Mikael sah Henrik lange an. Dann lächelte er, zum ersten Mal seit seiner Rückkehr nach Hedestad.

»Anita war in Harriets Verschwinden verwickelt, aber sie konnte sie nicht umgebracht haben.«

»Wie konnten Sie da so sicher sein?«

»Weil das hier kein verdammter Agatha-Christie-Krimi ist. Wenn Anita Harriet umgebracht hätte, dann wäre der Körper schon lange gefunden worden. Die einzig logische Möglichkeit war also, dass sie ihr geholfen hatte, zu fliehen und sich versteckt zu halten. Wollen Sie sie sehen?«

»Natürlich will ich Harriet sehen.«

Mikael holte Harriet bei den Fahrstühlen in der Eingangshalle ab. Zunächst erkannte er sie nicht wieder, denn als sie tags zuvor in Arlanda auseinandergegangen waren, war sie noch blond gewesen - jetzt hatte sie ihre alte Haarfarbe wieder. Sie trug eine schwarze Hose, eine weiße Bluse und eine elegante graue Jacke. Sie sah blendend aus, und Mikael gab ihr einen aufmunternden Kuss auf die Wange.

Henrik stand von seinem Stuhl auf, als Mikael Harriet die Tür aufmachte. Sie atmete tief durch.

»Hallo, Henrik«, sagte sie.

Der Alte musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Dann ging Harriet auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. Mikael nickte Dirch Frode zu, schloss die Tür und ließ sie alleine.

Lisbeth war nicht mehr im Gästehäuschen, als Mikael auf die Insel zurückkehrte. Die Videoausrüstung und ihr Motorrad waren weg, ebenso ihre Tasche mit den Kleidern zum Wechseln und die Toilettenartikel im Badezimmer. Es wirkte leer.

Mikael machte in finsterer Stimmung einen Rundgang durch das Häuschen. Plötzlich kam ihm alles fremd und unwirklich vor. Er betrachtete die Papierstapel im Arbeitszimmer, die er in Kartons schichten und wieder zu Henrik zurücktragen musste, aber dazu konnte er sich jetzt nicht aufraffen.

Er ging zum Supermarkt und kaufte Brot, Milch, Käse und etwas zum Abendessen. Als er zurückkam, machte er sich einen Kaffee und setzte sich in den Garten, wo er die Abendzeitungen las, ohne an irgendetwas zu denken.

Gegen halb sechs fuhr ein Taxi über die Brücke. Nach drei Minuten kam es zurück. Mikael konnte Isabella Vanger auf dem Rücksitz ausmachen.

Gegen sieben war er auf seinem Gartenstuhl eingeschlummert, als Dirch Frode zu ihm hinüberkam und ihn weckte.

»Wie läuft’s mit Henrik und Harriet?«, fragte Mikael.

»Diese ganze kummervolle Geschichte hat auch was für sich«, antwortete Frode mit beherrschtem Lächeln. »Isabella ist plötzlich in Henriks Krankenzimmer gestürmt. Sie hatte entdeckt, dass Sie ins Gästehäuschen zurückgekehrt sind, und war fuchsteufelswild. Sie schrie ihn an, jetzt müsse langsam Schluss sein mit diesem ganzen Harriet-Quatsch, und außerdem hätten Sie ihren Sohn in den Tod getrieben.«

»Tja, ich schätze fast, da hat sie recht.«

»Sie hat Henrik gesagt, er solle Sie entlassen und dafür sorgen, dass Sie von hier verschwinden. Und er selbst solle aufhören, nach Gespenstern zu suchen.«

»Hoppla.«

»Die andere Frau im Zimmer würdigte sie keines Blickes. Sie glaubte wohl, es müsse jemand vom Personal sein. Diesen Augenblick werde ich nie vergessen - Harriet stand auf, sah Isabella an und sagte: ›Hallo, Mama‹.«

»Was passierte dann?«

»Wir mussten einen Arzt holen, um Isabella wieder zu Bewusstsein zu bringen. Jetzt streitet sie ab, dass es wirklich Harriet ist, und behauptet, sie sei eine Betrügerin, die Sie aufgetan haben. Sie hat ihre fünf Sinne nicht so ganz beisammen.«

Frode war auf dem Weg zu Cecilia und Alexander, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen, Harriet sei von den Toten auferstanden. Er eilte fort und ließ Mikael wieder allein.

Nördlich von Uppsala hielt Lisbeth an, um ihr Motorrad aufzutanken. Die Strecke bis hierher war sie verbissen gefahren, den Blick starr auf die Straße gerichtet. Schnell bezahlte sie und setzte sich wieder auf ihre Maschine. Sie startete und fuhr zur Ausfahrt, wo sie unschlüssig stehen blieb.

Sie war immer noch unzufrieden. Als sie Hedeby verließ, war sie wahnsinnig wütend gewesen, aber der Zorn hatte auf der Fahrt nachgelassen. Sie war sich nicht sicher, warum sie so böse auf Mikael war. Sie wusste nicht einmal, ob sich ihr Zorn wirklich gegen ihn richtete.

Sie dachte an Martin Vanger und an die verfluchte Harriet Vanger und den verfluchten Dirch Frode und die ganze verdammte Familie Vanger, die in Hedestad hockten und über ihr kleines Imperium herrschten und gegeneinander intrigierten. Sie hatten ihre Hilfe gebraucht. Unter normalen Umständen hätten sie sie wohl nicht einmal gegrüßt, geschweige denn ihr ihre Geheimnisse anvertraut.

Verfluchtes Pack.

Sie atmete tief durch und dachte an ihre Mutter, die sie heute Morgen begraben hatte. Es würde nie gut werden. Der Tod ihrer Mutter bedeutete, dass die Wunde nie mehr heilen konnte, denn Lisbeth würde niemals Antwort auf all die Fragen bekommen, die sie hatte stellen wollen.

Sie dachte an Dragan Armanskij, der sich bei der Beerdigung hinter sie gestellt hatte. Sie hätte etwas zu ihm sagen sollen. Ihm zumindest zeigen sollen, dass sie seine Anwesenheit bemerkte. Aber dann hätte er das nur als Vorwand verstanden, die Organisation ihres Lebens in die Hand zu nehmen. Hielt sie ihm den kleinen Finger hin, nahm er den ganzen Arm. Und er würde es doch nicht verstehen.

Sie dachte an den beschissenen Bjurman, ihren rechtlichen Betreuer, der zumindest vorerst unschädlich gemacht war und sich an die Abmachungen hielt.

Sie fühlte, wie der unversöhnliche Hass sich in ihr zusammenballte, und biss die Zähne zusammen.

Und sie fragte sich, was wohl Mikael dazu sagen würde, wenn er herausfand, dass sie unter rechtlicher Betreuung stand und ihr ganzes Leben ein einziges verdammtes Desaster war.

Sie erkannte, dass sie eigentlich gar nicht sauer auf ihn war. Er war nur zufällig die Person gewesen, an der sie ihre Wut ausgelassen hatte, als sie am liebsten jemand ermordet hätte. Auf ihn zornig zu sein hatte wirklich wenig Sinn.

Sie merkte, wie ambivalent ihre Gefühle für ihn waren.

Er steckte seine Nase in fremde Angelegenheiten und schnüffelte in ihrem Privatleben herum und … Aber es hatte ihr auch gut gefallen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Allein das war ein merkwürdiges Gefühl - mit jemand zusammenzuarbeiten. Das war sie nicht gewohnt, aber es war wirklich erstaunlich schmerzlos gelaufen. Er redete keine Scheiße. Er versuchte nicht, ihr einzureden, wie sie ihr Leben zu leben hatte.

Sie hatte ihn verführt, nicht umgekehrt.

Und außerdem war es auch noch sehr befriedigend gewesen.

Warum fühlte sie sich also, als würde sie ihm am liebsten ins Gesicht treten?

Sie seufzte, hob unglücklich den Blick und sah einem Fernlastzug nach, der auf der E4 vorbeibrummte.

Mikael saß immer noch im Garten, als er gegen acht Uhr abends Motorradgeknatter hörte und Lisbeth über die Brücke fahren sah. Sie parkte und nahm den Helm ab. Dann trat sie an den Gartentisch und legte ihre Hand an die Kaffeekanne, die leer und kalt war. Mikael sah sie verblüfft an. Sie nahm die Kanne und ging in die Küche. Als sie wieder herauskam, hatte sie die Motorradlederjacke ausgezogen und trug Jeans und ein T-Shirt mit dem Aufdruck I can be a regular bitch. Just try me.

»Ich dachte, du wärst gefahren«, sagte Mikael.

»Ich bin in Uppsala umgekehrt.«

»Ganz hübscher Tagesausflug.«

»Mir tut der Hintern weh.«

»Warum bist du umgekehrt?«

Sie antwortete nicht. Mikael blieb stur und wartete stumm und Kaffee trinkend ihre Antwort ab. Nach zehn Minuten brach sie das Schweigen.

»Ich bin gerne mit dir zusammen«, gab sie widerwillig zu.

Solche Worte hatte sie noch nie zuvor in den Mund genommen.

»Es war … interessant, mit dir an diesem Fall zu arbeiten.«

»Mir hat’s auch gefallen, mit dir zusammenzuarbeiten«, erklärte Mikael.

»Hmm.«

»Fakt ist, ich habe noch nie mit einer so phantastischen Ermittlerin zusammengearbeitet. Okay, ich weiß, dass du eine verdammte Hackerin bist und in suspekten Kreisen verkehrst, wo du ja anscheinend nur den Hörer abzunehmen brauchst, um innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden einen Telefonanschluss in London illegal abhören zu lassen, aber du kommst damit eben auch zu gewissen Ergebnissen.«

Zum ersten Mal, seit sie sich an den Tisch gesetzt hatte, sah sie ihn an. Er kannte so viele ihrer Geheimnisse. Wie hatte das passieren können?

»Das ist eben so. Ich kann mit Computern umgehen. Ich hatte noch nie Probleme damit, einen Text zu lesen und exakt zu verstehen, was drinsteht.«

»Dein fotografisches Gedächtnis«, sagte er ruhig.

»Schätzungsweise. Ich verstehe einfach, wie alles funktioniert. Nicht nur Computer und Telefonnetze, sondern auch der Motor in meiner Maschine und Fernseher und Staubsauger und chemische Prozesse und astrophysikalische Formeln. Ich bin verdreht im Kopf. Ein Freak.«

Mikael runzelte die Brauen. Er schwieg lange.

Asperger-Syndrom, dachte er. Oder irgendwas in der Richtung. Ein Talent, Muster zu erkennen und abstrakte Gedankengänge zu begreifen, wo andere nur Chaos sehen.

Lisbeth starrte auf den Tisch.

»Die meisten Menschen würden was drum geben, so eine Begabung zu haben.«

»Ich will nicht darüber reden.«

»Okay, dann lassen wir das eben. Warum bist du zurückgekommen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht war’s ein Fehler.«

Sie sah ihn forschend an.

»Lisbeth, kannst du mir mal das Wort ›Freundschaft‹ definieren?«

»Wenn man jemanden mag.«

»Ja, aber wie kommt das zustande, dass man jemanden mag?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Freundschaft - nach meiner Definition - baut auf zwei Dingen auf«, sagte er plötzlich. »Respekt und Vertrauen. Absolute Freundschaft basiert auf absolutem Respekt und absolutem Vertrauen. Beide Faktoren müssen dabei sein. Und es muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Man kann Respekt für jemand empfinden, aber wenn man ihm kein Vertrauen schenkt, dann zerbricht die Freundschaft.«

Sie schwieg noch immer.

»Ich weiß mittlerweile, dass du mit mir nicht über dich selbst sprechen willst, aber irgendwann musst du mal entscheiden, ob du mir Vertrauen entgegenbringst oder nicht. Ich möchte, dass wir Freunde sind, aber das kann ich nicht alleine schaffen.«

»Ich hab gern Sex mit dir.«

»Sex hat nichts mit Freundschaft zu tun. Natürlich können Freunde auch Sex miteinander haben, aber wenn ich bei dir wählen müsste, dann wüsste ich, wofür ich mich entscheide.«

»Ich verstehe dich nicht. Willst du Sex mit mir haben oder nicht?«

Mikael biss sich auf die Lippe. Schließlich seufzte er.

»Man sollte keinen Sex mit Leuten haben, mit denen man zusammenarbeitet«, murmelte er. »Das gibt nur Ärger.«

»Ist mir da irgendwas entgangen, oder ist es nicht doch so, dass du und Erika Berger bei jeder Gelegenheit fickt? Und sie ist obendrein auch noch verheiratet.«

Mikael schwieg eine Weile.

»Erika und ich … haben eine Geschichte, die anfing, lange bevor unsere Zusammenarbeit begann. Dass sie verheiratet ist, geht dich nichts an.«

»Aha, und jetzt willst du plötzlich auch nicht mehr über dich selbst reden. Ging es bei Freundschaft nicht um Vertrauen?«

»Ja, aber ich meine, wir sollten nicht hinter ihrem Rücken über sie reden. Damit würde ich ihr Vertrauen missbrauchen. Ich würde auch nicht hinter deinem Rücken mit Erika über dich reden.«

Lisbeth dachte über seine Worte nach. Ein heikles Gespräch war das geworden. Sie mochte keine heiklen Gespräche.

»Ich hab gerne Sex mit dir«, wiederholte sie.

»Ich auch mit dir … aber ich bin alt genug, um dein Vater zu sein.«

»Dein Alter ist mir egal.«

»Du kannst den Altersunterschied nicht ignorieren. Das ist keine gute Ausgangsposition für eine dauerhafte Beziehung.«

»Wer hat denn von dauerhaft gesprochen?«, fragte Lisbeth. »Wir haben gerade einen Fall abgeschlossen, in dem Männer mit total kranker Sexualität eine tragende Rolle gespielt haben. Wenn es nach mir ginge, würde ich solche Männer ausrotten, einen nach dem andern.«

»Von Kompromissen hältst du auf jeden Fall nicht viel.«

»Nein«, sagte sie und lächelte ihr gequältes Lächeln. »Aber so einer bist du ja auch nicht.«

Sie stand auf.

»Ich geh jetzt rein und dusche, und dann werde ich mich nackt in dein Bett legen. Wenn du glaubst, dass du zu alt bist, dann kannst du dich ja stattdessen aufs Feldbett legen.«

Mikael sah ihr nach. Was für Störungen Lisbeth sonst auch haben mochte, Schamgefühl gehörte nicht dazu. Bei ihren Diskussionen zog er mit schöner Regelmäßigkeit den Kürzeren. Nach einer Weile räumte er die Kaffeetassen ab und folgte ihr.

Sie standen gegen neun auf, duschten gemeinsam und frühstückten im Garten. Gegen elf rief Dirch Frode an und teilte ihnen mit, dass die Beerdigung um zwei Uhr nachmittags stattfinden würde. Er fragte, ob sie auch anwesend sein würden.

»Ich glaube, eher nicht«, sagte Mikael.

Frode bat, um sechs Uhr zu einem Gespräch vorbeikommen zu dürfen. Mikael erklärte sich einverstanden.

Er verbrachte ein paar Stunden damit, Papiere in Umzugskartons zu sortieren und sie in Henriks Arbeitszimmer hinüberzutragen. Zum Schluss waren nur noch seine eigenen Notizbücher übrig und die zwei Ordner zur Affäre Hans-Erik Wennerström, die er seit einem halben Jahr nicht mehr geöffnet hatte. Er seufzte und verstaute sie in seiner Tasche.

Dirch Frode verspätete sich und kam nicht vor acht. Er trug immer noch seinen schwarzen Anzug und sah mitgenommen aus, als er sich aufs Küchensofa setzte und dankbar eine Tasse Kaffee von Lisbeth entgegennahm. Sie setzte sich an den kleinen Tisch und beschäftigte sich mit ihrem Computer, während Mikael fragte, wie Harriets Wiederauferstehung von der Familie aufgenommen worden war.

