blonde brauchte Hilfe. Sie wusste nicht, dass zum Haus zwei Hektar Land auf der Schiefen Kappe gehörten, und sie wusste nicht, was für ein absurdes Bauprojekt sie sich mit diesem Anwesen aufgeladen hatte. Die Villa hatte drei erwachsenen Menschen den Garaus gemacht, und die Blonde war noch ein halbes Kind. Der langhaarige Versager würde ihr nicht zur Seite stehen. Gombrowski hingegen konnte helfen. Er besaß alles, was sie benötigte. Maschinen, Arbeitskräfte und Beziehungen zu den Behörden.

Der größte Vorteil entsteht, wenn jeder bekommt, was er sich wünscht – dieser Satz war für Gombrowski keine Masche, sondern eine Philosophie. Trotz seinem tölpelhaften Einstieg gab es eigentlich keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Blonde an ihn verkaufen würde. Er hatte sich wie ein Anfänger benommen, aber er konnte seine Strategie anpassen. Als väterlicher Freund würde er sie über die Lage aufklären, und als solcher konnte er ihr bei ihrem Sanierungsprojekt helfen. Letztlich ein Glücksfall. Eine überrumpelte junge Frau war besser als eine, die das ultimative Pokerface beherrschte. Man musste die Überrumpelung nur geschickt zu nutzen wissen.

»Frau Franzen«, sagte Gombrowski.

Obwohl sie ihn die ganze Zeit angesehen hatte, schaute sie jetzt ein wenig verwirrt, wie aus dem Schlaf geschreckt. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte – er wurde nicht schlau aus ihr.

»Ich glaube, ich muss Sie erst mal über ein paar Details in Kenntnis setzen.«

Er verlagerte das Gewicht nach vorn, zog ein gefaltetes Blatt aus der Gesäßtasche und glättete es auf dem Gartentisch. Eine Kopie der Flurkarte. Linda Franzen beugte sich vor.



22 Kron-Hübschke


Niemand ging zum Spaß in den Wald. Für die Unterleutner war der Wald kein Naherholungsgebiet, sondern ein Arbeitsplatz, und zwar ein gefährlicher. Kein Mensch konnte sich die steigenden Gas- und Ölpreise leisten. Deshalb kaufte man bei Kathrins Vater ein paar Bäume, schlug sie selbst, sägte sie klein und schob sie im Lauf eines langen Winters in den Ofen. Die meisten männlichen Dorfbewohner konnten verheilte Knochenbrüche oder Narben von Kettensägenverletzungen vorweisen. Der Wald hatte Erik umgebracht und Kron ein Bein zertrümmert. Der Wald war kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhielt. Man fuhr in den Wald, um Holz zu machen. Oder man suchte Pfifferlinge, für die es in Plausitz gutes Geld gab. Oder beteiligte sich an einer Treibjagd und nahm ein halbes Wildschwein mit nach Hause. Freie Zeit verbrachten die Unterleutner lieber woanders.

Kathrin stellte eine Ausnahme dar. Wann immer sie konnte, unternahm sie einen Spaziergang in den Wald. Aus ihrer Sicht war der Wald etwas Magisches: ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte. Er brachte alle Fragen zum Schweigen. Um etwas über den Sinn des Lebens, die Bedeutung des Todes oder die Ursache des Seins zu erfahren, genügte es, in die Hocke zu gehen und den Waldboden in Augenschein zu nehmen. Wer einen Ameisenstaat bei der Besiedelung eines Baumstumpfs beobachtete; wer sah, wie Grashalme auf einem Felsblock wuchsen; wer Pilze kannte, die in Grüppchen beisammenstanden wie dünnbeinige Partygäste und gemeinsam einen fauligen Ast verdauten – der wusste, dass die Antwort auf alle Fragen »Stoffwechsel« lautete. Kathrin empfand dieses Wissen als beruhigend. Ihr gefiel die Vorstellung, dass die Stoffe, aus denen sie bestand, eines Tages in die Blüte einer Blume oder das glänzende Gefieder eines Vogels eingehen würden.

Kron hatte ihr beigebracht, den Wald zu lesen, lange bevor er selbst Waldbesitzer geworden war. »Du musst vor nichts Angst haben, meine Kleine«, hatte er gesagt, wenn sie wegen eines toten Maulwurfs am Wegrand in Tränen ausgebrochen war. »Im Wald geht nichts und niemand verloren.« Jedes Wochenende war er ihr voran durchs Unterholz gestiefelt und hatte ihr gezeigt, was den menschlichen Willen von dem der Natur unterschied. Während es im Mischwald auf allen Ebenen krabbelte, wucherte und flatterte, regte sich zwischen den geraden Linien der Kiefernplantagen kein Vogel, keine Ameise, kein Käfer.

»Hier«, sagte Kron, im Mischwald stehend, »wird gelebt, und dort«, sein Arm zeigte auf die angrenzende Monokultur, »wird gedient.«

Ihre Beziehung hatte sich rapide verschlechtert, als Kathrin alt genug war, um zu fragen, wie er mit dieser Einstellung ausgerechnet Kommunist hatte werden können. Immerhin teilten sie trotz aller Differenzen bis heute die Liebe zum Wald.

Meistens führten Kathrins Spaziergänge am Jagdhaus vorbei, wo sie bei Kron nach dem Rechten sah, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Das spitzgiebelige Gebäude stand einsam auf einer Lichtung und hätte in jedem Märchenfilm als Hexenhaus Verwendung gefunden. Kathrin war dort aufgewachsen und liebte das Haus.

Kurz nach der Wiedervereinigung war sie mit 16 Jahren in einen Zug gestiegen und nach Düsseldorf zu ihrer Mutter gefahren, getrieben von dem Entschluss, Unterleuten und dem Krieg ihres Vaters gegen Gombrowski den Rücken zu kehren. Dass sich die geplante Auswanderung in einen Kurzbesuch verwandelte, lag nicht an der fremden Frau, die sie auf dem Düsseldorfer Bahnsteig abholte. Auch nicht an dem gesichtslosen Mann am Steuer eines Sportwagens, auf dessen Rückbank Kathrin mit angezogenen Knien kauerte. Schuld trug das hellgrüne Reihenhaus in einer Vorortsiedlung, das auf einem mit Buchsbaum bepflanzten Handtuch stand. Kathrin brauchte keinen Farbfernseher, keine gepflasterten Bürgersteige und letztlich auch keine Mutter, an die sie keinerlei Erinnerungen besaß. Was sie brauchte, waren das Jagdhaus und der Wald. Als sie nach Unterleuten zurückkehrte und ihrem Vater vom Düsseldorfer Reihenhaus erzählte, war er aus dem Sessel gesprungen und rief: »Danke, du verdammte Hütte. Hast mir meine Kathrin wiedergebracht.« Obwohl sein Mund zu einem Grinsen verzogen war, sah Kathrin, dass er weinte.

Auch heute hatte Kathrin auf ihrem Spaziergang im Jagdhaus vorbeigeschaut, und sie hatte Kron in desolatem Zustand vorgefunden. Er lief im Zimmer hin und her, schlug an die Wände und ließ Tiraden gegen Gombrowski vom Stapel, die sie an die schreckliche Zeit nach seinem Unfall erinnerten, als ihn nur der Hass auf seinen Widersacher am Leben hielt. Vor allem die Verwirrtheit seiner Rede hatte sie erschreckt. Kron stellte Zusammenhänge her, die keinen Sinn ergaben, als hätte der Abend im Märkischen Landmann einen Kurzschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzeugt. Die LPG-Umwandlung, Eriks Tod, Schallers Unfall, eine Versteigerung, ein Investor, Hildes Kätzchen, Vogelschützer, brennende Autoreifen.

Um den Ausbruch in vernünftige Bahnen zu lenken, hatte Kathrin gefragt, ob es stimme, dass Kron eins der Eignungsgebiete gehöre. Die Frage hatte sich als Fehler erwiesen, sie verwandelte Kathrin in das Ziel seiner Wut. Ob sie wirklich zu blöd sei, um zu verstehen, dass Arne und Gombrowski unter einer Decke steckten. Er, Kron, könne so viele Eignungsgebiete besitzen, wie er wolle, er würde niemals bei einem Vorhaben berücksichtigt werden, solange Arne im Sattel saß.

Kathrin sagte, dass sie keine Windräder in Unterleuten wolle, ganz egal, auf wessen Land sie stünden.

Da steigerte sich Krons Litanei zu wahrem Gebrüll. Es gehe doch gar nicht um Windräder, sondern darum, dass Gombrowski schon wieder ein mieses Ding durchziehe. Gombrowski, der Hund, der Arsch, das Schwein.

Nach fünf Minuten hatte Kathrin die Raserei nicht länger ertragen und war gegangen. Der Plattenweg verließ den Wald und führte durch ein ausgetrocknetes Stück Heidelandschaft, in dem die Grillen einen elektrischen Lärm erzeugten, als stünde der Boden unter Hochspannung. Das Ortsschild von Unterleuten warf einen scharfen Schatten, schartiger Beton ging in beuliges Kopfsteinpflaster über. Kathrin folgte dem leicht abschüssigen Beutelweg, bis sie linker Hand in die Waldstraße einbiegen musste. Sie kam an vier Häusern vorbei, die genauso aussahen wie ihr eigenes. Die kleine Siedlung war in den fünfziger Jahren für die Familien der Waldarbeiter erbaut worden und bestand aus schmucklosen Gebäuden, die angenehm weit auseinanderstanden und die richtige Größe besaßen. Die Räume waren hell, gut geschnitten und problemlos zu heizen. Am besten gefiel Kathrin, dass der Wald seine Ausläufer bis in die Gärten streckte. Auf ihrem Grundstück standen 14 Kiefern, die Wolfi als seine persönlichen Feinde betrachtete, weil er sie beim Rasenmähen umfahren musste. Trotzdem hätte Kathrin niemals erlaubt, einen der Bäume zu entfernen.

Einziger Pferdefuß war die unmittelbare Nachbarschaft zu Arne. Als kleines Mädchen hatte Kathrin viel Zeit bei ihm und Barbara verbracht. Alle Häuser in der Waldstraße waren baugleich und besaßen denselben Grundriss. Egal, ob Kathrin kochte, duschte oder sich die Zähne putzte – in Arnes Haus hätte sie dabei an der gleichen Stelle gestanden. Ihr Gästeklo konnte sie nicht betreten, ohne daran zu denken, wie sie früher halbe Nachmittage mit einem Buch auf Arnes Toilette gesessen hatte. Selbst ihr Ehebett stand genauso wie das von Arne und Barbara. Der Zuschnitt der Räume sorgte dafür, dass sie häufiger an ihn dachte, als sie wollte.

Schon auf halbem Weg sah sie den großen Tankwagen, der quer in der schmalen Straße stand. Das Hinterteil mit dem aufgerollten Schlauch stieß fast an den Gartenzaun. In der Luft hing jener Schwefelgeruch, der das Fahrzeug der Plausitzer Klärwerke begleitete. Jeden zweiten Freitag kam es am frühen Abend vorbei, um die Ausscheidungen der Familie Kron-Hübschke abzusaugen. Zu diesem Zweck musste der Tankwagen rückwärts in einen grasbewachsenen Weg einscheren, denn der Zugang zur Sammelgrube lag hinter dem Haus.

Kathrin beschleunigte ihre Schritte. Etwas musste schiefgegangen sein. Der Motor lief, neben dem Trittbrett der Kabine stand Wolfi und redete auf den Fahrer ein, der am Steuer saß und immer wieder den Kopf schüttelte. Gerade fasste Wolfi nach oben, um den Mann am Ellbogen zu berühren. Mit wütender Geste wehrte dieser ihn ab.

»Dann sorgen Sie verdammt noch mal dafür, dass die Zufahrt frei ist!«

Der Tankwagen ruckte an, so dass Wolfi zur Seite springen musste. Gemeinsam sahen sie dem großen Fahrzeug beim Rangieren zu. Mehrmals setzte es vor und zurück, um wieder vollständig auf die Straße zu gelangen. Genau gegenüber der Einfahrt zum Grasweg parkte ein alter Passat, der es dem Tankwagen unmöglich gemacht hatte, in den schmalen Weg einzuschwenken. Kathrin kannte das Auto. Es gehörte Arne. Wie alle Anwohner der Waldstraße besaß Arne einen befestigten Stellplatz auf dem eigenen Grundstück. Nie zuvor hatte er den Passat an der Straße geparkt. Dass es sich hierbei nicht um ein Versehen handelte, lag auf der Hand.

Unter dem Scheibenwischer klemmte ein Zettel. Während Wolfi hinüberging, um das Papier in Augenschein zu nehmen, setzte Kathrins Kopf die Bestandteile der Situation in Sekundenschnelle zu einem unerfreulichen Bild zusammen. Wenn die Sammelgrube nicht geleert wurde, dauerte es keine zwei Tage, bis sich das Wasser in sämtlichen sanitären Einrichtungen rückstaute. Dusche und Badewanne, Waschbecken und Toiletten wurden unbenutzbar, ebenso Geschirrspüler und Waschmaschine. Kathrin sah sich mit Wolfi und Krönchen vor der Tür des Jagdhauses stehen und ihren Vater um Asyl bitten, bis das Problem gelöst war. Wie Kron reagieren würde, stand fest. Er würde völlig ausrasten. Sie konnte ihn jetzt schon brüllen hören: »Was hab ich gesagt, Arne hängt mit drin! Das geht gegen mich! Sie schaden euch, um mich zu erpressen!«

Wolfi kam zu ihr und trug den Zettel vor sich her wie das Beweisstück in einem Mordfall.

»Guck.«

Der Tankwagen hatte die Kurve gekriegt, bog in den Beutelweg ein und verschwand. Kathrin nahm das Papier und strich es glatt. Kein Zweifel, das war Arnes Handschrift. Seit sie als Mädchen zugesehen hatte, wie er Einträge im ledergebundenen Veterinärprotokoll anfertigte, hätte sie die kleinen, in sich selbst verbissenen Buchstaben überall erkannt. Was da stand, machte sie traurig. Um Arnes willen, weil er von der Plattform seiner Gutmütigkeit herabstieg. Um Wolfis willen, der sich ohnehin nicht akzeptiert fühlte im Dorf. Um Krons willen, weil er alles auf sich beziehen würde. Um ihrer selbst willen, weil sie auf die ganze Geschichte keine Lust hatte. Wortlos gab sie Wolfi den Zettel zurück, sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

»Rasenmähen nur einmal die Woche«, stand auf dem Papier.



23 Franzen


»Dann würde ich mal sagen, weil ich der Alterspräsident bin …«

Lachend hob Fließ sein Glas und blickte seine Frau von der Seite an, als läge ungeheure Komik darin, dass er eine Generation nach unten geheiratet hatte.

»Also: Ich bin der Gerhard.«

»Jule.«

»Linda.«

Mit dumpfem Klacken trafen sich die Gläser über dem Couchtisch. Das selbstgemachte Ginger Ale schmeckte nicht schlecht, aber Linda ekelte sich vor den Ingwerstücken, die wie gedunsene Schwämme in der trüben Flüssigkeit schwammen. Außerdem war es unerträglich heiß im Raum. Sämtliche Fenster waren hermetisch verschlossen, die Luft verbraucht, die Wände hatten die Hitze des Hochsommers gespeichert. Man saß wie in einem Backofen. Zu allem Überfluss lag ein Geruch nach verbranntem Gummi in der Luft, der sich in der Nase festsetzte. Das Abendessen hatte nach Müllverbrennungsanlage geschmeckt; es lag Linda wie ein Stein im Magen. Die physische Erinnerung an ein Gratin, unter dessen Käsekruste dicke Kohlrabistücke im Hirse-Fundament steckten, würde sie vermutlich noch ein paar Tage begleiten.

Am Nachmittag hatte Jule plötzlich auf dem Kiesplatz vor Objekt 108 gestanden, ausgestattet mit Klemmbrett und unsicherem Lächeln. Noch bevor sie mit ihren Sprüchen zu Vogelschutz und Landschaftsschutz fertig war, hatte Linda bereits die Liste an sich genommen und unterschrieben. Trotzdem machte Jule keine Anstalten zu gehen. Von einem Bein aufs andere tretend, begann sie eine hilflose Plauderei. Wie es Linda in Unterleuten gefalle. Was sie beruflich mache. Ihre Verlegenheit war unerträglich. Als Linda unumwunden fragte, was Jule von ihr wolle, lief diese rot an. Ihr Mann habe sie geschickt. Nach der Begegnung im Baumarkt habe er sie genötigt, Linda von Frau zu Frau zu einem Treffen zu überreden, am besten noch am selben Abend. Immerhin wusste Linda seit Gombrowskis Besuch, warum sie mit einem Mal so viele Fans besaß.

Wortreich hatte Jule versucht, der Einladung noch schnell eine persönliche Note zu verleihen. Nicht dass Linda sie falsch verstehe, sie sei nicht nur im Auftrag ihres Mannes hier, sondern habe schon lange vorgehabt, Linda einmal einzuladen, schließlich sei es in einem kleinen Dorf wichtig, sich gut zu verstehen, und man habe vieles gemeinsam, sie kämen beide aus dem Westen, aus der Stadt und seien etwa gleich alt, da wäre es doch schön …

Jules Gefühl für die eigene Peinlichkeit erwies sich als ansteckend, zumal Linda ohnehin keine Emotionen mochte, jedenfalls nicht die von anderen Leuten. Schließlich betonte Jule, dass das Verbot von Koppelbau und Stallsanierung allein Sache ihres Mannes sei, dass sie selbst damit überhaupt nichts zu tun habe. An dieser Stelle horchte Linda auf. Eine Freundin wollte sie nicht, aber Verbündete konnte sie gebrauchen, vor allem, wenn sie aus dem engsten Kreis ihres Gegners stammten. Obwohl Jule einen Hirseauflauf androhte, willigte Linda ein, am Abend zum Essen vorbeizukommen.

Jetzt saßen sie erschöpft von Hitze und Hirse auf der Rattan-Sitzgruppe im Wohnzimmer und warteten darauf, was Fließ nach seiner Duz-Offensive als Nächstes tun würde. Während des Essens hatte er die Unterhaltung allein bestritten. Ausführlich hatte er geschildert, was ihn und Jule nach Unterleuten verschlagen hatte. Wie er vom Menschenforscher zum Vogelschützer geworden war. Er lobte das Landleben und ließ einen langen Monolog gegen Wachstumswahn und Veränderungssucht folgen. Eine Mischung aus Kapitalismuskritik, Entschleunigungsromantik und Infrastrukturfeindlichkeit. Während Linda Hirse schluckte, fragte sie sich, ob er ihr zwischen den Zeilen mitteilen wollte, dass ihre Pferdekoppeln etwas mit Bankenkrise, Burn-out und schwindenden Rohstoffreserven zu tun hatten.

In »Dein Erfolg« von Manfred Gortz wurden Leute wie Fließ als Killjoys bezeichnet. Killjoys verdarben anderen den Spaß, den sie selbst nicht hatten. Ein Killjoy suchte die Gründe für eigenes Versagen grundsätzlich bei anderen, vornehmlich bei der Gesellschaft. Zu diesem Zweck erstellte der Killjoy aufwändige Analysen, welche ihm den Ruf eintrugen, »intellektuell« zu sein. Auf diese Weise konnte er sich etwas auf seine Klugheit einbilden, während er komplizierte Argumentationen entwickelte, um eigene Defizite dem System anzulasten. Häufig firmierten Killjoys als Philosophen, Schriftsteller oder Feuilletonjournalisten. Sie scheuten alles, was anstrengend war, zum Beispiel ehrliche Arbeit, Sport oder gesunde Ernährung. Menschen, die ihr Leben der Aufgabe widmeten, sich selbst zu verbessern, überzogen sie mit Verachtung. Ein Killjoy, der den Anforderungen seines Jobs nicht gewachsen war, verteufelte die Leistungsgesellschaft. War er alkohol- oder zigarettenabhängig, warf er allen anderen Gesundheitswahn vor. Litt er an Potenzproblemen, sprach er von der sexualisierten Gesellschaft, und als armer Schlucker beklagte er die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche.

Im Kapitel »Das F-Kriterium« gab es einen Satz, den Linda besonders schätzte: »Unsere Umgebung spiegelt, was wir sind.« Angesichts des quadratischen Lächelns und der vergilbten Haare des Vogelschützers konnte sie sich mühelos vorstellen, wie dieser Mann sein halbes Leben in einem besenkammergroßen Büro an der Humboldt-Universität gesessen hatte, im Sommer von Sonneneinstrahlung, im Winter von einer unregulierbaren Heizungsanlage gegrillt. Sie fand, dass er dorthin besser passte als in diese etwas zu niedliche Bauernstube mit ihren etwas zu großen Möbeln aus dem Asien-Kontor. Seine junge Frau, das Baby, das sanierte Haus – das alles war bloße Dekoration, die verschleiern sollte, dass es der Vogelschützer in der echten Welt zu nichts gebracht hatte. Während er seine Weltanklage mit der Gabel in der Luft dirigierte, hatte sich Linda immer tiefer über ihren Teller gebeugt. Vor Versagern ekelte sie sich wie vor Käfern, die auf den Rücken fallen und nicht in der Lage sind, sich allein umzudrehen. Sie selbst verkörperte das Gegenteil eines Killjoys. In der Gortz-Terminologie war sie ein »Mover«, also ein Mensch, der auf der Welt war, um sich und andere zu bewegen. Wie Gortz schrieb: »Wer sitzt, wird zurückgelassen. Nur wer läuft, hält mit.« Oder: »Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt.«

Für eine Moverin war es schwer erträglich, in den Kissen einer Sitzgruppe zu versinken und darauf zu warten, dass ein Killjoy seinen ersten Schachzug machte. Das Schweigen zog sich in die Länge. Immer wieder wandte Jule den Kopf und lächelte Linda an, als würden sie sich aus einem früheren Leben kennen. Fließ beugte sich vor und schenkte Ginger Ale nach, wobei drei Ingwer-Stücke in Lindas Glas fielen, so dass Flüssigkeit auf die Glasplatte schwappte. Es wurde Zeit, den Abend voranzubringen.

Obwohl Linda normalerweise nicht rauchte, steckte in der Tasche ihres Hosenrocks ein Päckchen Zigaretten. Rauchen gehörte zu den Dingen, die man können musste, aber nicht müssen durfte. In vielen Situationen brachte eine Zigarette bessere Ergebnisse als tausend Worte. Wenn man zum Beispiel herausfinden wollte, welchen Marktwert man in einem Öko-Haushalt besaß.

Als sie sich zurücklehnte und die Zigaretten zutage förderte, riss Jule die Augen auf, als hätte sie einen Totschläger hervorgeholt.

»Eigentlich ist hier …«

Sofort fiel Fließ ihr ins Wort.

»Lass doch. Zur Feier des Tages.«

Er sprang auf, um einen Aschenbecher zu holen, während Jule, noch immer irritiert, mit einer vollgesogenen Papierserviette zwischen den Ginger-Ale-Gläsern herumwischte. Zufrieden nahm Linda den ersten Zug. Die Reaktionen waren angenehm eindeutig gewesen. Jule wollte nicht, dass im Haus geraucht wurde, und hegte in Bezug auf Linda keinerlei Hintergedanken. Fließ hingegen hatte etwas vor und ging davon aus, dass Linda am längeren Hebel saß. Übersetzt bedeutete das: Er wollte etwas von ihr, war aber nicht willens oder in der Lage, eine angemessene Gegenleistung zu erbringen. Linda blies Rauch in Jules Richtung und schenkte dem Vogelschützer ein aufmunterndes Lächeln.

»Dein Auftritt bei der Dorfversammlung war toll«, sagte Fließ. »So spontan und authentisch.«

»Nicht so laut«, sagte Jule. »Wegen Sophie.«

»Jule und ich sind froh, Leute wie dich hierzuhaben. So nett die Unterleutchen sind – im Ernstfall braucht man Menschen, die wissen, wie der Hase wirklich läuft.«

Linda achtete darauf, keine Zeichen von Zustimmung oder Einverständnis zu senden, und startete stattdessen den nächsten Versuchsballon.

»Können wir bitte ein Fenster aufmachen?«

Wieder sprang Fließ auf, ein bisschen zu eifrig, als hätte er einen Befehl von einem Vorgesetzten bekommen. Aber er ging nicht zum Fenster, sondern zur Musikanlage, wo er eine CD einlegte. Flüchtig registrierte Linda, dass sie schon länger keine CD mehr gesehen hatte. In ihrem Haushalt unterhielten sich die Computer kabellos mit den Boxen und spielten Musik direkt aus dem Internet. Ein Mann mit hoher Stimme sang vom »Next Big Thing«.

»Nicht so laut«, sagte Jule.

Fließ regelte die Lautstärke herunter.

»Das Fenster?«, beharrte Linda.

»Geht leider nicht«, sagte Fließ und setzte sich wieder hin.

»Warum nicht?«

»Unser Nachbar …«, begann Jule und verstummte, als Fließ ihr einen warnenden Blick zuwarf.

Gombrowski hatte also recht gehabt. Nach dem Gespräch im Garten hatte er Linda kräftig die Hand gedrückt und ihr zu allem Überfluss auch noch auf den Rücken geklopft.

»Das mit Ihrem Pferdestall kriegen wir hin«, hatte er gesagt. »Und um die Vogelschützer machen Sie sich mal keine Sorgen. Die habe ich im Griff.«

Den Zusammenhang hatte Linda nicht gleich verstanden. Gombrowskis Überrumpelungstaktik hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Als er die Schiefe Kappe erwähnte, wurde Linda von einer Art Lampenfieber erfasst, das ihr Herz schneller schlagen, die Gedärme rumoren und das Gehirn aufgeregt von einem Gedanken zum nächsten springen ließ. Die zwei Hektar im Nirgendwo waren gemeinsam mit Objekt 108 veräußert worden, als kläglicher Rest eines Grundbesitzes, der einst zur Villa gehört haben mochte. Ein »Gimmick«, wie der Makler es genannt hatte, zu weit weg vom Dorf, um Pferde darauf zu weiden. Offensichtlich war Gombrowski klug genug gewesen, um zu ahnen, dass sie von ihrem eigenen Besitz nichts wusste. Er hatte ihr eine Kopie der Flurkarte mitgebracht. Die Grundstücke auf der Schiefen Kappe sahen aus wie ein eckiger Schmetterling, in dessen linkem Flügel, handschriftlich vermerkt, der Name »Meiler« und im rechten »Ökologica« stand. Der Schmetterlingskörper in der Mitte war so schmal, dass jemand das Blatt gedreht hatte, um »Franzen/Wachs« in das mittlere Flurstück zu schreiben.