»Man kann sagen, es hat Martins Hinscheiden etwas in den Hintergrund gedrängt. Mittlerweile haben auch die Medien Wind von der Sache bekommen.«

»Und wie erklären Sie die Situation?«

»Harriet hat mit einem Journalist des Kuriren gesprochen. Offiziell ist sie von zu Hause ausgerissen, weil sie Schwierigkeiten mit ihrer Familie hatte. Sie sei aber in der Welt bestens klargekommen, meint sie, da sie heute immerhin ein Unternehmen führt, das ebenso viel Umsatz macht wie der Vanger-Konzern.«

Mikael stieß einen überraschten Pfiff aus.

»Ich wusste ja schon, dass man mit australischen Schafen gutes Geld verdienen kann, aber nicht, dass ihre Ranch so hervorragend läuft.«

»Ihre Ranch läuft wirklich ganz ausgezeichnet, und sie ist nicht ihre einzige Einnahmequelle. Das Unternehmen Cochran macht sein Geld auch mit Bergbau, Opalen, produzierenden Betrieben, Speditionen, Elektronik und noch einer Menge mehr.«

»Hoppla. Und was wird jetzt damit?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Den ganzen Tag sind immer mehr Leute angekommen, und die Familie ist zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder so gut wie vollständig versammelt. Es sind viele von der jüngeren Generation aufgetaucht - ab zwanzig aufwärts. Heute Abend sind wohl um die vierzig Vangers in Hedestad, von denen die eine Hälfte im Krankenhaus sitzt und Henrik ermüdet, während die andere Hälfte im Stadthotel mit Harriet redet.«

»Harriet ist sicher die große Sensation. Wie viele wissen von der Geschichte mit Martin?«

»Bis jetzt nur Henrik, Harriet und ich. Wir haben ein langes Gespräch geführt. Diese ganze Sache mit Martin und … seinen Perversionen drängt die meisten Dinge für uns in den Hintergrund. Das hat eine kolossale Krise des Konzerns nach sich gezogen.«

»Das kann ich verstehen.«

»Es gibt keinen natürlichen Erben, aber Harriet wird eine Weile in Hedestad bleiben. Wir müssen unter anderem die Eigentums- und Erbschaftsverhältnisse klären. Ihr steht ja tatsächlich ein Erbteil zu, der ziemlich groß sein würde, wenn sie die ganze Zeit hier gewesen wäre. Es ist ein Alptraum.«

Mikael lachte. Frode lachte nicht.

»Isabella ist zusammengebrochen. Sie ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Harriet weigert sich, sie zu besuchen.«

»Kann ich verstehen.«

»Anita kommt allerdings aus London. Wir berufen nächste Woche einen Familienrat ein. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren nimmt sie wieder daran teil.«

»Wer wird der neue Geschäftsführer?«

»Birger hat ein begehrliches Auge auf den Posten geworfen, aber das kommt gar nicht infrage. Stattdessen wird Henrik vom Krankenbett aus vorübergehend die Geschäfte leiten, bis wir jemanden gefunden haben. Möglicherweise aus dem Kreis der Familie …«

Er führte den Satz nicht zu Ende. Mikael zog die Augenbrauen hoch.

»Harriet? Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Warum nicht? Wir sprechen von einer äußerst kompetenten und respektierten Geschäftsfrau.«

»Sie hat ein Unternehmen in Australien, um das sie sich kümmern muss.«

»Ja, aber ihr Sohn Jeff Cochran führt die Geschäfte in ihrer Abwesenheit.«

»Der ist Studs Manager auf einer Schafranch. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann achtet er darauf, dass sich die richtigen Schafe miteinander paaren.«

»Er hat aber auch ein betriebswirtschaftliches Studium in Oxford abgeschlossen und ein Jurastudium in Melbourne.«

Mikael dachte an den verschwitzten, muskulösen Mann mit dem nackten Oberkörper, der ihn in die Schlucht gefahren hatte, und versuchte, ihn sich im Anzug vorzustellen. Warum nicht?

»Das Ganze wird sich nicht auf die Schnelle lösen lassen«, fuhr Frode fort. »Aber sie wäre eine perfekte Geschäftsführerin. Mit der richtigen Unterstützung könnte sie dem Konzern ganz neue Impulse geben.«

»Ihr fehlen die Kenntnisse, die …«

»Das stimmt schon. Natürlich kann Harriet nicht einfach nach ein paar Jahrzehnten hier auftauchen und die Führung des Konzerns bis ins letzte Detail übernehmen. Aber der Vanger-Konzern ist international, und wir könnten uns auch einen amerikanischen Geschäftsführer holen, der kein Wort Schwedisch versteht … so ist das Business.«

»Früher oder später müssen Sie sich mit dem Inhalt von Martins Kellerraum auseinandersetzen.«

»Ich weiß. Aber wir können nichts davon verlauten lassen, ohne Harriet völlig zu vernichten … Ich bin froh, dass ich nicht derjenige bin, der diese Entscheidung treffen muss.«

»Verdammt, Dirch, Sie können nicht einfach verheimlichen, dass Martin ein Serienmörder war.«

Dirch Frode schwieg und wand sich auf seinem Stuhl. Auf einmal hatte Mikael einen üblen Geschmack im Mund.

»Mikael, ich bin in einer … sehr unangenehmen Lage.«

»Erzählen Sie.«

»Ich soll Ihnen eine Mitteilung von Henrik überbringen. Sie ist ziemlich schlicht. Er dankt Ihnen für die Arbeit, die Sie geleistet haben, und betrachtet den Vertrag als erfüllt. Das bedeutet, dass er Sie von den übrigen Verpflichtungen entbindet, dass Sie also nicht mehr in Hedestad wohnen und arbeiten müssen und so weiter. Sie können unverzüglich nach Stockholm zurückziehen und sich anderen Verpflichtungen widmen.«

»Will er, dass ich von hier verschwinde?«

»Absolut nicht. Er will, dass Sie ihn besuchen kommen, damit Sie ein Gespräch über die Zukunft führen können. Er hofft, dass er weiterhin ohne Einschränkungen im Führungsstab von Millennium tätig sein kann. Aber …«

Dirch Frode sah noch verlegener aus, falls das überhaupt noch möglich war.

»Aber er will nicht mehr, dass ich eine Familienchronik der Vangers schreibe.«

Frode nickte. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche, das er aufschlug und Mikael über den Tisch zuschob.

»Er hat Ihnen diesen Brief geschrieben.«

Lieber Mikael, ich respektiere Ihre Unabhängigkeit voll und ganz und habe nicht vor, Sie zu beleidigen, indem ich Ihnen vorschreibe, was Sie schreiben sollen. Sie sollen genau das schreiben und veröffentlichen, was Sie wollen, und ich will nicht den geringsten Druck auf Sie ausüben.

Unser Vertrag gilt, wenn Sie darauf bestehen. Sie haben genug Material, um die Chronik der Familie Vanger abzuschließen.

In meinem ganzen Leben habe ich niemanden um etwas angefleht. Ich fand immer, dass ein Mensch seiner Moral und seiner Überzeugung folgen sollte. Doch in diesem Moment habe ich keine Wahl.

Ich bitte Sie, sowohl als Freund als auch in meiner Eigenschaft als Teilhaber von Millennium, die Wahrheit über Gottfried und Martin nicht öffentlich zu machen. Ich weiß, dass das falsch ist, aber ich sehe keinen anderen Ausweg aus dieser Finsternis. Ich habe die Wahl zwischen zwei schlimmen Alternativen, und hier kann es nur Verlierer geben.

Ich bitte Sie, nichts zu schreiben, was Harriet noch mehr schaden könnte. Sie haben selbst erlebt, was es bedeutet, im Mittelpunkt einer Medienkampagne zu stehen. Die Kampagne gegen Sie hatte dabei noch bescheidene Ausmaße - wahrscheinlich können Sie sich vorstellen, wie es für Harriet aussehen würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Sie hat sich vierzig Jahre lang gequält und soll nicht weiter für die Taten leiden müssen, die ihr Bruder und ihr Vater begangen haben.

Und ich bitte Sie, denken Sie darüber nach, was für Konsequenzen diese Geschichte für Tausende Angestellte unseres Konzerns haben könnte. Sie würde daran zerbrechen, und wir wären vernichtet.

Henrik

»Henrik sagt außerdem, wenn Sie eine Entschädigung für den Verdienstausfall wünschen, der Ihnen entsteht, wenn Sie diese Geschichte nicht publizieren, dann ist er gerne zur Diskussion bereit. Sie können eine beliebige finanzielle Forderung stellen.«

»Henrik Vanger versucht, mich mundtot zu machen. Richten Sie ihm aus, ich wünschte, er hätte mir dieses Angebot nicht gemacht.«

»Diese Situation ist für Henrik genauso schmerzlich wie für Sie. Er mag Sie sehr und betrachtet Sie als Freund.«

»Henrik ist ein cleverer Mistkerl«, sagte Mikael. Plötzlich war er unglaublich wütend. »Er will die ganze Geschichte vertuschen. Er nutzt meine Gefühle aus; er weiß ja, dass ich ihn auch mag. Und was er sagt, bedeutet praktisch: Ich kann veröffentlichen, was ich will, aber wenn ich das mache, dann muss er seine Einstellung zu Millennium revidieren.«

»Als Harriet auftauchte, hat sich alles verändert.«

»Und jetzt möchte Henrik mal genauer wissen, für welchen Preis ich zu haben bin. Ich habe nicht vor, Harriet öffentlich bloßzustellen, aber irgendjemand muss etwas über die Frauen sagen, die in Martins Keller landeten. Dirch, wir wissen nicht einmal, wie viele Frauen er abgeschlachtet hat. Wer soll sich ihres Schicksals annehmen?«

Lisbeth Salander blickte plötzlich von ihrem Computer auf. Ihre Stimme war schrecklich sanft, als sie das Wort an Dirch Frode richtete.

»Gibt es denn niemand im Konzern, der mich zum Schweigen bringen will?«

Frode sah verblüfft aus. Er hatte ihre Existenz wieder einmal ignoriert.

»Wenn Martin Vanger in diesem Moment noch am Leben wäre, dann hätte ich alles öffentlich gemacht«, fuhr sie fort. »Egal, welche Vereinbarung Mikael mit Ihnen getroffen hat, ich hätte jedes Detail an die nächste Abendzeitung weitergegeben. Und wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, dann hätte ich ihn in seinen eigenen Folterkeller mitgenommen, ihn auf diesem Tisch festgeschnallt und ihm Nägel durch den Sack getrieben. Aber er ist tot.«

Sie wandte sich an Mikael.

»Ich bin zufrieden mit der Lösung. Nichts, was wir tun, könnte die Leiden ungeschehen machen, die Martin Vanger seinen Opfern zugefügt hat. Allerdings ist jetzt eine interessante Konstellation entstanden. Auch du könntest unschuldigen Frauen Leid zufügen - nicht zuletzt Harriet, die du eben noch so feurig verteidigt hast. Ich frage dich also: Was ist schlimmer - dass Martin Vanger sie in Gottfrieds Häuschen vergewaltigt hat oder dass du dasselbe durch die Schlagzeilen tun willst? Nettes Dilemma. Vielleicht kann dir ja der Ethikausschuss des Journalistenverbandes weiterhelfen.«

Sie machte eine Pause. Mikael konnte Lisbeth plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. Er starrte auf den Tisch.

»Aber ich bin natürlich keine Journalistin«, fügte sie schließlich hinzu.

»Was fordern Sie?«, fragte Dirch Frode.

»Martin hat seine Opfer mit einer Videokamera gefilmt. Ich will, dass Sie versuchen, so viele wie möglich zu identifizieren, und dafür sorgen, dass ihre Familien ein angemessenes Schmerzensgeld erhalten. Außerdem will ich, dass der Vanger-Konzern jährlich zwei Millionen Kronen für die ROKS, die Zentralorganisation der Frauenhäuser in Schweden, zur Verfügung stellt.«

Frode dachte ein paar Minuten über diesen Preis nach. Dann nickte er.

»Kannst du damit leben, Mikael?«, fragte Lisbeth.

Mikael war auf einmal verzweifelt. Während seines gesamten Berufslebens hatte er aufgedeckt, was andere zu vertuschen versuchten, und seine Moral verbot ihm, sich an der Vertuschung der schrecklichen Verbrechen in Martin Vangers Keller zu beteiligen. Sein Berufsethos verlangte, dass er sein Wissen der Öffentlichkeit mitteilte. Er hatte seine Kollegen immer kritisiert, wenn sie die Wahrheit nicht aussprachen. Und dennoch saß er jetzt hier und diskutierte das makaberste Vertuschungsmanöver, von dem er jemals gehört hatte.

Er schwieg lange. Dann nickte auch er. »Gut.«

Frode wandte sich an Mikael. »Was Henriks Angebot einer Entschädigung betrifft …«

»Die kann er sich in den Hintern schieben«, schnitt Mikael ihm das Wort ab. »Dirch, ich will, dass Sie jetzt gehen. Ich verstehe Ihre Verlegenheit, aber im Moment bin ich gerade so wütend auf Sie und Henrik und Harriet, dass unsere Freundschaft in die Brüche gehen wird, wenn Sie jetzt noch länger bleiben.«

Dirch Frode blieb am Küchentisch sitzen und machte keine Anstalten aufzustehen.

»Ich kann noch nicht gehen«, sagte er. »Ich bin noch nicht fertig. Ich habe noch eine Botschaft zu überbringen, die Ihnen nicht gefallen wird. Henrik besteht darauf, dass ich sie Ihnen heute ausrichte. Sie können morgen ins Krankenhaus fahren und ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.«

Mikael hob langsam den Blick und sah ihm in die Augen.

»Das hier ist wohl das Schwerste, was ich in meinem ganzen Leben tun musste«, begann Frode. »Aber ich glaube, dass in der jetzigen Situation nur noch restlose Ehrlichkeit angebracht ist. Ich will die Karten offen auf den Tisch legen.«

»Was?«

»Als Henrik Sie zu diesem Job überredet hat, glaubten weder er noch ich, dass es wirklich Resultate geben würde. Es war so, wie er sagte - er wollte einfach einen letzten Versuch unternehmen. Er hatte Ihre missliche Lage gründlich analysiert, nicht zuletzt mit Hilfe des Berichts, den Frau Salander erstellt hatte. Er nutzte ihre Isolation aus, bot Ihnen eine gute Bezahlung und verwendete den richtigen Köder.«

»Wennerström.«

Frode nickte.

»Sie haben geblufft?«

»Nein.«

Lisbeth zog interessiert die Augenbrauen hoch.

»Henrik wird all seine Versprechen einlösen«, sagte Frode. »Er wird Interviews geben und einen öffentlichen Frontalangriff auf Wennerström starten. Die Details können Sie später erfahren, aber kurz gesagt verhält sich die Sache so, dass Wennerström während seiner Zeit in der kaufmännischen Abteilung mehrere Millionen für Valutaspekulationen eingesetzt hat. Das war lange, bevor das Day Trading zum echten Phänomen wurde. Er hatte dafür keine Genehmigung bei der Unternehmensleitung eingeholt. Die Geschäfte gingen in die Binsen, und plötzlich saß er mit einem Verlust von sieben Millionen da, den er teils durch frisierte Bücher auszugleichen versuchte, teils durch weitere, noch gewagtere Spekulationen. Er wurde erwischt und gefeuert.«

»Hat er etwa in die eigene Tasche gewirtschaftet?«

»Ja, er bekam ungefähr eine halbe Million Kronen, die dann bizarrerweise den Grundstock für seine Wennerstroem Group bildeten. Sie können diese Information verwenden, wie Sie wollen, und Henrik wird Ihre Behauptungen öffentlich bestätigen. Aber …«

»Aber diese Information ist wertlos«, vollendete Mikael seinen Satz und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

Frode nickte.

»Das ist dreißig Jahre her - das ist ein abgeschlossenes Kapitel!«, rief Mikael.

»Sie bekommen die Bestätigung, dass Wennerström ein Schwindler ist.«

»Dass es herauskommt, wird Wennerström ärgern, aber es wird ihm nicht mehr wehtun, als wenn ihn kleine Jungs mit Erbsen aus einem Blasrohr beschießen würden. Er wird mit den Schultern zucken und ein Ablenkungsmanöver starten, indem er eine Pressemitteilung rausschickt, dass Henrik Vanger ein alter Knacker ist, der irgendein Geschäft von ihm übernehmen will. Im selben Atemzug wird er behaupten, dass er damals auf Henriks Anordnung gehandelt hat. Selbst wenn er seine Unschuld nicht beweisen kann, kann er immer noch so viele Vernebelungstaktiken einsetzen, dass die Geschichte schließlich mit einem Achselzucken abgetan wird.«

Dirch Frode sah unglücklich drein.

»Sie haben mich beschissen«, sagte Mikael schließlich.

»Mikael … so war das nicht gemeint.«

»Ich bin selbst schuld. Ich habe nach einem Strohhalm gegriffen und hätte gleich merken müssen, dass es nur ein Vorwand war.« Er lachte kurz auf. »Henrik ist ein alter Hai. Er musste mir ein Produkt verkaufen, also hat er mir gesagt, was ich hören wollte.«

Mikael stand auf und ging zur Spüle hinüber. Dann drehte er sich zu Frode um und fasste seine Gefühle in zwei Worten zusammen.

»Verschwinden Sie!«

»Mikael … ich bedaure, dass …«

»Dirch. Gehen Sie.«

Lisbeth wusste nicht, ob sie zu Mikael gehen oder ihn in Ruhe lassen sollte. Er löste das Problem, indem er sich plötzlich wortlos seine Jacke griff und die Haustür hinter sich zuknallte.

Über eine Stunde tigerte sie in der Küche auf und ab. Sie war so unglücklich, dass sie sich das Geschirr vornahm und abwusch - eine Aufgabe, die sie sonst Mikael überließ. Ab und zu ging sie ans Fenster und hielt nach ihm Ausschau. Schließlich wurde sie so unruhig, dass sie ihre Lederjacke anzog und hinausging, um ihn zu suchen.

Sie eilte zuerst zum Kleinboothafen hinunter, wo in den Häusern immer noch Licht brannte, aber weit und breit war kein Mikael zu sehen. Dann lief sie am Wasser entlang, wo Mikael und sie abends oft spazieren gingen. Martin Vangers Haus war dunkel und wirkte bereits unbewohnt. Sie ging bis zu den Steinen auf der Landzunge, wo Mikael und sie bei anderer Gelegenheit gesessen hatten, dann lief sie nach Hause. Er war noch nicht zurückgekommen.

Sie stattete der Kirche einen Besuch ab. Auch hier kein Mikael. Eine Weile blieb sie unschlüssig stehen. Dann kehrte sie um, holte eine Taschenlampe aus der Satteltasche ihres Motorrads und ging noch einmal am Wasser entlang. Es dauerte eine Weile, auf dem halb überwucherten Weg voranzukommen, und noch länger, um den Pfad zu Gottfrieds Häuschen zu finden. Als sie schon fast dort war, tauchte es schließlich hinter ein paar Bäumen aus der Dunkelheit auf. Mikael war nicht auf der Veranda zu sehen, die Tür war abgeschlossen.

Sie war schon auf dem Rückweg, als sie noch einmal innehielt, umkehrte und ganz bis ans Wasser hinunterging. Plötzlich sah sie Mikaels Silhouette in der Dunkelheit. Er saß auf dem Bootssteg, an dem Harriet ihren Vater ertränkt hatte. Erst in diesem Moment konnte sie erleichtert ausatmen.

Er hörte ihre Schritte auf den Planken und drehte sich um. Wortlos setzte sie sich neben ihn. Schließlich brach er das Schweigen.

»Entschuldige. Ich musste nur eine Weile alleine sein.«

»Ich weiß.«

Sie steckte zwei Zigaretten an und gab ihm eine. Er sah sie an. Lisbeth war der unsozialste Mensch, den er jemals getroffen hatte. Für gewöhnlich ignorierte sie jeden seiner Versuche, über persönliche Dinge zu sprechen, und nicht ein einziges Mal hatte sie ihm ihre Sympathie bekundet. Sie hatte ihm das Leben gerettet, und jetzt war sie mitten in der Nacht losgezogen, um ihn zu suchen. Er legte einen Arm um sie.

»Jetzt weiß ich, für welchen Preis man mich kaufen kann. Wir haben diese Frauen verraten«, sagte er. »Die werden die ganze Geschichte vertuschen. Alles, was in Martins Keller geschah, wird totgeschwiegen.«

Lisbeth entgegnete nichts.

»Erika hatte recht«, fuhr er fort. »Ich hätte für einen Monat nach Spanien fahren, mich mit ein paar Spanierinnen vergnügen und dann heimkommen sollen, um mir Wennerström vorzuknöpfen. Jetzt habe ich Monate nutzlos vergeudet.«

»Wenn du nach Spanien gefahren wärst, dann hätte Martin seine Verbrechen fortgesetzt.«

Schweigen. Sie blieben eine ganze Weile nebeneinander sitzen, bis er aufstand und vorschlug, nach Hause zu gehen.

Mikael schlief vor Lisbeth ein. Sie konnte nicht schlafen und lauschte seinen Atemzügen. Dann ging sie in die Küche und machte sich einen Kaffee, setzte sich aufs Küchensofa und rauchte mehrere Zigaretten, während sie intensiv nachdachte. Dass Vanger und Frode Mikael ausgenutzt hatten, betrachtete sie als selbstverständlich. Das lag in ihrer Natur. Aber das war Mikaels Sache und nicht ihr Problem. Oder?

Schließlich fasste sie einen Entschluss. Sie drückte ihre Zigarette aus, ging zu Mikael, machte die Nachttischlampe an und rüttelte ihn wach. Es war halb drei Uhr morgens.

»Ich habe eine Frage. Setz dich mal auf.«

Mikael setzte sich auf und sah sie schlaftrunken an.

»Als du damals angeklagt wurdest - warum hast du dich nicht verteidigt?«

Mikael schüttelte den Kopf und sah ihr in die Augen. Dann warf er einen Blick auf die Uhr.

»Das ist eine lange Geschichte, Lisbeth.«

»Erzähl. Ich hab Zeit.«

Er schwieg eine geraume Weile und überlegte, was er sagen sollte. Schließlich entschied er sich für die Wahrheit.

»Ich konnte mich nicht verteidigen. Der Inhalt meines Artikels war falsch.«

»Als ich mich in deinen Computer gehackt habe und deine Mailkorrespondenz mit Erika Berger las, gab es da jede Menge Verweise auf die Wennerström-Affäre, aber ihr habt die ganze Zeit die praktischen Details des Prozesses besprochen und alle möglichen anderen Dinge - nur nicht das, was eigentlich passiert ist. Erzähl mir, was da schiefgegangen ist.«

»Ich kann dir die wahre Geschichte nicht erzählen, Lisbeth. Ich bin auf einen riesigen Fake reingefallen. Erika und ich waren uns einig, dass unsere Glaubwürdigkeit nur noch mehr leiden würde, wenn wir zu erzählen versuchten, was wirklich geschehen war.«

»Jetzt hör mir mal gut zu, Kalle Blomkvist, gestern Nachmittag hast du noch hier gesessen und hast eine Predigt gehalten über Freundschaft und Vertrauen und was weiß ich noch alles. Ich habe nicht vor, deine Story ins Netz zu stellen.«

Mikael protestierte noch ein paarmal. Er erinnerte sie daran, dass es mitten in der Nacht war, und behauptete, er könne jetzt nicht an diese Geschichte denken. Sie blieb stur, bis er nachgab. Er ging zur Toilette, wusch sich das Gesicht und setzte neuen Kaffee auf. Dann kam er zurück ins Bett und erzählte, wie sein alter Klassenkamerad Robert Lindberg vor zwei Jahren im Gästehafen von Arholma auf einer gelben Mälar-30 seine Neugier geweckt hatte.

»Du meinst, dein alter Kumpel hat dich angelogen?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich konnte jedes seiner Worte im Revisionsbericht des SIB nachprüfen. Ich bin sogar nach Polen gefahren und habe die Blechbaracke fotografiert, in der die große Minos-Fabrik untergebracht gewesen war. Und ich habe mehrere Personen interviewt, die dort angestellt gewesen waren. Alle haben genau dasselbe gesagt.«

»Das kapier ich nicht.«

Mikael seufzte. Es dauerte einen Moment, bevor er weitersprach.

»Ich hatte eine verdammt gute Story. Ich hatte Wennerström selbst noch nicht damit konfrontiert, aber die Story war wasserdicht, und wenn ich sie damals veröffentlicht hätte, wäre er in ziemliche Schwierigkeiten geraten. Wahrscheinlich hätte es nicht zu einer Anklage wegen Betrugs gereicht - die Sache war ja durch die Revision schon abgenickt worden -, aber ich hätte seinem Ansehen geschadet.«

»Was ist schiefgegangen?«

»Irgendjemand hatte von meinen Recherchen erfahren und Wennerström offenbar gewarnt. Und auf einmal geschahen lauter seltsame Dinge. Zuerst erhielt ich Drohungen. Anonyme Telefonanrufe von Kartentelefonen, die man nicht zurückverfolgen konnte. Auch Erika wurde massiv bedroht. Sie war natürlich ziemlich verstört.«

Er nahm sich eine Zigarette von Lisbeth.

»Dann geschah etwas furchtbar Unangenehmes. Eines Nachts, als ich spät aus der Redaktion kam, wurde ich von zwei Männern überfallen, die mir ein paar Fausthiebe versetzten. Ich war völlig unvorbereitet, landete auf der Straße und holte mir eine geschwollene Lippe. Ich konnte sie nicht identifizieren, aber der eine sah aus wie ein alter Rocker.«

»Okay.«

»Dieser Vorfall hatte nur zur Folge, dass Erika stinkwütend wurde und ich noch sturer. Wir verschärften die Sicherheitsvorkehrungen bei Millennium. Aber irgendwie standen diese Schikanen in keinem Verhältnis zum Inhalt der Story. Wir konnten uns nicht erklären, was das alles sollte.«

»Aber die Story, die du veröffentlicht hast, war doch eine ganz andere.«

»Genau. Ganz plötzlich gelang uns ein Durchbruch. Wir fanden eine Quelle, einen Deep Throat aus Wennerströms Umfeld. Dieser Informant hatte buchstäblich Todesangst, und wir konnten ihn nur in anonymen Hotelzimmern treffen. Er erzählte uns, dass die Gelder von Minos für Waffengeschäfte im jugoslawischen Bürgerkrieg verwendet worden waren. Wennerström hatte Geschäfte mit der Ustascha gemacht. Und damit nicht genug, er konnte uns als Beweis Kopien von Dokumenten geben.«

»Ihr habt ihm geglaubt?«

»Er war geschickt. Dank seiner Informationen konnten wir eine weitere Quelle auftun, die unsere Story bestätigte. Wir bekamen sogar ein Foto, auf dem zu sehen war, wie einer von Wennerströms engsten Mitarbeitern dem Käufer die Hand schüttelte. Das war detaillierte Munition, und es sah so aus, als könnte man alles belegen. Wir gingen mit der Story an die Öffentlichkeit.«

»Und es war alles gefaked.«

»Es war gefaked von A bis Z«, bestätigte Mikael. »Die Dokumente waren geschickte Fälschungen. Wennerströms Anwalt konnte sogar beweisen, dass das Foto von Wennerströms Unterhändler und dem Ustascha-Führer eine Fälschung war - zwei verschiedene Bilder, die man in PhotoShop zusammenmontiert hatte.«

»Faszinierend«, sagte Lisbeth nüchtern und nickte versonnen.

»Ja, nicht? Im Nachhinein konnte man leicht erkennen, wie wir manipuliert worden waren. Unsere Originalstory hatte Wennerström aufgeschreckt, aber die wurde jetzt völlig von dieser Fälschungsgeschichte verdrängt - die übelste Falle, von der ich jemals gehört habe. Wir veröffentlichten eine Story, aus der Wennerström tatsächlich einen Punkt nach dem anderen herauspicken konnte, um dann jeweils seine Unschuld zu beweisen. Und es war so verflucht geschickt gemacht.«

»Ihr konntet keinen Rückzieher machen und die Wahrheit erzählen. Ihr hattet überhaupt keinen Beweis, dass Wennerström selbst hinter dieser Fälschung steckte.«

»Es war noch schlimmer. Wenn wir versucht hätten, die Wahrheit zu erzählen, und wenn wir auch noch verrückt genug gewesen wären, Wennerström als Urheber dieser Fälschung zu bezeichnen, dann hätte uns kein Mensch geglaubt. Es hätte ausgesehen wie ein verzweifelter Versuch, auf Gedeih und Verderb einem unschuldigen Industriellen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wir hätten dagestanden wie die größten Verschwörungstheoretiker und Vollidioten.«

»Verstehe.«

»Wennerström war doppelt abgesichert. Wäre der Fake aufgeflogen, hätte er behaupten können, einer seiner Feinde habe ihm einen Skandal anhängen wollen. Und wir bei Millennium hätten alle Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil wir auf eine Fehlinformation hereingefallen waren.«

»Also hast du dich entschieden, dich gar nicht erst zu verteidigen und eine Gefängnisstrafe in Kauf zu nehmen.«

»Ich hatte die Strafe verdient«, sagte Mikael bitter. »Ich hatte mich einer Ehrverletzung schuldig gemacht. Nun weißt du Bescheid. Darf ich jetzt schlafen?«

Mikael machte das Licht aus und schloss die Augen. Lisbeth legte sich neben ihn. Sie schwieg eine Weile.

»Wennerström ist ein Verbrecher.«

»Ich weiß.«

»Nein, ich meine, ich weiß, dass er ein Verbrecher ist. Er arbeitet mit allen möglichen Leuten zusammen, von der russischen Mafia bis hin zu kolumbianischen Drogenkartellen.«

»Wie meinst du das?«

»Nachdem ich meinen Bericht für Frode abgegeben hatte, erteilte er mir noch einen Extraauftrag. Er bat mich herauszufinden, was bei deinem Prozess eigentlich passiert war. Ich hatte gerade angefangen, daran zu arbeiten, da rief er Armanskij an und stornierte den Auftrag.«

»Aha.«

»Ich nehme an, sie haben diese Nachforschungen fallen lassen, nachdem du Henriks Angebot akzeptiert hattest. Da war das alles nicht mehr interessant.«

»Und?«

»Tja, ich mag nun mal keine unabgeschlossenen Sachen. Im Frühjahr hatte ich ein paar Wochen frei. Armanskij hatte gerade keinen Job für mich, und da hab ich zum Spaß weiter an einer persönlichen Untersuchung von Wennerström gearbeitet.«

Mikael setzte sich auf, schaltete das Licht an und blickte in Lisbeths große Augen. Sie wirkte tatsächlich schuldbewusst.

»Hast du was rausgekriegt?«

»Ich habe seine ganze Festplatte auf meinem Computer. Wenn du willst, kriegst du beliebig viele Beweise, dass er ein Schwerverbrecher ist.«

28. Kapitel

Dienstag, 29. Juli - Freitag, 24. Oktober

Mikael Blomkvist hatte drei Tage über ihren Ausdrucken gebrütet. Das Problem war nur, dass sich die Details pausenlos veränderten. Ein Optionsgeschäft in London. Ein Valutageschäft durch einen Bevollmächtigten in Paris. Eine Briefkastenfirma in Gibraltar. Eine plötzliche Verdoppelung des Kontostandes auf einem Konto bei der Chase Manhattan Bank in New York.

Und weitere verblüffende Fragen taten sich auf: Ein Handelsgeschäft mit 200000 Kronen auf einem unberührten Konto, das fünf Jahre zuvor in Santiago de Chile registriert worden war - eines von zirka dreißig ähnlichen Unternehmen in zwölf Ländern -, und keine Spur davon, was für Geschäften diese Firmen eigentlich nachgingen. Ruhende Geschäfte? Worauf warteten sie? Waren sie nur eine Fassade für andere Aktivitäten? Der Computer konnte keine Auskunft darüber geben, was in Wennerströms Kopf vor sich ging. Was für ihn selbstverständlich war, wurde wahrscheinlich niemals in Form eines elektronischen Dokuments festgehalten.

Salander war überzeugt, dass die meisten dieser Fragen unbeantwortet bleiben würden. Sie konnte die Botschaften lesen, aber ohne den passenden Schlüssel konnte sie sie nicht deuten. Wennerströms Imperium ähnelte einer Zwiebel, deren Haut man Schicht für Schicht abzog - ein Labyrinth von Firmen mit undurchsichtigen Eigentumsverhältnissen. Unternehmen, Konten, Fonds, Wertpapiere. Sie stellten fest, dass keiner - nicht einmal Wennerström selbst - einen völligen Überblick über dieses Labyrinth haben konnte. Wennerströms Imperium führte ein Eigenleben.