Windräder. Meiler. Gombrowski. Der Ökologica-Chef hatte dreißigtausend Euro für das kleine Flurstück geboten. Bei aller Verwirrung war Linda wenigstens geistesgegenwärtig genug gewesen, um sich jede Reaktion zu verbieten. Nur langsam hatte sie begriffen, dass Gombrowski auf die zwei Hektar in der Mitte zwingend angewiesen war, um die für den Windpark nötige Fläche zusammenzubekommen. Dasselbe galt für Meiler, falls er auf die Idee verfallen sollte, in erneuerbare Energien zu investieren. Lindas Verstand war mit der Frage beschäftigt, was das genau für sie bedeute, als Gombrowski plötzlich auf die Nebengebäude zeigte und fragte, was sie damit vorhabe. Sie erzählte von der geplanten Pferdezucht und erwähnte den Baustopp, den die Naturschutzbehörde verhängen wollte. Daraufhin war Gombrowski aufgestanden und mit schweren Wiegeschritten um Getreidespeicher und Schweinestall herumgegangen. Währenddessen hatte er ununterbrochen geredet. Rückwand abreißen, Fundament unterschieben, neu aufmauern. Ringanker setzen. Balken laschen. Fassade rekonstruieren, wegen der Optik. Das mit der Baugenehmigung gehe schon klar. Vier Männer könne er freistellen, vor dem Winter sei das noch zu schaffen. Wenn alle zufrieden seien, sagte Gombrowski, hätten am Ende auch alle den größten Nutzen. Das sei das Schöne an Unterleuten. Man schaffe es immer, sich gütlich zu einigen. Und die Vogelschützer, die solle sie ruhig ihm überlassen, die habe er schon im Griff.

Jetzt lagen die Zusammenhänge auf der Hand. Die stinkenden Feuer im Hof des Automechanikers hatte Linda schon vor der Dorfversammlung bemerkt. Was bedeutete, dass Gombrowski eine gut präparierte Strategie fuhr. Weil er etwas von Linda wollte, hatte er rechtzeitig begonnen, ihre Widersacher unter Druck zu setzen. Im Kapitel »Strategische Allianzen« schrieb Gortz: »Liebe die Feinde deines Gegners wie dich selbst.« Ein genialer Satz.

Innerlich verneigte sie sich vor so viel taktischer Professionalität und nahm sich vor, Gombrowski in Zukunft mit äußerster Vorsicht zu begegnen. Vor allem durfte sie nicht von ihm abhängig werden, was wiederum hieß, dass sie ihre Karten gegenüber den Vogelschützern möglichst geschickt spielen musste.

»Ich habe mich informiert.« Fließ hatte sich wieder hingesetzt und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Gombrowski legt ein gewaltiges Tempo vor. Anscheinend will er die Sache in trockene Tücher bringen, bevor das Dorf richtig weiß, wie ihm geschieht. Er hat bereits Kontakt mit den Baubehörden aufgenommen und sich der Vento Direct als Partner vorgestellt.«

Jule stand auf und drehte die Lautstärke der Musik noch ein Stück herunter. Keiner von beiden hielt es länger als ein paar Minuten auf seinem Platz aus. Sie schienen ständig davonzulaufen, vor sich selbst, vor dem anderen, vor der unerträglichen Hitze und dem Gummigestank in ihrem Haus.

»Mit der Ökologica steht es nicht zum Besten. Die Pachtpreise steigen, die EU-Subventionen werden zurückgefahren. Manche glauben, dass Gombrowski schon seit Jahren eine Insolvenz verschleppt. Die Erträge des Windparks könnten ihm etwas Beinfreiheit verschaffen.«

Mit stolzer Geste legte Fließ die Arme auf die Rückenlehne der Couch, wobei er Jule versehentlich am Kopf traf. Sie rückte ein Stück von ihm ab. Das rote Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden, der ihr hübsches Gesicht zur Geltung brachte und sie älter wirken ließ. Wieder sandte sie ein Lächeln aus; dieses Mal ging es auf Gerhards Kosten. Linda lächelte zurück, und plötzlich glaubte sie, dass Jule vielleicht doch ihre Freundin werden könnte. Sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam unter den Robinien hinter Objekt 108 sitzen und einen Tee mit kompliziertem Namen trinken würden, den Jule mitgebracht hatte. Sophie würde im Garten spielen und für Linda wie eine kleine Nichte sein, und vielleicht würde das Mädchen eines Tages auf Bergamotte reiten lernen. Linda hatte keine Freundinnen. In der Schule waren ihr die anderen Mädchen zu albern gewesen, und später hatte sie immer zu viel gearbeitet, um Leute kennenzulernen. Außerdem war ihr Frederiks Freundschaft im Grunde genug. Aber Jules Anblick weckte Sehnsucht nach friedlichem Zusammensein, ohne Kampf, ohne Sex, ohne Vergangenheit oder Zukunft. Nur Sonne, Tee, Reden und der Geruch von Gras. Jules Lächeln war ein großes Angebot. Vielleicht konnte Linda sie eines Tages sogar dazu bringen, den Killjoy zu verlassen und ein echter Mensch zu werden.

»Meine Kontaktleute sagen, dass juristisch nicht viel dagegen zu machen sei. Die Eignungsgebiete wurden sorgfältig geprüft und sind politisch gewollt. Meine Kontaktleute sind der Meinung, dass die erforderlichen Genehmigungen mit großer Sicherheit erteilt werden.«

Wieder wechselten Jule und Linda einen Blick. Seine Kontaktleute. Dazu die selbstgefällig gerunzelte Stirn. Ganz klar spielte Fließ den Leitungsoffizier eines Planungsstabs, der sich mit einer brenzligen politischen Affäre befasste. Vor seinem geistigen Auge sah er sich vermutlich nicht von Rattanmöbeln, sondern von spiegelnden Konferenztischen umgeben.

Linda war sicher, dass der Vogelschützer in seinem früheren Leben viel Zeit damit verbracht hatte, in Berliner Kneipen über Klimaerwärmung, Ölkriege und die unbedingt notwendige Energiewende zu dozieren. Mit Sicherheit wählte er die Grünen. Vor der Tür stand ein Kleinwagen, der sich dafür schämte, dass Elektroautos noch in der Entwicklung waren. Und hier saß Leitungsoffizier Fließ und plante einen Feldzug zur Verhinderung von Windkraftanlagen. Schon jetzt freute sich Linda darauf, Frederik von der Szene zu erzählen.

Als sie die Einladung zum Essen angenommen hatte, war sie nicht sicher gewesen, was sie bei den Vogelschützern wollte. Jetzt wusste sie es. Blitzschnell entschied sie sich für eine Strategie und fühlte sofort, dass es die richtige war. In seinen Schriften empfahl Gortz immer wieder, sich mit Kairos vertraut zu machen, dem Gott des richtigen Moments. »Gebrauche die Vernunft. Aber wenn der Augenblick gekommen ist, triff deine Entscheidungen schnell wie der Blitz.« Der Hinterkopf der Kairos-Gottheit war kahl geschoren. Das sollte die Menschen daran erinnern, dass sich eine Gelegenheit, wenn sie einmal vorbei war, nicht mehr am Schopfe packen ließ.

»Der Rechtsweg ist ausgeschlossen«, sagte Fließ. »Wir müssen anders vorgehen.«

Wir.

»Unsere Unterschriftenaktion kennst du ja schon, sie läuft sehr erfolgreich. Außerdem könnte über diesen Kron etwas zu machen sein, er scheint einigen Einfluss im Dorf zu besitzen. Da muss man Synergieeffekte nutzen.«

Fließ holte Luft für den nächsten Satz und bemerkte erstaunt, dass die Sprechmaschine keinen Nachschub lieferte. Anscheinend war ihm nach »Synergieeffekte« der Text ausgegangen. Er hob den Ginger-Ale-Krug und stellte ihn wieder ab, weil alle Gläser noch voll waren. Ein ringförmiger Abdruck blieb auf dem Couchtisch zurück. Linda beugte sich vor, tupfte den Zeigefinger in die Nässe und malte einen eckigen Schmetterling. Fließ fragte nicht, was das sei. Er wusste es. Mit zwei raschen Bewegungen strich Linda die Schiefe Kappe durch.

»Ich werde nicht an Gombrowski verkaufen«, sagte sie.

Der Kopf des Vogelschützers hob sich wie bei einem Fluchttier, das ein Geräusch vernimmt. Auch Jule straffte den Rücken. Auf dem Gesicht ihres Mannes wechselten die Mienen mit atemberaubender Geschwindigkeit.

»Das ist …«, sagte Fließ. »Die Vento braucht zehn zusammenhängende Hektar. Ohne Sie«, in der Aufregung entglitt ihm das frisch vereinbarte Du, »ohne Sie kann Gombrowski gar nicht …«

»Ich verkaufe nicht an Gombrowski«, wiederholte Linda.

Der Vogelschützer sprang von der Couch.

»Wunderbar! Ich meine, das ist bestimmt nicht das Ende vom Lied, Gombrowski wird politisch agitieren, er wird … Aber immerhin – eine harte Nuss. Die muss er erst mal knacken.«

Fließ stand strahlend im Raum, als wollte er auf ein neues Jahr anstoßen. Linda blieb sitzen.

»Mensch, Linda. Leute wie du. Er hat dir bestimmt eine Menge Geld geboten. Und du … Das ist großartig. Danke.«

Linda bemerkte, dass Jule sie ansah. Ihr Lächeln war unverändert, aber die Augen blickten nachdenklich, als fragte sie sich nach Lindas Motiven. Gemeinsam warteten sie darauf, dass auch Fließ zu dieser Frage vordrang.

Als es so weit war, setzte sich Fließ wieder hin und legte einen Finger an die Nase, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen.

»Übrigens, du«, sagte er. »Die Sache mit deinen Pferden.«

»Ja?«, fragte Linda freundlich.

»Die Genehmigungspflicht deiner Bauvorhaben. Die Sanierung der Nebengebäude und die Errichtung von Koppelzäunen.«

»Was ist damit?«

»Vielleicht liegt da Geringfügigkeit vor. Das müsste ich noch mal genauer überprüfen. Am besten, wir legen das Verbotsverfahren erst mal auf Eis.«

»Na dann«, sagte Linda und lächelte.



24 Kron


Das Alter hatte jedem eine Karikatur seiner selbst ins Gesicht geschnitzt. Björns Grinsen, das früher einen ganzen Raum erhellen konnte, ließ sich nicht mehr abstellen. Norberts Augenbrauen waren oberhalb der Nase zu einem grimmigen Balken verwachsen. Wolfgangs Mundwinkel hatte der Spott nach unten gezogen. Die Augen von Heinz standen so weit hervor, als wollten sie den Schädel verlassen. Seit Jakob das Trinken offiziell zum Hobby erklärt hatte, war seine Burgundernase auf doppelte Größe angeschwollen. Der dicke Ulrich musste von innen mit Haaren ausgestopft sein, jedenfalls quollen sie aus Ohren, Nasenlöchern und Hemdkragen.

Normalerweise glaubte Kron von sich selbst, ganz der Alte geblieben zu sein. Zwar schlief er seit Langem nur noch auf der rechten Seite und kaute auf der linken. Die Rückenschmerzen stellten keinen Zustand mehr dar, sondern waren selbst zu einem Körperteil geworden, und bei Wetterwechsel brachte ihn das kaputte Bein schier um den Verstand. Auch kam ihm in letzter Zeit das Körperfett abhanden, weshalb Kathrin ständig Auskunft darüber verlangte, was er im Lauf des Tages gegessen hatte. Weil ihn der Anblick der eigenen Rippen erschreckte, zog er sich nicht mehr vor dem Spiegel aus.

Trotzdem erschien ihm das Alter noch immer als Horizont, auf den man zuging, ohne ihn jemals zu erreichen. In Krons Kopf hatten sich die verschiedenen Versionen seiner selbst über die Jahre zu einer leidlich friedlichen Gruppe versammelt. Der sechzehnjährige Kron lebte genauso weiter wie der fünfunddreißig-, sechzig- und siebzigjährige. Sie saßen beisammen, schwiegen oder unterhielten sich. »Das hättest du damals nicht gedacht«, sagten die Alten. »Guck nur, was aus dir geworden ist«, sagten die Jungen. »Mehr gelitten als ich hat keiner von euch«, sagte der Mittlere. Sie stritten selten; im Grunde mochten sie sich. Kron war nicht älter, sondern zahlreicher geworden.

Wenn er sich aber mit den Veteranen traf, wenn er sah, was das Alter aus ihnen gemacht hatte – Komödianten, die sich selbst spielten –, dann erkannte er mit Grauen, dass er einer von ihnen war. Sie alle standen auf dem Horizont. Erik Kessler war bereits dahinter verschwunden.

Eigentlich kannte Kron keine Angst vor dem Tod. Er hatte genug Zeit im Wald verbracht, um von den Bedingungen biologischer Existenz zu wissen. Die Sonne war ein Dauerbefehl zum Leben. Unter ihrer Einwirkung drehte sich ein Reigen aus wachsenden, blühenden, fliegenden, schwimmenden und laufenden Gebilden, von denen Kron eines darstellte. Die Formen lösten einander ab, während sich die Substanz gleich blieb. Es war kein Grund ersichtlich, warum ausgerechnet der Kron-Form Ewigkeit zukommen sollte. Er spazierte pfeifend über Friedhöfe, aß Fleisch mit Appetit und streichelte die sonnenbleichen Schädel von Wildschweinen, die er im Unterholz fand.

Allein, die Treffen mit den Veteranen waren etwas anderes. Er mochte jeden Einzelnen von ihnen, aber gemeinsam erzählten sie etwas über das Leben, das er nicht wissen wollte.

Er hatte sie ins Hinterzimmer des Landmanns bestellt, und sie waren vollzählig erschienen. So war es immer: Die Veteranen kamen, wenn er sie rief. Vielleicht um der guten alten Zeiten willen, die in Wahrheit weder gut noch alt, sondern einfach nur vorbei waren. Vielleicht weil sie einander lange genug kannten, um zu einer Familie geworden zu sein, in der man – wie in allen Familien – Dinge tat, ohne die Gründe zu kennen. Die beste Erklärung bestand wohl darin, dass sich zwischen Menschen niemals etwas änderte. Kron war erst ihr Vorarbeiter, dann Brigadeführer gewesen, und in gewissem Sinne war er das immer noch. Sie saßen rund um den Tisch, jeder mit einem Bierglas vor sich, und schauten ihn erwartungsvoll an.

Er war vorbereitet. Er hatte lang genug über Gombrowskis Plan nachgedacht, um zu wissen, dass er sich nicht irrte. Ein Puzzleteil hatte sich zum nächsten gefügt; gemeinsam ergaben sie ein stimmiges Bild. Kron nahm einen Schluck Bier.

»So, ihr Säcke.«

Danach erläuterte er das Windmühlenkomplott. Bereits vor zwei oder drei Jahren habe Gombrowski von einem seiner politischen Freunde erfahren, dass die Unterleutner Region ins Visier der Energiewende-Abzocker geraten sei. Mit dieser Information sei er zu Arne gelaufen und habe ihm das Vorliegen einer Win-win-Situation auseinandergesetzt.

»Wind, Wind?«, fragte Ulrich.

»Win-win sagen die Abzocker, wenn mehr als ein Schwein Platz am Trog findet«, erklärte Kron.

Arne sollte die Gewerbesteuer kassieren und Gombrowski die fette Pacht für das Land, auf dem die Windmühlen standen. Fehlten nur noch die geeigneten Flächen sowie eine Strategie, die dem Dorf weismachte, es handele sich um höhere Gewalt und nicht etwa um Gombrowskische Habgier.

Weil abzusehen gewesen sei, dass es Widerstand gegen das Projekt geben würde, habe Gombrowski bei Schaller angefragt, ob der ein weiteres Mal die Drecksarbeit für ihn erledigen wolle. Aber irgendetwas sei wohl schiefgegangen. Vielleicht habe Schaller ein größeres Stück vom Kuchen gewollt und sei dumm genug gewesen, Gombrowski zu drohen. Jedenfalls habe Gombrowski versucht, ihn loszuwerden, was, wie man wisse, nur zur Hälfte geklappt habe. Immerhin zeige sich die verbliebene Hälfte nun wieder kooperativ. Gombrowski habe ihm das Haus direkt neben den Vogelschützern besorgt, und Schaller habe bereits mehrere Tage vor der offiziellen Verkündung des Windmühlenkomplotts begonnen, seine Nachbarn einzuräuchern. Das werde er gewiss auch weiterhin tun, bis diese zusagten, jeden Widerstand gegen die Windmühlen einzustellen.

»Und was hat der Schnösel aus Ingolstadt damit zu tun?«, fragte Norbert. »Dem du gleich ein paar mitgeben wolltest?«

Darüber hatte Kron lange nachgedacht. Feststand, dass es zwischen dem Schnösel und Gombrowski eine Verbindung geben musste. Auf der Versteigerung war der Schnösel bereit gewesen, jeden beliebigen Preis für das Land zu zahlen. Also hatte er bereits gewusst, dass sich die Ausgabe rentieren würde. Zudem sorgte die Beschaffenheit der Schiefen Kappe dafür, dass nur Gombrowski oder der Schnösel einen Windpark bauen konnten. Darauf hätte sich der alte Hund niemals eingelassen, wenn er nicht in Wahrheit mit dem Schnösel unter einer Decke steckte. All das konnte nur eins bedeuten: Hier lief eine noch viel größere Sache, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Arne und Gombrowski planten ein Geschäft, für das ihnen das nötige Kleingeld fehlte. Und für das sie einen Sündenbock brauchten. Der Schnösel investierte, Gombrowski sorgte dafür, dass die Unterleutner den sauren Apfel verzehrten, Arne erledigte den Verwaltungskram. Der böse Investor aus dem Westen war schuld, und am Ende teilte man sich die Rendite.

Das erklärte Kron den Veteranen.

»Das ist erst der Anfang, versteht ihr? Der Schnösel aus Ingolstadt hat über 200 Hektar gekauft. Da werden sich mit Arnes Hilfe noch ein paar weitere Eignungsgebiete finden lassen. Bis es hier irgendwann aussieht wie auf der Plausitzer Platte. Bei Nacht ein Meer aus roten Blinklichtern, bis zum Horizont. Als lebte man im Inneren einer riesigen Maschine.«

Kron fühlte sich berauscht von der Logik seiner Ausführungen. Was den Menschen vom Tier unterschied, war die Fähigkeit, im Angesicht der Katastrophe »Siehste!« zu denken. Er gönnte sich das Gefühl. Vor zwanzig Jahren hatte ihm das Dorf nicht geglaubt, dass Gombrowski ein Teufel war. Dieses Mal würden sie nicht darum herumkommen. Sie würden zusehen, wie Gombrowski versuchte, ganz Unterleuten an die Vento Direct zu verkaufen. Und wie Kron das verhinderte. Wie er Rache nahm für die gestohlene Ökologica, für die korrumpierte Hilde und ein zertrümmertes Bein. Alle würden die perfide Raffinesse von Gombrowskis Plänen erkennen und einsehen, dass Kron kein verblendeter Kommunist war, sondern nur ein Mensch, der sein Gerechtigkeitsgefühl nicht gegen einen Internetanschluss eingetauscht hatte.

Bis dahin lag allerdings noch ein Weg vor ihm, dessen Länge und Beschwerlichkeit er an den Mienen der Veteranen ablesen konnte. Sie hatten seiner Ansprache in vollständiger Reglosigkeit gelauscht, nicht einmal gemurrt, gelacht oder auch nur scharf Luft geholt. Ihre Biergläser hatten sie ausgetrunken; ansonsten saßen sie unverändert. Es war unmöglich zu beurteilen, ob sie auch nur ein Wort verstanden hatten von dem, was er sagte. Sie warteten einfach ab, was als Nächstes folgte.

»Den Zahn werden wir dem fetten alten Hund ziehen«, sagte Kron. »Der denkt, das Dorf ist sein persönlicher Fleischknochen, an dem er nagen kann, so viel er will. Er denkt, er kann hier Löcher graben und in jede Ecke scheißen. Aber diesmal werden wir ihm eins überbraten, dass er den Schwanz einklemmt und hinter dem Ofen verschwindet.«

Björn grinste, Heinz glotzte, Wolfgang zog spöttisch die Mundwinkel herunter. Die Hundemetapher gefiel ihnen. Sabine brachte sieben Bier auf einem Tablett; unter der weich hängenden Haut ihrer Oberarme spannte sich der Bizeps.

»Mir scheint, ihr habt die Moral von der Geschichte noch nicht richtig begriffen. Wie hoch ist deine Rente, Jakob?«

»Ist doch egal, Kron.«

»Sag schon. Sag die Zahl«.

»380 Euro.«

»Kriegt hier irgendjemand mehr als 500 Euro?«

Norbert schaute grimmig, Ulrich zupfte an den Haaren in seinen Ohren, Jakob befingerte die Burgundernase.

»Die Pacht für zehn Windräder beträgt 150000 im Jahr. Jetzt rechnet mal aus, was das bei hundert Windrädern wäre. Was für eine Rente das ergibt.«

Jeder der Veteranen verkaufte etwas am Straßenrand, Kartoffeln, Eier, Kürbisse, weil das Geld zum Leben nicht reichte. Ohne Krons Zuwendungen, die aus den Erträgen des Waldes stammten, wären sie nicht in der Lage gewesen, Weihnachtsgeschenke für ihre Enkel zu kaufen. Trotzdem hatten sie das Gefühl, ganz gut zurechtzukommen, hätten sich niemals als arm bezeichnet und blickten neidlos auf einen wie Gombrowski, der sich alle zwei Jahre einen neuen Range Rover anschaffte. Für Kron waren sie wie Kinder, die ihn zugleich rührten und zur Verzweiflung trieben.

Zu allem Überfluss interessierten sie sich nicht für Windräder. Ihre Häuschen lagen im Ortskern oder im südöstlichen Teil hinter der Kirche, wo man keinen Blick auf die Schiefe Kappe hatte. Kron war darauf eingestellt gewesen, dass es nicht einfach werden würde. Er hieb die flache Hand auf den Tisch und erhob sich halb vom Stuhl.

»Gombrowski will Unterleuten vernichten!«

»Ich weiß nicht.« Ulrich verlagerte seine behaarte Fettmasse, um auf dem Holzstuhl eine bequeme Haltung zu finden. »Du machst hier ganz schön, also, Wind.«

»Hast du nicht selbst ein Eignungsgebiet?«, fragte Norbert.

Das stimmte, und in einer ruhigen Minute hatte sich Kron durchaus gefragt, ob er einen Windpark errichten würde, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Gebiet den Zuschlag bekäme, lag aber so nah am absoluten Nullpunkt, dass er die Frage gleich wieder beiseitegeschoben hatte.

»Darum geht’s doch gar nicht«, schnauzte er. »Vor zwanzig Jahren hat Gombrowski euch die LPG gestohlen und ist damit davongekommen. Jetzt will er sich das Letzte holen, was euch und euren Enkeln noch bleibt. Die Unberührtheit der Natur. Die Schönheit und den touristischen Wert der Unterleutner Heide.«

»Es gibt hier doch gar keine Touristen«, sagte Björn.

»Gombrowski ist ein fetter alter Köter«, sagte Heinz.

»War er schon immer«, sagte Norbert.

»Lass ihn laufen«, sagte Wolfgang und leerte sein Bier.

»Wisst ihr nicht mehr, was wir uns damals versprochen haben?« Kron schaute ihnen der Reihe nach in die Gesichter. »Eines Tages kriegen wir ihn dran. Für die Gerechtigkeit.«

Ulrich und Jakob blickten betreten in ihre Gläser. Heinz rieb sich die Augen.

»Ganz schön lange her«, sagte Wolfgang.

»Was regst du dir auf«, murmelte Norbert.

»Ich weiß nicht, Kron«, wiederholte Ulrich.

Mit Wucht ließ Kron beide Fäuste auf die Tischplatte fallen, so dass die Veteranen erschrocken nach ihren wackelnden Gläsern griffen.

»Ihr Lahmärsche«, brüllte er. »Kapiert ihr nicht, was das alles bedeutet? Seid ihr wirklich so blöd, wie ihr ausseht?«

Wenn er schrie, kriegte er sie. Krons Geschrei schallte direkt aus den guten alten Zeiten zu ihnen hinüber, als sie noch keine Karikaturen, sondern kräftige Männer gewesen waren, die wussten, dass man gut daran tat, einen schreienden Kron ernst zu nehmen. Sie hielten sich an ihren Gläsern fest und sahen ihn an.

»Was bedeutet es denn?«, fragte endlich Björn.

Kron entspannte sich und hob sein Glas; sie stießen an.

»Gombrowski macht die Ökologica dicht. Braucht er nicht mehr. Schluss, aus, Ende.«

Das wirkte. Kron schnitt das aufkommende Gemurmel mit einer Handbewegung ab.

»Überlegt doch mal. Die Ökologica ist schon lange unrentabel geworden. Warum ist denn Gombrowski so heiß auf den Windpark? Weil das eine hübsche Altersvorsorge ergibt.«

Jetzt ließ er sie murmeln. Bis auf Ulrich hatten sie alle Verwandte, die in der Ökologica arbeiteten; Tochter, Neffe, Sohn und Schwiegersohn; Björns Enkelin hatte gerade eine Ausbildung zur Landwirtin begonnen. In Unterleuten den Job zu verlieren, kam einem beruflichen Todesurteil gleich. Keiner der Veteranen war in der Lage, seine Angehörigen zu unterstützen. Sie würden zusehen, wie ihre Lieben verarmten oder wegzogen, um Arbeit zu finden. Für jeden Einzelnen bedeutete das die größte denkbare Katastrophe.

»Ein Betrieb wie die Ökologica interessiert außerhalb von Unterleuten keine Sau. Das ist ein steuerfinanziertes Museum ohne Besucher. Warum sollte sich Gombrowski den Stress weiter antun? Der schlachtet die Kuh und trägt die Filetstücke nach Hause. Wie das geht, habt ihr vor zwanzig Jahren schon einmal gesehen. Sabine, noch eine Runde, dazu sieben Bromfelder, alles auf mich.«

Bis die Schnäpse kamen, war alles besprochen. Sie waren näher an den Tisch gerückt und hatten die Köpfe zusammengesteckt. Kron hatte geredet, die anderen zugehört. Jetzt richteten sie sich auf und nickten weiter vor sich hin, während Sabine den Bromfelder verteilte. Krons Trinkspruch war kurz.