Es gab allerdings ein Muster oder zumindest die Andeutung eines Musters. Alle Firmen schienen sich quasi gegenseitig zu besitzen. Das Wennerström-Imperium konnte man auf das irrwitzige Spektrum zwischen 100 und 400 Millionen Kronen schätzen. Je nachdem, wen man fragte und wie man rechnete. Aber wenn die Firmen ihr Vermögen gegenseitig besitzen - was sind diese Firmen dann in Wirklichkeit wert?

Als sie diese Fragen stellte, sah Mikael Blomkvist sie mit gequältem Gesichtsausdruck an und widmete sich wieder der Aufgabe, sich eine Übersicht über die Firmenguthaben zu verschaffen.

Sie hatten die Hedeby-Insel früh am Morgen in aller Eile verlassen, nachdem Lisbeth die Bombe hatte platzen lassen, die von da an jede wache Minute in Mikael Blomkvists Leben beanspruchte. Sie waren direkt zu Lisbeths Wohnung gefahren und hatten zwei Tage und zwei Nächte vor ihrem Computer verbracht. Sie führte ihn durch das Wennerströmsche Universum. Er hatte viele Fragen; eine davon stellte er aus reiner Neugier.

»Lisbeth, wie ist das möglich, dass du Wennerströms Computer so perfekt überwachst?«

»Eine kleine Erfindung meines Kollegen Plague. Wennerström arbeitet an einem IBM-Computer, sowohl zu Hause als auch im Büro. Das heißt, alle Informationen befinden sich auf einer einzigen Festplatte. Zu Hause benutzt er eine Breitbandverbindung. Plague hat eine Art Manschette erfunden, die man um dieses Netzwerkkabel schlingt. Die teste ich für ihn, und alles, was Wennerström zu sehen kriegt, wird auch von der Manschette gescannt, die die Informationen dann zu irgendeinem Server weiterschickt.«

»Hat er denn keine Firewall?«

Lisbeth lächelte.

»Doch, er hat eine Firewall. Aber der Witz ist, dass die Manschette quasi selbst wie eine Firewall funktioniert. Es dauert eine Weile, bis man sich so weit in einen Computer gehackt hat. Die Signale, die direkt zu Wennerströms Computer fließen, filtern wir ganz einfach, bevor sie durch seine Firewall gegangen sind. Angenommen, er bekommt eine E-Mail: Die geht dann zuerst zu Plagues Manschette und kann von uns gelesen werden, bevor sie seine Firewall passiert. Aber das Raffinierte daran ist, die Mail wird gepatched, und ein paar Byte Quellcode werden hinzugefügt. Jedes Mal, wenn er sich etwas auf seinen Computer runterlädt, wird das wiederholt. Bilder sind noch besser. Er surft furchtbar viel im Internet. Jedes Mal, wenn er ein Pornofoto anschaut oder eine neue Homepage öffnet, bekommen wir ein paar neue Zeilen Quellcode. Nach einer Weile, ein paar Stunden oder Tagen - je nachdem, wie viel er den Computer benutzt -, hat Wennerström ein ganzes Programm von ungefähr drei Megabyte Umfang runtergeladen, bei dem ein Bit zum nächsten Bit kommt.«

»Und?«

»Wenn die letzten Bits an ihrem Platz sind, wird der Trojaner, also dieses versteckte Programm, in seinen Browser integriert. Für ihn sieht das so aus, als würde sich sein Computer aufhängen, und er müsste alles noch mal neu starten. Beim Neustart installiert sich dann ein ganz neues Programm. Wennerström verwendet den Microsoft Explorer. Das nächste Mal, wenn er den Explorer startet, startet er in Wirklichkeit ein ganz anderes Programm, das unsichtbar irgendwo auf seinem Desktop liegt. Es sieht aus wie ein Explorer, es funktioniert wie ein Explorer, aber es macht auch noch eine ganze Menge anderer Sachen. Zunächst einmal bemächtigt es sich seiner Firewall, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass es für Wennerström so aussieht, als würde alles funktionieren. Dann beginnt es den Computer zu scannen, und jedes Mal, wenn er beim Surfen auf die Maus klickt, verschickt es Informationen. Nach einer Weile - auch da kommt es darauf an, wie viel er im Netz ist - haben wir ein komplettes Spiegelbild vom Inhalt seines Computers auf einer Festplatte unseres Servers. Und dann ist der Zeitpunkt für den HT gekommen.«

»HT?«

»Sorry. Plague nennt das immer HT. Hostile Takeover, feindliche Übernahme.«

»Aha.«

»Jetzt kommt was ganz Raffiniertes. Wenn die ganze Aktion abgeschlossen ist, hat Wennerström zwei komplette Festplatten, eine auf seiner eigenen Kiste, eine auf unserem Server. Das nächste Mal, wenn er seinen Computer startet, startet er eigentlich sein Computer-Spiegelbild. Er arbeitet nicht mehr auf seinem eigenen Computer, sondern auf unserem Server. Sein Computer wird einen Tick langsamer, aber das ist kaum merkbar. Und wenn ich mit dem Server verbunden bin, dann kann ich seinen Computer live anzapfen. Wann immer Wennerström eine Taste drückt, kann ich das auf meinem Bildschirm mitverfolgen.«

»Ich nehme mal an, dieser Kumpel von dir ist auch ein Hacker.«

»Das war der, der auch die Abhöraktion in London organisiert hat. Er ist sozial ein bisschen inkompetent und trifft sich nie mit Menschen, aber im Netz ist er eine echte Legende.«

»Okay«, sagte Mikael und lächelte sie resigniert an. »Frage Nummer zwei: Warum hast du mir nicht früher von Wennerström erzählt?«

»Du hast mich ja nie gefragt.«

»Mal angenommen, ich wäre dir nie begegnet, dann hättest du dieses Wissen über Wennerströms verbrecherische Machenschaften für dich behalten, während Millennium in Konkurs gegangen wäre, stimmt’s?«

»Niemand hat mich gebeten, Wennerström zu überführen«, gab Lisbeth in altklugem Ton zurück.

»Und wenn dich jemand gebeten hätte?«

»Ich habe es doch jetzt erzählt«, antwortete sie defensiv.

Mikael ließ das Thema fallen.

Der Inhalt von Wennerströms Computer nahm Mikael völlig gefangen. Lisbeth hatte sämtliche Dateien seiner Festplatte auf ungefähr zehn CDs gebrannt - knapp fünf Gigabyte - und kam sich vor, als wäre sie mehr oder weniger in Mikaels Wohnung mit eingezogen. Geduldig wartete sie und beantwortete all seine Fragen.

»Ich verstehe einfach nicht, wie er so unglaublich blöd sein kann, das ganze Material zu seinen schmutzigen Machenschaften auf einer Festplatte zu sammeln«, wunderte sich Mikael. »Wenn das irgendwann bei der Polizei landet …«

»Die Leute denken da nicht rational. Er kann sich vermutlich nicht vorstellen, dass die Polizei jemals seinen Computer beschlagnahmen könnte.«

»Er muss doch Sicherheitsberater haben, die ihm sagen, was er beim Umgang mit seinem Computer beachten muss. Da ist Material drauf, das geht bis 1993 zurück.«

»Der Computer ist ziemlich neu. Er wurde vor einem Jahr hergestellt, aber er scheint seine gesamte alte Korrespondenz und Ähnliches auf seine Festplatte kopiert zu haben, anstatt das Ganze auf CDs zu brennen. Doch er benutzt auf jeden Fall ein Verschlüsselungsprogramm.«

»Das ihm nicht viel nutzt, wenn du in seinem Computer bist und jedes Passwort mitlesen kannst, das er eingibt.«

Nach vier Tagen rief plötzlich Christer Malm auf Mikaels Handy an und weckte ihn um drei Uhr nachts.

»Henry Cortez war heute mit einer Freundin in der Kneipe.«

»Aha«, antwortete Mikael schlaftrunken.

»Auf dem Heimweg sind sie noch in einer anderen Kneipe bei Centralen gelandet.«

»Kein guter Ort, um jemand zu verführen.«

»Hör zu. Janne Dahlman hat Urlaub. Cortez hat ihn plötzlich mit einem anderen Mann an einem Tisch entdeckt.«

»Ja und?«

»Henry hat ihn wiedererkannt - es war auch ein Journalist. Krister Söder.«

»Der Name kommt mir bekannt vor, aber …«

»Er arbeitet beim Wirtschaftsmagazin Monopol, das der Wennerström-Gruppe gehört.«

Mikael setzte sich im Bett auf und überlegte.

»Bist du noch dran?«

»Ja, ich bin noch dran. Das muss nichts heißen. Söder ist ein ganz normaler Journalist und kann auch ein alter Bekannter von Dahlman sein.«

»Dann bin ich eben paranoid. Vor drei Monaten hat Millennium eine Reportage von einem Freelancer eingekauft. Eine Woche bevor wir sie veröffentlichen wollten, brachte Söder eine fast identische Enthüllungsstory. Es war dieselbe Geschichte - ein Handyhersteller hat einen Bericht unterdrückt, in dem aufgedeckt wurde, dass er ein fehlerhaftes Teil verwendet, das einen Kurzschluss verursachen kann.«

»So was kann doch immer mal vorkommen. Hast du mit Erika gesprochen?«

»Nein, die ist noch im Urlaub und kommt erst nächste Woche zurück.«

»Unternimm nichts. Ich ruf dich später zurück«, sagte Mikael und schaltete sein Handy aus.

»Probleme?«, fragte Lisbeth.

»Millennium«, sagte Mikael. »Ich muss mal kurz vorbeischauen. Hast du Lust mitzukommen?«

Es war vier Uhr morgens, die Redaktion menschenleer. Lisbeth brauchte ungefähr drei Minuten, um das Passwort von Janne Dahlmans Computer zu knacken und weitere zwei Minuten, um den gesamten Inhalt auf Mikaels iBook zu überspielen.

Der Großteil der Mails befand sich allerdings in Dahlmans eigenem Laptop, auf den sie keinen Zugriff hatten. Aber über den Computer an seinem Arbeitsplatz konnte Lisbeth feststellen, dass Dahlman außer seiner »millennium.se«-Mailadresse noch einen privaten Account bei Hotmail hatte. Sie brauchte sechs Minuten, um das Hotmailkonto zu knacken und seine Korrespondenz des letzten halben Jahres herunterzuladen. Fünf Minuten später hatte Mikael genügend Belege dafür, dass Janne Dahlman interne Informationen über die Situation bei Millennium nach außen gegeben und den Redakteur von Monopol über geplante Reportagen auf dem Laufenden gehalten hatte. Diese Spionage war mindestens seit dem letzten Herbst im Gange.

Sie schalteten die Computer wieder aus, gingen zurück in Mikaels Wohnung und schliefen ein paar Stunden. Am nächsten Morgen um zehn Uhr rief er Christer Malm an.

»Ich habe Beweise, dass Dahlman für Wennerström arbeitet.«

»Hab ich mir’s doch gedacht. Okay, dann werf ich das verdammte Schwein heute endgültig raus.«

»Tu’s nicht. Tu überhaupt nichts.«

»Nichts?«

»Vertrau mir, Christer. Wie lange ist Dahlman noch in Urlaub?«

»Am Montag fängt er wieder an.«

»Wie viele sind heute in der Redaktion?«

»Tja, hier ist es halb leer.«

»Kannst du für zwei Uhr ein Meeting einberufen? Sag nicht, worum es geht. Ich komme dann zu euch.«

Sechs Leute saßen vor Mikael am Konferenztisch. Christer Malm sah müde aus, Henry Cortez hingegen so frisch verliebt, wie es nur Vierundzwanzigjährige sein können. Monika Nilsson wirkte gespannt. Christer Malm hatte mit keinem Wort angedeutet, worum es bei diesem Meeting gehen würde, aber sie war lange genug dabei, um zu wissen, dass hier etwas Ungewöhnliches im Busch war. Außerdem passte es ihr nicht, dass man sie aus dem information loop herausgehalten hatte. Die Einzige, die aussah wie immer, war die Teilzeitangestellte Ingela Oskarsson, die sich zwei Tage pro Woche um die administrativen Aufgaben, das Abonnentenregister und Ähnliches kümmerte. Sie wirkte nicht mehr sonderlich gestresst, seit sie vor zwei Jahren Mutter geworden war. Die andere Teilzeitkraft war die freiberufliche Journalistin Lotta Karim, die einen ähnlichen Vertrag wie Henry Cortez hatte und gerade aus dem Urlaub gekommen war. Christer war es auch gelungen, Sonny Magnusson aus seinem Urlaub in die Redaktion zu bestellen.

Mikael begrüßte sie alle und bat erst einmal um Verzeihung, dass er während des ganzes Jahres derart durch Abwesenheit geglänzt hatte.

»Was wir heute mit euch besprechen wollen, konnten Christer und ich noch nicht mit Erika diskutieren, aber ich versichere euch, dass ich mit ihr reden werde. Heute müssen wir über die Zukunft von Millennium entscheiden.«

Er machte eine Pause und ließ seine Worte wirken. Keiner stellte Fragen.

»Das letzte Jahr war sehr schwierig. Ich wundere mich, dass keiner von euch auf die Idee gekommen ist, sich einen anderen Job zu suchen. Ich muss wohl annehmen, dass ihr entweder total verrückt seid oder außergewöhnlich loyal oder womöglich sogar gerne bei dieser Zeitschrift arbeitet. Deswegen möchte ich jetzt auch alle Karten auf den Tisch legen und euch ein letztes Mal um euren Einsatz bitten.«

»Der letzte Einsatz«, wiederholte Monika Nilsson. »Das klingt ja, als wolltest du das Magazin aufgeben?«

»Genau«, antwortete Mikael. »Nach ihrem Urlaub wird Erika ein düsteres Redaktionstreffen einberufen und euch mitteilen, dass Millennium zu Weihnachten eingestellt wird und ihr alle gekündigt seid.«

Nun machte sich eine gewisse Unruhe im Raum breit. Sogar Christer Malm glaubte eine Sekunde lang, Mikael könnte es ernst meinen. Doch dann fiel allen sein verschmitztes Lächeln auf.

»Ich möchte von euch, dass ihr im Herbst ein doppeltes Spiel spielt. Denn es verhält sich leider so, dass unser geschätzter Redaktionsassistent Janne Dahlman noch einen Nebenjob hat - als Informant für Hans-Erik Wennerström. Der Feind ist also ständig über die Geschehnisse in der Redaktion im Bilde, und das erklärt auch einige Rückschläge, die wir letztes Jahr erlitten haben. Das traf ja nicht zuletzt dich, Sonny, als ein Teil unserer Anzeigenkunden, die uns gegenüber positiv eingestellt schienen, sich plötzlich zurückzogen.«

»Verdammt, hab ich’s mir doch gleich gedacht«, sagte Monika Nilsson.

Janne Dahlman war in der Redaktion nie allzu beliebt gewesen, und Mikaels Eröffnung schien niemand sonderlich zu schockieren. Mikael unterbrach das allgemeine Gemurmel.

»Ich erzähle euch das alles, weil ich absolutes Vertrauen in euch setze. Ich habe mehrere Jahre mit euch zusammengearbeitet und weiß, dass ihr ehrliche, vernünftige Leute seid. Darum weiß ich auch, dass ihr bei der Geschichte mitspielen werdet, die ich diesen Herbst vorhabe. Es ist außerordentlich wichtig, Wennerström glauben zu lassen, dass Millennium kurz vor dem Ruin steht. Und darin besteht eure Aufgabe.«

»Wie stehen wir denn eigentlich da?«, fragte Henry Cortez.

»Es ist so: Ich weiß, dass es für alle eine stressige Zeit war, und wir sind auch noch nicht ganz über den Berg. Wenn man das Ganze mit gesundem Menschenverstand betrachtet, dann müsste Millennium schon mit einem Fuß im Grab stehen. Ich gebe euch mein Wort, so weit wird es nicht kommen. Millennium ist heute stärker als vor einem Jahr. Nach diesem Treffen werde ich noch einmal für zwei Monate verschwinden. Ende Oktober bin ich wieder da. Und dann werden wir Hans-Erik Wennerström mal ein bisschen die Flügel stutzen.«

»Wie soll das gehen?«, fragte Cortez.

»Sorry. Diese Information kann ich euch nicht geben. Ich werde eine neue Story über Wennerström schreiben. Aber diesmal machen wir es richtig. Und dann bereiten wir die Weihnachtsfeier in der Redaktion vor. Ich denke da an gebratenen Wennerström als Vorspeise und diverse Kritiker als Nachtisch.«

Plötzlich herrschte eine ausgelassene Stimmung. Mikael fragte sich, wie er reagieren würde, wenn er sich selbst reden hörte. Misstrauisch? Ja, wahrscheinlich. Aber anscheinend besaß er noch ein gewisses Vertrauenskapital bei der kleinen Angestelltenschar. Er hob die Hand, um sich Gehör zu verschaffen.

»Damit der Plan gelingt, muss Wennerström unbedingt glauben, dass Millennium demnächst zusammenbricht. Ich will nicht, dass er sich irgendeine Gegenkampagne ausdenken oder in letzter Minute Beweise verschwinden lassen kann. Wir legen jetzt also erst mal ein Drehbuch für diesen Herbst fest. Erstens: Es ist wichtig, dass nichts von dem, worüber wir heute gesprochen haben, zu Papier gebracht oder gemailt oder mit irgendeiner Person außerhalb dieses Zimmers besprochen wird. Wir wissen nicht, inwieweit Dahlman unsere Computer überwacht. Wie ich erfahren habe, ist es wohl ziemlich einfach, die Mails aller Mitarbeiter einzusehen. Die ganze Geschichte ziehen wir also mündlich durch. Wenn ihr in den nächsten Wochen darüber reden wollt, dann müsst ihr euch an Christer wenden und euch bei ihm zu Hause treffen. So diskret wie nur möglich.«

Mikael schrieb »Keine E-Mails!« an die Tafel.

»Zweitens werdet ihr euch verfeinden. Ich will, dass ihr über mich herzieht, wann immer Janne Dahlman in der Nähe ist. Übertreibt nicht. Lasst einfach euren niederen Instinkten freien Lauf. Christer, ich möchte, dass Erika und du ein ernstes Zerwürfnis habt. Lass deine Fantasie spielen und mach ein großes Geheimnis daraus, worum es dabei eigentlich geht, aber es muss so aussehen, als würde das Magazin an allen Ecken und Enden auseinanderbrechen und als wäre hier plötzlich jeder gegen jeden.«

Er schrieb »Kleinkrieg« an die Tafel.

»Drittens: Sobald Erika zurückkommt, wirst du sie ins Bild setzen, Christer. Ihre Aufgabe wird sein, Janne Dahlman vorzuspielen, dass unsere Vereinbarung mit dem Vanger-Konzern - die uns derzeit ja noch über Wasser hält - den Bach runtergeht, weil Henrik Vanger schwer erkrankt und Martin Vanger verstorben ist.«

Er schrieb das Wort »Fehlinformationen«.

»Aber die Vereinbarung steht doch wohl noch, oder?«, fragte Monika Nilsson.

»Eines könnt ihr mir glauben«, sagte Mikael grimmig. »Der Vanger-Konzern wird eine ganze Menge dafür tun, dass Millennium überlebt. In ein paar Wochen, sagen wir mal Ende August, wird Erika ein Meeting einberufen und Kündigungen in Aussicht stellen. Euch muss klar sein, dass das nur ein Fake ist. Der Einzige, der von hier verschwinden wird, ist Janne Dahlman. Aber spielt das Spiel die ganze Zeit mit. Fangt an, darüber zu reden, dass ihr euch neue Jobs sucht. Beklagt euch, was für eine miese Referenz es doch ist, Millennium in seinem Lebenslauf zu haben. Und so weiter und so fort.«

»Und du glaubst, dieses Spiel wird Millennium retten?«, fragte Sonny Magnusson.

»Ich weiß, dass es Millennium retten wird. Sonny, ich will, dass du einen gefälschten Monatsbericht zusammenstellst, der belegt, dass der Anzeigenmarkt umgeschlagen ist und die Zahl der Abonnenten dramatisch sinkt.«

»Sollen wir dieses Spiel nur redaktionsintern betreiben oder auch anderen Medien gegenüber?«, fragte Monika.

»Haltet das Ganze redaktionsintern. Falls die Nachricht irgendwo anders auftaucht, dann wissen wir, wer sie weitergetragen hat. Und wenn ihr in ein paar Monaten darauf angesprochen werdet, dann könnt ihr einfach antworten, es seien nur böswillige Gerüchte gewesen. Das Beste, was überhaupt passieren könnte, wäre, dass Dahlman loszieht und anderen Massenmedien entsprechende Tipps gibt. Dann steht er hinterher da wie der letzte Idiot. Wenn ihr Dahlman den einen oder anderen Tipp für eine glaubwürdige, aber vollkommen hirnrissige Story geben könnt, dann ist das völlig in Ordnung.«

Zwei Stunden lang heckten sie ein Szenario aus und verteilten die Rollen.

Nach dem Treffen ging Mikael mit Christer Malm bei Java an der Horngata Kaffee trinken.

»Es ist wahnsinnig wichtig, dass du Erika schon in Arlanda abfängst und sie ins Bild setzt, Christer. Du musst sie davon überzeugen, das Spiel mitzuspielen. Wie ich sie kenne, wird sie sich Dahlman sofort vorknöpfen wollen, aber das darf auf keinen Fall passieren. Ich will, dass Dahlman nicht den geringsten Verdacht hat, damit er nicht noch Beweismaterial verschwinden lassen kann.«

»Okay.«

»Und sieh zu, dass Erika keine E-Mails schreibt, bevor sie das Verschlüsselungsprogramm PGP installiert hat und damit umgehen kann. Über Dahlman kann Wennerström wahrscheinlich alles lesen, was wir uns gegenseitig mailen. Ich will, dass du und alle anderen PGP auf euren Rechnern installiert. Lass es ganz natürlich aussehen. Du bekommst den Namen eines Beraters und lässt ihn das Netzwerk und die Computer in der Redaktion überprüfen. Lass ihn die Programme installieren, als wäre das eine ganz normale Sicherheitsvorkehrung.«

Christer Malm sah verlegen aus.

»Ich habe dir immer vertraut, Mikael. Soll das bedeuten, dass du mir nicht mehr vertraust?«

Mikael lachte.

»Nein. Aber momentan gehe ich einer kriminellen Aktivität nach, die mir zwei Jahre Gefängnis einbringen kann. Meine Recherchemethoden sind sozusagen ein bisschen zweifelhaft … Ich spiele mit ebenso ›fairen‹ Methoden wie Wennerström, und ich will nicht, dass du oder Erika oder jemand sonst von Millennium da mit hineingezogen wird.«

»Du beherrschst die Kunst, mich nervös zu machen.«

»Beruhig dich. Und sag Erika, die Story wird groß. Richtig groß.«

»Erika wird wissen wollen, was du da treibst.«

Mikael überlegte kurz. Dann lächelte er.

»Richte ihr aus, als sie im Frühjahr hinter meinem Rücken den Vertrag mit Henrik Vanger aufgesetzt hat, hat sie mir deutlich gemacht, dass ich ab jetzt keinen Einfluss mehr auf die Geschäftspolitik von Millennium habe. Das heißt dann ja wohl auch, dass ich sie nicht mehr informieren muss. Aber ich verspreche, wenn sie sich gut benimmt, dann hat sie das Vorkaufsrecht auf meine Story.«

Christer Malm musste plötzlich loslachen.

»Sie wird rasen vor Wut«, stellte er fröhlich fest.

Mikael musste sich eingestehen, dass er nicht ganz ehrlich zu Christer gewesen war. Er ging Erika bewusst aus dem Weg. Normalerweise hätte er direkt Kontakt mit ihr aufnehmen und sie einweihen müssen. Aber er wollte nicht mit ihr reden. Dutzende von Malen hatte er das Handy in die Hand genommen, um sie anzurufen. Und jedes Mal hatte er es sich wieder anders überlegt.

Er wusste, wo das Problem lag. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.

Die Vertuschung, an der er sich in Hedestad beteiligte, war vom journalistischen Standpunkt aus einfach unverzeihlich. Er hatte keine Ahnung, wie er es ihr erklären sollte, ohne zu lügen, und wenn es etwas auf der Welt gab, das er niemals tun wollte, dann war es Erika anzulügen.

Und vor allem konnte er sich damit nicht auseinandersetzen, solange er mit Wennerström beschäftigt war. Also schob er ihr Treffen auf, schaltete sein Handy aus und verzichtete darauf, mit ihr zu reden. Er wusste jedoch, dass das nur ein Aufschub war.

Unmittelbar nach der Redaktionssitzung zog Mikael in sein Sommerhäuschen in Sandhamn, wo er seit einem Jahr nicht mehr gewesen war. In seinem Gepäck befanden sich zwei Kartons mit ausgedrucktem Material und die CDs, die Lisbeth ihm mitgegeben hatte. Er kaufte Lebensmittel auf Vorrat, schloss sich ein, klappte sein iBook auf und begann zu schreiben. Jeden Tag machte er einen kurzen Spaziergang, holte Zeitungen und kaufte ein. Im Gästehafen lagen immer noch lauter Segelboote, und all die Jugendlichen, die sich Papis Boot ausgeliehen hatten, hockten wie immer in der Taucherbar und betranken sich sinnlos. Mikael nahm seine Umwelt kaum wahr. Er saß praktisch von morgens, wenn er die Augen aufschlug, bis abends, wenn er vor Erschöpfung fast umfiel, vor seinem Computer.

Verschlüsselte E-Mail Chefredakteurin an den verantwortlichen Herausgeber :

Mikael, ich muss wissen, was hier läuft - Herrgott noch mal, ich komme aus dem Urlaub nach Hause ins totale Chaos. Die Neuigkeit über Janne Dahlman und dieses doppelte Spiel, das du dir ausgedacht hast. Martin Vanger ist tot. Harriet lebt. Was ist da oben in Hedeby eigentlich los? Wo bist du? Gibt es irgendeine Story? Warum gehst du nicht ans Handy? E. P. S.: Die Stichelei wegen letztem Frühjahr, die Christer mir genüsslich übermittelt hat, habe ich verstanden. Das zahle ich dir heim. Bist du im Ernst sauer auf mich?

Von an :

Hallo, Ricky. Nein, um Gottes willen, ich bin nicht sauer. Entschuldige, dass ich dich nicht auf dem Laufenden gehalten habe, aber in den letzten Monaten war mein Leben eine Achterbahn. Ich werde dir alles erzählen, wenn wir uns wiedersehen, aber nicht via E-Mail. Ich bin momentan in Sandhamn. Es gibt eine Story, aber Harriet Vanger ist es nicht. Ich werde die nächste Zeit hier nicht wegkommen. Danach ist aber alles vorbei. Vertrau mir. Gruß und Kuss, M.

Von an :

Sandhamn? Ich komme dich sofort besuchen.

Von an :

Ich will im Moment keinen Besuch. Warte ein paar Wochen, zumindest bis ich den Text so weit in Ordnung habe. Außerdem erwarte ich noch anderen Besuch.

Von an :

Dann werde ich selbstverständlich nicht kommen. Aber ich muss wissen, was hier läuft. Henrik Vanger ist wieder Geschäftsführer und geht nicht ans Telefon, wenn ich anrufe. Wenn die Vereinbarung mit Vanger irgendwie geplatzt ist, dann muss ich das wissen. Im Moment weiß ich gar nicht, was ich tun soll. Ich muss wissen, ob das Magazin überlebt oder nicht. Ricky

P. S.: Wer ist sie?

Von an :

Hallo, Erika. Erstens: Du kannst völlig beruhigt sein, Henrik wird sich nicht zurückziehen. Aber er hatte einen schweren Herzanfall und arbeitet momentan wenig. Ich schätze, dass das Chaos nach Martins Tod und Harriets Wiederauferstehung seine ganze Kraft beansprucht. Zweitens: Millennium wird überleben. Ich arbeite derzeit an der wichtigsten Reportage unseres Lebens, und wenn wir damit an die Öffentlichkeit gehen, dann vernichten wir Wennerström ein für alle Mal. Drittens: Mein Leben steht gerade Kopf, aber du und ich und Millennium - da hat sich nichts verändert. Vertrau mir. Küsschen. Mikael.

P. S.: Ich werde Euch einander vorstellen, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Sie wird dir einen Floh ins Ohr setzen.

Als Lisbeth ihn in Sandhamn besuchen kam, traf sie einen unrasierten und hohläugigen Mikael an, der sie nach flüchtiger Umarmung bat, Kaffeewasser aufzusetzen und zu warten, bis er seinen Text abgeschlossen hatte.

Lisbeth sah sich in der Hütte um und stellte fast sofort fest, dass sie sich hier wohlfühlte. Das Häuschen stand direkt am Wasser, zwei Meter von der Eingangstür war der Bootssteg. Es war nur sechs mal fünf Meter groß, aber so hoch, dass man über eine Wendeltreppe zum Schlafgeschoss hinaufsteigen konnte. Sie konnte aufrecht stehen, Mikael musste den Kopf einziehen. Als sie das Bett inspizierte, stellte sie fest, dass es breit genug für sie beide war.

Die Hütte hatte ein großes Fenster zum Meer hin, direkt neben der Eingangstür. Dort stand Mikaels Küchentisch, der gleichzeitig als Schreibtisch diente. An der Wand neben dem Tisch stand ein Regal mit einem CD-Player, einer großen Elvis-Presley-Sammlung und ein bisschen Hardrock - in puncto Musik vielleicht nicht gerade Lisbeths erste Wahl.

In einer Ecke stand ein Kachelofen mit Glasfront. Ansonsten bestand die Möblierung nur aus einem großen Kleiderschrank, der an der Wand festgemacht war, und einer Spüle, die man zur Badezimmernische umfunktionieren konnte, indem man den Duschvorhang rundherum zuzog. Dort gab es ein weiteres Fenster. Die ganze Hütte war wie eine Kajüte eingerichtet, in der jeder Stauraum clever genutzt wurde.

In ihrem Untersuchungsbericht zu Mikael Blomkvist hatte sie festgehalten, dass er die Hütte selbst renoviert und die Einrichtung eigenhändig getischlert hatte - das hatte sie aus der E-Mail eines seiner Bekannten geschlossen, der von seinem handwerklichen Geschick sehr beeindruckt war. Alles war sauber, bescheiden und einfach, fast schon spartanisch. Sie konnte verstehen, warum er sein Sommerhäuschen in Sandhamn so liebte.

Zwei Stunden später war es ihr endlich gelungen, Mikael so weit abzulenken, dass er frustriert den Computer ausschaltete, sich rasierte und ihr eine Führung durch Sandhamn zuteil werden ließ. Das Wetter war regnerisch und windig, und wenig später landeten sie in der Kneipe. Mikael erzählte, was er bis jetzt geschrieben hatte, und Lisbeth gab ihm eine CD mit Updates von Wennerströms Computer.

Zu Hause zerrte sie ihn ins Schlafzimmer, wo es ihr gelang, ihn auszuziehen und noch mehr abzulenken. Sie wachte spät nachts davon auf, dass sie allein im Bett war, spähte hinunter und sah ihn über seinen Computer gebeugt. Sie stützte den Kopf auf die Hand und betrachtete ihn eine ganze Weile. Er wirkte glücklich, und sie selbst fühlte sich plötzlich auch seltsam zufrieden mit ihrem Dasein.

Lisbeth blieb nur fünf Tage, bevor sie nach Stockholm zurückfuhr, um einen Job zu erledigen, bei dem Dragan Armanskij sie verzweifelt um ihre Hilfe gebeten hatte. Sie verwendete elf Arbeitstage auf diesen Auftrag, gab ihren Bericht ab und fuhr wieder hinaus nach Sandhamn. Der Papierstapel mit den ausgedruckten Seiten neben Mikaels iBook war weiter angewachsen.