»Auf geht’s«, sagte er und warf den Kopf in den Nacken.

Alle tranken. Maschinenöl mit Eukalyptusgeschmack.






Teil III


Falsche Freunde



Liebe die Feinde deiner Gegner wie dich selbst.


Manfred Gortz



25 Meiler


Sie stürmte herein mit der Selbstverständlichkeit eines Naturereignisses, die Haare tropfnass vom Regen. Einen Schirm hatte sie nicht dabei, auch keine Mütze oder Kapuze; im Gehen hielt sie den Kopf schräg, um den Pferdeschwanz mit beiden Händen auszuwringen. Zielstrebig kam sie auf ihn zu, und Meiler fragte sich, wie es ihr gelungen war, ihn in der unübersichtlichen Lobby sofort zu entdecken. Nicht die geringste Unsicherheit war ihr anzumerken; auch zeigte sie kein Interesse für die demonstrative Pracht der Räumlichkeiten. Entweder ging sie in Luxushotels ein und aus – was Meiler bezweifelte – oder die Generation, zu der Franzen gehörte, war dermaßen unfähig zur Demut, dass sie die vergoldeten Einschüchterungsgesten einer Prunklobby gar nicht zur Kenntnis nahm. Franzen trug die Uniform der Abgebrühten; die Beine steckten in abgewetzten Röhrenjeans, die Füße in grünen Lederstiefeln. Dazu eine knappe Jacke, den Reißverschluss bis unters Kinn geschlossen. Nichts erinnerte an das romantische Kleid, in dem sie in Unterleuten aufgetreten war. Meiler ging davon aus, dass der Kostümwechsel weniger mit dem Wetter zu tun hatte als mit ihrer neuen Verhandlungsposition. Sie verwirrte ihn. Gegen ihre Jugend half nicht einmal der berühmte Satz, nach dem sie seine Tochter hätte sein können. Diese junge Frau konnte nicht seine Tochter sein. Sie stammte von einem anderen Planeten. Aus einem Sonnensystem, in dem zwanzigjährige Frauen klitschnass in teure Hotels stiefelten, um Geschäfte mit sechzigjährigen Männern abzuschließen.

Franzen kam heran, sagte »Hallo« und hatte sich bereits in einen Sessel fallen lassen, während Meiler noch dabei war, sich umständlich aus der viel zu tiefen Couch zu erheben. Weil sie keine Anstalten machte, ihm die Hand zu reichen, sondern nur die Beine übereinanderschlug und die Arme auf den Sessellehnen ausbreitete, stand Meiler inmitten der Sitzgruppe wie ein Vollidiot und hatte keine andere Wahl, als sich unverrichteter Dinge wieder zu setzen. Franzen starrte ihn an. Was für eine Schnapsidee, sich mit ihr im Adlon zu treffen. Er schämte sich für die alberne Kassettendecke, für die übertriebenen Blumenbuketts an jeder Ecke, für den säulenförmigen Brunnen und die gusseisernen Frösche, die rings um das weiße Marmorbecken saßen. Unzählige Treffen mit Kunden hatte er in dieser Sitzgruppe absolviert und dabei stets darauf geachtet, sich ein paar Minuten zu verspäten, damit seine Gesprächspartner sahen, dass er nicht von der Eingangstür, sondern von den Fahrstühlen kam. Franzens Gleichgültigkeit verwandelte das gesamte Adlon in eine Kulisse und ihn selbst in einen mittelmäßigen Wichtigkeitsdarsteller. Rings um ihre Ellenbogen breiteten sich dunkle Wasserflecken auf dem Stoffbezug des Sessels aus. Sie saß viel zu weit weg. Meiler wusste nicht, warum das Adlon glaubte, es gehöre zum guten Ton, die Möbel so weit auseinanderzustellen, dass man sich nicht unterhalten konnte.

»Sie haben mich angerufen«, eröffnete Franzen, als das Schweigen unerträglich wurde. »Sie wollten mich sprechen.«

Das stimmte. Nach dem Besuch im Plausitzer Bauamt am vergangenen Freitag hatte Meiler seine restlichen Berlin-Termine absolviert und war noch am gleichen Nachmittag ins Auto gestiegen, um nach Ingolstadt zurückzufahren. Einen Tag später hatte er Franzen auf dem Handy angerufen und um ein zeitnahes Treffen gebeten. Heute hatte er wieder den halben Tag auf der A9 verbracht, um jetzt, Montag, 19. Juli 2010, mit ihr im Berliner Adlon sitzen zu können. Die Frage, wer in dieser Angelegenheit etwas von wem wollte, ließ sich leicht beantworten.

»Es geht um die vier Hektar hinter Ihrem Haus, die Sie so gern für Ihre Pferde hätten«, sagte Meiler und freute sich beinahe, als sich der Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht zeigte.

»Nein«, sagte sie. »Das glaube ich nicht.«

Mehr nicht. Danach schwieg sie wieder.

»Frau Franzen«, begann Meiler noch einmal. »Lassen Sie uns ganz entspannt miteinander reden. Letzten Donnerstag habe ich gesagt, dass ich das Land hinter Ihrem Haus auf keinen Fall verkaufen werde. Dass ich nicht tausche, habe ich nicht gesagt.«

Der freundliche kleine Scherz zerplatzte an dem Felsen, in den sich ihr Gesicht verwandelt hatte. Meiler überlegte, ob er anbieten sollte, ihr an der Bar einen Kaffee zu holen. Aber er wusste, dass sie ablehnen würde. Vermutlich würde sie nicht einmal »nein, danke« sagen, sondern nur stumm den Kopf schütteln. Er versuchte sich zu erinnern, wie er sich dieses Treffen vorgestellt hatte. Trotz allem hatte er sich darauf gefreut, sie wiederzusehen. Vielleicht war er dumm genug gewesen zu glauben, sie würde sich in der Lobby mit großen Augen um die eigene Achse drehen und das Dekor bestaunen. Vermutlich wollte er ihr nach erfolgreich beschlossenem Deal vorschlagen, woanders noch eine Kleinigkeit zu essen. Im »Borchardt«. Und dann? Zu Meilers Prinzipien gehörte es, wenigstens sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, wenn schon die Welt zu fast hundert Prozent aus Heuchelei bestand. Franzen gefiel ihm, und selbstverständlich wollte er mit ihr ins Bett wie mit fast jeder anderen Frau auch. In erster Linie aber wollte er etwas anderes von ihr, und erst jetzt, während sie ihm gegenübersaß, dämmerte ihm langsam, was das war. Er wollte sehen, wie sie den Blick senkte. Und sei es nur, um ihren Borchardt-Hauptgang zu betrachten, der Zutaten enthielt, von denen sie noch nie etwas gehört hatte.

Aber Franzen war weit davon entfernt, den Blick zu senken. Sie starrte ihn an. Meiler seufzte lautlos. Jetzt wollte er einfach nur das Geschäft abschließen, so schnell wie möglich. In fünfzehn Minuten konnte er wieder im Auto sitzen und nach Hause fahren. Das Zimmer, das er aus unerfindlichen Gründen reserviert hatte, ließ sich problemlos stornieren. Franzen ließ sich problemlos vergessen. Er war zu alt für Spielereien. In seinem Leben ging es um völlig andere Dinge. Nicht um Franzen.

»Also, Frau Franzen«, sagte er. »Zwei Hektar am Waldrand gegen vier Hektar direkt im Dorf. Eigentlich müssten Sie mir den Wertunterschied ausgleichen, aber ich weiß ja, wie stark Sie mit der Sanierung Ihres großen Hauses belastet sind. Was sagen Sie?«

»Fünfzigtausend.«

»Wie bitte?«

»Sie übertragen mir die vier Hektar hinter meinem Haus und zahlen außerdem fünfzigtausend Euro. Dafür bekommen Sie das Flurstück auf der Schiefen Kappe, das Sie für die Errichtung Ihres Windparks brauchen.«

Meilers Handflächen begannen zu kribbeln, dann flutete das Adrenalin seinen gesamten Körper. Vor Wut wurden seine Ohren heiß wie die eines Schuljungen. Er ärgerte sich nicht über Franzens Unverschämtheit, sondern darüber, dass er diese Unverschämtheit nicht vorhergesehen hatte. Normalerweise hielt er in Geschäftsverhandlungen mindestens eine alternative Strategie in der Hinterhand, falls der erste Ansatz versagte. Heute war er blank. Er hatte geglaubt, das Tauschangebot ohne Ausgleichszahlung sei mehr, als Franzen sich erhofft habe. Eine sichere Bank.

»Hören Sie, Frau Franzen«, sagte er. »Es gefällt mir, dass Sie verhandeln wollen. Man sollte immer verhandeln. Aber die zwei Hektar auf der Schiefen Kappe sind laut Gutachterausschuss kaum 8000 Euro wert. Sie bekommen dafür die doppelte Fläche in bester Dorflage. Das ist mehr als fair. Finden Sie nicht?«

Eine halbe Minute verging, während Franzen mit dem rechten Zeigefinger ihren linken Daumennagel säuberte. Als sie fertig war, stand sie zu Meilers Überraschung auf.

»Jetzt gehe ich mich frisch machen«, sagte sie, »und bin in fünf Minuten wieder da. In der Zwischenzeit bitte ich Sie, zu einem Ergebnis zu kommen. Als kleine Entscheidungshilfe möchte ich daran erinnern, dass 50000 Euro nicht mehr als ein Drittel der Summe darstellen, die Sie mit dem Windpark bereits im ersten Jahr verdienen werden. Die Investition hat sich also binnen vier Monaten amortisiert. Ihre unternehmerische Vernunft wird Ihnen bestätigen, dass das ein erträgliches Opfer ist.«

Damit marschierte sie los, und zwar, wie Meiler bemerkte, nicht zur Rezeption, um zu fragen, wo sich die Waschräume befanden, sondern gleich in die richtige Richtung, an den Fahrstühlen vorbei und links um die Ecke in den Gang, der zu den Toiletten führte. Dass sie sich in der Lobby des Adlons auskannte, irritierte ihn noch mehr als ihr Auftreten. Er hatte Lust, ihr ein paar Sätze nachzuschleudern wie eine Handvoll Kieselsteine. Dass sie gerade aus reiner Dummheit die Erfüllung ihres Lebenstraums vermassele. Dass er, Meiler, es nicht nötig habe, sich auf diese Komödie einzulassen. Dass Reichtum die Freiheit mit sich bringe, eigene Interessen zu ignorieren, wenn man Lust dazu verspüre. Aus purer Gehässigkeit konnte er auf den Windpark-Deal verzichten und noch per testamentarischer Verfügung dafür sorgen, dass Franzen ihre bescheuerten Pferdekoppeln bis ans Ende aller Tage nicht bekam.

Aber seit dem Wochenende war die Schiefe Kappe mehr als ein gewöhnliches Geschäft. Sie war ein Versprechen.

Als der Roadster am Freitag gegen 22 Uhr den von Kastanien gesäumten Privatweg zur Ingolstädter Villa hinaufgeglitten war, hatte in der Bibliothek Licht gebrannt. Da Einbrecher für gewöhnlich nicht die Deckenbeleuchtung einschalteten, konnte das Strahlen der Art-déco-Lampen nur bedeuten, dass Mizzie zu Hause war.

Noch in Mantel und Schuhen war Meiler über den Flur geeilt, durch das seit Monaten unbenutzte Esszimmer bis zur Bibliothek, in die seit einer halben Ewigkeit niemand außer der Putzfrau einen Fuß gesetzt hatte. Er hatte die Tür geöffnet und sich einer Szene gegenübergesehen, die er nicht verstand. Vor der Bücherwand stand Mizzie, ein Glas Wein in der Hand, und blickte ihm entgegen. Auf dem Chesterfield-Sofa saß ein junger Mann, in dem Meiler erst auf den zweiten Blick seinen Sohn erkannte. Um Philipps Mundwinkel spielte ein freundliches, geradezu mildes Lächeln, als hätte gerade jemand etwas Amüsantes gesagt. Trotz der Sommerwärme trug er einen moosgrünen Pullover mit V-Ausschnitt und ein gestreiftes Hemd darunter, in dem er aussah wie ein Collegestudent. Die schwarzen Bundfaltenhosen waren eine Spur zu feierlich und die braunen Lederschuhe ein wenig zu neu. Aber alles in allem wirkte Philipp auf verblüffende Weise normal.

»Hallo, Papa«, sagte er.

Mizzie sagte nichts und lächelte, eine Mutter, die sich über die gelungene Präsentation einer Überraschung freut. Im ersten Moment empfand Meiler Glück beim Anblick seines Sohns, aber gleich darauf hellen Schmerz, als ihm klar wurde, dass eine verkleidete Puppe vor ihm hockte. Er hasste es, in einer Welt zu leben, in der erfolgreiche Unternehmer mit Vollbart und löchrigen Stiefeln herumliefen, während Penner Anzüge trugen. Am Bahnhof musste man heutzutage genau hinsehen, um zu unterscheiden, ob ein Mann etwas in eine Mülltonne hineinwarf oder herausnahm. Ganz gleich, wie gut geputzt Philipps Schuhe, Zähne und Fingernägel waren – sie brachten die hässlichen Fragen nicht zum Schweigen. Wann hatte er sich den letzten Schuss gesetzt? Wo hatte er vergangene Nacht geschlafen? Mit welcher Kreatur hatte er das Fixerbesteck geteilt, und wie sahen seine Fußknöchel unter den dunkelblauen Merino-Socken aus? Der Schmerz wuchs und schnürte Meiler die Kehle zu. Sein Philipp war seit zehn Jahren tot, und die Anwesenheit eines Gespenstes, das behauptete, Philipp zu sein, holte den Verlust auf grauenvolle Weise ins Hier und Jetzt. Er zitterte am ganzen Körper, als er sich in einen Sessel setzte.

Mizzie öffnete eine Holzklappe in der Bücherwand und schenkte drei Gläser Highland Park 18 ein. Dann begann sie mit Konversation. Wie ein Zuschauer im Theater bestaunte Meiler ihr Talent, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Sie wandte sich abwechselnd Philipp und Meiler zu, lachte hell und verteilte mit gepflegten Fingern Klapse auf Handrücken und Knie. Ehe Meiler es sich versah, beantwortete er Fragen, erzählte, wo er gewesen war und was er gemacht hatte, beschrieb Unterleuten und die absurde Dorfversammlung. Er stand auf, um Whisky nachzuschenken, und imitierte dabei Krons übertrieben hinkenden Gang, während sich Philipp und Mizzie vor Lachen bogen. Selbstverständlich war die ganze Situation nicht mehr als eine sentimentale Filmszene, aber eine, die Meiler zu gefallen begann.

Gegen Mitternacht schlug Mizzie eine Partie Schach zwischen Vater und Sohn vor, während sie schon zu Bett gehen wollte. Meiler winkte ab, aber als Philipp fragte, ob er Angst habe zu verlieren, war das Brett in Sekundenschnelle aufgebaut. Meiler nahm sich vor, seinem Sohn mindestens zwanzig Züge zu geben, bevor er ihn vernichtete, und musste beim fünfzehnten Zug feststellen, dass er selbst in Bedrängnis geriet. Sie kämpften schweigend. Philipp spielte ohne Dame, dafür mit sämtlichen Offizieren; Meiler wehrte sich wie ein Löwe. Während Philipps schwarze Springer den weißen König in die Ecke trieben, dehnte sich etwas in Meilers Brust, machte das Atmen schwer und drohte zu platzen. Beim Schachmatt kamen die Tränen. Es waren Tränen der Freude über Philipps Sieg, Tränen der Verzweiflung über gnadenlos vergangene Jahre, und schließlich lagen sie sich in den Armen, und Meiler schlug mit der Faust auf den Rücken seines Sohns und stammelte Unsinn, du dummer Bengel, die Dame gegen Läufer und Bauern zu tauschen, was für ein Bengel, und Philipp weinte auch und wiederholte immer nur den Satz: »Ich bin noch da, Papa, ich bin doch noch da.«

Kurz darauf kroch Meiler zu Mizzie ins Bett. Sie sprachen nicht länger als fünf Minuten. Meiler würde sich um alles kümmern, die Verhandlungen mit der Vento Direct führen, die Errichtung des Windparks überwachen. Die Grundstücke auf der Schiefen Kappe würde er Mizzie überschreiben, so dass der Erlös aus der Windpacht direkt auf ihr Konto floss. Er erklärte es, so gut er konnte: Nur auf diese Weise sei es ihm möglich, Philipp zu unterstützen. Unterleuten sei Zufall, der Windpark ebenfalls. Das Geld stamme gewissermaßen nicht von ihm persönlich, sondern sei ein Geschenk des Schicksals, das er an Mizzie weiterleite. Was sie damit anstelle, sei ihre Sache. Mizzie küsste sein Gesicht. Hand in Hand schliefen sie ein.

Am nächsten Morgen waren Mizzie und Philipp verschwunden, als Meiler gegen zehn in die Küche taumelte. Auf dem Tisch lag ein Zettel; die Handschrift hatte er seit Jahren nicht gesehen.

»Nächsten Samstag um acht zum Schach, und streng dich gefälligst etwas mehr an. P.«

Franzen kam zurück. Ihr Haar war nicht mehr nass; sie musste die Zeit auf der Toilette damit verbracht haben, es unter dem Handtrockner zu fönen. Meiler fragte, ob sie eine Anzahlung auf die Fünfzigtausend wolle; Franzen schüttelte den Kopf. Er versprach, sich so schnell wie möglich um einen Notartermin zu kümmern.

Es deprimierte ihn, dass sie ihren Triumph nicht einmal auszukosten schien. Sie blickte starr und kalt wie einer der Frösche auf dem Rand des Marmorbeckens. Zum Abschied erhob er sich; wieder gab sie ihm nicht die Hand. Da erst begriff Meiler, dass sie ihn hasste. Er schaute ihr nach, während sie mit schnellen Schritten zum Ausgang lief, und fragte sich, was ihr das Recht gab, ihn für ein Schwein zu halten. Auf dem Sessel markierten Wasserflecken die Stelle, an der Franzen eben noch gesessen hatte.



26 Wachs


»Guck mal«, sagte Ronny, »ein nasses Ding.«

In der Tat war Linda von Kopf bis Fuß durchnässt. Sie lachte trotzdem und flog Frederik geradewegs in die Arme, so dass er gar nicht anders konnte, als sie hochzuheben und im Kreis zu schwenken.

»Ich hab es«, sang Linda. »Ich hab es, ich hab es.«

»Was hat sie?«, fragte Ronny.

»Vermutlich ein Stück Steppe«, sagte Frederik.

»Ah«, nickte Ronny. »Dorfkram.« Und ließ sie allein.

Frederik setzte Linda ab. Sie standen in der Chef-Küche der Firma. Groß wie ein mittlerer Tanzsaal, mit Kochinsel, Frühstücksbar, Besprechungstisch sowie wandausfüllenden Bildschirmen und sündhaft teurer Ledergarnitur. Das Ganze umgeben von einer Aura des Unbenutzten.

Wenn es nach Timo gegangen wäre, hätten die Mitarbeiter von Weirdo immer noch zusammengepfercht zwischen Bergen von Altglas und Altpapier gesessen. Enge und Chaos standen für ihre gemeinsame Jugend, sie standen für die Anfangsjahre der Firma und das damit verbundene Lebensgefühl, und Timo war ein Mensch, der gerne alles so ließ, wie es war. Mit Händen und Füßen hatte er sich dagegen gewehrt, »Chef«, »Arbeitgeber« oder sogar »mittelständischer Unternehmer« zu sein. Aber der Erfolg von Traktoria hatte keine Zeit für Identitätskrisen gelassen. Timo und Ronny waren 21 Jahre alt gewesen, als Weirdo zum Marktführer für Browser-Games aufstieg. Binnen weniger Monate war die Lage in den viel zu engen Oldenburger Firmenräumen unhaltbar geworden. Weirdo brauchte mehr Platz, eine professionelle Infrastruktur und viele neue Mitarbeiter für Presse, Support, Buchführung, Sekretariat und Akquise.

Obwohl Frederik als Entwickler angestellt war, machte ihn das Organisationsversagen von Timo und Ronny zu einer Art Firmengouvernante. Frederik führte das Siezen von Fremden am Telefon ein. Frederik verlangte die Bereitstellung eines Etats für Büroeinrichtung und verbot Timo, sich ständig bei den Sekretärinnen für das Verursachen von Arbeit zu entschuldigen.

Die neuen Räume glichen eher Ateliers als Büros und waren ausbaufähig, so dass die Firma mit den Jahren immer tiefer in das Gebäude hineinwachsen konnte. Inzwischen waren am Berliner Stammsitz 250 Angestellte beschäftigt; insgesamt verfügte Weirdo an den Standorten Berlin, Paris und Seattle über rund 600 Mitarbeiter. Allem Erfolg zum Trotz waren Timo und Ronny miserable Manager geblieben. Sie delegierten das gesamte operative Geschäft. Dieses kindliche Vertrauen wurde von den Mitarbeitern mit Loyalität belohnt. Jeder bei Weirdo wusste, was Timo und Ronny konnten. Sie konnten mit blinder Treffsicherheit voraussagen, was die Menschen auf der ganzen Welt als Nächstes spielen wollten. Alles andere nahm man ihnen ab.

»Willst du einen Kaffee?«

Auf einem der weißen Sideboards stand eine professionelle Siebträger-Espressomaschine, teuer wie ein Kleinwagen. Während es auf den unteren Stockwerken von Nespresso-Automaten nur so wimmelte, hatte die Chefetage traditionell nur über eine alte Filtermaschine verfügt, die sich in der modernen Chef-Küche prähistorisch ausnahm. Das neue Wundergerät hatte Frederik bei einem Potsdamer Fachgeschäft bestellt, in dem über Kaffeesorten und Kaffeemaschinen so blumig geredet wurde wie andernorts über moderne Kunst. Als er die alte Filtermaschine wegwerfen wollte, wäre es um ein Haar zu einer ernsten Auseinandersetzung mit Timo gekommen. Jetzt stand das kleine blaue Plastikgerät neben dem glänzenden Chromriesen und hielt mit treuherzigem Zischen eine Kanne nachtschwarzer Filterbrühe bereit, während bislang weder Timo noch Ronny wussten, wie man die neue Maschine bediente. Da Frederik selbst kein großer Kaffeetrinker war, bestand die Aufgabe des Wunderapparats vor allem darin, gut auszusehen.

»Lieber Tee.«

Frederik seufzte, durchsuchte die Küchenschränke, fand schließlich in einer Kiste zwischen uralten Milchdöschen und bunten Plastikstrohhalmen einen Teebeutel, stellte fest, dass die Espressotassen zu klein waren, und borgte sich Timos Kindertasse mit dem abgebrochenen Henkel und einem verblassten Bild vom Drachen Poldi. Das heiße Wasser aus dem Milchaufschäumer verbrühte ihm die Fingerknöchel.

Linda, zu deren Gewohnheiten es gehörte, jede seiner Bewegungen zu beobachten, verkniff sich eine Bemerkung. Dummerweise konnte Frederik ihre Gedanken lesen: Gott, bist du umständlich. Niemand auf der Welt braucht länger, um einen Teebeutel aufzugießen.

Seit Beginn ihrer Beziehung versuchte Linda erfolglos, ihn zu beschleunigen. Einmal hatte sie mit einer Stoppuhr an der Wohnungstür gestanden und gemessen, wie lange Frederik brauchte, um sich Schuhe und Jacke anzuziehen. Eine Minute dreißig. Ihm kam das nicht besonders lang vor. Linda hingegen benötigte, wie sie bereits überprüft hatte, für den gleichen Vorgang zwanzig Sekunden. Aus solchen Informationen baute sie ihr Weltbild, was Frederik vollkommen sinnlos erschien. Anders als Gortz verlangte, hatte er nicht vor, sich in irgendeiner Weise zu optimieren. In seinem Leben bildeten Gegenstände wie Reißverschlüsse, Schnürsenkel, Schraubenzieher oder Schneebesen eine feindliche Partisanenarmee, die aus dem Hinterhalt operierte. Es brachte nichts, dagegen anzukämpfen. Dafür konnte er Algorithmen lesen wie andere Leute Einkaufszettel. Manchmal dachte er, dass das Internet von Menschen wie ihm für Menschen wie ihn erfunden worden war.

»Ausgerechnet im Adlon!« Linda saß auf einem der Hocker an der Frühstücksbar, schaute in ihre Teetasse und fand keine Zeit, den ersten Schluck zu nehmen, weil sie vollauf mit der Beschreibung ihres Abenteuers beschäftigt war. »Und hockt ohne Jacke in der Lobby, damit ich auf jeden Fall kapiere, dass er dort wohnt. Wahrscheinlich in der Junior-Suite, auf Kosten seiner Kunden.«

»Dann muss er gut sein.«

»Interessiert mich nicht. Das ist eine Frage des Stils.«

Frederik hatte nichts gegen das Adlon; im Gegenteil, eigentlich mochte er Leute mit Geld. Sie konnten es sich leisten, freundlich zu sein. Aber das spielte in Lindas System keine Rolle. Sie teilte Menschen in zwei Kategorien ein: Freunde und Feinde. Freunde taten, was sie wollte; Feinde widersetzten sich. Ein Übergang von der ersten in die zweite Kategorie war jederzeit möglich. Meiler hatte sich durch seinen Auftritt in Unterleuten als Todfeind qualifiziert, und ein Hotel, in dem Todfeinde abstiegen, war ein böses Hotel. Nach Lindas Laune zu urteilen, hatte heute allerdings das Gute gesiegt, also sie selbst. Eines Tages wollte Frederik ein Computerspiel entwickeln, in dem eine Frau wie Linda die Hauptrolle spielte. Eine, die allen Ernstes glaubte, Gerechtigkeit sei ein anderes Wort dafür, dass sie ihren Willen bekam.

»Hast du dich schön teuer zum Essen einladen lassen?«

»Nix da. Ich war keine zehn Minuten drin. Rein, klarmachen, raus. So geht das.«

Jetzt nahm sie den ersten Schluck von ihrem Tee. Pustete auf die Oberfläche, schlürfte geräuschvoll.

»Fünfzigtausend.« Mit einem schnellen Blick prüfte sie seine Reaktion.