Dieses Mal blieb sie vier Wochen. Sie entwickelten eine richtige Alltagsroutine. Sie standen um acht Uhr auf, frühstückten und beschäftigten sich ein Weilchen miteinander. Danach arbeitete Mikael intensiv bis zum Nachmittag durch. Dann gingen sie spazieren und unterhielten sich. Lisbeth verbrachte den Großteil des Tages im Bett, wo sie entweder Bücher las oder mit Mikaels ADSL-Modem im Netz surfte. Sie vermied es, Mikael tagsüber in seiner Konzentration zu stören. Sie aßen ziemlich spät zu Abend, und erst dann ergriff Lisbeth die Initiative und schleifte ihn ins Bett, wo sie dafür sorgte, dass er ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.

Für Lisbeth fühlte es sich an wie der erste Urlaub ihres Lebens. Die Harmonie war perfekt.

VERSCHLÜSSELTE E-MAIL VON

an :

Hallo, M. Jetzt ist es offiziell. Janne Dahlman hat gekündigt und fängt in drei Wochen bei Monopol an. Habe deinem Wunsch entsprechend nichts gesagt, und alle laufen hier rum und spielen dieses dämliche Spielchen. E.

P. S.: Immerhin scheint es ihnen Spaß zu machen. Henry und Lotta hatten vor ein paar Tagen einen Streit und haben sich mit Gegenständen beworfen. Sie haben Dahlman derart veräppelt, dass mir unbegreiflich ist, wie er das noch für bare Münze nehmen konnte.

Von an :

Wünsch ihm alles Gute und lass ihn ziehen. Aber schließ vorher das Tafelsilber weg. Gruß und Kuss, M.

Von an :

Ich stehe ohne Assistent da, zwei Wochen bevor wir in Druck gehen wollen, und mein Enthüllungsreporter sitzt in Sandhamn und weigert sich, mit mir zu sprechen. Micke, ich bin völlig fertig. Kannst du nicht herkommen? Erika

Von an :

Halt noch ein paar Wochen aus. Und fang schon mal an, die Dezembernummer zu planen, die wird anders als jedes Heft, das wir bis jetzt gemacht haben. Mein Artikel wird sich auf ungefähr 40 Seiten belaufen. M.

Von an :

40 Seiten!!! Hast du sie noch alle?

Von an :

Ich glaube, so was nennt sich Themenheft. Ich brauche noch drei Wochen. Kannst du Folgendes in die Wege leiten: 1) einen Verlag mit dem Namen Millennium registrieren lassen, 2) uns eine ISBN-Nummer beschaffen, 3) Christer bitten, dass er ein hübsches Logo für unseren neuen Buchverlag entwirft, 4) eine gute Druckerei auftreiben, die schnell und billig ein Taschenbuch drucken kann. Außerdem brauchen wir noch Kapital, um unser erstes Buch zu drucken. Küsschen, Mikael

Von an :

Themenheft. Buchverlag. Geld. Yes, master. Kann ich sonst noch was für dich tun? Nackt auf dem Marktplatz tanzen? E.

P. S.: Ich glaube, ich weiß, was du im Schilde führst. Aber was mach ich mit Dahlman?

Von an :

Mach gar nichts mit Dahlman. Lass ihn gehen. Monopol wird nicht mehr lange überleben. Kauf für dieses Heft ein paar mehr Freelance-Artikel ein. Und stell doch einfach einen neuen Assistenten ein, meine Güte. M.

P. S.: Ich würde dich zu gerne nackt auf dem Marktplatz sehen. M.

Von an :

… - in your dreams. Aber wir haben unsere Mitarbeiter immer gemeinsam eingestellt. Ricky

Von an :

Und wir waren uns immer einig, wen wir einstellen wollten. Das wird auch dieses Mal so sein, egal, für wen du dich entscheidest. Wir werden Wennerström ordentlich eins verpassen. Das ist die ganze Story. Lass mich die Sache einfach nur in Ruhe abschließen. M.

Anfang Oktober entdeckte Lisbeth Salander eine Meldung auf der Website des Hedestads-Kuriren, die sie Mikael zeigte. Isabella Vanger war nach kurzer Krankheit verstorben. Betrauert wurde sie von ihrer erst kürzlich wieder aufgetauchten Tochter Harriet Vanger.

VERSCHLÜSSELTE E-MAIL VON

an :

Hallo, Mikael,

Harriet Vanger hat mich heute in der Redaktion besucht. Sie rief mich fünf Minuten vorher an, ich war völlig unvorbereitet. Eine schöne Frau mit eleganten Kleidern und kühlem Blick.

Sie war gekommen, um mir mitzuteilen, dass sie Martin Vangers Funktion als Henriks Stellvertreter in unserem Führungsstab übernimmt. Sie war höflich und freundlich und versicherte mir, dass der Vanger-Konzern nicht vorhätte, sich aus unserer Vereinbarung zurückzuziehen - im Gegenteil, die Familie stehe voll und ganz hinter Henriks Verpflichtungen dem Magazin gegenüber. Sie bat mich, sie durch die Redaktion zu führen, und fragte mich, wie ich die Situation empfände.

Ich habe die Wahrheit gesagt. Dass ich mich fühle, als hätte ich keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Dass du mir verboten hast, dich in Sandhamn zu besuchen, und dass ich nicht weiß, woran du arbeitest, außer, dass du eben vorhast, Wennerström gehörig an den Karren zu fahren. (Ich habe einfach mal angenommen, dass ich das erzählen durfte. Immerhin sitzt sie ja in unserem Führungskreis.) Sie hob eine Augenbraue und fragte lächelnd, ob ich daran zweifelte, dass du Erfolg haben würdest. Was soll man darauf antworten? Ich antwortete, ich wäre bedeutend ruhiger, wenn ich wüsste, was hier eigentlich läuft. Natürlich vertraue ich dir. Aber du machst mich wirklich wahnsinnig. Ich fragte sie, ob sie wüsste, was du gerade treibst. Sie verneinte, meinte aber, ihr Eindruck von dir sei der eines außergewöhnlich entschlossenen Querdenkers. (So hat sie sich ausgedrückt.)

Außerdem sagte ich, es müsse ja wohl etwas Dramatisches in Hedestad vorgefallen sein, und ich sei ganz krank vor Neugier auf die Harriet-Vanger-Story. Kurz und gut, ich kam mir vor wie ein kleiner Idiot.

Sie antwortete mit einer Gegenfrage: Ob du mir denn tatsächlich nichts erzählt hättest? Sie wisse, dass wir ein ganz besonderes Verhältnis haben, und dass du mir die Story sicher erzählen würdest, sobald du wieder ein bisschen Zeit hast. Dann fragte sie, ob sie mir vertrauen könnte. Was sollte ich antworten? Sie sitzt in der Führungsspitze von Millennium, und du hast mir ja wirklich gar nichts an die Hand gegeben.

Dann sagte sie etwas Seltsames. Sie bat mich, weder über sie noch über dich zu hart zu urteilen. Sie behauptete, zutiefst in deiner Schuld zu stehen. Sie wünschte sich, dass auch wir Freundinnen werden. Dann versprach sie, mir die ganze Geschichte einmal zu erzählen, solltest du es nicht schaffen. Vor einer Stunde ist sie gegangen, und ich bin völlig verwirrt. Ich glaube, ich mag sie, aber ich weiß nicht, ob ich ihr vertrauen kann. Erika.

P. S.: Du fehlst mir. Ich hab das Gefühl, dass in Hedestad etwas ganz Schreckliches passiert ist. Christer hat erzählt, du hättest da so eine seltsame Narbe - Würgemale? - am Hals.

Von an :

Hallo, Ricky. Die Story von Harriet Vanger ist so entsetzlich und grauenvoll, das kannst du dir nicht vorstellen. Bemerkenswert, dass sie sie dir selbst erzählen will. Ich mag nicht einmal daran denken.

In der Zwischenzeit verbürge ich mich dafür, dass du Harriet Vanger vertrauen kannst. Sie ist mir wirklich zu tiefem Dank verpflichtet und wird niemals etwas tun, womit sie Millennium schaden könnte - glaub mir.

Werde ihre Freundin, wenn du sie magst. Lass es, wenn du sie nicht magst. Aber sie verdient Respekt. Diese Frau schleppt eine schwere Last mit sich herum, und ich hege große Sympathien für sie. M.

Am nächsten Tag bekam Mikael noch eine Mail.

Von an :

Hallo, Mikael, seit ein paar Wochen versuche ich nun schon, mich bei Ihnen zu melden, aber wie es aussieht, reicht meine Zeit einfach nie. Sie sind so schnell aus Hedeby verschwunden, dass ich mich gar nicht persönlich von Ihnen verabschieden konnte.

Seit ich nach Schweden zurückgekehrt bin, habe ich eine Zeit Schwindel erregender Eindrücke und harter Arbeit erlebt. Der Vanger-Konzern steckt im Chaos, und ich habe mit Henrik gemeinsam daran gearbeitet, die Geschäfte wieder in Ordnung zu bringen. Heute habe ich Millennium besucht, wo ich Henriks Stellvertretung übernehmen werde. Henrik hat mir ausführlich von Ihnen und der Situation des Magazins berichtet.

Ich hoffe, Sie können akzeptieren, dass ich auf diese Art und Weise wieder auftauche. Wenn Sie mich (oder irgendjemand sonst aus meiner Familie) nicht in Ihrem Führungsstab haben wollen, kann ich Ihre Gefühle gut verstehen, aber ich werde alles tun, um Millennium zu helfen. Ich fühle mich tief in Ihrer Schuld und versichere Ihnen, meine Absichten werden in diesem Zusammenhang immer die besten sein.

Ich habe Ihre Freundin Erika Berger kennengelernt. Ich weiß nicht recht, was sie von mir hält, und ich habe mich gewundert, dass Sie ihr nicht erzählt haben, was alles geschehen ist.

Ich will sehr gerne Ihre Freundin bleiben. Falls Sie überhaupt noch jemand aus der Familie Vanger ertragen können. Einen herzlichen Gruß, Harriet

Von an :

Hallo, Harriet. Ich bin überstürzt aus Hedeby verschwunden und sitze nun an der Geschichte, an der ich eigentlich dieses Jahr hätte arbeiten müssen. Ich werde Sie rechtzeitig informieren, bevor der Artikel in Druck geht, aber ich wage jetzt schon zu sagen, dass die Probleme des vergangenen Jahres bald überstanden sein werden.

Ich hoffe, Erika und Sie werden Freundinnen, und ich habe selbstverständlich kein Problem damit, dass Sie im Führungskreis von Millennium auftauchen. Ich werde Erika auch alles erzählen. Aber momentan habe ich weder die Kraft noch die Zeit und will erst noch ein bisschen Distanz zu den Geschehnissen gewinnen.

Lassen Sie uns in Kontakt bleiben.

Herzlichen Gruß, Mikael

Lisbeth schenkte Mikaels Tätigkeit kein allzu großes Interesse. Sie entspannte sich und vertrieb sich die Zeit, indem sie Bücher las und im Internet surfte. Sie blickte auf, als Mikael etwas sagte, was sie nicht gleich verstand.

»Tut mir leid. Ich habe laut gedacht. Ich habe gerade gesagt, das ist ja heftig.«

»Was ist heftig?«

»Wennerström hatte eine Affäre mit einer zweiundzwanzigjährigen Kellnerin, die er geschwängert hat. Hast du seinen Schriftverkehr mit seinem Anwalt nicht gelesen?«

»Bitte, Mikael - du hast da zehn Jahre Schriftverkehr, E-Mails, Verträge, Reiseunterlagen und weiß Gott was alles auf dieser Festplatte. So fasziniert bin ich nun auch wieder nicht von Wennerström, dass ich mich auf sechs Gigabyte von diesem Blödsinn stürze. Ich habe einen Bruchteil davon gelesen, um meine Neugier zu befriedigen und festzustellen, dass er ein Verbrecher ist.«

»Okay. Er hat sie 1997 geschwängert. Als sie Geld wollte, setzte sein Rechtsanwalt jemand darauf an, sie zu einer Abtreibung zu überreden. Das sah dann so aus, dass einer seiner Handlanger sie in einer gefüllten Badewanne so lange unter Wasser drückte, bis sie endlich versprach, Wennerström in Frieden zu lassen. Und das teilt dieser Idiot von Anwalt ihm in einer Mail mit - verschlüsselt zwar, aber trotzdem … Ich würde fast sagen, mit der Intelligenz ist es bei diesem Haufen nicht allzu weit her.«

»Was ist mit dem Mädchen weiter passiert?«

»Sie hat abgetrieben. Wennerström war zufrieden.«

Lisbeth Salander schwieg ganze zehn Minuten. Ihre Augen waren plötzlich schwarz.

»Noch so ein Mann, der Frauen hasst«, murmelte sie schließlich. Mikael hörte sie nicht.

Sie griff sich die CDs und verbrachte die nächsten Tage damit, Wennerströms E-Mails und andere Dokumente sorgfältig durchzulesen. Während Mikael weiterarbeitete, saß Lisbeth auf dem Bett, ihr PowerBook auf den Knien, und dachte gründlich über Wennerströms merkwürdiges Imperium nach.

Mit einem Mal kam ihr ein seltsamer Gedanke, der sie nicht mehr losließ. Am meisten wunderte sie sich darüber, dass sie nicht schon eher darauf gekommen war.

Ende Oktober druckte Mikael eine Seite aus und schaltete den Computer schon um elf Uhr vormittags aus. Wortlos kletterte er zum Schlafloft hinauf und hielt Lisbeth einen dicken Stapel Papier hin. Dann schlief er ein. Am Abend weckte sie ihn wieder auf und brachte ihre Ansichten zu seinem Text vor.

Kurz nach zwei Uhr morgens machte Mikael eine letzte Sicherungskopie. Sie fuhren gemeinsam nach Stockholm.

Bevor sie in Stockholm ankamen, hatte Mikael noch eine heikle Frage mit Lisbeth zu klären. Er schnitt das Thema an, als sie auf dem Vaxholmsboot Kaffee aus Pappbechern tranken.

»Wir müssen uns darauf einigen, was ich Erika erzählen soll. Sie wird sich weigern, meinen Artikel zu veröffentlichen, wenn ich ihr nicht erklären kann, wie ich zu dem Material gekommen bin.«

Erika Berger. Mikaels langjährige Geliebte und Chefredakteurin. Lisbeth war ihr nie begegnet und wusste auch nicht, ob sie das überhaupt wollte. Sie war eine Art undefinierbare Störung in Lisbeths Dasein.

»Was weiß sie von mir?«

»Nichts.« Er seufzte. »Ich gehe Erika tatsächlich seit dem Sommer aus dem Weg. Ich konnte ihr nicht erzählen, was in Hedestad passiert ist, weil ich mich einfach so verflucht schäme. Sie ist ganz schön frustriert, weil ich derartig mit meinen Informationen geize. Sie weiß natürlich, dass ich in Sandhamn war und diesen Text geschrieben habe, aber sie weiß nicht, worum es geht.«

»Hmm.«

»In ein paar Stunden bekommt sie das Manuskript. Und dann wird sie mich gehörig in die Zange nehmen. Die Frage ist, was ich ihr sagen soll.«

»Was willst du sagen?«

»Ich will ihr die Wahrheit erzählen.«

Zwischen Lisbeths Augenbrauen bildete sich eine senkrechte Falte.

»Erika und ich streiten fast immer, weißt du. Das gehört quasi zu unserem Umgangston. Aber wir vertrauen einander bedingungslos. Sie ist absolut zuverlässig. Du bist eine Quelle. Sie würde eher sterben, als deine Identität preiszugeben.«

»Wie vielen Leuten wirst du es noch erzählen müssen?«

»Absolut niemandem. Das werden Erika und ich mit ins Grab nehmen. Aber ich werde ihr dein Geheimnis nicht verraten, wenn du nicht willst. Allerdings werde ich auch keine Quelle erfinden, die es gar nicht gibt.«

Lisbeth dachte darüber nach, bis sie unterhalb des Grand Hotels anlegten. Konsequenzanalyse. Schließlich erlaubte sie Mikael widerwillig, sie Erika vorzustellen. Er schaltete sein Handy ein und rief sie an.