»Fünfzigtausend was?«

»Fünfzigtausend Euro.«

»Wofür?«

»Er bekommt die zwei Hektar auf der Schiefen Kappe, ich die vier Hektar hinter dem Haus. Fünfzigtausend zahlt er obendrauf.«

Frederik erschrak, wozu er mehrere Sekunden brauchte. Kein Schock, sondern ein langsam heraufziehendes Unbehagen. Linda stellte die Tasse ab, stützte die Ellenbogen auf die Knie und lehnte sich vor, bis ihr Gesicht nah vor seinem stand. Die grünen Augen wirkten hell wie von innen beleuchtet. Sie lächelte so breit, dass das Grübchen über ihrer linken Braue erschien, ein seltener Gast, den außer Frederik niemand zu sehen bekam. Jedenfalls glaubte er das.

»Stell dir mal vor.« Sie packte ihn am T-Shirt. »Was wir damit alles machen können. Zäune bauen. Luxusausstattung für die Pferdeboxen.«

Sie küsste ihn. Er strich ihr übers Haar, schob sie ein Stück weg, sie küsste ihn wieder.

»Das ist viel Geld. Bist du sicher, dass …?«

»Mit den Windrädern verdient er das Dreifache schon im ersten Jahr.«

»Mag schon sein, aber …«

»Sprich deine Sätze zu Ende.«

Er sah sie an. Freund. Feind. Freund.

»Ich weiß nicht, Linda. Ich hab ein komisches Gefühl dabei.«

»Du bist Spezialist für komische Gefühle.«

»Solche Geschäfte sind nicht deine Liga.«

»Frederik Wachs, komische Gefühle zu jedem Anlass, buy one, get one free.« Sie lachte, trank Tee und lachte immer noch, als sie die Tasse wieder auf die Bar stellte. »Als wir Objekt 108 kaufen wollten, hattest du auch komische Gefühle, weißt du noch? Dann noch komische Gefühle in Bezug auf Unterleuten und auf das Landleben im Allgemeinen. Was andere Menschen Entscheidung nennen, heißt bei dir komisches Gefühl.«

Wie immer, wenn sie einen Hauch Kritik spürte, versuchte sie, Frederiks Äußerungen in einen Vorwurf gegen ihn selbst zu verwandeln. Aber diesmal ließ er sich nicht beirren.

»Auf der Dorfversammlung hast du eine flammende Rede gegen Windräder gehalten.«

»Weil ich Windräder scheiße finde.«

»Aber du hilfst Meiler, welche zu bauen.«

Ungläubig blickte Linda ihn an.

»Weißt du, warum Fließ gegen die Windräder ist? Weil er die Schiefe Kappe von seinem Haus aus sehen kann. Das ist der einzige Grund. Gombrowski ist dafür, weil er einen Haufen Geld damit verdienen würde. Der durchgeknallte Kron ist dagegen, weil er mit Gombrowski eine Rechnung offen hat. Und so weiter. Jeder Spinner auf der Welt geht seinen Interessen nach. Nur ich muss den Moral-TÜV bestehen, oder wie?«

»Was hast du diesem Fließ erzählt?«

»Warum kannst du nicht einfach mal sagen: gut gemacht? Ich habe gerade fünfzigtausend Euro verdient, die gehören uns gemeinsam!«

»Linda, was hast du den Vogelschützern erzählt? Als du da zum Essen eingeladen warst?«

Sie griff nach der Teetasse und rückte von ihm ab. Eine Fliege stieß in sturem Rhythmus gegen die Fensterscheibe. Im Nebenzimmer lachte Ronny am Telephon.

»Wo ist Timo?«

»In Paris. Warum?«

»Schade.« Linda verzog den Mund. »Dein Bruder hätte sich mit mir gefreut.«

Frederik schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass dieses Spiel nicht funktionierte.

»Ich will wissen, was du zu Fließ gesagt hast.«

»Die Wahrheit.« Fast schrie sie. »Dass ich nicht an Gombrowski verkaufe.«

»Aber jetzt verkaufst du an Meiler.«

»Danach hat er nicht gefragt.« Sie sah auf und lächelte schon wieder. »Fließ hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er das Verbotsverfahren ruhen lässt. Dass er nichts gegen die Koppelzäune unternimmt.« Mit einem Mal beugte sie sich vor und streckte eine Hand aus, die Frederik automatisch ergriff. »Wir kriegen das Land, Gombrowski besorgt eine Baugenehmigung und saniert die Nebengebäude, Meiler zahlt die Zäune. Bevor irgendjemand merkt, wie der Hase läuft, steht Bergamotte schon hinter dem Haus. Alles perfekt.«

»Ist das nicht – eine Art Betrug?«

Sie warf seine Hand fort, als hätte sie in etwas Schmutziges gegriffen.

»Das glaub ich jetzt nicht«, sagte sie.

»Ich habe einfach Angst.«

»Du bist nicht nur ein Spielverderber, sondern auch noch ein Feigling.«

»Du hättest mich fragen können. Das Land auf der Schiefen Kappe gehört uns gemeinsam. Ohne meine Unterschrift kannst du gar nicht an Meiler verkaufen.«

Mit einem Knall setzte Linda die Teetasse auf den Couchtisch und sprang auf.

»Du fällst mir in den Rücken?«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«

»Dann äußere dich deutlich!« Jetzt schrie sie wirklich. »Hast du vor, mir die Unterschrift zu verweigern?«

Eine Weile starrten sie einander an, schweigend, heftig atmend wie Kombattanten. Frederik wartete auf weitere Beleidigungen. Aber Linda tat etwas Schlimmeres. Sie fing an zu weinen.

»Ich bin hergekommen«, schluchzte sie, »weil ich mit dir feiern wollte.«

Das war keine Strategie. Das konnte keine Strategie sein. Frederik schämte sich, dass er sich diese Frage überhaupt stellte. Linda stand vor ihm wie ein Kind, das voller Stolz mit einem selbstgemalten Bild zu den Eltern gelaufen ist und mit einem kritischen Vortrag über die Ausführung des Kunstwerks belohnt wird. Frederik spürte seinen Magen, die Stelle, an der das Gewissen saß. Im Grunde wusste er doch, dass hinter Lindas kaltschnäuziger Fassade ein kleines Mädchen kauerte und verzweifelt die Fäuste ballte. Der Grund für ihren verbohrten Ehrgeiz lag im Entsetzen über die Erkenntnis, dass die Welt einen Ort darstellte, an dem Dinge ohne Rücksicht auf den menschlichen Willen geschahen. Gepaart mit der Angst, für ihren Feldzug gegen diese Tatsache nicht gelobt zu werden. Was sie brauchte, war jemand, der zu ihr hielt.

»Richtig feiern«, schluchzte sie an seiner Schulter. »Essen gehen. Sekt trinken.«

Das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, war für Frederik ein alter Bekannter, allerdings keiner von der angenehmen Sorte. Aus Erfahrung wusste er, wie man ihn loswurde: durch sofortige Korrektur. Mit beiden Armen drückte er Linda an sich, bis irgendein Gelenk in der Tiefe ihres Körpers knackte. Dann griff er nach seiner Jacke und manövrierte Linda zur Tür.

»Wir gehen ins Borchardt«, sagte er.

Im Fahrstuhl küssten sie sich. Draußen brach die Sonne durch. Der Gewerbehof stand unter Wasser und spiegelte die ziehenden Wolken. Lachend und rufend wie Kinder sprangen sie mitten in die Wolkenspiegelbilder und rannten Hand in Hand durch das aufspritzende Wasser.



27 Gombrowski, geb. Niehaus


Es war kurz nach fünf am Dienstagmorgen, als Elena Gombrowski, eine Tasse Earl Grey in der Hand, die Terrassentür aufschob und ins Freie trat. Sie bemühte sich, möglichst wenig Lärm zu verursachen, um Fidi nicht zu wecken, die im oberen Stockwerk auf dem Teppich neben Gombrowskis Bett schlief. Über die Terrassenstufen ging sie hinunter zum Gartenteich.

Der Wind hatte aufgefrischt, und die Luft roch nach feuchter Erde, obwohl die Farbe der Dachziegel auf dem Geräteschuppen anzeigte, dass in der Nacht kein Tropfen gefallen war. In Groß Väter und Beutel hatte es mit Sicherheit geregnet, in Berlin und Plausitz sowieso. Unterleuten lag am Rand einer Wetterscheide. Es konnte passieren, dass man, von Plausitz kommend, im strömenden Regen durch den Wald fuhr, um dann auf Höhe der Schiefen Kappe einen Wasservorhang zu durchqueren, hinter dem die Straße plötzlich trocken war. Nicht selten stand rings um die Unterleutner Heide eine Regenwand, während im Dorf Tag und Nacht die Rasensprenger liefen, um inmitten staubiggelber Trockenheit ein paar grüne Rechtecke zu schaffen.

In einer guten Stunde würde Gombrowski durchs Schlafzimmerfenster auf das Dach des Geräteschuppens schauen, um abzulesen, ob Regen gefallen war. Waren die Ziegel hellrot wie heute, fluchte er, weil der Weizen zu trocken stand. Hatte es ausnahmsweise geregnet, lagen die Kartoffeln nass, was ebenfalls Grund zum Fluchen war. Seit die Menschen nicht mehr an Gott glaubten, beschwerten sie sich ständig über das Wetter. Und einem Landwirt konnte man es in meteorologischer Hinsicht sowieso nicht recht machen.

Leise vor sich hin pfeifend trat Elena an den Rand des Gartenteichs. Wie jeden Morgen war sie hier, um eine Aufgabe zu erfüllen. Die Sonne hatte es gerade über den Horizont geschafft und tauchte den Giebel von Hildes Häuschen in goldenes Licht. Auf diesem Giebel saß der Graureiher und schaute zum Gartenteich herüber. Der frühe Morgen war seine bevorzugte Jagdzeit. Seit er und seine Kollegen unter Naturschutz standen, kamen sie ohne Scheu in die Gärten, um die Teiche zu plündern. Netze über dem Wasser hatten die Vogelschützer verboten, weil sich die Vögel darin verfangen könnten. Gombrowski wurde nicht müde, über die Verrücktheit von Leuten zu schimpfen, die sich solche Vorschriften ausdachten. Elena hingegen fand es nicht überraschend, dass Tiere in der neuen Bundesrepublik besser geschützt wurden als Menschen. Irgendwie hatten es die Tiere mehr verdient.

Sie ging in die Hocke und zählte die Kois. Acht Stück, alle da. Nach Gombrowskis Aussage war jeder Fisch an die tausend Euro wert. Wichtiger als der Preis war die Tatsache, dass Gombrowski die Fische liebte. Die Vorstellung, einer der bunten Karpfen, auf die er so stolz war, könnte als Vogelfutter enden, schnitt Elena ins Herz. Es gab so wenig, an dem sich Gombrowski erfreute. Den frühmorgendlichen Wachdienst hatte sie freiwillig übernommen.

Während sie am Rand des Gartenteichs ihren Tee trank, bildeten die Kois einen bunten Wirbel zu ihren Füßen, wälzten die Leiber übereinander und hoben bettelnd die kreisrunden Mäuler. Am liebsten mochte sie den Tancho. Sein Körper war von einem rosa getönten Weiß, das ihn durchsichtig machte. Links und rechts des roten Flecks auf seiner Stirn konnte man die Schädelknochen sehen, in denen Augen und Kiemen eingebettet lagen. Verletzlich wirkte der Tancho, fast wie ein Wesen ohne Haut. Jeden Morgen brachte Elena eine Handvoll Brotkrumen mit und achtete darauf, dass der Tancho die besten Stücke fraß.

Das Wohlergehen der Fische war nicht der einzige Grund für ihr frühes Aufstehen. Elena ging gern zu Bett, während Gombrowski noch wach war, und stand auf, während er schlief. Seit Püppi nicht mehr im Haus wohnte, hatte sie sich angewöhnt, leise vor sich hin zu pfeifen. Irgendetwas saß in ihrem Kopf und erzeugte eine endlose Melodie, und mit jedem Atemzug kam ein Stück davon heraus. Gombrowski hasste das Pfeifen. Er hielt es für einen gezielten Angriff auf seine geistige Gesundheit. Wenn er in der Nähe war, versuchte Elena, sich zu beherrschen. Gerade morgens war das eine Tortur. Wenn Elena nach Sonnenaufgang ein wenig im Garten werkeln und ihre Melodien trällern konnte, ertrug sie anschließend das Schweigen beim Frühstück besser. Erst wenn die Haustür hinter Gombrowski zuschlug, begann ihr eigentliches Leben, welches pro Tag ein paar Stunden währte, nämlich so lange, wie sich ihr Mann in der Ökologica aufhielt. Leider verkürzte sich die tägliche Zeitspanne bedrohlich, seit Gombrowski Stunden abbaute. Elenas größte Angst richtete sich nicht auf Krankheit oder Tod, sondern auf Gombrowskis Ruhestand.

Als der Tee ausgetrunken war, stellte sie die Tasse beiseite und hob einen der faustgroßen Steine auf, die sie auf ihren Spaziergängen sammelte und im Schilf versteckte. Eigentlich war sie nie eine besonders gute Werferin gewesen, aber das tägliche Training machte sich bemerkbar. Der Stein flog in hohem Bogen über die Grundstücksgrenze, gewann an Höhe, verfehlte den Reiher um mehrere Meter und landete auf Hildes Dach, wo er laut rumorend abwärtsrollte und in der Regenrinne liegen blieb. Elena warf einen zweiten Stein. Unbeeindruckt blieb der Reiher sitzen; er hatte längst begriffen, dass nicht auf ihn gezielt wurde. Elena traf jene Stelle des Dachs, unter der sich Hildes Schlafkammer befand. Sie liebte die Vorstellung, wie Hilde aus dem Schlaf fuhr. Vielleicht lag sie anschließend noch eine Weile zitternd im Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Vor lauter Freude schleuderte Elena noch einen dritten Stein.

Als das erledigt war, klopfte sie sich die Hände ab und ging zum Geräteschuppen, um einen Eimer zu holen; sie wollte zwischen den Rosen Unkraut jäten. Sie hatte den Schuppen noch nicht erreicht, als sie etwas Merkwürdiges hörte. Ein mechanisches Sirren, begleitet durch leises Flattern wie von dünnem Papier. Das Geräusch schien ihr seltsam vertraut, es schwoll an und ab mit dem Wind. Schnell lief Elena um die Hausecke herum, dann sah sie und verstand.

Am gusseisernen Zaun entlang der Straße drehten sich Windrädchen, zehn an der Zahl, in regelmäßigen Abständen an den Lilienspitzen befestigt. Jetzt kam die Erinnerung: Wie die kleine Püppi an Sommernachmittagen durch den Garten gerannt war, die Hand mit einem Windrädchen hoch über den Kopf gereckt. Oder wie sie an Regentagen im Haus gesessen und so lange in den kleinen Propeller geblasen hatte, bis Elena ihr das Spielzeug wegnehmen musste, weil sie zu hyperventilieren begann. Noch immer hätte Elena so ein Rädchen im Schlaf basteln können. Die Ecken eines quadratischen Papiers einschneiden und lochen, dann zur Mitte biegen und auf eine Beutelklammer stecken. Fertig. Auch die Rädchen am Zaun waren selbstgebastelt. Im leichten Wind drehten sie sich so schnell, dass sie wie bunte Scheiben aussahen. Elena ging hin, hob den Zeigefinger und berührte ein Rädchen, dass es stoppte. Als sie den Finger zurückzog, drehte es sich weiter.

Sie genoss einen Moment geistiger Umnachtung. Vielleicht war Püppi zu Besuch gekommen und hatte sich mit den Windrädern eine hübsche Überraschung ausgedacht. Vielleicht hockte sie hinter Gombrowskis Range Rover, würde gleich hervorstürmen und ihrer Mutter um den Hals fallen.

Der Augenblick ging vorbei. Püppi lebte in Freiburg und machte keine Überraschungsbesuche, nicht um halb sechs Uhr morgens und ganz sicher nicht in Unterleuten. Die Windräder hatten nichts Gutes zu bedeuten. Auf der anderen Seite des Beutelwegs stand Björns alter DDR-Zaun, aus schlichten Drahtfeldern zusammengesetzt. An diesem Zaun hingen Transparente. »Gombrowskis Windkraft versaut uns die Landschaft«, stand auf dem ersten. Das zweite verkündete: »Der fette alter Hund frisst sich an uns gesund.« Und das dritte hielt nur ein Wort bereit, dafür mit Ausrufungszeichen versehen: »Ausbeuter!«

Elena spürte, wie ihr das Blut in die Füße sackte. Ihre Wangen wurden kalt; für einen Moment glaubte sie, ein Kind hinter ihrem Rücken weinen zu hören. Sie packte das erstbeste Windrad und riss es vom Zaun. Der dünne Holzstab knickte, das abgebrochene Stück fiel zu Boden. Sie rannte zum nächsten Rädchen und riss es ab, dann zum übernächsten. Als sie das Gartentor öffnete, hielt sie einen ganzen Strauß Windräder in der Hand.

Björns Klingel ließ sie erst wieder los, als er vor ihr stand, in Jogginghosen und mit nacktem Oberkörper, die Augen gegen das Morgenlicht zusammengekniffen. Als er Elena erkannte, schluckte er ein paar Flüche hinunter, ließ die Schultern sinken und kratzte sich am Rücken. Obwohl er gleich gegenüber wohnte, hatten sie seit einer halben Ewigkeit nicht miteinander gesprochen. Björn hatte damals zu den Gegnern der LPG-Umwandlung gehört, er war ein Freund von Kron. Ebenso gut hätte er mit der Pest infiziert sein können.

Sein maskenhaftes Grinsen war schwer zu ertragen. Aber auch das verklebte Brusthaar und die an der Taille in breiten Falten liegende Haut wollte Elena nicht sehen. Sie schaute auf die Windrädchen in ihrer Hand, und weil auch dieser Anblick sie anwiderte, warf sie Björn den Strauß vor die Füße. Jetzt blickten sie beide zu Boden, auf die Fußmatte zwischen ihnen, wo das Spielzeug lag wie ein kleiner bunter Scheiterhaufen.

»Kron?«, fragte Elena.

»Was glaubst du?«

»Die Transparente kommen sofort runter.«

Björn blinzelte.

»Das mit dem fetten alten Hund fand ich auch ein bisschen heftig. Aber andererseits«, jetzt grinste Björn wirklich, »irgendwie ist er schon ein Hund, dein Mann, ein fetter alter, was, Elena?«

»Ausbeuter?« Ihre Stimme kippte. Björns Miene wurde weich.

»Du weißt doch, was er gemacht hat.«

»Er gibt dem halben Dorf Arbeit!«

»Du weißt, was er vorhat.«

»Nein! Ich bin nicht Hilde!«

Björns Augen schauten traurig über dem Grinsen. Die Zehen seines rechten Fußes schoben ein Windrad am Boden hin und her.

»Dann sag ich’s dir. Er macht die Ökologica dicht und zahlt eure Brötchen in Zukunft von der Windkraft. Wird locker reichen.«

»Wer erzählt so einen Unsinn? Kron?«

Schweigend zuckte Björn die Achseln.

»Die Ökologica ist Gombrowskis Leben«, sagte Elena. »Das Erbe seiner Familie.«

»Musst selbst wissen, was du glaubst, Elena. Am Ende kennst du ihn besser als wir.«

Fieberhaft versuchte sie, im Kopf die Fakten zusammenzusetzen, kam aber auf die Schnelle zu keinem Ergebnis. Es konnte stimmen. Vorruhestand, vergoldet durch einen letzten Coup. Der vorzeitige Eintritt der Katastrophe. Björn streckte die Hand aus, um sie an der Schulter zu berühren. Als sie zurückzuckte, ließ er den Arm wieder sinken.

»Willst du vielleicht reinkommen?«

Elena zeigte auf die Transparente.

»Du kennst Gombrowski«, sagte sie leise. »Er wird toben.«

»Es ist dein Leben, Elena«, sagte Björn.

Sie rannte zum Zaun. Kabelbinder und Leintücher. Sie griff in den Stoff, der Ausbeuter wurde unleserlich. Mit einem Ruck riss sie daran, ohne Erfolg. Das Leinen war stabil. Sie nahm die zweite Hand zu Hilfe, zog und zerrte mit ganzer Kraft. Es war nicht der Stoff, der nachgab, sondern der Zaun. Björn rief etwas, das sie nicht verstand, aber da kamen die Gitterfelder schon auf sie zu. Das Scheppern war ohrenbetäubend, als sie unter dem Zaun zu Boden ging. Elena wusste, dass sie verloren hatte, in jeder Hinsicht.

Auf der anderen Straßenseite begann Fidi wie besessen zu bellen. Erst gedämpft, dann lauter, dann sehr laut. Elena hörte, wie Björns Tür ins Schloss fiel. Sie hörte Fidi näher kommen. Sie blieb einfach liegen, unter dem Zaun.



28 Gombrowski


»Wer?«, brüllte Gombrowski.

Kaffee hatte für Betty, wenn sie morgens ins Büro kam, oberste Priorität. Nachdem sie den Filter der blauen Maschine bis zum Rand mit Kaffeepulver gefüllt und in die rote zwei magere Löffel geschaufelt hatte, setzte sie beide Maschinen in Gang, schloss die Kaffeedose, legte den Löffel weg und drehte sich zu Gombrowski um. Lächelnd.

»Guten Morgen«, sagte sie.

Bettys wichtigste Eigenschaft bestand darin, keine Angst vor Gombrowski zu haben. Das hatte sie von Hilde geerbt.

»Guten Morgen«, sagte er. »Also. Wer?«

Nur ein Idiot konnte glauben, dass Betty eine Gombrowski-Tochter sei. Aus ihren Augen schaute eindeutig Erik heraus: ruhig, abwartend. Dazu die breiten Schultern, der leicht mahlende Kiefer. Leider bestand das halbe Dorf aus Idioten.

»Verena«, sagte Betty. »Ingo, Patricia, Angela, Lutz.«

Das hätte er sich selbst denken können. Verena war Tierärztin und die Tochter des glotzäugigen Heinz. Ingo, der Lagerarbeiter, hatte in Jakobs Familie eingeheiratet. Björns Enkelin Patricia befand sich im ersten Jahr ihrer Ausbildung zur Landwirtin. Angela war Norberts Nichte und nur glücklich, wenn sie eine Maschine von der Größe eines Einfamilienhauses fahren konnte. Und Lutz war Wolfgangs Sohn. Veteranenkinder, alle fünf. Heute nicht zur Arbeit erschienen.

»Hast du angerufen?«

»Das lag im Briefkasten.«

Betty reichte Gombrowski einen roten Zettel und ging auf Abstand. Sie kannte ihn besser als jeder andere. Er warf nur einen kurzen Blick auf das Flugblatt und stützte die Hände auf den Tisch, um besser schreien zu können.

»Ich habe den Scheißladen in der Scheiß-DDR geführt. Ich führe den Scheißladen in der Scheiß-BRD. Seit vierzig Jahren wühle ich in der gleichen beschissenen Erde unter dem gleichen beschissenen Himmel. Aber so eine Scheiße ist mir noch nicht untergekommen!«

»Denk an deinen Blutdruck«, sagte Betty.

Aber er wollte nicht an seinen Blutdruck denken, obwohl es hörbar in den Ohren rauschte.

»Streik« stand in Großbuchstaben auf dem Papier. Darunter ein kurzer Text, in dem Begriffe wie »Ausverkauf«, »Windkraft-Schwindel« und »Schließung der Ökologica« vorkamen. Gombrowski hieb die Faust auf den Tisch, gleich mehrmals, bis das Kästchen mit Büroklammern zu Boden fiel.

»Streik ist nicht, wenn ein paar Holzköpfe beschließen, zu Hause zu bleiben. Wie blöd muss man sein, um so einen Wisch zu verfassen? Das ist ein hieb- und stichfester Kündigungsgrund. Fristlos. Du schickst die Briefe raus.«

»Du willst fünf Leute feuern? In der Erntezeit?«

Betty wusste, wie man Gombrowski provozieren konnte. Alle Frauen wussten das: Hilde, Elena, Püppi, Betty, manchmal sogar Fidi. Sie sahen ihn an mit diesem spöttischen Blick, der besagte: »Na, Gombrowski, du bist groß und stark, aber was machst du jetzt?« Und saßen lächelnd daneben, während er versuchte, die Kontrolle zu behalten. Frau sein bedeutete nichts weiter als die Erlaubnis, sich jederzeit für unzuständig zu erklären. Egal, ob es um das Wechseln einer Glühbirne, das Töten eines Tiers oder die Entsorgung eines Querulanten ging. Die Weiber riefen »Kann ich nicht!«, versteckten das Gesicht zwischen den Händen und sahen später wieder hin, um mit Vorwürfen anzufangen, angesichts dessen, was der Mann getan hatte. Trotzdem liebte Gombrowski seine Frauen, jede einzelne, so verschieden sie waren. Männer besaßen keine Persönlichkeit, sie waren alle gleich. Wer echtes Leben wollte, musste sich mit Frauen umgeben.

Er stapfte zur Anrichte und füllte seine Tasse aus der blauen Kanne. Natürlich hatte Betty recht. Er konnte niemandem kündigen, nicht jetzt und nicht innerhalb der kommenden acht Wochen. Der Winterweizen ging in die Casino-Phase, in der jeder Tag eine Spekulation auf das Wetter darstellte; spätestens nächste Woche war er fällig. Die Frühkartoffeln mussten dringend raus, außerdem war ein ganzer Stapel Subventionsanträge liegen geblieben. Wenn die fünf Spinner tatsächlich beschlossen, der Arbeit dauerhaft fernzubleiben, hatte Gombrowski ein Problem. Wenn sie es schafften, noch ein paar andere auf ihre Seite zu ziehen, konnte er die Ernte abschreiben. Nicht alles ließ sich mit Polen machen.

»Vielleicht sollten wir erst mal mit den Leuten reden.«

»Reden?« Gombrowski ging auf Betty zu, die einfach stehen blieb. »Vielleicht darüber, dass Elena heute früh fast von Björns Zaun erschlagen wurde?«

»Wie bitte?«

»Ich dachte, die ist tot!«

Das stimmte nur halb. Sie hatte gezappelt und panisch versucht sich zu befreien, konnte also nicht schwer verletzt sein. Gerade noch hatte Gombrowski gesehen, wie Björn im Haus verschwand.

»Elena hat versucht, die Transparente zu entfernen. Da muss Björn aus dem Haus gestürmt sein, um sie davon abzuhalten. Hat sie gepackt und zu Boden geworfen, bis im Gerangel der Zaun umgekippt ist.«

»Onkel Björn soll Elena umgeworfen haben?«

»Das Arschloch ist nicht dein Onkel.«

»Was sagt Elena?«

»Elena nimmt ihn in Schutz. Aber die würde selbst den Teufel in Schutz nehmen.«

»Der Zaun von Onkel Björn war schon immer ziemlich wackelig.«

Gombrowski ging auf seine Seite des Tischs und ließ sich in den Stuhl fallen. Kaffee schwappte aus der Tasse und verbrannte ihm den Handrücken. Er fluchte. Elena am Boden. Die Szene hatte ihn erschreckt. Er hatte sie schon öfter so gesehen, damals, als Püppi noch bei ihnen lebte, und stets war nicht Björn, sondern er selbst der Schuldige gewesen. Wenn es Ärger in der LPG gab und sich Püppi zu Hause wie eine Geisteskranke aufführte und Elena nicht einsehen wollte, dass Kinder klare Grenzen brauchten. Jedes Mal hatte es ihm unendlich leidgetan, jedes Mal hatte er Elena unendlich geliebt in dem Moment, da sie plötzlich vor ihm lag. Jedes Mal hatte er sich bei ihr entschuldigt, und sie hatte die Entschuldigung angenommen. Trotzdem war immer etwas zurückgeblieben, etwas Schmerzhaftes, das tief in der Brust saß. Heute spürte er es wieder, ein Stechen in der Brust, das in den linken Arm ausstrahlte. Wenn er jetzt einen Herzanfall bekam, hatte Kron erreicht, was er wollte; also würde er keinen Herzanfall bekommen. Kron keinen Gefallen zu tun war ein guter Grund, am Leben zu bleiben. Anstiftung zur Arbeitsverweigerung. Langsam war das Maß voll.

»Ist da eigentlich was dran?« Betty hielt den roten Zettel mit beiden Händen, ihre Kiefer mahlten, während sie las. »Schließung der Ökologica? Windbezahlter Ruhestand?«

»Kindchen, glaubst du nicht, dass du es als Erste erfahren würdest, wenn ich das Handtuch werfe?«

Betty griff nach dem Locher, führte den Zettel ein und schlug zu. Krons Kampfschrift verschwand in einem Aktenordner.



29 Seidel


Glück bestand aus wenigen Zutaten: ein offenes Fenster, der Geruch von sonnenwarmem Gras und die Abwesenheit von Lärm. Kein Laut war zu hören. Nur die Empörung eines Rotschwänzchens, das unermüdlich eine im Schatten dösende Katze beschimpfte. Dazu flüsterte die Stimme von Pilz in Arnes Schoß. Das Telefon lag mit dem Lautsprecher nach unten auf seinem Oberschenkel. Angeblich hatte Pilz ihn sprechen wollen, um, wie er sagte, den Informationsstand abzugleichen. Stattdessen spulte er schon wieder sein Regenerative-Energien-Programm ab. Dafür brauchte er keinen Zuhörer.

Arne blickte hinaus in den friedlichen Garten und lächelte. Als Glücksbedingung wurde die Abwesenheit von Lärm notorisch unterschätzt. Die meisten Menschen hatten vergessen, dass Stille die Wirkung einer inneren Dusche besaß. Reinigend, beruhigend und belebend zugleich. Niemand konnte inmitten von Lärmverschmutzung glücklich sein. In amerikanischen Lagern wurden die Häftlinge mit Lärmbeschallung gefoltert. Die CIA wusste, was sie tat.

Arne genoss die Früchte seiner Gegenwehr, was eine neue Erfahrung für ihn darstellte. Normalerweise ließ er sich alles gefallen, weniger aus Gutmütigkeit als aufgrund der Erkenntnis, dass man sich gegen wirklich schlimme Dinge ohnehin nicht verteidigen konnte, während alles, was Gegenwehr erlaubte, nicht wirklich schlimm war. Jetzt aber hatte er gekämpft und gewonnen. Der Nachbargarten war verwaist. Krönchens Puppen lagen wie Leichen nach einem Luftangriff über den Rasen verstreut. Der schweigende Rasenmäher glich zurückgelassenem Kriegsgerät. Arne fühlte sich als Sieger, die Stille war seine Hymne.

Kurz hob er das Telefon ans Ohr, um zu prüfen, ob der Junge von der Vento Direct immer noch im Grundsätzlichen steckte. Das war der Fall. Arne sagte einmal »ja« und einmal »gewiss« und ließ das Telefon wieder auf den Oberschenkel sinken.

Am meisten erstaunte ihn, wie wenig er für den Sieg über Wolfi hatte tun müssen. Nicht mehr, als sein Auto an einer bestimmten Stelle der Straße zu parken. Dort hatte der Wagen ganz legal gestanden. Sollte es nötig werden, konnte Arne ihn jederzeit wieder dort abstellen. Selbst wenn Wolfi oder Kathrin auf die Idee kämen, die Polizei zu verständigen, wären sie nicht berechtigt, den Passat abschleppen zu lassen. Die Zufahrt zu ihrer Sammelgrube war keine offizielle Straße, auch kein Privatweg, der zum Grundstück der Kron-Hübschkes gehört hätte. Häuser und Sammelgruben stammten aus Zeiten der DDR, als offizielle Erschließung keine Rolle spielte. Arnes eigene Grube erreichte der Tankwagen durch den Wald, auf einem Weg, der ansonsten nur gelegentlich von Holzarbeitern benutzt wurde.

Aber es stand ohnehin fest, dass Arne die Aktion nicht wiederholen musste. Als echte Unterleutnerin wusste Kathrin, wie man Angelegenheiten regelte: Der Verlierer gab nach. Krons lästige Angewohnheit, auf verlorenem Posten zu kämpfen, hatte sie glücklicherweise nicht geerbt.

Anfangs war es ihm unangenehm gewesen, Kathrin durch seine Aktion mitzubelasten. Er wollte Wolfi erpressen, nicht sie. Aber dann, als es so einfach ging, als er den Passat schon am nächsten Tag zurück auf sein Grundstück holen konnte, weil Wolfis Rasenmäher schwieg, stellte sich ein merkwürdiges Gefühl der Genugtuung ein, das gerade durch den Gedanken an Kathrin ausgelöst wurde. Für eine Minute erlaubte sich Arne die Vorstellung, er würde den Passat am kommenden Freitag wieder an die Ecke stellen, mit einem neuen Zettel unter dem Scheibenwischer: »Heute 18h Schwätzchen am Gartenzaun.« Der nächste Zettel würde lauten: »Samstag Kaffeetrinken bei mir um drei.« Als Nächstes sollte der Passat dafür sorgen, dass Krönchen zu ihm zum Spielen kam, statt durchs Dorf zu laufen oder ständig mit dem alten Kron in den Wald zu gehen. Er konnte der Kleinen so viel beibringen, genau wie er Kathrin die Welt gezeigt hatte, als sie noch ein Mädchen war. Außerdem wurde es Zeit, dass jemand die kleine Prinzessin auf den Teppich holte.

Wieder hob er das Telefon; Pilz war noch dran. Arne sah vor sich, wie der Junge seine Brille mit dem Mittelfinger auf der Nase zurechtrückte. In seiner langen Amtszeit als Bürgermeister hatte er gelernt, dass gelungene Kommunikation meist darin bestand, den Gesprächspartner reden zu lassen. Wichtig war, die Gedanken in der Zwischenzeit auf etwas Angenehmes zu richten, so dass am Ende des Gesprächs beide Seiten zufrieden auseinandergingen – der eine, weil er reden durfte, der andere, weil er nicht zuhören musste. Im Grunde glich menschliches Sprachverhalten dem Zwitschern der Vögel. Es ging ums Revier oder um Balz, weshalb sich 95 Prozent der gesprochenen Worte auf die Bedeutungen »Das gehört mir« oder »Liebe mich« reduzieren ließen. Nur die verbleibenden fünf Prozent enthielten echte Informationen. Meistens fanden sie sich am Ende einer Tirade. Ein Profi wusste, wenn es so weit war.

»… bereits ausgearbeitet und uns zur Abgabe eines Angebots aufgefordert«, sagte Pilz gerade.

»Entschuldigung, wer?«, fragte Arne schnell.

»Gom …« Deutlich war zu hören, wie Pilz in irgendwelchen Unterlagen blätterte. »Rudolf Gombrowski. Er hat sogar schon Vorschläge für einen Zeitplan eingereicht. So schnell war noch keiner.«

»Wir sind hier eben eine flotte Truppe.«

»Ohne Zweifel, Herr Bürgermeister.« Amtsbezeichnungen waren erfunden worden, damit man sich den Namen seines Gegenübers nicht merken musste.

Die entscheidende Information hatte Arne im Grunde schon erhalten: Offensichtlich war es Gombrowski gelungen, sein Zehn-Hektar-Problem so weit in den Griff zu bekommen, dass er sich sicher genug fühlte, um die Vento Direct zur Abgabe eines Angebots aufzufordern. Das bedeutete, dass sich möglicherweise schon im Sommer nächsten Jahres die ersten Rotoren über Unterleuten drehen würden. Damit wäre der Gemeindehaushalt bis ans Ende von Arnes bescheidenem Leben saniert. Alles lief nach Plan. Mit minimalem Aufwand wurde maximaler Erfolg erzielt, ganz so, wie Arne es mochte. Er hatte Lust, das Telefon fallen zu lassen, aus dem Haus zu laufen und das Rotschwänzchen oder die Katze zu küssen. Aber offensichtlich hatte Pilz noch etwas für ihn. Das Rascheln von Dokumenten war am anderen Ende der Leitung nicht verstummt, sondern lauter geworden.

»Über … mangelndes Engagement der … Unterleutner«, sagte Pilz, unterbrochen von kleinen Pausen, während deren er etwas in seinen Unterlagen suchte, »kann ich mich … wirklich nicht beklagen. Ah, hier. Es ist noch eine zweite Kontaktaufnahme erfolgt.«

»Von Herrn Kron?«

»Gestern hat mich ein Herr Meiler angerufen.«

»Entschuldigung, wer?«, fragte Arne schon wieder.

»Konrad Meiler.«

»Gibt’s hier nicht.«

»Er lebt in Ingolstadt, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Was wollte der?«

»Er wollte der Vento Direct ein Stück Land zur Pacht anbieten.«

»Im Eignungsgebiet?«

»Sicher. Ebenfalls auf der Schiefen Kappe.«

»Das ist rein rechnerisch unmöglich. Das Eignungsgebiet umfasst nicht genügend Hektar für ein konkurrierendes Angebot.«

»Interessant«, sagte Pilz in jenem speziellen Tonfall, der anzeigte, dass etwas ganz und gar nicht interessierte. »Sie kennen Herrn Meiler nicht persönlich?«

»Nein.«

»Und Rudolf Gombrowski … Kann die Vento Direct davon ausgehen, dass es sich bei diesem Herrn aus Ihrer Sicht um den Wunschpartner für unser gemeinsames Projekt handelt?«

»Gombrowski ist langjähriger erfolgreicher Unternehmer«, sagte Arne, während er sich fragte, was diesen Meiler bewogen hatte, bei Pilz anzurufen. »In ihm hat die Vento Direct einen zuverlässigen Partner und beteiligt sich zudem an der Sicherung von Arbeitsplätzen in der Region.«

»Prachtvoll«, sagte Pilz, als handelte es sich bei dieser Antwort um einen farbenfrohen Sonnenaufgang. »Unterleuten ist für die Vento Direct kein Großprojekt, aber es könnte Vorzeigecharakter haben. Wie steht es mit den Protesten?«

»Sind angelaufen.«

»In welcher Form?«

»Unterschriftensammlung, Transparente. Wie ich heute Morgen hörte, auch eine Art Streik.« Gombrowski hatte getobt am Telefon.

»Das ist völlig normal. Menschen werden immer nervös, wenn sich etwas ändert. Damit haben wir reichlich Erfahrungen und nur in Ausnahmefällen ein Problem. Sind erst die Vorteile spürbar, verstummen die letzten Zweifler.«

»Ich kenne meine Leute«, sagte Arne. »Wir sind eine friedliche Gemeinschaft. Über kleine Aktionen wird der Protest nicht hinausgehen.«

»Wunderbar.« Pilz schlug deutlich hörbar einen Aktenordner zu. »Wir bleiben in Kontakt. Einen schönen Tag wünsche ich. Meiner ist es schon.«

Grammatisch nicht ganz korrekt, aber eine nette Abschiedsformel, dachte Arne, erwog kurz, sie ins Repertoire aufzunehmen, und entschied sich dagegen. Zu geleckt für die hiesigen Verhältnisse.



30 Fließ-Weiland


»Gombrowski ist ein Mörder und kommt in einer halben Stunde vorbei.«

Mit diesem Satz war Gerhard zur Tür hereingestürmt, gegen zwölf am Mittag, obwohl sein Dienst offiziell erst um fünf endete. Er brachte Hitze, Gummigestank und Aufregung mit herein, rannte vom Wohnzimmer in die Küche und zurück, als gälte es, für die Bewirtung des Mörders besondere Vorkehrungen zu treffen. Jule wollte eigentlich um halb eins mit Stillen fertig sein und Sophie ins Bett bringen, damit sich die Kleine endlich an feste Mittagsschlafzeiten gewöhnte. Was sie dabei überhaupt nicht gebrauchen konnte, war ein hektisch herumrennender Gerhard.

»Kannst du dich nicht hinsetzen?«

»Ein mutmaßlicher Mörder! Hörst du nicht, was ich sage?«

Sie hörte ihn gut, verstand aber kein Wort. Er redete schnell. Anscheinend hatte er am Vormittag die Arbeit in der Vogelschutzwarte ruhen lassen, um den Ökologica-Streikenden reihum einen Besuch abzustatten. Es sei darum gegangen, den moralischen Schulterschluss zu vollziehen und nach möglichen Synergien Ausschau zu halten. Dabei hatte er einen gewissen Heinz kennengelernt, der ihm eine verrückte Geschichte erzählte. Irgendetwas mit LPG-Umwandlung und politischem Protest; am Ende war ein Mann gestorben. Heinz war anscheinend davon überzeugt, dass Gombrowski für den Todesfall verantwortlich zeichnete.

Mörder. Der Begriff stand im Raum wie ein Gegenstand, der keine Funktion besaß. Er löste nichts aus. Er bedeutete nichts. In Jules Welt besaß »Mörder« keine Entsprechung. Gerhard hingegen schien genau zu wissen, wovon er sprach. Er lief weiter aufgeregte Kreise und blieb zwischendurch stehen, um Jule an den Oberarmen zu packen.

»Verstehst du, Jule? Der Tote war im Widerstand gegen ein Gombrowski-Projekt! Vielleicht ist es gefährlich, was wir tun. Viel gefährlicher, als wir uns vorstellen können.«

Dabei sah er nicht verängstigt, sondern begeistert aus. Seine Augen strahlten wie die eines kleinen Jungen, der seinen Freunden mitteilt, dass sich die feindliche Bande gerade am Waldrand zu sammeln beginnt.

Jule ließ ihn stehen und schloss die Schlafzimmertür hinter sich, um Sophie im großen Doppelbett zu stillen und anschließend, hoffentlich schlafend, in ihre Babywiege zu legen. Während sie die Kleine an der Brust hielt, versuchte sie, den Namen Gombrowski und das Wort »Mörder« zu einer Einheit zu verbinden, die Sinn ergab.

Zwei Jahre lang hatte Jule den Chef der Ökologica immer nur aus mittlerer Entfernung gesehen. Am Steuer seines Geländewagens. Auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt. Am Skattisch im Hinterzimmer des Märkischen Landmann. Bis sie ihm letzte Woche im Haus des Bürgermeisters in die Arme gelaufen war. Sie war in einem Raum erwacht, den sie nicht kannte, war verschlafen und desorientiert auf den Flur getorkelt, und da hatte er vor ihr gestanden, groß und breit wie ein Berg, und seine dröhnende Stimme hatte sie so erschreckt, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre.

Was sie hier verloren habe. Was für eine Unterschriftensammlung das sei.

Es war dann nicht Jule, sondern Sophie, die zu weinen begann. Im selben Augenblick war der Berg zu einem Häufchen zusammengeschmolzen.

Gombrowski hatte die Hände auf die Knie gestützt und seinen massigen Körper zusammengefaltet, um das Baby anzusehen.

»Mäuschen«, sagte er. »Was hat das Mäuschen denn? War ich zu laut? Das tut mir leid.«

Er zog einen Autoschlüssel aus der Tasche, an dem ein grauer Gummihund hing. Sofort verstummte Sophie, streckte die Händchen nach dem Spielzeug aus und gluckste vergnügt, als sie es halten durfte.

Jule dachte flüchtig, dass das traurige Hundegesicht Gombrowski ähnlich sehe. Als sie aufschaute, um den Eindruck zu prüfen, ruhte der Blick des großen Mannes versonnen auf der kleinen Sophie. Ein Lächeln stemmte sich gegen die schwere Visage, als wären es die Hängebacken nicht gewohnt, auf diese Weise angehoben zu werden. Für einen Augenblick schien sein ganzes Wesen von tiefer Zufriedenheit erfüllt, ausgelöst von der Tatsache, dass es ihm gelungen war, einem Baby eine Freude zu machen.

In diesem Gesicht konnte Jule lesen wie in einem offenen Buch.

Sie sah einen unglücklichen Menschen. Einen Mann, der zeit seines Lebens missverstanden worden war. Dessen Grobheit die Leute dazu brachte, ihn als Grobian wahrzunehmen, während sein ganzes Streben allein darauf gerichtet war, es allen recht zu machen. Jule hatte keine Angst mehr vor ihm, im Gegenteil, sie schaute ihn gerne an. Ein Mann, der ein Baby mit solcher Hingabe betrachten konnte, wollte nichts Böses.

Gombrowski hatte einen wurstigen Zeigefinger ausgestreckt und Sophie das Köpfchen gestreichelt.

»Kommen Sie. Ich fahre Sie nach Hause.«

Im Auto entwand er den Babyhänden vorsichtig das Spielzeug, löste den Schlüssel aus dem Ring, um ihn ins Zündschloss zu schieben, und gab den Hund zurück.

»Das ist Fidi«, sagte er. »Kann Ihr Baby behalten.«

»Mögen Sie Kinder?«, fragte Jule.

»Ich mag alles, was das Dorf am Leben erhält«, erwiderte er.

Während der kurzen Fahrt erzählte er Dinge, die Jule nachdenklich stimmten. Dass er seit Jahrzehnten seine ganze Kraft der Aufgabe widme, Unterleuten als lebenswerten Ort zu bewahren. Wie er Dorf und Betrieb erst gegen die Dummheit des Kommunismus, dann gegen die Gier des Kapitalismus verteidigt habe. Dass die Feuerwehr heutzutage ohne die Spenden der Ökologica kein betriebsbereites Fahrzeug besäße. Dass der Kindergarten, in den auch Sophie bestimmt bald gehen solle, nur durch Unterstützung der Ökologica existiere. Dass sich Gombrowski gemeinsam mit Arne bemühe, einmal pro Woche einen Arzt aus Neuruppin nach Unterleuten zu holen, damit die Alten ihre Rezepte und die Kinder ihre Impfungen erhielten.

»Da beklagen sich die Politiker über sterbende Regionen und nehmen die Schließung von Arztpraxen und Kindergärten in Kauf. Alles muss man selbst machen.«

Jule nickte vor sich hin, während der große Geländewagen vor ihrem Haus ausrollte und bremste. Gombrowski blieb noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen.

»Die Gemeinde ist pleite, und auch die Kräfte der Ökologica sind erschöpft«, sagte er langsam. »Wenn Unterleuten überleben soll, braucht es einen Weg in die neue Zeit. Daher die Idee mit der Windkraft. Wissen Sie, schön finde ich die Propeller auch nicht. Aber wenn es heißt: Kinderbetreuung oder Zugvögel, dann werde ich mich für die Kinderbetreuung entscheiden.«

Er stieg aus und kam um den Range Rover herum, um Jule die Tür zu öffnen. Als sie zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie mit Sophie im Arm über das Trittbrett aus dem hohen Wagen klettern sollte, fasste er sie kurzerhand um die Taille und hob sie herunter, als wäre sie mit Federn gefüllt.

Jule hatte ihn angelächelt und sich bedankt. Er hatte zurückgelächelt. Sie schämte sich, dass sie ihn für einen stumpfen Bauern gehalten hatte.

»Wenn Sie mehr wissen wollen über das Engagement der Ökologica, kommen Sie doch einfach mal im Büro vorbei.«

Dann fuhr er mit seinem großen Auto davon.

Mit geübtem Griff nahm Jule ihre Tochter an die andere Brust und überlegte, warum sie Gerhard nichts von der Begegnung erzählt hatte. Den Gummihund hatte sie unter den Windeln versteckt und holte ihn nur hervor, wenn ihr Mann nicht zu Hause war. Fast kam es ihr vor, als hätte sie Gerhard betrogen. Sie hatte gern neben Gombrowski gesessen und sich gern von ihm aus dem Auto heben lassen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise fand Jule die körperliche Anwesenheit anderer Menschen unangenehm. Als sie noch in der Stadt lebte, hatte sie in der U-Bahn stets einen Platz gesucht, der sich in größtmöglicher Entfernung zu den anderen Fahrgästen befand. Musste sie jemanden begrüßen, gab sie schnell die Hand und zog sie gleich wieder zurück. Warum es unter Studenten üblich geworden war, selbst flüchtige Bekannte wie beste Freunde zu umarmen, hatte sie nie verstanden. Glücklicherweise gab es auf dem Land wesentlich weniger Gelegenheit, andere Menschen anzufassen. Oft genug empfand es Jule schon als Belastung, den eigenen Ehemann zu küssen.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte man auf körperliche Liebe ganz verzichten können, wenn nicht gerade die Zeugung eines Kinds auf der Agenda stand. Während ihrer jahrelangen Suche nach dem Richtigen hatte sie gelernt, dass weibliche Lust nichts war, auf das man warten konnte. Man musste dafür trainieren. Mit Gerhard hatte sie im Bett eine solide Verbindung von Freundschaft und Technik entwickelt. Der Sex gelang wie viele andere Dinge auch. Mehr als über eigene Höhepunkte freute sie sich über Gerhards Stolz. Als sie sich kennenlernten, hatte Gerhard unter etwas gelitten, das er »Probleme bei der Sache« nannte. Was derartige Komplikationen für einen Mann bedeuteten, konnte Jule nicht nachfühlen, aber Gerhards Schilderungen legten nahe, dass es sich um die Hölle auf Erden handeln musste. Jule fand es nett, einen Menschen, den sie mochte, gesund und glücklich zu machen.

Sophies Saugbewegungen wurden langsamer. Ein gutes Zeichen. Jule schaukelte die Kleine in den Armen, um ihr über die letzte Einschlafhürde hinwegzuhelfen. Das Thermometer zeigte 28 Grad Raumtemperatur, hinter der geschlossenen Jalousie wütete die Mittagssonne, der giftige Rauch war auch im Schlafzimmer deutlich zu spüren. Obwohl sich an der Lage nichts geändert hatte, schlief Sophie in letzter Zeit ruhiger, und Jule fühlte sich weniger gestresst. Plötzlich interessierte sie sich für andere Menschen, erst für Linda Franzen, dann für Gombrowski.

Vielleicht, dachte Jule, sind die Windräder ein Segen. Unterleutens Weg in die Zukunft und mein Weg nach Unterleuten. Vielleicht werden wir später auf diese Tage zurückschauen und denken, dass mit dem Windkraftstreit etwas Gutes begonnen hat.

Sie legte Sophie in die Wiege und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Jetzt galt es erst einmal, den mutmaßlichen Mörder zu besichtigen. Jule lächelte. Gerhard mochte klug sprechen und doppelt so alt sein wie sie; in vielerlei Hinsicht aber war er ein kleiner Junge. Für ihn gab es die Guten und die Bösen. Weil er keinerlei Menschenkenntnis besaß, blieb ihm nur blühende Phantasie, um zwischen diesen beiden Kategorien zu unterscheiden. Jule nahm sich trotzdem vor, noch einmal genau hinzusehen. Ihr Instinkt würde ihr ohne Zweifel mitteilen, woran sie bei Gombrowski war. Einen schlechten Menschen würde sie niemals in Sophies Nähe dulden.

Er war schon da. Saß im Wohnzimmer und füllte den Rattansessel mit seiner Körpermasse komplett aus. Vor ihm stand eine Flasche Bier ohne Glas.

Sofort registrierte Jule, dass er seine Schnürstiefel nicht ausgezogen hatte; auf dem Bastteppich lagen viereckig gepresste Erdstücke, die aus dem Profil der Sohlen gefallen waren. Im Flur waren laute Kratzgeräusche zu hören. Offensichtlich saß Gombrowskis Hund vor der Haustür und wollte herein.

Als Gerhard sie im Türrahmen entdeckte, warf er Jule einen glühenden Blick zu und machte eine Handbewegung, die genauso gut »komm schnell herein« wie »geh schnell weg« bedeuten konnte. Sie betrat das Zimmer und setzte sich nicht neben Gerhard auf die Couch, sondern in den zweiten Sessel. Gombrowski warf ihr einen müden Blick zu und nickte kurz, ohne durch eine Regung erkennen zu lassen, dass sie erst kürzlich miteinander gesprochen hatten. Dann setzte er seinen Monolog über das Wetter fort, den er vermutlich als Smalltalk verstanden wissen wollte. Wenn er gerade nicht sprach, saugte er an seinen Zähnen, was schmatzende Geräusche erzeugte, vor denen sich Jule eigentlich hätte ekeln müssen. Stattdessen freute sie sich, ihn zu sehen.

Was gesprochen wurde, bekam sie nicht mit. Auch als Gerhard anfing, Gombrowski ins Wort zu fallen, mit zu hoher Stimme, die nicht nach Kämpfer, sondern nach Verlierer klang, verstand sie kaum, worum es ging. In Gedanken sagte sie »Mörder« zu Gombrowski und wartete auf Antwort. Da kam nichts. Gerhard würde enttäuscht sein. Gombrowski war kein Mörder, er war nicht einmal ein Feind. Wahrscheinlich würde es ihm gar nicht gelingen, die Windmühlen zu bauen, die Sophies Kindergartenplatz sichern sollten. Weil ihm niemals etwas gelang. Weil er ein Mensch war, der beim Versuch, alles richtig zu machen, nichts als Verheerungen anrichtete.

Jule musste an den Goethe-Satz denken, der seine wahre Tragik erst erreichte, wenn man ihn falsch zitierte. Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Das war Gombrowski. Er verdiente keine Gegenwehr, sondern Mitgefühl. Dieser Mann hatte niemanden umgebracht und würde niemanden umbringen, höchstens sich selbst.