Mikaels Anruf erreichte Erika Berger während eines Mittagessens mit Malin Eriksson, die sie vielleicht als Assistentin einstellen wollte. Malin war neunundzwanzig und hatte fünf Jahre als Springerin gearbeitet. Sie hatte noch nie einen festen Job gehabt und begann langsam den Mut zu verlieren. Die Stelle war nicht in einer Anzeige ausgeschrieben worden, vielmehr hatte Erika einen Tipp von einem alten Bekannten bei einer Wochenzeitung bekommen, der ihr Malin empfahl.

»Es wäre eine Vertretung für drei Monate«, sagte Erika. »Aber wenn es mit uns klappt, dann könnte was Festes draus werden.«

»Ich habe das Gerücht gehört, dass Millennium bald eingestellt wird.«

Erika Berger lächelte.

»Sie sollten diesem Gerücht keinen Glauben schenken.«

»Dieser Dahlman, der die Stelle vorher hatte …« Malin Eriksson zögerte. »Er geht zu einer Zeitung, die Hans-Erik Wennerström gehört.«

Erika nickte. »Es ist nicht gerade ein Branchengeheimnis, dass wir einen gewissen Konflikt mit Wennerström haben. Leute, die für Millennium arbeiten, mag er nicht.«

»Wenn ich einen Job bei Millennium annehme, dann gehöre ich also auch zu dieser Kategorie.«

»Die Wahrscheinlichkeit ist groß, ja.«

»Aber Dahlman hat einen Job bei Monopol bekommen.«

»Man könnte sagen, das ist Wennerströms Art, sich für gewisse Dienste erkenntlich zu zeigen, die Dahlman ihm erwiesen hat. Sind Sie immer noch interessiert?«

Malin Eriksson überlegte kurz. Dann nickte sie.

Genau in diesem Moment rief Mikael Blomkvist an und unterbrach das Bewerbungsgespräch.

Erika schloss Mikaels Wohnung mit ihrem eigenen Schlüssel auf. Zum ersten Mal seit seinem kurzen Besuch in der Redaktion an Mittsommer sah sie ihn wieder. Sie ging ins Wohnzimmer, wo sie auf ein anorektisch mageres Mädchen mit abgewetzter Lederjacke traf, die auf dem Sofa saß und ihre schmutzigen Stiefel auf den Tisch gelegt hatte. Im ersten Moment hielt sie das Mädchen für fünfzehn, aber dann sah sie ihre Augen. Sie war immer noch in die Betrachtung dieser Erscheinung versunken, als Mikael mit einer Thermoskanne Kaffee und Gebäck zu ihnen kam.

Mikael und Erika sahen sich an.

»Entschuldige, dass ich so unmöglich war«, sagte Mikael.

Erika legte den Kopf schief. Irgendetwas an Mikael war anders. Er sah ausgemergelt aus, magerer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Augen waren verschämt, und einen Moment lang wich er sogar ihrem Blick aus. Verstohlen musterte sie seinen Hals. Der rote Streifen war blasser geworden, aber immer noch deutlich zu erkennen.

»Ich bin dir aus dem Weg gegangen. Das ist alles eine furchtbar lange Geschichte, und ich bin nicht stolz auf die Rolle, die ich darin spiele. Aber dazu kommen wir später … jetzt will ich euch erst mal miteinander bekannt machen. Erika, das ist Lisbeth Salander. Lisbeth, Erika Berger ist Chefredakteurin bei Millennium und meine beste Freundin.«

Lisbeth musterte Erikas elegante Kleider und das selbstsichere Auftreten und beschloss schon nach zehn Sekunden, dass sie höchstwahrscheinlich nicht ihre beste Freundin werden würde.

Das Treffen dauerte fünf Stunden. Erika musste zweimal telefonisch andere Termine absagen. Eine Stunde lang las sie Auszüge des Manuskripts, das Mikael ihr in die Hand gedrückt hatte. Sie hatte tausend Fragen, wusste jedoch, dass es Wochen dauern würde, sie alle zu beantworten. Das Wichtigste stand im Manuskript, das sie schließlich aus der Hand legte. Wenn auch nur ein Bruchteil dieser Behauptungen der Wahrheit entsprach, dann war eine völlig neue Situation entstanden.

Erika sah Mikael an. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass er ein ehrlicher Mensch war, vorübergehend war ihr aber der Verdacht gekommen, dass die Wennerström-Affäre ihm psychisch so zusetzte, dass er ein Hirngespinst ausgebrütet hatte. In diesem Moment stellte ihr Mikael zwei Kartons mit ausgedrucktem Quellenmaterial vor die Nase. Erika wurde blass. Natürlich wollte sie wissen, wie er in den Besitz dieses Materials gekommen war.

Es brauchte eine geraume Zeit, sie davon zu überzeugen, dass das eigenartige Mädchen in der Lederjacke, die bisher geschwiegen hatte, Wennerströms Computer kontrollierte. Und nicht nur seinen - sie hatte sich auch in die Computer mehrerer seiner Rechtsanwälte und engsten Mitarbeiter gehackt.

Erikas spontane Reaktion war, dass sie das Material unmöglich verwenden konnten, da es durch Eindringen in fremde Datenbestände gewonnen worden war.

Aber sie konnten es sehr wohl verwenden. Mikael wies darauf hin, dass sie nicht verpflichtet waren, einen Nachweis zu erbringen, wie sie an das Material gekommen waren.

Schließlich wurde Erika klar, was für eine Waffe sie da in der Hand hielt. Sie war erschöpft und hatte immer noch Fragen, wusste aber nicht, wo sie anfangen sollte. Schließlich lehnte sie sich auf dem Sofa zurück und hob ratlos die Arme.

»Was ist da oben in Hedestad passiert, Mikael?«

Lisbeth hob interessiert eine Augenbraue. Mikael schwieg eine ganze Weile. Dann antwortete er mit einer Gegenfrage.

»Wie verstehst du dich mit Harriet Vanger?«

»Gut. Glaube ich. Ich habe sie zweimal getroffen. Christer und ich sind letzte Woche zu einer Vorstandssitzung nach Hedestad gefahren. Wir haben ziemlich viel Wein getrunken.«

»Und wie lief die Sitzung?«

»Sie hält Wort.«

»Ricky, ich weiß, wie frustriert du darüber bist, dass ich dir ausgewichen bin und nach Vorwänden gesucht habe, um dir nichts erzählen zu müssen. Wir haben nie Geheimnisse voreinander gehabt, und plötzlich gibt es da ein halbes Jahr in meinem Leben, von dem … von dem ich dir nichts erzählen kann.«

Erika sah Mikael an. Sie kannte ihn in- und auswendig, aber jetzt entdeckte sie in seinen Augen einen neuen Ausdruck. Sein Blick hatte etwas Flehendes. Er flehte sie an, nicht weiter zu fragen. Sie machte den Mund auf und sah ihn hilflos an. Lisbeth beobachtete ihre stumme Konversation mit neutralem Blick. Sie mischte sich nicht ein.

»War es so schrecklich?«

»Noch viel schlimmer. Ich hatte Angst vor diesem Gespräch. Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde, aber ich habe mehrere Monate damit verbracht, meine Gefühle unter Verschluss zu halten, während mein ganzes Interesse Wennerström galt … Ich bin noch nicht richtig bereit. Ich wäre froh, wenn Harriet es dir erzählen könnte.«

»Was hast du da für Striemen am Hals?«

»Lisbeth hat mir dort oben das Leben gerettet. Wenn sie nicht da gewesen wäre, wäre ich jetzt tot.«

Erikas Augen weiteten sich. Sie sah das Mädchen in der Lederjacke an.

»Und jetzt musst du eine Vereinbarung mit ihr treffen. Sie ist unsere Informantin.«

Erika blieb eine ganze Weile schweigend sitzen und überlegte. Dann tat sie etwas, das Mikael verblüffte, Lisbeth schockierte und sie selbst überraschte. Die ganze Zeit hatte sie Lisbeth Salanders Blicke auf sich gespürt. Ein schweigsames Mädchen, das Feindseligkeit ausstrahlte.

Erika stand auf, ging um den Tisch herum, schlang die Arme um Lisbeth und drückte sie an sich. Lisbeth wehrte sich wie ein Mehlwurm, der auf den Haken gespießt werden soll.

29. Kapitel

Samstag, 1. November - Dienstag, 25. November

Lisbeth surfte durch Wennerströms Cyber-Imperium. Elf Stunden hatte sie wie festgenagelt vor dem Bildschirm gesessen. Die Idee, die sich in der letzten Woche in Sandhamn in irgendeinem entlegenen Winkel ihres Gehirns materialisiert hatte, war zu einer manischen Beschäftigung geworden. Sie hatte sich vier Wochen lang in ihrer Wohnung isoliert und sämtliche Anrufe von Armanskij ignoriert. Sie hatte zwölf bis fünfzehn, mitunter zwanzig Stunden pro Tag vor dem Computer zugebracht und auch in der verbleibenden Zeit über ein und dasselbe Problem nachgedacht, sofern sie nicht gerade schlief.

Während dieses Monats hatte sie nur sporadischen Kontakt mit Mikael Blomkvist - er war genauso besessen von seiner Arbeit in der Millennium-Redaktion. Sie hatten jede Woche ein paarmal telefoniert, damit sie ihn über Wennerströms Korrespondenz und seine übrigen Aktivitäten auf dem Laufenden halten konnte.

Zum hundertsten Mal ging sie jedes Detail durch. Sie hatte keine Angst, etwas übersehen zu haben, aber sie war sich nicht ganz sicher, ob sie all die verschachtelten Zusammenhänge richtig verstand.

Wennerströms berühmtes Imperium war wie ein unförmiger, pulsierender lebendiger Organismus, der ständig seine Form änderte. Es bestand aus Optionen, Obligationen, Aktien, Firmenanteilen, Kreditzinsen, Ertragszinsen, Pfändern, Konten, Transaktionen und tausend anderen Elementen. Ein überwältigend großer Teil seines Vermögens steckte in Briefkastenfirmen, die sich gegenseitig besaßen.

In den fantastischsten Analysen der BWL-Streber wurde die Wennerstroem Group auf einen Wert von über 900 Milliarden Kronen taxiert. Das war ein Bluff, zumindest aber eine heftig übertriebene Zahl. Aber ein Habenichts war Wennerström auf keinen Fall. Lisbeth schätzte den echten Vermögenswert auf eine Höhe von 90 bis 100 Millionen Kronen, was ja auch nicht übel war. Eine seriöse Revision des gesamten Unternehmens würde Jahre in Anspruch nehmen. Insgesamt hatte Lisbeth an die 3000 verschiedene Konten auf der ganzen Welt identifiziert. Wennerström betrieb seine Betrügereien in einem solchen Ausmaß, dass man von organisierter Kriminalität im großen Stil sprechen musste.

Irgendwo in diesem Wennerströmschen Organismus gab es auch wirklich Substanz. Zwei Guthaben wurden ständig genannt. Die schwedischen Vermögenswerte waren authentisch, mit öffentlicher Prüfung, Jahresabschluss und Revision. Die amerikanische Firma war solide, ihre liquiden Mittel wurden von einer New Yorker Bank verwaltet. Dubios waren hingegen die Aktivitäten der Briefkastenfirmen an Orten wie Gibraltar, Zypern und Macao. Wennerström war wie ein Gemischtwarenladen - für illegalen Waffenhandel, Geldwäsche für suspekte Unternehmen in Kolumbien und äußerst unorthodoxe Geschäfte in Russland.

Ein anonymes Konto auf den Cayman Islands stach heraus: Es wurde von Wennerström persönlich kontrolliert, war aber in keines seiner Geschäfte direkt eingebunden. Ungefähr ein Zehntausendstel jedes Geschäftes, das Wennerström tätigte, floss mit schöner Regelmäßigkeit über diese Briefkastenfirma auf die Cayman Islands.

Salander arbeitete wie unter Hypnose. Konten - klick - Mails - klick - Bilanzen - klick. Sie bemerkte die letzten Geldtransaktionen. Sie verfolgte die Spur einer kleiner Transaktion von Japan nach Singapur und via Luxemburg weiter zu den Cayman Islands. Sie verstand, wie all das funktionierte. Sie war wie ein Teil der elektrischen Impulse im Cyberspace. Kleine Veränderungen. Die neueste Mail. Eine einzige magere Mail von peripherem Interesse, die er um zehn Uhr abends abgeschickt hatte. Das Verschlüsselungsprogramm PGP, ratter, ratter, ein Kinderspiel für jemand, der bereits in seinem Computer war und die Mitteilung decodiert lesen konnte:

[Berger hat aufgehört, um Anzeigenkunden zu kämpfen. Hat sie aufgegeben, oder brütet sie irgendetwas anderes aus? Ihr Informant in der Redaktion hatte ja versichert, dass das Magazin auf dem absteigenden Ast ist, aber es sieht so aus, als wäre gerade eine neue Mitarbeiterin eingestellt worden. Finden Sie raus, was da läuft. Blomkvist hat die letzten Wochen draußen in Sandhamn geschrieben wie ein Geisteskranker, aber keiner weiß, woran er schreibt. In den letzten Tagen ist er in der Redaktion aufgetaucht. Können Sie ein Vorabexemplar der nächsten Millennium-Nummer besorgen? HEW]

Nichts Dramatisches. Lass ihn nur grübeln. Dein Schicksal ist besiegelt, Alter.

Um halb sechs Uhr morgens schaltete sie den Computer aus und suchte nach einer unangebrochenen Schachtel Zigaretten. Sie hatte in der Nacht vier, nein, fünf Flaschen Coca-Cola getrunken, holte sich eine sechste und setzte sich aufs Sofa. Sie trug nur eine weiße Unterhose und ein verwaschenes Werbe-T-Shirt in Tarnfarben vom Soldier of Fortune Magazine mit der Aufschrift Kill them all and let God sort them out. Sie gab sich der politischen Analyse dieses Textes nicht weiter hin, bemerkte aber, dass sie fror, und wickelte sich in eine Wolldecke.

Sie war high, als hätte sie Drogen genommen. Sie konzentrierte ihren Blick auf eine Straßenlaterne vor ihrem Fenster und blieb ganz still sitzen, während ihr Gehirn auf Hochtouren lief. Mama - klick - meine Schwester - klick - Mimmi - klick - Holger Palmgren. Evil Fingers. Und Armanskij. Der Job. Harriet Vanger. Klick. Martin Vanger. Klick. Der Golfschläger. Klick. Rechtsanwalt Bjurman. Klick. Jedes verdammte Detail, das sie nicht vergessen konnte, egal, wie sehr sie sich bemühte.

Sie fragte sich, ob Bjurman sich wohl jemals wieder vor einer Frau ausziehen würde, und wenn ja, wie er das Tattoo auf seinem Bauch erklärte. Und wie er es vermeiden wollte, bei seinem nächsten Arztbesuch seine Kleidung abzulegen.

Und Mikael Blomkvist. Klick.

Sie hielt ihn für einen guten Menschen, auch wenn sein Streber-Komplex manchmal überhandnahm. Außerdem war er unerträglich naiv in gewissen grundlegenden Moralfragen. Er war eine nachsichtige Natur und suchte ständig Erklärungen und psychologische Rechtfertigungen für das Tun der Menschen, weil er nicht begriff, dass die Raubtiere dieser Welt nur eine Sprache verstanden. Sie empfand einen fast schon lästigen Beschützerinstinkt, wenn sie an ihn dachte.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie eingeschlafen war, wachte aber am nächsten Morgen um neun Uhr mit steifem Genick auf dem Sofa auf, den Kopf schräg nach hinten an die Wand gelehnt. Sie taumelte ins Schlafzimmer und schlief wieder ein.

Zweifellos war dies die wichtigste Reportage ihres Lebens. Erika war zum ersten Mal seit achtzehn Monaten wieder so glücklich, wie es nur eine Herausgeberin sein kann, die eine Riesenstory in petto hat. Als sie dem Artikel gemeinsam mit Mikael den letzten Schliff gab, rief Lisbeth ihn auf seinem Handy an.