Gombrowski redete. Wenn Jule richtig verstand, ging es um Kraniche. Er rieb sich das Gesicht, wobei die Haut verrutschte, als wäre sie dem Schädel nur übergezogen wie eine zu große Kapuze. Er patschte sich auf den Oberschenkel, weil er glaubte, etwas Witziges gesagt zu haben. Jules Herzschlag wechselte die Gangart. Sie konnte sich vorstellen, ihn in den Arm zu nehmen. Sein strähniges Haar zu streicheln, die hängenden Wangen zu küssen. »Ist nicht so schlimm«, wollte sie sagen. »Mein Mann meint es gar nicht so. Wir meinen es alle nicht so.«

»Das reicht jetzt«, sagte Gerhard gerade. Jule hörte, wie er die Kiefer zusammenpresste.

»Ihr Vogelmenschen!«, polterte Gombrowski. »Ihr glaubt wirklich, ihr habt immer recht, was?«

Alles war falsch. Die Art, wie miteinander gesprochen wurde. Gerhards Glaube, gegen Windräder protestieren zu müssen, die ihnen in Wahrheit nützen würden. Gombrowskis fester Entschluss, sich von Gerhard nicht ausbremsen zu lassen, während es sein Schicksal war, nichts zu erreichen. Gerhards Sehnsucht nach einem Feind. Gombrowskis Versuch, Jule zu ignorieren, als hätte es zwischen ihnen keinen besonderen Moment gegeben. Mit einem Mal hielt Jule die ganze Szene nicht mehr aus. Die beiden Männer blickten ihr nach, als sie aufsprang und den Raum verließ.



31 Fließ


»Ihr Vogel-Heinis!«, rief Gombrowski. »Ihr denkt wirklich, ihr seid immer im Recht, was?«

Schon das endlose Gerede über das Wetter war nur dazu gedacht gewesen, Gerhard auf die Nerven zu gehen. Erst recht das ostentative Gejammer über die »Horden« von Kranichen, die demnächst wieder in Unterleuten einfallen und schlimme Schäden auf den Feldern anrichten würden, »bis zu 3000 Euro pro Hektar«, wie Gombrowski behauptete, obwohl die Vogelschutzwarte längst nachgewiesen hatte, dass diese Beträge nicht stimmten.

Das Problem war nicht neu. Im Herbst machten Kranichschwärme in Rekordgröße auf dem Weg von Skandinavien nach Afrika in der Unterleutner Heide Station. Gerhard und seine Leute hatten zuletzt fast 100000 Tiere gezählt. Neben den Kampfläufern waren die Kraniche das große Ereignis der Region. Parkende Autos reihten sich an der Unterleutner Landstraße wie bei einem Open-Air-Festival, sogar Reisebusse waren dabei. Die Menschen kamen aus Berlin und Hannover, Hamburg und Frankfurt am Main, Nürnberg und München, manche Ornithologen sogar aus dem Ausland. Alle trugen bunte Funktionsjacken, luden ihre Fotoausrüstung aus, justierten Stative, auf die sie teure Kameras mit enormen Objektiven schraubten. Die Körper der Kraniche schwärzten die Felder, ihr Geschrei brachte die Luft zum Schwirren, ein verstörendes, irgendwie elektrisches Geräusch. Für die Vogelschutzstation bedeuteten die Kraniche Hochsaison – Führungen, Vorträge sowie die Bewachung der gesperrten Brutgebiete, rund um die Uhr. Aber auch Silke und Sabine vom Märkischen Landmann berichteten, dass sie zur Kranichzeit mehr verdienten als sonst in einem halben Jahr. Auf www.maerkischer-landmann-unterleuten.de waren jedes Jahr spezielle Kranich-Wochenenden mit Kranich-Menüs und Kranich-Zimmerpreisen angeboten.

Alle freuten sich über das Schauspiel, nur die Bauern jammerten. Sie verlangten noch mehr Geld vom Staat, zum Ausgleich ihrer angeblichen Schäden. Dass ihre geschäftlichen Risiken von der Allgemeinheit getragen wurden, fanden sie völlig normal. Im vergangenen Jahr war Gombrowski so weit gegangen, den Abschuss der Vögel zu verlangen. Mit dieser absurden Forderung hatte er es sogar bis in die überregionale Presse geschafft.

Dass er das Thema jetzt auf den Tisch brachte, war pure Provokation. Was, wie Gerhard zugeben musste, ziemlich gut funktionierte. Er war schon auf 180, obwohl sie noch gar nicht bis zu den Windrädern gekommen waren.

In diesem Augenblick stand Jule auf und verließ wortlos den Raum. Nach einem Moment der Verblüffung begann Gerhard zu lächeln. Während Gombrowski sprach, hatte er den Widerwillen seiner Frau wachsen sehen. Er hatte gesehen, wie sie Gombrowski beobachtete, wie ihre Miene nachdenklich wurde, wie sie schließlich vor Ärger die Farbe wechselte. Dann der starke Abgang. Deutlicher hätte sie kaum zeigen können, was von einem wie Gombrowski zu halten war.

Gerhard war stolz auf seine Frau. Ebenso stolz war er auf sich selbst, weil er sitzen blieb und sich um die öffentlichen Angelegenheiten kümmerte, bereit, das Dorf gegen Gombrowskis Zugriff zu verteidigen. In wichtigen Fragen teilten Jule und er eine stumme Übereinkunft. Jule stand hundertprozentig hinter ihm, und das, dachte Gerhard, würde ihm die Kraft geben, es mit Gombrowski aufzunehmen.

»Ihre Frau hat recht«, sagte Gombrowski, als Jules Schritte im Flur verklungen waren. »Es ist wirklich zu warm hier. Reden wir doch draußen weiter.«

Noch eine Unverschämtheit, allein dazu gedacht, Gerhard auf die Palme zu bringen. Wenn jemand wusste, warum sie trotz der Hitze drinnen saßen, dann war das Gombrowski.

»Das geht leider nicht«, erwiderte Gerhard so ruhig wie möglich. »Der Garten ist derzeit unbenutzbar.«

Gombrowski schlug sich auf die Oberschenkel und lachte, bis ihm die Tränen kamen.

»Unbenutzbar«, keuchte er, sich die Augen wischend, »ihr Bürokraten seid einmalig. Für jeden Mist habt ihr einen sprachlichen Gummihandschuh.«

Mit einer Behändigkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, sprang er aus dem Sessel. Gleich darauf hatte er Gerhard von der Couch gezerrt und auf die Füße gestellt, stieß ihn über den Flur und aus der Tür. Seine Kraft wirkte maschinell, eine Einwirkung, der organische Materie nichts entgegenzusetzen hatte. Als Gerhard in den Garten taumelte, registrierte er, dass Gombrowskis monströser Hund das sorgfältig restaurierte Holz der Eingangstür zerkratzt hatte. Gerhard dachte, dass er Gombrowski eine Rechnung schicken werde. Er dachte, egal, was als Nächstes passiert, nicht schreien. Er dachte, hoffentlich wacht Sophie nicht auf, hoffentlich schaut Jule nicht aus dem Fenster. Instinktiv hob er die Hände, um sich gegen den ersten Schlag zu schützen.

Aber Gombrowski schlug nicht. Er breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und drehte sich wie die Karikatur eines Touristen um sich selbst.

»Atmen Sie, Fließ!«, rief er. »Atmen Sie tief. Ist die Landluft nicht herrlich?«

Gerhard starrte ihn an. Der Mann war nicht nur ein mutmaßlicher Mörder, sondern offensichtlich geisteskrank. Möglicherweise hingen beide Phänomene zusammen. Heinz hatte zu dieser Frage nichts sagen wollen. Er hatte überhaupt keine Fragen beantwortet, sondern nur zornige Sätze ausgestoßen, während seine Tochter Verena, die zu den Streikenden gehörte, beschwichtigende Handbewegungen machte. Dass der alte Hund über Leichen gehe. Bei der LPG-Umwandlung zum Beispiel, als der Erik keine Ruhe geben wollte. Das sei doch alles anders gewesen, als man es der Polizei erzählt habe. In Wahrheit sei der Erik, als Kron bei diesem furchtbaren Gewitter auf die Lichtung gekommen sei, schon tot gewesen. Erschlagen.

»Papa«, hatte Verena an dieser Stelle gerufen, »halt jetzt bitte den Mund.«

Was das im Einzelnen bedeuten sollte, konnte Gerhard noch nicht erfassen; er war noch nicht zum Nachdenken gekommen. Er wusste nur, dass er vorsichtig sein musste. Sehr vorsichtig. Gleichzeitig durfte bei Gombrowski nicht der Eindruck entstehen, dass er leichtes Spiel mit ihm habe. Psychopathen brauchten Grenzen.

»Kaum unterhält man sich mit dem alten Gombrowski, schon ist die Luft rein. Toll, was?«

Jetzt erst begriff Gerhard, was Gombrowski meinte. Die Luft roch nach Hortensien und nach einem Hauch von Jauche, den der Wind über die Felder herantrug. Gerhard sog Luft durch die Nase. Keine Spur von verbranntem Gummi. Friedlich lag der Garten im Licht der Mittagssonne. Schaller musste die Feuer mit Wasser gelöscht und die glimmenden Reste vergraben haben. Der Effekt glich einem Wunder. Gombrowski freute sich.

»Wie gefällt es Ihnen eigentlich bei uns, Fließ?«

Auf die Schnelle wusste Gerhard nichts zu sagen, aber Gombrowski rechnete auch gar nicht mit einer Antwort. Er sprach einfach weiter.

»Ist ja eine Seltenheit, dass wir mal miteinander reden. Sie sind nicht der Typ, der schnell rumkommt auf einen Kaffee, was? Sie schicken lieber Briefe. In denen steht dann, was Ihnen alles nicht passt. Was wir anders machen sollen, jetzt, wo Sie da sind.«

Mit leichtem Kopfschütteln blickte Gombrowski zum Graben hinüber, musterte den Erdwall, auf dem Gras und Robiniensprösslinge wuchsen.

»Den Wiederaufbau der Mauer haben Sie auch gleich in Angriff genommen. Was man im Kopf hat, soll auch im Garten stehen, wie?«

»Ich verbitte mir …«, begann Gerhard.

Gombrowski winkte ab.

»Die Transparente vor meinem Haus waren nicht von Ihnen. Darin erkenne ich meinen Freund Kron. Aber die niedlichen Windrädchen – doch nicht etwa Ihre Frau?«

Auf einmal hatte Jule nicht mehr mitmachen wollen. Ich weiß nicht, hatte sie gesagt, mach du mal selbst. Er hatte sich eine Bastelanleitung aus dem Internet heruntergeladen und selbst mit Papier und Schere hantiert. Das Schweigen deutete Gombrowski richtig.

»Frauen sind einfach klüger«, sagte er.

»Wenn Sie glauben, Sie könnten mir politische Meinungsäußerungen verbieten …«

Gerhard verstummte, weil er feststellen musste, dass er den Satz begonnen hatte, ohne das Ende zu kennen. Verlegenheit wärmte ihm Stirn und Handflächen. Mit seinem aufbrausenden Tonfall klang er wie ein Schuljunge. Dabei war Gombrowski nicht älter als er, und schon gar nicht intelligenter. Er war einfach nur dicker, reicher, brutaler und länger in Unterleuten.

»Äußern Sie sich nur«, sagte Gombrowski. »Das ist völlig legitim. Überdenken Sie vielleicht bei Gelegenheit die Wahl Ihrer Verbündeten. Hinter der Sache mit Kron steckt eine jahrzehntelange Geschichte. Das ist nichts, was Sie verstehen können.«

»Versuchen Sie nicht, den Konflikt zu privatisieren!« Das klang schon besser, souverän und ein wenig von oben herab. »Es geht darum, dass Sie die Lebensqualität im Dorf zerstören. Nicht aus Not, sondern zu Ihrem persönlichen Vorteil.«

Gombrowskis monströser Hund war um die Ecke verschwunden und kehrte mit einem beindicken Ast zurück, den er aus dem Stapel Feuerholz gezogen haben musste. Im Schatten einer Robinie begann das Vieh genüsslich, seine Beute zu verzehren.

»Der Widerstand richtet sich nicht nur gegen Windkraftanlagen in Unterleuten«, fuhr Gerhard fort, »sondern gegen ein Grundübel des Kapitalismus: Der Einzelne bereichert sich auf Kosten der Gemeinschaft.«

Jetzt gehörte die Bühne ihm. Gombrowski lehnte an der Hauswand, sah zu Boden und hatte beide Hände in den Hosentaschen. Wenn ein Auto vorbeifuhr und kurz hupte, sah er auf und hob zwei Finger zum Gruß.

»Leute wie Sie sehen nur ihren eigenen Nutzen, und das System gibt ihnen recht. Wir leben in einer Welt, in der Ärzte das Gesundheitswesen zerstören. Universitäten zerstören das Wissen, Regierungen die Freiheit und Banken die Wirtschaft. Und Bauern die Natur. Aber die Menschen werden sich diese Ungerechtigkeit nicht länger gefallen lassen.« Krachend biss Gombrowskis Hund in den Ast. »Der Kampf hat begonnen.«

Auf Gerhards Schlusssatz folgte Schweigen. An der Grundstücksgrenze regte sich etwas. Ein silbernes Kätzchen durchquerte den Graben, setzte tastend eine Pfote vor die andere, als könnte es sich nicht auf die Tragfähigkeit des Bodens verlassen. Als das Kätzchen den Hund entdeckte, machte es kehrt und verschwand in Bocksprüngen zwischen den Schrotthaufen auf Schallers Grundstück.

»Jemineh«, sagte Gombrowski schließlich. »Sie klingen wie Kron. Dabei kommen Sie aus dem Westen. Wahrscheinlich wissen Sie gar nicht, was für einen Schwachsinn Sie da reden.«

»Mit Kron habe ich nichts gemeinsam.«

»Außer dass Sie glauben, ihn im Kampf gegen mich unterstützen zu müssen.«

»In der Politik streiten Menschen aus unterschiedlichen Gründen für dieselbe Sache.«

»Gute Antwort«, sagte Gombrowski. »Richtige Antwort. Es ist Ihr Recht, das so zu sehen. Ich habe nichts gegen Auseinandersetzungen. Jeder folgt seinem eigenen Interesse. Man streitet, aber man respektiert sich. Bin da vielleicht etwas altmodisch.«

»Nein«, sagte Gerhard, »das ist schon …«

»So habe ich es immer gehalten. Fairer Kampf und fairer Sieg.«

»Nur dass Sie dieses Mal nicht siegen werden.«

Gombrowski kniff die Augen zusammen und sah an Gerhard vorbei, als beobachtete er etwas, das sich am Horizont bewegte.

»Ich versuche, Ihnen zu erklären, dass Sie die hiesigen Verhältnisse nicht kennen.«

»In manchen Punkten vielleicht besser als Sie.«

»Sie mischen sich in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen.«

»Sie meinen: in Ihre Angelegenheiten.«

»Möglicherweise meine ich das.«

Jetzt richtete Gombrowski den Blick direkt auf Gerhard, die Augen weiterhin zusammengekniffen.

»Sie wollen hier leben, Fließ. Friedlich leben. Wissen Sie, was die Übersetzung von ›friedlich‹ ist? Man lässt sich gegenseitig in Ruhe.«

»Dann sollten Sie Ihre eigene Regel beherzigen und uns mit Ihren Windmühlen in Ruhe lassen.«

»Ich baue gern, Sie verbieten gern. Da werden wir niemals beste Freunde, was?«

»Schauen Sie mal da rüber.« Mit langem Arm zeigte Gerhard die Unterleutner Landstraße entlang, die sich in sanftem Schwung die Anhöhe Richtung Wald hinaufzog. Da die Luftfeuchtigkeit an diesem Tag etwas höher war, wirkte der Waldrand zum Greifen nah. »Das ist die Schiefe Kappe. Die Bäume sind etwa 10 Meter hoch. Die Nabenhöhe einer Windkraftanlage beträgt 120 Meter. Dazu kommen Rotorblätter von 40 Metern Länge. Können Sie sich das vorstellen?«

Gombrowski schaute in eine andere Richtung. Sein Hund hatte die Überreste des Astes großflächig über den Rasen verteilt und entfernte sich, um zwischen die Himbeersträucher zu scheißen.

»Ersparen Sie sich den Ärger«, sagte Gombrowski. »Die Windräder kommen so oder so.«

Er zog ein Stofftaschentuch von der Größe eines Handtuchs aus der Tasche und trocknete sich sorgfältig das Gesicht.

»Wir sind hier gleich fertig, Fließ. Bitte merken Sie sich, dass ich Sie gewarnt habe. Ich bin ein ruhiger Typ, mir macht der Mist keinen Spaß. Aber jeder entscheidet selbst, in welcher Gangart er fährt.«

»Ihre lächerlichen Drohungen beeindrucken mich nicht«, sagte Gerhard, was nicht ganz der Wahrheit entsprach.

Gombrowski winkte ab und brachte ein Lächeln zustande, das beinahe freundlich aussah.

»Kennen Sie Linda Franzen?«

»Selbstverständlich. Frau Franzen ist auf unserer Seite.«

»Neulich erzählte mir Frau Franzen von den Problemen mit dem Bau ihres Reitstalls. Anscheinend mögen Vögel keine Koppelzäune.«

»Frau Franzen und ich haben die Unstimmigkeiten aus der Welt geschafft.«

»Das glauben Sie.«

Gombrowski lachte, aber nicht übertrieben und aufbrausend, sondern wie ein normaler Mensch, der sich über etwas Nebensächliches amüsiert. Alles Drohende war einer netten Plauderei gewichen.

»Frau Franzen besitzt einen teuren Deckhengst, wussten Sie das? Von der Idee, in Unterleuten Pferde zu züchten, ist sie geradezu besessen.«

Langsam begann Gerhard zu ahnen, worauf Gombrowskis Erfolg beruhte. Er war nicht nur dick, reich, brutal und schon ewig in Unterleuten. Er war auch schlau. Bei dem fetten Hundekörper handelte es sich um Tarnung. Dahinter verbarg sich eine Fähigkeit zu blitzschnellen Manövern. Mit wenigen Sätzen hatte er einen Zustand der Ablenkung erzeugt, der immer neue Ablenkungen hervorbrachte, und als Gerhard das erkannte und sich erschrocken aufs Wesentliche zu konzentrieren versuchte, hörte er sich plötzlich eine Frage stellen, auf die es Gombrowski vermutlich ankam, weil sie ihm die Möglichkeit gab, noch ein wenig länger in der gewählten Tonart zu spielen. Eine schwindelerregende Sekunde lang dachte Gerhard, dass er gegen einen solchen Mann nur verlieren konnte.

»Was zum Teufel«, fragte Gerhard, »haben Sie mit der Pferdezucht von Linda Franzen zu tun?«

Gombrowski unterdrückte ein Rülpsen.

»Ich mag Menschen, die etwas auf die Beine stellen. Außerdem ist es gut für die Region. Leute wie Franzen sorgen dafür, dass hier in fünfzig Jahren noch irgendetwas ist. Ich möchte ihr helfen.«

Als Gerhard begriff, wohin Gombrowskis Geschichte steuerte, riss etwas in ihm, wahrscheinlich das, was man gemeinhin den Geduldsfaden nannte. Gombrowskis arrogante Durchtriebenheit, sein ebenso unverhohlener wie felsenfester Glaube daran, jemandem wie Gerhard in allen Punkten überlegen zu sein, trieb ihm den Blutdruck hoch. Er brauchte einen Triumph. Dringend. Der Wunsch, Gombrowski einen Schuss vor den Bug zu setzen, war stärker als der Vorsatz, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.

»Nein«, sagte Gerhard und wiederholte die Silbe gleich mehrere Male, »nein, nein, nein. So läuft das nicht. Linda Franzen wird nicht an Sie verkaufen. Haben Sie verstanden, Gombrowski? Sie bekommen das Land nicht. Franzen verkauft nicht an Sie. Fertig, aus.«

Gombrowskis Gesicht blieb ausdruckslos. Er glotzte. Völlig unmöglich zu erraten, was hinter der Hundevisage vor sich ging. Vielleicht überlegte er, ob der Weizen noch zehn oder besser zwölf Tage auf den Feldern blieb. Oder er dachte an Fleischknochen. Angesichts dieser Demonstration schierer Gleichgültigkeit wollte sich kein Triumphgefühl einstellen.

»Schminken Sie sich Ihre Windräder ab«, fügte Gerhard hinzu.

Traurig hob Gombrowski die leeren Hände.

»Eine Baugenehmigung für die fleißige Frau Franzen kriege ich so oder so«, sagte er. »Wenn Ihr Vogelbrüder Ärger macht, kann das die Sache bestenfalls um ein paar Wochen verzögern. Ich bin nicht hier, um zu bitten. Ich will Ihnen einen Rat geben. Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit Kriegsspielen. Genießen Sie lieber die frische Luft in Ihrem Garten.«

»Verschwinden Sie«, schrie Gerhard. »Hauen Sie ab!«

Kopfschüttelnd wie ein Lehrer, der von seinem Lieblingsschüler enttäuscht wird, wandte Gombrowski sich ab und pfiff nach dem Hund. Gemeinsam verließen sie Gerhards Garten. Gingen am Zaun entlang, schauten nicht zurück und würdigten Schallers verdreckten Hof keines Blickes. Als ein Auto vorbeifuhr und hupte, hob Gombrowski zwei Finger zum Gruß.



32 Schaller


Der Tag hatte gut angefangen. Schaller war dabei, sein Frühstück im Hof einzunehmen – schwarzer Kaffee und Würstchen aus dem Glas –, als das Telefon klingelte. Er hörte zu, sagte nichts, legte auf und ging mit dem Gartenschlauch zur Grundstücksgrenze, um die Feuer zu löschen.

Danach begann er in aller Ruhe, einem VW-Bus den kaputten Katalysator rauszuschlagen. Von außen würde der Eingriff nicht zu sehen sein, und in einer freien Werkstatt schaffte der Wagen die Abgasuntersuchung auch ohne Kat. Die eingesparten Kosten des Ersatzteils konnte Schaller zur Hälfte für sich verbuchen. Das nannte er ein Geschäft.

Um elf setzte er sich zum zweiten Frühstück auf die Bank, trank einen weiteren Kaffee und löffelte Pressfleisch aus der Dose. So liebte er die Arbeit: ohne Hektik, ganz für sich, nur er und die Autos und der Geruch von Schmieröl. Wenn die Arbeit stimmte, dann stimmte das ganze Leben.

Gegen halb eins klingelte das Handy erneut. Schaller hörte zu, sagte »geht klar« und ging in die Scheune, um einen vollen Benzinkanister zu holen. Er trug Autoreifen zur Grundstücksgrenze, legte jeweils einen auf die Feuerstellen und goss einen ordentlichen Schwung Benzin darüber. Wenige Minuten später zog der giftige Qualm wieder zu den Vogelschützern hinüber.

»Dein Zeug wird dann gebracht«, hatte Gombrowski am Telefon gesagt. Natürlich wusste Schaller, was Gombrowski vermochte und dass er hundertprozentig zu seinem Wort stand. Trotzdem war er überrascht, als bereits zwei Stunden später ein Pritschenwagen vor dem Tor hielt und hupte. Damit stand fest, dass dieser Dienstag, 20. Juli 2010, nicht nur gut, sondern hervorragend werden würde.

Am Steuer saß der magere Rothaarige und schaute starr geradeaus, während Schaller das Tor mit übertriebener Verbeugung öffnete und dem einfahrenden Pritschenwagen salutierte. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass sie dieses Mal tatsächlich seine entführte Freundin dabeihatten, die er so schmerzlich vermisste. Als der Rothaarige die Seitenwände herunterklappte, sah Schaller die kräftigen, rot lackierten Hubsäulen auf der Ladefläche liegen. Daneben vier Tragarme, die sie bald wieder nach ihm ausstrecken würde. Da waren die Rohre der mechanischen Gleichlaufüberwachung. Dicke Kabelstränge sowie der einfache Bedienkasten mit einem Drehschalter für »an« und Knöpfen für »hoch« und »runter«. Es war, als käme sein altes Leben zu ihm zurück, gebraucht und in Einzelteilen, aber voll funktionsfähig und zum Wiederaufbau bereit.

»Gabelstapler?«, fragte der Rothaarige.

»Träum weiter, Arschloch«, erwiderte Schaller.

Der Rothaarige bellte seinen quadratköpfigen Kumpel an, bis dieser widerwillig aus der Fahrerkabine kletterte. Schaller machte ein Bier auf, telefonierte kurz mit Miriam, die er um einen Gefallen bitten wollte, und sah feierlich zu, wie die beiden sich mit dem Ausladen mühten. Wie sie fluchten und stöhnten, wie ihre Hemden dunkle und die Gesichter rote Flecken bekamen. Erst bei den Hubsäulen fasste er mit an, um die Beine seiner Freundin vor einem Sturz in den Hof zu schützen. Als der letzte Karton mit Schrauben auf dem rissigen Beton stand, saß der Quadratschädel schon wieder auf dem Beifahrersitz. Auch der Rothaarige strebte der Fahrerkabine zu.

»Hiergeblieben«, sagte Schaller. »Aufbauen.«

Eine gute Stunde später gelang es ihnen, die erste Hubsäule im Inneren der Scheune mithilfe von Zugseilen aufzurichten. Sie waren gerade dabei, den Fuß am Boden zu fixieren, als auf der Unterleutner Landstraße das vertraute Röhren des MG erklang. Schaller ging hinaus, als der Wagen in den Hof einbog. Miriam band das Tuch los, das ihre Haare gegen den Fahrtwind schützte. Sie trug eine Sonnenbrille, etwas Lippenstift und eine Bluse, in der sie so erwachsen aussah, dass Schaller eine Faust im Magen spürte. Das war nicht seine kleine Tochter, sondern eine fremde junge Frau, eine von der Sorte, die Schaller Angst machte, weil sie so schön war, dass es keine Stelle an ihrem Körper gab, die man ansehen durfte.

Aber dann kam Miriam mit ihren schlenkernden, irgendwie jungenhaften Schritten auf ihn zu, ignorierte den Ellbogen, den er ihr entgegenstreckte, und griff seine ölverschmierte Hand. Plötzlich stellte es kein Problem mehr dar, sie in den Arm zu nehmen und ihr einen Kuss auf den Scheitel zu drücken. Dabei blickte er über Miriams Kopf hinweg so finster in Richtung Scheune, dass keiner der beiden Männer, die im Türrahmen lehnten, einen Pfiff von sich zu geben wagte.

»Hey, Paps«, sagte Miriam. »Mission accomplished.«

Seit dem Unfall hatte Schaller oft Schwierigkeiten, ihr zu folgen, was nicht nur an seiner notorischen Verwirrung lag. Wenn Miriam von sich und ihren Freundinnen sprach, klang das für Schaller, als beschriebe sie Lebewesen auf einem anderen Planeten. Warum sie es hassten, Barockgedichte zu interpretieren. Was eine Bad-Taste-Party war. Wie viele Stunden sie bei Frau Kamp in Beutel verbrachten, die ein Pilgerziel darstellte, weil sie künstliche Fingernägel aufbringen und mit Glitzersteinchen bekleben konnte.

Schaller erinnerte sich an ein kleines Mädchen, das sich in der Küche an seinem Hosenbein festklammerte oder sich juchzend auf einem Miniaturfahrrad von ihm schieben ließ. Diese Bilder gehörten zum Kostbarsten, was er besaß. Als Nächstes präsentierte ihm sein Gedächtnis eine ernste junge Frau, die im Krankenhaus an seinem Bett saß und ihm die Hand hielt. Alles, was sich dazwischen befand, lag unter schwerem Nebel verborgen. Er wusste nicht, was aus dem kleinen Mädchen geworden war und woher die junge Frau mit einem Mal kam.

Das Krankenhaus hatte er selbst als Kleinkind verlassen, das sich in einer feindseligen Welt zurechtfinden musste. Zu Beginn seines neuen Lebens war Miriam wie eine Mutter gewesen, die ihm Schutz und Anleitung bot. Schaller hatte sich nach Kräften bemüht, so schnell wie möglich erwachsen zu werden, aber seine Tochter holte er nicht mehr ein. Beim Bier hatte er sie einmal gefragt, wann sie sich ihren ersten Freund zulegen wolle, und als sie lachte und ihn in den Oberarm kniff, hatte er sich tagelang für seine Dummheit geschämt. Wenn er versuchte, Miriam zu verstehen, wurde er schier verrückt. Am liebsten war es ihm, wenn sie gemeinsam Motorrad fuhren, einen Ölwechsel durchführten oder einfach nur zusammensaßen und schwiegen.

»Verrätst du mir, wofür du das Zeug brauchst?«, fragte Miriam.

»Meister, machen wir hier weiter, oder was?«, rief der Rothaarige.

Auf dem Beifahrersitz des MG standen leere, ineinandergestapelte Kartons. Auch auf der schmalen Rückbank türmten sich Kartons; in den Fußräumen steckten gefaltete Pappstücke. Miriam öffnete den Kofferraum; er war bis zum Rand mit Stapeln alter Zeitungen gefüllt.

»Ich hab beim Baumarkt die Papiercontainer geleert.«

Sie lachte.

»Hilf mir«, sagte Schaller.

Sie nahmen von den Kartons, so viel sie tragen konnten. Schaller ging voran zur Grundstücksgrenze und warf den ersten ins Feuer. Erst sah es aus, als würden die Flammen ersticken, sie duckten sich, wurden bläulich, leckten unwillig an der Pappe. Eine Rauchwolke stieg auf; Miriam wedelte sich mit der Hand vor dem Gesicht herum. Dann fing der Karton Feuer. Schaller versorgte die anderen Brandstellen, holte Nachschub und stapelte das Altpapier auf dem Boden.

»Sei so lieb und mach hier weiter«, sagte er. »Ich muss mich um die beiden Knallköpfe kümmern.«

»Was soll das?«, fragte Miriam.

»Immer schüren, damit es nicht ausgeht.«

Er ging zurück in die Scheune. Sie befestigten die Zugseile an der zweiten Hubsäule. Schaller und der Rothaarige zogen; der Quadratschädel versuchte, den Standfuß auf dem glatten Beton zu sichern. Schwerfällig richtete sich die Stahlsäule ein Stück auf und krachte ihnen wieder vor die Füße, als der Rothaarige das Gleichgewicht verlor. Schaller beugte sich über das Bein seiner Hebebühne; an mehreren Stellen war die rote Farbe abgeplatzt.

»Ich will wissen, was das soll, Paps.«

Unbeeindruckt vom Fluchen der Männer stand Miriam direkt hinter Schaller und verlangte Aufmerksamkeit.

»Warte kurz, Schätzchen«, sagte Schaller. »Wir trinken gleich ein Bier zusammen. Muss hier nur schnell fertig machen.«

»Du lässt mich einen Haufen Altpapier holen, und dann verbrennst du das Zeug? Das ist verrückt. Außerdem weht der Wind die ganze Asche zu den Nachbarn rüber.«

»Lass gut sein, Liebes.«

»Erklär mir, was das soll.«

»Ich arbeite!«

Schaller war laut geworden. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Er wischte ihn mit dem Handrücken ab, obwohl er wusste, dass er sich dabei schwarzes Altöl im Gesicht verteilte. Mit einer Kopfbewegung signalisierte er dem Rothaarigen, das Zugseil zu spannen, ein zweites Mal richtete sich die Hubsäule auf, schwankte, fand ihr Gleichgewicht. Der Quadratschädel setzte den Schlagbohrer an, um den Fuß am Boden zu verschrauben.

»Du kommst jetzt raus und siehst dir das an«, sagte Miriam. »Es sieht aus wie im Winter, nur dass der Schnee schwarz ist.«

»Geh zur Seite, verdammt!«, schrie Schaller.

»Papa!«

Miriam hatte seinen Arm gepackt und zog. Angst vor den Maschinen, mit denen er arbeitete, hatte sie noch nie gekannt. Seelenruhig sah sie dem Sturz der Hubsäule zu, wich Schaller aus, der zurücksprang, zuckte mit keiner Wimper angesichts des ohrenbetäubenden Lärms, den der aufschlagende Stahlträger verursachte.

»Bist du wahnsinnig?«

Schaller atmete schwer, weniger von der Anstrengung als vom Stress. Er liebte seine Hebebühne und er liebte Miriam, aber beide zusammen waren zu viel für ihn. Sie ergaben eine »Situation«, und Situationen hatte er schon immer gehasst. Er konnte eine Kardanwelle mit verbundenen Augen abschmieren. Er konnte aus zwei verreckten Corsas einen lebendigen machen. Er konnte eine halbe Flasche Bromfelder trinken und danach besser Auto fahren als die meisten nüchternen Menschen. Was er nicht konnte, war, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren.

Miriam gewann. Sie starrte ihn so lange an, bis er sich schuldig fühlte und ihr aus der Scheune in den Hof folgte. Mit ausgestrecktem Finger zeigte sie zum Haus der Vogelschützer hinüber. Schaller sah die Prinzessin am Fenster stehen. Sie hielt das Baby auf dem Arm und sah zu, wie über den Feuerstellen große schwarze Flocken kreiselnd in die Höhe stiegen, über den Graben getrieben wurden und auf ihrem Rasen landeten. An vielen Stellen war das Grün bereits von Asche bedeckt. Miriam hatte recht, es sah ein bisschen aus wie schwarzer Schnee. Als die Prinzessin bemerkte, dass Schaller und Miriam in ihre Richtung blickten, verschwand sie.

»Mach die Feuer aus«, sagte Miriam.

»Fahr einfach nach Hause«, sagte Schaller. »Wir trinken das Bier ein anderes Mal.«

»Jetzt soll ich wieder heimfahren?« Spöttisch blickte Miriam ihn an. »Mit dem ganzen Papier im Auto?«

Schaller rannte über den Hof, riss die restlichen Kartons aus dem MG und warf sie auf den Boden. Miriam folgte ihm und blieb neben ihm stehen.

»Du kannst rumrennen und Sachen rumwerfen und von mir aus auch rumschreien. Aber ohne eine Erklärung werde ich nicht verschwinden.«

»Meister«, rief der Rothaarige, »wenn das hier nicht weitergeht, hauen wir ab.«

»Schraubt schon mal die Aufnahmestempel an die Tragarme!«, rief Schaller zurück.

Der Rothaarige verdrehte die Augen, setzte sich auf eine Europalette und zündete eine Zigarette an. Miriam hatte sich vor Schaller aufgebaut, glatt und weich und doch ein unverrückbares Hindernis mit ihren verschränkten Armen und der senkrechten Falte über der Nasenwurzel.

»Und was sind das für Typen? Warum bringen sie dir eine Hebebühne?«

»Eine Bühne? Das ist meine! Hochheben musste ich dich früher, damit du die Knöpfe drücken konntest!«

Das Bild stand Schaller plötzlich klar vor Augen, und es war wunderschön: Wie er die zweijährige Miriam auf dem Arm hielt, damit sie an den Schaltkasten herankam.

»Darum geht’s nicht«, sagte die achtzehnjährige Miriam.

Schaller ließ den letzten Zeitungsstapel fallen. Das Papier rutschte auseinander und verteilte sich im Hof. Ein leichter Wind blätterte die Seiten um, als wäre er auf der Suche nach einer bestimmten Information. Der Tag kippte. Er kippte wie das Bein der Hebebühne, und Schaller fürchtete, dass er ihm gleich mit noch schrecklicherem Lärm vor die Füße fallen würde. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, griff er einen Arm voll Zeitungspapier und lief zu den Feuerstellen, Miriam hinter sich.

»Ist das eine Gombrowski-Scheiße?«

Schaller blieb stehen.

»Du weißt nichts von Gombrowski.«

Sein Tonfall ließ sie verstummen. Es entstand ein kurzer Moment der Unsicherheit, als zögerte Miriam an der Schwelle eines Raums, den sie eigentlich nicht betreten durfte.

»Mama sagt, Gombrowski ist dein Fluch. Sie sagt, wenn er jemals wieder bei dir aufkreuzt, soll ich zur Polizei gehen.«

Damit konnte Schaller nicht umgehen. Es gab eine ungeschriebene Vereinbarung zwischen ihnen, die besagte, dass sie so wenig wie möglich von Susanna sprachen, gar nicht über Gombrowski und nicht über bestimmte Teile von Schallers Vergangenheit. Als Schaller im Krankenhaus gelegen hatte und wieder lernen musste, was »ich« bedeutete, war Miriam zur Regisseurin jenes Films geworden, den er heute sein Leben nannte. In diesem Film kam vor, dass er vor seinem Unfall jahrelang für Gombrowski gearbeitet hatte. Er war schon zu LPG-Zeiten als Automechaniker mit der Wartung des landwirtschaftlichen Maschinenparks betraut gewesen und hatte nach der Wende die Fahrzeuge der Ökologica freiberuflich gepflegt.

Jenseits dieser simplen Fakten existierte ein Gefühl, über das Schaller nicht mit Miriam gesprochen hatte. Das Gefühl besagte, dass Gombrowski ihm etwas schuldete. Aufgrund dieser Ahnung war Schaller zum Haus mit dem blauen Dach gegangen und hatte prompt den Hof in Unterleuten geschenkt bekommen.

Manchmal, wenn die Erinnerung ihr Haupt aus dem Nebel hob, hörte Schaller das Krachen eines infernalischen Gewitters. Er spürte, wie ihm nasse Kleidung am Körper klebte, und sah seine schwangere Frau, die das blasse Gesicht zu ihm aufhob und fragte: »Wo bist du gewesen?«

Ob sie diesen Satz wirklich zu ihm gesagt hatte oder ob es sich um eine Einbildung handelte, konnte er nicht entscheiden. Wenn er länger darüber grübelte, schien es ihm, als hätte sie diesen Satz nicht nur einmal, sondern unzählige Male wiederholt, jahrelang, ein Leben lang, als hätte ihre Ehe nur noch aus diesem Satz bestanden, wo bist du gewesen, und dann begannen seine Ohren zu klingen, und es wurde ihm klar, dass es nichts brachte, zu viel wissen zu wollen. In der Vergangenheit lag keine Wahrheit, die es zu ermitteln, kein Schatz, den es zu heben galt. Sondern nur ein Irrgarten aus Trugbildern, in dem er sich rettungslos verlief. Die Vergangenheit war ein Ort, an dem der Wahnsinn wohnte. Schaller durfte niemals dorthin zurückkehren, nicht in Gedanken und schon gar nicht mit Worten.

»Deine Mutter weiß nichts«, sagte er zu Miriam, die auf eine Antwort wartete.

»Warum arbeiten diese Typen für dich? Wer hat ihnen gesagt, dass sie dir helfen sollen?«

»Bitte, Miriam.«

»Dieser Gombrowski hat dir ein Haus geschenkt. Das ist doch nicht normal.«

»Ich hab mein halbes Leben für ihn gearbeitet.«

»Trotzdem. Da muss noch etwas gewesen sein.«

»Davon weiß ich nichts. Lass mich jetzt in Ruhe!«

»Hast du ihm was versprochen?« Miriam zeigte zu den Vogelschützern hinüber. »Sollst du die Leute da drüben quälen? Was sind das für Leute? Was haben sie getan?«

»Halt’s Maul!«, brüllte Schaller.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rothaariger und Quadratschädel kopfschüttelnd ihre Zigaretten wegwarfen, aufstanden und zum Pritschenwagen schlenderten. Ihm fiel nichts ein, um sie aufzuhalten. Auch zu Miriams erschrockenem Gesicht fiel ihm nichts ein. Überhaupt verstand er nicht, wie sich dieser Tag mit freundlicher Miene nähern und ihm dann mit solcher Wucht vors Schienbein treten konnte. Miriams Augen glänzten, als würde sie gleich zu weinen beginnen. Sie meinte es nicht böse. Sie hatte überhaupt keine Ahnung; sie war jünger als die Frage, wo Schaller in einer bestimmten Nacht gewesen sei.

Miriam machte sich Sorgen um ihn, und sie hatte recht. Sie musste sich um ihn sorgen. Er war ein halber Mann, ein Mann mit einem halben Leben, und vor nichts hatte er so viel Angst wie vor der unbekannten Hälfte.

Der Drang, sich zu bewegen, wurde übermächtig. Er musste Miriams Blick ausweichen. Außerdem hielt er immer noch alte Zeitungen im Arm, die es loszuwerden galt. Er begann, das Papier ins Feuer zu werfen, knüllte hastig einzelne Seiten zusammen, die die Flammen sofort verschlangen, auflodernd, als bettelten sie um Nachschub.

»Sieht wirklich aus wie Schnee, was?«, rief er. »Guck mal, wie schön es schneit!«

Über den Feuern stieg die Luft mit hoher Geschwindigkeit empor, riss brennende Papierstücke mit sich, die im Flug verloschen. Bald war der Rasen der Vogelschützer von einem Teppich aus Asche bedeckt. Asche hing in den Himbeeren, in der Glyzinie, bildete eine Schicht auf der Sitzfläche der Gartenbank. Schaller holte Kartons. Wind fuhr in die Flammen, drückte sie für einen Moment zu Boden, ließ sie anschließend zwei Meter in die Höhe schlagen, fast unsichtbar im Sonnenlicht und doch so heiß, dass er zurückweichen musste. Der Motor des Pritschenwagens sprang an. Miriam weinte. Der Rothaarige hupte, weil der MG die Ausfahrt versperrte, hupte zwei Mal, drei Mal, ließ die Hupe nicht mehr los. Schaller zerriss Pappe. Sah nicht über die Schulter, schaute nur auf seine Füße und Hände. Die Reifen des MG quietschten, die Hupe verstummte, der Pritschenwagen fuhr aus dem Tor. Beide Fahrzeuge entfernten sich in verschiedene Richtungen. Schaller machte weiter, bis der letzte Karton verbrannt war.

Er hatte geglaubt, inmitten eines großen Lärms zu kämpfen; jetzt war es merkwürdig still. Nichts regte sich im Hof. Das einsame Bein seiner Hebebühne stand aufrecht wie ein Denkmal im Inneren der Scheune. Schaller ging hinein, setzte sich auf die zweite, liegende Hubsäule und betastete die abgeplatzten Stellen im Lack. Auf seinen Armen klebte ein schwarzer Film. Eben noch hatte er Lust auf eine Zigarette gehabt, jetzt vergaß er, sie anzuzünden. Kein einziger Gedanke belebte seinen großen, leeren Kopf.






Teil IV


Nachts sind das Tiere



Jeder sitzt auf seiner Beute und schlägt nach den anderen.


Bodo Schaller



33 Kron-Hübschke


Als sich Kathrin dafür entschieden hatte, tote Menschen aufzuschneiden, statt lebende zusammenzuflicken, war es ihr vor allem um die Abende gegangen. Leichen besaßen einen eklatanten Vorteil gegenüber Patienten: Sie konnten bis zum nächsten Morgen warten. Kathrin wollte ein Leben ohne Nachtschichten, ohne Visiten, überfüllte Notaufnahmen und Bereitschaftsdienst. Ihre Kundschaft wartete in Kühlfächern geduldig darauf, dass sie zur Arbeit kam. Wenn keine Kunden da waren, verbrachte sie ihre Zeit vor dem Mikroskop bei der Untersuchung von Gewebeproben. Anders als ihre Kollegen fuhr sie um fünf nach Hause, konnte mit Wolfi zu Abend essen, das plappernde Krönchen zu Bett bringen und danach mit einem Buch im Sessel versinken, während aus der angelehnten Tür des Nebenzimmers das Klappern der Computertastatur drang, anheimelnd wie Regen auf einem Zeltdach.

Für Kathrin waren die Abende Zeiten des Glücks. Sie liebte Bücher, besonders Romane, und unter den Romanen vor allem die dicken. In allen Büchern, die Kathrin kannte, war die Welt auf wunderbare Weise in Ordnung. Selbst wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefging, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besaßen Qual und Leiden doch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung. Kathrin hatte schon als Kind verstanden, dass allein der Mensch in der Lage ist, Ordnung zu erzeugen, und dass Bedeutung nur innerhalb von Ordnungen entsteht. Die ersten Ordnungsgeber und Bedeutungserzeuger im Leben waren die Eltern. Wenn Eltern allerdings ihr Kind im Stich ließen, um aus dem Kommunismus in den Kapitalismus zu fliehen, oder wenn sie ihre Zeit damit vergeudeten, den längst verreckten Kommunismus gegen den Kapitalismus zu verteidigen, dann mussten Bücher diese Funktion übernehmen. Kathrins Lesen war eine Form von Selbstverteidigung gegen Sinnlosigkeit und Chaos. Als Kind hatten ihr die Bücher dabei geholfen, eine abwesende Mutter und einen Vater zu ertragen, dem es bei aller Liebe nie gelungen war, ein Bollwerk gegen die Zumutungen der menschlichen Existenz darzustellen. Heute las sie, weil Kron schon wieder und Krönchen noch immer in der Trotzphase waren und weil ihr Job täglich davon erzählte, dass auf Erden völlig willkürlich gelebt, gelitten und gestorben wurde.

Vermutlich war es kein Zufall, dass Kathrin einen Schriftsteller geheiratet hatte. Die Tatsache, dass Wolfi schrieb, auch wenn es keine Romane, sondern Theaterstücke waren, übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Er war in der Lage, jene Zusammenhänge hervorzubringen, die Kathrin dringend brauchte. Dass sich dieses Ordnungstalent ausschließlich aufs Schreiben und mitnichten auf die Bewältigung des Alltags bezog, machte Kathrin nichts aus. Sie war bereit, den Familienunterhalt zu verdienen und sich um die häuslichen Abläufe zu kümmern, solange sie dadurch einem Schriftsteller das Schaffen ermöglichte. Wolfi kaufte ein, holte Krönchen vom Kindergarten ab und fuhr einmal im Jahr das Auto in die Werkstatt, wenn Kathrin ihn daran erinnerte. Den Rest des Tages verbrachte er damit, die Arbeit vor sich herzuschieben, so lange, bis das schlechte Gewissen zu einem quälenden Selbsthass geworden war, den Wolfi brauchte, um mit Schreiben zu beginnen. Meistens war dieser Punkt gegen acht Uhr abends erreicht. Wenn Kathrin das Kinderzimmer verließ, hörte sie an guten Tagen schon das Klappern der Tastatur.

Die zurückliegende Woche hatte allerdings nur aus schlechten Tagen bestanden. Falls es Kathrin noch nicht restlos klar gewesen war, dass die Schreibfähigkeit ihres Mannes und damit der Familienfrieden von einem roten Rasentraktor abhingen – jetzt wusste sie es. Wolfi hatte sich daran gewöhnt, die zähen Stunden inneren Ringens durch Rasenmähen zu überbrücken. Auf Premierenfeiern erntete er große Lacherfolge mit der Beschreibung, wie er seinen inneren Schweinehund so lange im Kreis fuhr, bis der ihn vor lauter Schwindel in Ruhe arbeiten ließ.

Aber dieser Strategie hatte Arnes Passat ein Ende gesetzt. Arne hatte sich Kathrins Argumente angehört und keinerlei Verhandlungsbereitschaft gezeigt. Über die Erklärung, dass Wolfi ohne Rasenmäher nicht schreiben könne, hatte er nur gelacht. Hinter seinem Lachen stand der Satz: »Hättest du mal einen anständigen Mann geheiratet, dann bräuchten wir diese alberne Diskussion nicht zu führen.« Kathrin kannte Arne gut genug, um zu wissen, was er dachte. Wolfi gegenüber verhielt er sich wie ein Vater, der den Ehegatten der Tochter aus Prinzip nicht leiden kann. Jedes weitere Gespräch war überflüssig. Kathrin war nach Hause gegangen und hatte Wolfi erklärt, dass er sich eine andere Übersprungshandlung suchen müsse. Kein Mensch konnte mit überlaufenden Toiletten leben.

Gerade hatte Wolfi ein neues Theaterstück begonnen. Es sollte »Fallwild« heißen, ein Begriff, den er einmal von Kron gehört hatte. In der Forstsprache bezeichnete »Fallwild« Tiere, die ohne jagdliche Einwirkung zu Tode gekommen waren. Auch über die Formulierung »ohne jagdliche Einwirkung« war Wolfi in Begeisterung geraten. Schon lange wollte er sich mit dem Mikrokosmos Unterleuten auseinandersetzen, und der Titel bildete die entscheidende Inspiration.

»Irgendwie sind hier doch alle Fallwild«, hatte er zu Kathrin gesagt, ohne dass diese auch nur im Ansatz verstanden hätte, was er damit meinte. Das schadete nicht. Schreiben war Wolfis Metier, und Kathrin hatte mit den Jahren gelernt, dass es auf deutschen Bühnen nicht darauf ankam, ob eine Formulierung Sinn ergab. Mehr Sorgen als eine schiefe Metapher machte ihr der Verdacht, dass von Wolfis neuem Stück bislang nicht mehr als der Titel existierte. In dieser Lage stellte das von Arne erzwungene Rasenmäherverbot ein schöpferisches Armageddon dar. Wolfi befand sich im Ausnahmezustand.

Weil heute Samstag war und Kathrin nicht zur Arbeit musste, hatte sie das Schauspiel in allen Einzelheiten verfolgen können. Seit dem Mittagessen, welches für Wolfi, der spät aufstand, das Frühstück darstellte, tigerte er ziellos durchs Haus. Er setzte sich auf die Couch und erhob sich gleich wieder. Er nahm ein Buch zur Hand und legte es weg. Er begann einen Rundgang durch den Garten, besuchte den Rasentraktor in der Garage und floh vor dem nachwachsenden Gras zurück in die Küche, wo er sich ein Käsebrot machte, das er gar nicht essen wollte. Immer wieder fragte er, ob er irgendwie helfen könne, und als Kathrin ihn anwies, eine Maschine Wäsche aufzusetzen, fand sie ihn wenig später in der Waschküche, wie er, den vollen Wäschekorb im Arm, sehnsüchtig durch das Kellerfenster ins Freie starrte. Mit seiner fahrigen Art machte er Krönchen nervös, die ohnedies schlechte Laune hatte, weil Kathrin sie ständig ermahnte, im Garten nicht so laut zu sein. Den ganzen Nachmittag zischte die Kleine wie eine wütende Katze, wenn Kathrin versuchte, in ihre Nähe zu kommen. Irgendwann verkroch sie sich in einem Winkel hinter dem Haus, wo sie vermutlich »Hinrichtung der Eltern« mit ihren Puppen spielte.

An die Zubereitung des Abendessens klammerten sie sich wie zwei Ertrinkende an ein Floß, das nur einen tragen konnte. Wenn Kathrin zum Kühlschrank wollte, stand Wolfi bereits vor der geöffneten Tür. Ging sie zum Gewürzregal, versperrte er den Weg. Beim Versuch, einen Topf aus dem Schrank zu nehmen, stieß sie gegen Wolfi, der prüfte, ob die Mülltüten geleert werden müssten. Um ihn loszuwerden, bat sie ihn schließlich, in den Garten zu gehen und Krönchen zum Essen zu holen.

»Zieh dir Helm und Handschuhe an, wenn du sie anfassen musst«, rief sie ihm nach, aber Wolfi lachte nicht, weil ihm seit Tagen die Konzentration fehlte, um richtig zuzuhören.

Kathrin dachte, dass es manchmal schöner war, der Stimme eines fremden Schriftstellers zu lauschen, als einen real existierenden im Haus zu haben. Nach dem Abendessen würde Wolfi seinen Krieg gegen sich selbst endlich an den Schreibtisch verlegen, und Kathrin könnte sich mit einem Buch in ihren Sessel setzen und die Arbeit eines Autors genießen, von dessen Krisen sie nichts wissen musste. Der Roman, den sie gerade las, hatte begonnen, richtig spannend zu werden. Ein Kind war verschwunden, vermutlich entführt, und Kathrin konnte nicht anders, als sich in die Lage des Vaters zu versetzen, der verzweifelt auf einen Anruf der Entführer wartete. Es war schrecklich leicht sich vorzustellen, wie eine winzige Sekunde der Unaufmerksamkeit die ganze Welt aus den Angeln hob. Kurz bevor sie das Buch am Vorabend weggelegt hatte, war der kleine Sohn wieder aufgetaucht und behauptete, niemals entführt worden zu sein, so dass jetzt die geistige Gesundheit des Vaters angezweifelt wurde.

Daran dachte Kathrin, während sie Zwiebeln schnitt und sich freute, dass Wolfi für eine Minute den Raum verlassen hatte. Der verzweifelte Vater, das verschwundene Kind. Zwiebelgeruch. Geistige Gesundheit. Kathrin spürte, wie sich in ihrem Inneren der Raum öffnete, in dem die Geschichte angesiedelt war. So real, als könnte sie sich selbst darin bewegen. Die sommerliche Hitze, die Aufdringlichkeit der Natur, das ständige Vogelgezwitscher. Wolfis Stimme, die durchs offene Küchenfenster drang, mal leiser, mal lauter, je nachdem, in welcher Ecke des Gartens er sich gerade befand: »Krönchen? Krönchen!«

Kathrin legte das Messer weg und wischte sich mit dem Unterarm Schweiß von der Stirn. Ihr fiel nicht ein, wie der verschwundene Junge hieß.

»Krönchen?«

Irgendetwas mit L. Ein englisch klingender Name.

»Krönchen?«

Eben noch hatte Wolfi ganz leise geklungen, jetzt wurde er plötzlich wieder lauter. »Krönchen!«, an der Hintertür, »Krönchen?«, im Flur, und jetzt erst verstand Kathrin, dass Wolfi rannte und dass er nicht rief, sondern schrie. Seine Schritte dröhnten durchs Haus, Türen schlugen.

»Krönchen!!«



34 Fließ


Am liebsten hätte er Kathrin Kron in den Arm genommen. Ständig kämpften die jungen Frauen von heute darum, niemanden zu brauchen. Weil ihnen der Zeitgeist auftrug, nach Jahrhunderten der Ausbeutung auf einmal Mann und Frau in einer Person zu sein. Gerhard kannte das von Jule. Manchmal genügte es, ihr über den Kopf zu streichen, und schon brach sie in Tränen aus. Dann weinte sie ihr ganzes Heldentum aus sich heraus, dankbar für ein paar Minuten, in denen sie ein ganz normaler, überforderter, stets vom Scheitern bedrohter Mensch sein durfte.

Aber Kathrin Kron wollte nicht weinen. Wie imprägniert von Blässe stand sie vor ihm und brachte die Sätze nur stückweise heraus. Ihre Tochter sei weg, seit dem Abendessen vermisst, und draußen werde es dunkel.

Zuerst spürte Gerhard den absurden Impuls, sich über diesen Besuch zu freuen. Die Tochter von Kron war gekommen, um ihn, den Zugezogenen und vogelschützenden Störenfried, in einer sensiblen Angelegenheit um Hilfe zu bitten. Im Grunde war Kathrin eine Botin, die eine Einladung in den inneren Kreis der Dorfgemeinschaft überbrachte. Die örtliche Tauschgesellschaft glich einem System kommunizierender Röhren, das sich in zwei Stufen unterteilen ließ. Die erste Ebene stand jedem offen, der im Umkreis von 30 Kilometern einen Wohnsitz besaß. Hier wurden Kartoffeln, Eier, selbstgemachte Blutwurst, polnische Zigaretten und kleine Dienstleistungen gehandelt. Dahinter existierte ein zweiter, exklusiver Markt, auf dem es um Aufträge, Arbeitszeit, persönliche Gefälligkeiten und brisante Informationen ging.

Wer auf welchem Markt tauschen durfte, wurde von niemandem entschieden, stand nirgendwo geschrieben und war trotzdem jedem klar. Grundsätzlich nahmen am engeren Zirkel nur Alteingesessene teil. Weil viele Leistungen ohne direkte Gegenleistung erbracht wurden, entstanden Anwartschaften auf die Zukunft, die gesammelt und ihrerseits auf dem zweiten Markt gehandelt werden konnten. Ein geschuldeter Gefallen ließ sich weitergeben. »Geh mal zu X, der schuldet Y was, und bei Y hab ich noch was gut« – so wurde das Gefälligkeiten-Karussell in Gang gesetzt.

Jeder geleistete Gefallen stellte eine Investition in die Zukunft dar. Denn so lautete die Definition von Macht: die Möglichkeit, in Zukunft etwas von einem anderen zu verlangen. Entsprechend groß war die Hilfsbereitschaft. Menschen wie Gombrowski oder Kron hatten über die Jahre so gewaltige Gefälligkeiten-Konten angehäuft, dass sie jederzeit von jedermann fast alles verlangen konnten und folglich mehr Einfluss besaßen als jede Behörde. Bürgermeister Arne agierte in diesem Beziehungsgeflecht eher in der Rolle eines Moderators, was Gerhard beim Versuch, die Belange des Naturschutzes durchzusetzen, immer wieder schmerzlich erfahren musste. Bis vor Kurzem hatte er geglaubt, sein wichtigstes Ziel in Unterleuten bestehe darin, eines Tages in den zweiten Markt aufgenommen zu werden.

Aber jetzt stand Kathrin auf der obersten Stufe der Eingangstreppe, wahrte einen Abstand, der klar machte, dass sie unter keinen Umständen ins Haus kommen würde, und hatte die Arme um sich geschlungen, als müsste sie den eigenen Körper vor dem Zerreißen bewahren. Ihr Anblick zwang Gerhard, sich zu fragen, ob er Unterleuten jemals richtig verstanden hatte. Ob ihm sein euphorischer Wunsch, jeder staatlich-kapitalistischen Gewalt den Rücken zu kehren, nicht den Blick getrübt hatte. Vielleicht war das, was Gerhard und Jule »Freiheit« nannten, in Wahrheit nicht mehr als ein Jagdrevier für schwergewichtige Fleischfresser. Dann wäre Gombrowski kein pathologischer Einzelfall, sondern notwendiger Teil des Systems. Möglicherweise existierte hinter dem zweiten noch ein dritter Markt. Einer, auf dem es nicht um Eier und Wurst, sondern um brennende Autoreifen, verschwundene Kinder und Menschenleben ging.

»Haben Sie die Polizei informiert?«, fragte Gerhard.

Verständnislos hob Kathrin den Blick.

»Wozu?«

»Weil ein Kind vermisst wird.«

»Wir bilden eine Kette und durchkämmen den Wald.«

»Hören Sie.« Gerhard wollte einen Schritt auf sie zutreten und hielt gleich wieder inne, als sie zurückwich. »Hier tobt ein Kampf. Einige der Beteiligten sind unter Umständen gefährlich. Ihre Tochter ist die Enkelin von Kron. Vielleicht hat sie sich ja nur verlaufen, aber angesichts der Sachlage, ich meine … die Polizei könnte …«

Aus zu weit geöffneten Augen starrte Kathrin ihn an.

»Ich kann Sie nicht zwingen, uns zu helfen«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

Gerhard nickte. Er verstand. Kathrin Kron war hier aufgewachsen. So musste man sich die Galionsfigur von Unterleuten vorstellen: nicht wie Jule, die im hellen Sonnenschein mit buntem Tuch im Haar das Gras mähte und dabei möglichst viele Gänseblümchen stehen ließ. Sondern wie eine Mutter, die ihre kleine Tochter vermisste und sich nicht traute, zur Polizei zu gehen. Die lieber im Wald suchte als dort, wo sich das Kind aller Wahrscheinlichkeit nach befand.

»Natürlich helfe ich«, rief Gerhard eilig. »Was soll ich tun?«

»Ich wollte Sie bitten, bei der Suchaktion das Kommando zu übernehmen. Mein Vater steht unter Schock. Ihnen wird er am ehesten vertrauen. Sie kommen von außerhalb, und Gombrowski kann Sie nicht leiden.«

Gerhard nickte.

»Treffpunkt in einer halben Stunde.« Kathrin Kron war schon die Treppe hinunter. »Am Jagdhaus.«

Während Gerhard ihr nachschaute, schlug er rhythmisch gegen das Holz des Türrahmens. Sie tat ihm leid, so sehr, dass es schmerzte. Als der Hass die Oberhand gewann, stellte das eine Erleichterung dar. Hass klärte die Verhältnisse. Im Grunde war alles ganz einfach. Ob es »gut« gab, wusste Gerhard nicht, aber mit Sicherheit gab es »böse«. Derzeit trug das Böse die Maske eines fetten alten Hunds.

»Was ist denn los?«, fragte Jule.

Gerhard drehte sich um. In den Garten sickerte bereits Dämmerung, der Flur war hell erleuchtet. Sie standen auf der Grenze zwischen Schatten und Licht.

»Warum lässt du die Tür offen? Der Gestank kommt ins Haus.«

Erst jetzt realisierte Gerhard die giftigen Dämpfe, die er seit geraumer Zeit einatmete.

»Das Schwein hat ein Kind entführt«, sagte er.

»Welches Schwein?«, fragte Jule. »Welches Kind?«

»Gombrowski«, sagte Gerhard. »Die kleine Kron.«

»Das ist unmöglich«, sagte Jule, zog ihn in den Flur und schloss die Tür.

»Kathrin Kron war hier. Sie hat mich um Hilfe gebeten.«

»Das muss ein Missverständnis sein. Gombrowski entführt keine Kinder.«

»Hast du vergessen, was ich dir erzählt habe? Was ich von Heinz weiß?«

»Das ist alles Unsinn.«

Gerhard blickte seine Frau an. Es machte ihn glücklich, dass sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht war. So viel Schlimmes die Windräder schon angerichtet haben mochten – für eins verdienten sie Dankbarkeit: Sie hatten ihm Jule zurückgebracht. Seit sie sich gemeinsam gegen Gombrowskis Pläne engagierten, war ihre Beziehung fast wie früher. Er konnte die Verbindung zwischen ihren Seelen wieder spüren. Spontan nahm er ihr weiches, reines Gesicht in beide Hände.

»Du musst keine Angst haben«, sagte er. »Ich werde dich schützen. Versprochen.«

Jule trat einen Schritt zurück, so dass er ihr Gesicht loslassen musste.

»Ich habe keine Angst. Ich sage, dass Gombrowski keinem Kind etwas zuleide tut.«

»Und woher weißt du das?«

»Das hier ist ein Dorf, Gerhard. Du musst nicht alles glauben, was die Leute erzählen.«

Er lächelte, nickte und zog sie noch einmal an sich. Dass sie partout an Gombrowskis Unschuld glauben wollte, rührte ihn. Vermutlich war es eine Form von Selbstschutz. Die einzige Möglichkeit, Unterleuten weiterhin als ihre Heimat zu betrachten.

»Du hast recht, Schatz«, sagte er. »Geh bitte in den Keller und hol mir die Taschenlampe.«



35 Schaller


Im ersten Moment glaubte Schaller, die Spaßvögel vom LKA würden mal wieder ihr Glück bei ihm versuchen. Er löschte das Licht in der Scheune, wo er mit der Verkabelung der Hebebühne beschäftigt war, und trat vor die Tür.

Ein Mann ging am Rand des Grabens entlang und versuchte, in alle Ecken des Hofs zu leuchten. Im Qualm der schwelenden Reifen zeichnete die Taschenlampe einen Stab aus Licht in die Dunkelheit. Normalerweise besaß nicht einmal das LKA die Frechheit, einfach bei Nacht auf den Hof vorzurücken, zumal Schaller nichts einfiel, womit er in letzter Zeit Anlass für einen Sondereinsatz gegeben haben könnte. Außerdem kam ein Bulle niemals allein. Der Kerl mit der Taschenlampe musste der Vogelschützer sein. Anscheinend hatte er endgültig den Verstand verloren.

Der Lichtkegel erfasste die aus Ölfässern zusammengesetzte Bank und verweilte ein paar Sekunden zitternd an dieser Stelle, als könnte er nicht recht glauben, dass niemand dort saß. Schaller verhielt sich ruhig. Er lehnte in der offenen Tür der Scheune und fühlte sich gut. In den letzten Tagen hatte er eigenhändig einen Flaschenzug konstruiert, mit dessen Hilfe es ihm gelungen war, das zweite Bein der Hebebühne aufzurichten. Jetzt stand er vor den beiden roten Säulen wie ein Torhüter, durchströmt von dem schönen Gefühl, dass endlich alles in Ordnung kommen würde. Mithilfe der Hebebühne würde er sein altes Geschäft wieder aufnehmen, sich nach und nach an frühere Kunden erinnern, vielleicht hier und da in den Autohandel zurückkehren. Er würde genug verdienen, um Miriams Studium zu finanzieren und ihr ein Leben zu ermöglichen, das sich in keiner Weise von dem der Stadtkinder unterschied. Er wollte, dass sie sich in Berlin eine Studentenwohnung leisten konnte, auch, damit sie nicht mehr den Geruch von Susannas Waschmittel an sich trug, wenn sie ihn besuchen kam.

Schaller hatte nachgedacht, und er hatte etwas verstanden. Wichtig war nicht, was er in der Vergangenheit getan hatte, sondern was er in Zukunft tun würde. Statt rückwärtszublicken und Fragen zu stellen, wollte er dafür sorgen, an jedem neuen Tag ein anständiger Mensch zu sein. Ein Vater, der seine Tochter unterstützte. Ein Mechaniker, der gute Arbeit machte. Ein Mann, der niemals zur Gewalt griff, es sei denn, um sich selbst zu verteidigen. Wenn Miriam das nächste Mal vorbeikam, würde er ihr alles erklären. Sie musste einsehen, dass es den vergangenen Schaller nicht mehr gab. Der neue Schaller arbeitete ausschließlich auf eigene Rechnung. Mit Gombrowski hatte er nichts zu tun.

Er öffnete die kleine Gürteltasche, nahm das Handy heraus und suchte nach der Videofunktion. Der Vogelschützer hatte den Graben durchquert, stand am Rand des Hofs und blickte sich um, ohne Schaller im Schatten der Scheune zu entdecken. Diese absurde Szene wollte er für Miriam filmen. Wenn er ihr die Aufnahme zeigte, würde sie einsehen, dass er die Feuer brauchte, um sich gegen seine durchgedrehten Nachbarn zu wehren. Über die Frage, ob es sich trotzdem um eine »Gombrowski-Scheiße« handele, hatte er nachgedacht und konnte sie guten Gewissens verneinen. Dass er die Feuer auf Gombrowskis Bitte für ein paar Stunden gelöscht und danach wieder angezündet hatte, stellte eine Nebensächlichkeit dar. Zumal der Extra-Bonus mit dem Altpapier allein seine Idee gewesen war. Das hier war sein Kampf, und er war nicht derjenige, der angefangen hatte.

Als die Displaybeleuchtung des Handys Schallers Gesicht erhellte, gefror der Vogelschützer zur Statue, die Taschenlampe erlosch. Im Schein der Feuer sah Schaller den Kerl mit eingezogenem Kopf auf der Stelle verharren. Mit seinen hageren Gliedmaßen und der unlogischen Körperhaltung wirkte er wie ein Gegenstand, der keinerlei praktischen Nutzen besaß. Eine Weile geschah nichts, dann gab sich der Vogelschützer einen Ruck und kam ein paar Schritte in den Hof hinein. Schaller beobachtete das seltsame Ballett auf dem Display seines Handys. Auch wenn in der Dunkelheit wenig zu sehen war, würde Miriam den Film lieben.

»Guten Abend«, sagte der Vogelschützer. »Wenn Sie erlauben, würde ich mich gern einmal umsehen.«

Schaller hätte ein Brecheisen oder die Rohrzange aufheben können. Das hier war ein klarer Hausfriedensbruch, und er kannte seine Rechte. Stattdessen nahm er das Telefon in die linke Hand, zündete sich mit der rechten eine Zigarette an und beschloss zu warten, was als Nächstes passierte.

»Was machen Sie mit dem Handy? Filmen Sie mich etwa?«

Dass etwas Besonderes los war, hatte Schaller bereits begriffen. Ohne Grund klingelte Kathrin Kron nicht bei den Vogelschützern, schon gar nicht am späten Abend. Sie war nur ein paar Minuten geblieben und danach so eilig zurückgerannt, als hätte sie einen Topf Milch auf dem Herd vergessen. Schaller hatte überlegt, um was für eine Angelegenheit es sich handeln könne, und schließlich beschlossen, dass ihn die Sache nichts anging. Der Hof war sein Gehäuse, in das er sich zurückziehen konnte wie eine Schnecke.

So wollte er es Miriam erklären: Nur weil er jetzt in Unterleuten lebte, hatte er noch lange nichts mit Gombrowskis Geschäften zu tun. Er und Gombrowski waren quitt, das Vergangene war vergangen und das Vergessene vergessen. Das hier, würde er mit ausgebreiteten Armen zu Miriam sagen, ist die autonome Schaller-Republik, und sie würde lachen und sich auf die Studentenwohnung in Schöneberg freuen.

»Sind Sie taub, Herr Schaller? Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

Der Mann schaute eindeutig zu viel »Tatort«. Erstaunlich, wofür sich manche Leute hielten. Westdeutsche besaßen ein unvergleichliches Talent zur Selbstüberschätzung.

»Bestimmt wissen Sie, dass ein Kind verschwunden ist.«

Das war es also. Die jüngste Kron war weg, und deshalb rannte die Mama von Tür zu Tür. Na, die Kleine würde schon wieder auftauchen. Nach allem, was man hörte, war das Mädchen ein ordentlicher Wildfang, stur dazu, also ganz der Großvater. So eine Räubertochter machte eben manchmal Ärger. Miriam war immer ein wahrer Engel gewesen, ausgesprochen vernünftig, schon als kleines Kind.

»Mich würde interessieren, wann Sie das Mädchen zuletzt gesehen haben.«

Der Typ gab keine Ruhe. Stand da im Dunkeln, ohne Einladung in einem fremden Hof, und redete wie ein Fernsehkommissar. Langsam begann er Schaller auf die Nerven zu gehen.

»Vielleicht dürfte ich kurz ins Haus kommen. Auch die Nebengebäude würde ich mir gern ansehen. Wenn Sie nicht wissen, wo sich das Kind befindet, haben Sie bestimmt nichts dagegen.«

Fast wunderte sich Schaller, dass kein metallisches »Kling« ertönte, als der Groschen endlich fiel. Was der Vogelschützer ihm unterstellte, war so absurd, dass er gar nicht darauf gekommen war. Ein kleines Mädchen entführen, ausgerechnet er, der selbst eine Tochter hatte! Wenn der Typ durchs Dorf lief und solche Wahnvorstellungen verbreitete, konnte das Schwierigkeiten geben.

Schaller warf die Zigarette weg. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und schloss sich um ein paar Schraubenmuttern.

»Mit Schweigen kommen Sie nicht weiter!« Langsam lief der Vogelschützer zu Höchstform auf. Er hatte die Taschenlampe wieder angeknipst und fuchtelte damit in der Luft herum. »Ich weiß, von wem Sie Ihre Anweisungen bekommen, ich weiß, wessen Spiel Sie spielen! Dass Sie uns vergasen, diese schäbige Erpressung, das ist schon schlimm genug. Aber ein kleines Mädchen – nein!«

Schaller betrachtete die Muttern auf seinem Handteller. 24er, elf Stück, die meisten verdreckt, zwei nagelneu. Er schaltete die Handykamera aus, speicherte die Aufnahme und verstaute das Telefon in der kleinen Gürteltasche.

»Die Scheiße hat jetzt ein Ende«, rief der Vogelschützer. »Sie haben die längste Zeit in Ihrem verdreckten Loch gesessen und Terrorist gespielt. Lassen Sie mich ins Haus!«

Schaller holte aus, die erste Mutter sauste durch die Luft. Der Kerl gab einen erschrockenen Laut von sich; ein gutes Stück weiter hinten klimperte es im Hof. Die nächsten Muttern warf Schaller in schneller Folge. Der Vogelschützer schrie vor Schmerzen auf, Schaller sah, wie er sich den Kopf hielt.

»Das werden Sie bereuen! Denken Sie an meine Worte!«

Als Schaller ein weiteres Mal zielte, drehte sich der andere um und rannte. Er wich einer Feuerstelle aus, stolperte durch den Graben und verschwand in der Dunkelheit. Es folgte ein Augenblick massiver Stille. Der Himmel über dem Hof war gesprenkelt von Sternen.



36 Fließ-Weiland


Sie kannte den Kneipen-Revolutionär mit Freude an Rotwein und Weltformeln. Sie kannte den fortschrittsmüden Melancholiker, der vor einem entkernten Altbau in Tränen ausbrechen konnte. Den Soziologiedozenten, der flammende Reden gegen die Realitätsferne der Luhmann’schen Theorie hielt. Seit Neuestem kannte sie auch den zufrieden vor sich hin werkelnden Heimgärtner, den engagierten Naturschützer und den Exil-Intellektuellen, der am Küchentisch über das völlig unerforschte Phänomen von Rousseau’schen Nischen im ländlichen Raum spekulierte und in der Lage war, Unterleuten als »anarchische Achselhöhle eines überregulierten Gesellschaftskörpers« zu bezeichnen.

Den Feldherren hingegen kannte sie noch nicht. Er war peinlich. »Hol mir mal die Taschenlampe«, hatte er mit finsteren Brauen und eckigem Unterkiefer gerufen. Anscheinend ging er davon aus, dass Jule mit dem Baby zu Hause bleiben würde, während er auszog, um die Welt zu retten.

Aber sie hatte es im Haus nicht ausgehalten. Ein kleines Mädchen war verschwunden. Wenn sich Jule vorstellte, auch nur für zehn Sekunden nicht zu wissen, wo Sophie sich befand, explodierte ihr die Panik in Kopf und Bauch. Nachdem Gerhard das Haus verlassen hatte, war sie ins Schlafzimmer gegangen, hatte Jeans und Turnschuhe angezogen, das Baby aus seinem Bettchen gehoben und im Tragetuch vor die Brust gebunden. Glücklicherweise verfügte der Haushalt über mehr als eine Taschenlampe.

Als Jule das Jagdhaus erreichte, waren auf der dunklen Lichtung bereits an die zwanzig Menschen versammelt. Der nächtliche Wald bildete eine dramatische Kulisse, die an das Geheimtreffen einer seltsamen Sekte denken ließ. Kathrin Kron hielt sich abseits, hatte die Arme um den Körper geschlungen und starrte ins Leere. Die anderen bildeten einen weiten Halbkreis um den alten Kron, dem Angst und Mondlicht tiefe Schatten ins Gesicht schnitten. Neben Kron, hoch aufgerichtet wie ein Adjutant, stand Gerhard, eine Schwellung über dem linken Auge, die sich Jule nicht erklären konnte. Vielleicht war er auf dem Weg hierher gegen einen Ast gerannt. Als er Jule bemerkte, grüßte er mit einem knappen Nicken, fast wie ein Fremder.

Seit ein paar Tagen spürte sie, wie sie innerlich von Gerhard abrückte. Der Mann, den sie geheiratet hatte, war ein Beobachter, kein Anführer gewesen. Er suchte Begriffe für das, was andere Menschen taten. Seit Neuestem aber steigerte sich Gerhard in Verschwörungstheorien hinein, träumte von Mord und Totschlag und wirkte geradezu glücklich, die große Bühne vor der eigenen Haustür zu finden. Als böten die Windmühlen seinem politischen Unbehagen endlich ein passendes Ziel.

Auch jetzt machte er Politik, während es doch nur darum gehen konnte, das kleine Mädchen so schnell wie möglich nach Hause zu bringen. Er hielt sich dicht neben Kron, als wäre er mit unsichtbaren Gummibändern an ihn gefesselt, neigte sich dem Alten zu und wechselte ein paar leise Worte mit ihm. Kron nickte und erteilte Gerhard mit ungeduldiger Geste das Wort, worauf sich dieser an die Gruppe wandte.

»Wir bilden eine Kette, die Abstände möglichst groß, aber immer so, dass jeder seine Nebenmänner noch sehen kann. Ruft nach Krönchen, aber nicht zu oft, damit wir hören, ob Antwort kommt. Benutzt eure Taschenlampen, sie könnte etwas verloren oder ein Zeichen hinterlassen haben. Richtungsbefehle kommen von mir und werden durch die Kette weitergereicht. Wir bewegen uns zunächst ein Stück Richtung Westen und begehen einen breiten Streifen entlang des Waldrands. Danach wenden wir und ziehen eine parallele Bahn. Auf diese Weise arbeiten wir uns immer tiefer in den Wald hinein. Noch Fragen?«

»Warum schauen wir nicht mal beim Indianer vorbei?«, fragte ein junger Kerl im karierten Hemd. »Weiß doch keiner, was der so alles in seinem Tipi versteckt.«

»Oder gleich beim fetten alten Hund!«, rief ein anderer.

Jule sah, wie sich Kathrin ein wenig krümmte, als hätte sie einen Stoß in den Magen bekommen.

»Wir vermuten, dass Krönchen versucht hat, durch den Wald zu ihrem Opa zu laufen«, sagte Gerhard.

Lügner, dachte Jule. Du glaubst doch selbst nicht, dass sich das Mädchen verirrt hat. Du absolvierst hier nur eine spektakuläre Pflichtübung, um dich bei den Krons einzuschleimen. In Wahrheit bist du sicher, dass die Kleine bei Gombrowski im Kartoffelkeller sitzt.

»Wir verschwenden unsere Zeit«, rief der Karierte.

»Wir bündeln unsere Kräfte«, sagte Gerhard. »Ich bitte um Ruhe und Geschlossenheit.«

»Schnauze jetzt!«, schrie Kron. »Abmarsch!«

Endlich setzte sich der Tross in Bewegung. Taschenlampen wurden eingeschaltet, Menschen liefen hin und her und suchten ihre Position. Gerhard war überall, rannte quer über die Lichtung, gab Kommandos und organisierte die Kette. Als er an Jule vorbeikam, blieb er stehen und sah kurz über die Schulter, ganz der engagierte Verschwörer.

»Schaller hängt mit drin«, flüsterte er. »Ich war bei ihm. Er hat mich mit Metallteilen beworfen.«

Flüchtig zeigte er auf sein Gesicht, entschied sich allerdings für das falsche Auge. Bevor Jule etwas erwidern konnte, hatte er sich heruntergebeugt, das schlafende Baby auf den Hinterkopf geküsst und ihr noch einmal zugezwinkert, als teilten sie ein Geheimnis. Dann war er wieder verschwunden.

Kurz darauf rief seine Stimme in einiger Entfernung: »Los!«

Der Ruf wurde weitergegeben, »Los!«, »Los!«, und als Jule an der Reihe war, rief auch sie »Los!« und setzte sich mit den anderen in Bewegung, auf die dunkle Wand aus Bäumen zu.

Es tat gut zu gehen, die Nervosität verlangte nach einer Richtung. Jeder Schritt brachte sie der Rettung von Krönchen näher. Auch wenn Gerhard glaubte, dass es sich bei der Suchaktion nur um ein Spiel handelte, das absolviert werden musste, bevor Kathrin und ihr Vater einsahen, wo sich die Kleine tatsächlich befand – Jule war sicher, dass sie genau das Richtige taten. Krönchen lag irgendwo mit verstauchtem Fuß in einem Graben oder eingeklemmt unter einem großen Ast. Gombrowski war genauso wenig Mörder wie Kindesentführer. Schließlich ging es hier nur um zehn läppische Windmühlen. Kein Mensch entführte ein Kind, weil er einen landwirtschaftlichen Betrieb vor der Insolvenz bewahren wollte.

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