»Ich habe vergessen zu sagen, dass Wennerström nach all deinem Geschreibe in der letzten Zeit unruhig geworden ist und ein Vorabexemplar eurer nächsten Nummer bestellt hat.«

»Woher weißt du … ach, vergiss es. Irgendwelche Infos, wie er das anstellen will?«

»Nein. Aber es gäbe da einen guten Tipp, wenn man mal logisch nachdenkt.«

Mikael überlegte kurz. »Die Druckerei«, platzte er heraus.

Erika hob die Augenbrauen.

»Wenn ihr in der Redaktion wirklich alle dichthaltet, dann gibt es nicht mehr viel andere Möglichkeiten. Solange nicht einer seiner Handlanger vorhat, Millennium einen nächtlichen Besuch abzustatten.«

Mikael wandte sich an Erika: »Buch eine neue Druckerei für diese Nummer. Sofort. Und ruf Armanskij an - ich will hier während der nächsten Woche Nachtwachen haben.« Wieder an Lisbeth gewandt: »Danke, Sally.«

»Was war dir das wert?«

»Wie meinst du das?«

»Was war dieser Tipp wert?«

»Was willst du haben?«

»Das will ich bei einem Kaffee mit dir besprechen. Sofort.«

Sie trafen sich in der Kaffeebar an der Hornsgata. Als Mikael sich neben ihr auf einen Hocker setzte, wirkte Lisbeth so ernst, dass er einen beunruhigten Stich verspürte. Sie kam wie immer ohne Umschweife zur Sache.

»Ich muss mir Geld leihen.«

Mikael lächelte sein einfältigstes Lächeln und tastete nach seiner Brieftasche.

»Okay. Wie viel?«

»120 000 Kronen.«

»Hoppla.« Er steckte seine Brieftasche wieder ein. »So viel Geld habe ich nicht dabei.«

»Ich mache keine Witze. Ich muss mir 120 000 Kronen leihen, für - sagen wir mal - sechs Wochen. Ich habe da so eine Möglichkeit, Geld zu investieren, aber ich kenne niemand, an den ich mich wenden könnte. Du hast im Moment ungefähr 140 000 auf deinem Konto. Du bekommst das Geld natürlich zurück.«

Mikael verkniff sich die Frage, woher sie seinen Kontostand kannte. Er nutzte das Internetbanking, da lag die Antwort auf der Hand.

»Du brauchst dir kein Geld von mir zu leihen«, sagte er. »Wir haben noch nicht über deinen Anteil geredet, aber der wird gut und gerne den Betrag abdecken, den du dir ausleihen willst.«

»Anteil?«

»Ich werde noch ein wahnsinnig hohes Honorar von Henrik Vanger einstreichen, und zum Jahreswechsel rechnen wir ab. Ohne dich wäre ich tot und Millennium untergegangen. Ich habe vor, dieses Honorar mit dir zu teilen. Fifty-fifty.«

Lisbeth sah ihn forschend an. Auf ihrer Stirn hatte sich eine Falte gebildet. Mikael hatte sich langsam an ihr minutenlanges Schweigen gewöhnt und ließ sie in Ruhe nachdenken. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Ich will dein Geld nicht.«

»Aber …«

»Ich will keine einzige Krone von dir.« Auf einmal setzte sie wieder ihr schiefes Grinsen auf. »Es sei denn, das Geld kommt in Form von Geburtstagsgeschenken.«

»Ich weiß gar nicht, wann du Geburtstag hast.«

»Du bist doch Journalist. Finde es raus.«

»Wirklich, Lisbeth, ich meine es ernst, ich will dieses Geld mit dir teilen.«

»Ich meine es auch ernst. Ich will dein Geld nicht. Ich will mir 120 000 Kronen leihen, und ich brauche sie morgen.«

Mikael schwieg. Sie fragt nicht einmal, wie groß ihr Anteil ist. »Okay, ich gehe heute mit dir zur Bank und leihe dir die Summe, die du haben willst. Aber zum Jahreswechsel sprechen wir noch mal über deinen Anteil.« Er hob die Hand. »Wann hast du denn eigentlich Geburtstag?«

»In der Walpurgisnacht«, sagte sie. »Passt prima, was? Da lauf ich dann mit einem Besen zwischen den Beinen rum.«

Sie landete um halb acht Uhr abends in Zürich und nahm ein Taxi zum Hotel Matterhorn. Sie hatte ein Zimmer auf den Namen Irene Nesser gebucht und wies sich mit einem norwegischen Pass aus. Irene Nesser hatte schulterlanges blondes Haar. Die Perücke hatte sie in Stockholm gekauft und 10 000 Kronen ihres Darlehens von Mikael Blomkvist darauf verwendet, sich über einen der obskuren Kontakte von Plagues internationalem Netzwerk zwei Pässe zu besorgen.

Sie ging sofort auf ihr Zimmer, schloss die Tür ab und zog sich aus. Dann legte sie sich aufs Bett und guckte an die Decke des Zimmers, das 1600 Kronen pro Nacht kostete. Sie fühlte sich leer. Die Hälfte der Summe, die sie sich von Mikael geliehen hatte, war schon unter die Leute gebracht. Obwohl sie ihre eigenen Ersparnisse dazugegeben hatte, war ihr Budget schon recht schmal. Sie hörte auf nachzudenken und schlief rasch ein.

Um kurz nach fünf Uhr morgens wachte sie auf. Als Erstes duschte sie und verwandte dann einige Zeit darauf, das Tattoo auf ihrem Hals mit einer dicken Schicht hautfarbener Creme abzudecken und den Übergang mit Puder zu kaschieren. Der nächste Punkt auf ihrer Checkliste war die Anmeldung im Schönheitssalon eines wesentlich teureren Hotels um halb sieben. Sie kaufte sich noch eine blonde Perücke, diesmal mit einer Pagenfrisur. Danach Maniküre, rote Nägel auf ihre abgebissenen Stummel kleben lassen, falsche Wimpern, noch mehr Puder, Rouge und schließlich Lippenstift und anderes Geschmier. Kosten: knapp 8000 Kronen.

Sie bezahlte mit einer Kreditkarte, die auf den Namen Monica Sholes ausgestellt war, und legte einen englischen Pass mit demselben Namen vor, der ihre Identität bestätigte.

Der nächste Anlaufpunkt war Camille’s House of Fashion, 150 Meter die Straße herunter. Nach einer Stunde kam sie in schwarzen Stiefeln, schwarzer Strumpfhose, einem sandfarbenen Rock mit passender Bluse, einer taillenkurzen Jacke und einer Baskenmütze wieder heraus. Lauter teure Markenkleidung. Sie hatte eine Verkäuferin die Auswahl treffen lassen. Sogar eine exklusive Aktentasche aus Leder und einen kleinen Samsonite-Reisekoffer hatte sie sich noch ausgesucht. Die Krönung des Werkes waren diskrete Ohrringe und eine einfache Halskette aus Gold. Die Kreditkarte war mit nochmals 44 000 Kronen belastet worden.

Außerdem hatte Lisbeth Salander zum ersten Mal in ihrem Leben Brüste, die sie nach Luft schnappen ließen, als sie ihr Spiegelbild in der Tür sah. Die Brüste waren genauso falsch wie Monica Sholes’ Identität. Sie waren aus Latex, und Lisbeth hatte sie in einem Laden in Kopenhagen gekauft, in dem sich Transvestiten eindeckten.

Sie war bereit zum Kampf.

Um kurz nach neun ging sie zwei Blöcke weiter zum traditionsreichen Hotel Zimmertal, wo sie auf den Namen Monica Sholes ein Zimmer gebucht hatte. Dort gab sie einem Boy, der ihr den neuen Koffer hinaufgetragen hatte, in dem sich ihre schlichte Reisetasche befand, umgerechnet 100 Kronen Trinkgeld. Die Suite war klein und kostete nur 22 000 Kronen pro Tag. Sie hatte eine Nacht gebucht. Als sie alleine war, sah sie sich um. Vom Fenster hatte sie einen wundervollen Ausblick auf den Zürichsee, was ihr vollkommen gleichgültig war. Sie verbrachte jedoch fünf Minuten damit, sich mit großen Augen im Spiegel zu betrachten. Sie sah einen völlig fremden Menschen.

Die vollbusige Monica Sholes mit dem blonden Pagenkopf trug mehr Make-up, als Lisbeth Salander in einem ganzen Monat verbrauchte. Es sah … anders aus.

Um halb zehn frühstückte sie endlich - zwei Tassen Kaffee und einen Bagel mit Marmelade in der Hotelbar. Kostenpunkt 210 Kronen.

Kurz vor zehn stellte Monica Sholes die Kaffeetasse ab, schaltete ihr Handy an und wählte die Nummer eines Modems in Hawaii, USA. Nach drei Klingeltönen hörte sie, wie die Verbindung hergestellt wurde. Das Modem wählte sich ein. Monica Sholes gab daraufhin einen sechsstelligen Code auf ihrem Handy ein und schickte eine SMS mit der Anweisung, das Programm zu starten, das Lisbeth Salander extra für diesen Zweck geschrieben hatte.

In Honolulu erwachte das Programm auf einer anonymen Website zum Leben, die sich auf einem Server befand, der offiziell zur Universität gehörte. Das Programm war sehr einfach. Es hatte nur die Funktion, ein anderes Programm auf einem völlig anderen Server zu starten, diesmal eine ganz gewöhnliche kommerzielle Seite, die in Holland Internetdienste anbot. Dieses Programm wiederum hatte die Aufgabe, das Spiegelbild von Hans-Erik Wennerströms Computer zu finden und das Kommando über das Programm zu übernehmen, das den Inhalt seiner rund 3000 Bankkonten rund um den Globus anzeigte.

Nur eines von ihnen war von Interesse. Lisbeth hatte bemerkt, dass Wennerström dieses Konto ein paarmal pro Woche kontrollierte. Wenn er seinen Computer startete und genau diese Datei öffnete, würde für ihn alles ganz normal aussehen. Das Programm zeigte kleine Kontobewegungen, die im Rahmen des Üblichen lagen, berechnet auf Basis der Schwankungen der letzten sechs Monate. Sollte Wennerström in den nächsten 48 Stunden die Auszahlung oder den Transfer einer Summe verlangen, würde das Programm brav melden, dass der Befehl ausgeführt worden war. In Wirklichkeit wäre diese Veränderung aber nur auf der gespiegelten Festplatte in Holland vollzogen worden.

Monica Sholes schaltete das Handy ab, nachdem sie vier kurze Töne gehört hatte, die ihr bestätigten, dass das Programm gestartet worden war.

Sie verließ das Hotel Zimmertal und schlenderte quer über die Straße zur Bank Hauser General, wo sie für zehn Uhr einen Termin mit dem Direktor namens Wagner ausgemacht hatte. Sie war drei Minuten vor der verabredeten Zeit dort und verbrachte die Wartezeit damit, vor der Überwachungskamera zu posieren. Dann betrat sie die Abteilung für diskrete Privatberatung.

»Ich brauche Hilfe bei ein paar Transaktionen«, sagte Monica Sholes in untadeligem Oxford-Englisch. Als sie ihre Aktentasche öffnete, fiel zufällig ein Reklamekugelschreiber zu Boden, der zeigte, dass sie im Hotel Zimmertal residierte, und den Direktor Wagner ihr höflich aufhob. Sie schenkte ihm ein schelmisches Lächeln und schrieb die Kontonummer auf einen Block, der vor ihr auf dem Tisch lag.

Wagner musterte sie kurz und ordnete sie als verwöhnte Tochter eines Herrn Sowieso ein.

»Es geht um ein paar Konten bei der Bank of Kronenfeld auf den Cayman Islands. Automatischer Transfer mit Clearingcodes.«

»Sie haben selbstverständlich alle Clearingcodes parat, Fräulein Sholes?«, fragte er.

»Aber natürlich«, erwiderte sie mit starkem Akzent, der deutlich hören ließ, dass sie nur über ein miserables Schuldeutsch verfügte.

Sie begann, sechzehnstellige Nummernserien aufzusagen, ohne ein einziges Mal auf ein Blatt Papier zu blicken. Direktor Wagner wurde klar, dass er einen mühseligen Vormittag vor sich hatte, aber gegen eine Provision von vier Prozent der Transaktionen war er bereit, sein Mittagessen ausfallen zu lassen.

Es dauerte länger, als sie gedacht hatte. Erst um kurz nach zwölf verließ Monica Sholes die Bank Hauser General und ging zurück zum Hotel Zimmertal. Sie zeigte sich an der Rezeption, bevor sie in ihr Zimmer ging und die gekauften Kleider auszog. Die Latexbrüste behielt sie an, tauschte den Pagenkopf aber gegen Irene Nessers schulterlanges blondes Haar aus. Dann zog sie sich auf etwas vertrautere Art an: Stiefel mit extra hohen Absätzen, schwarze Hose, einen einfachen Pullover und eine ordentliche schwarze Lederjacke von Malungsboden in Stockholm. Sie musterte sich im Spiegel. Sie sah zwar nicht ungepflegt aus, war aber auch keine reiche Erbin mehr. Bevor Irene Nesser das Zimmer verließ, sortierte sie ein paar Obligationspapiere aus, die sie in eine dünne Mappe legte.

Um fünf nach eins, also ein paar Minuten zu spät, ging sie in die Bank Dorffmann, die ungefähr siebzig Meter von der Bank Hauser General entfernt lag. Irene Nesser hatte ein Treffen mit Direktor Hasselmann abgemacht. Als sie sich für ihre Verspätung entschuldigte, sprach sie ein makelloses Deutsch mit norwegischem Akzent.

»Kein Problem, Fräulein Nesser«, antwortete Direktor Hasselmann. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich will ein Konto eröffnen. Ich habe ein paar Privatobligationen, die ich verkaufen will.«

Irene Nesser legte die Mappe vor ihn auf den Tisch.

Direktor Hasselmann überflog den Inhalt, erst schnell, dann langsamer. Er hob eine Augenbraue und lächelte höflich.

Sie eröffnete fünf Nummernkonten, auf die sie per Internet zugreifen konnte. Sie gehörten einer anonymen Briefkastenfirma auf Gibraltar, die ihr ein lokaler Makler für 50 000 Kronen von Mikaels Darlehen eingerichtet hatte. Sie machte fünfzig Obligationen zu Geld, das sie auf den Konten deponierte. Jede Obligation hatte einen Wert von umgerechnet einer Million Kronen.

Ihre Geschäfte in der Bank Dorffmann zogen sich so lange hin, dass sie noch weiter hinter ihren Zeitplan zurückfiel. Sie hatte keine Möglichkeit mehr, ihre letzten Erledigungen abzuschließen, bevor die Bank zumachte. Irene Nesser ging also ins Hotel Matterhorn zurück, wo sie sich eine Stunde lang zeigte und dafür sorgte, dass man ihre Gegenwart bemerkte. Wegen angeblicher Kopfschmerzen zog sich früh zurück. An der Rezeption kaufte sie sich noch Kopfschmerztabletten und bat darum, am nächsten Morgen um acht Uhr geweckt zu werden. Dann ging sie auf ihr Zimmer.

Es war fast schon fünf, alle Banken in Europa hatten geschlossen. Die Banken auf dem amerikanischen Kontinent hingegen hatten geöffnet. Sie fuhr ihr PowerBook hoch und wählte sich über ihr Handy ins Netz ein. Sie verbrachte eine Stunde damit, die Nummernkonten zu leeren, die sie gerade vorher in der Bank Dorffmann eingerichtet hatte.

Das Geld wurde in kleinere Portionen aufgeteilt und dazu verwendet, die Rechnungen fiktiver Firmen auf der ganzen Welt zu bezahlen. Schließlich war das ganze Geld wieder zur Bank of Kronenfeld auf den Cayman Islands zurücktransferiert worden, diesmal aber zu einem ganz anderen Konto als dem, von dem sie am Morgen abgehoben worden waren.

Irene Nesser glaubte, dass zumindest dieser erste Teil des Geldes gesichert war und nicht zurückverfolgt werden konnte. Sie tätigte eine einzige Auszahlung von diesem Konto: Eine knappe Million Kronen wurde auf ein Konto überwiesen, dessen zugehörige Kreditkarte in ihrer Brieftasche war. Das Konto wiederum gehörte einer anonymen, in Gibraltar registrierten Firma mit dem Namen Wasp Enterprises.

Ein paar Minuten später verließ ein Mädchen mit blondem Pagenkopf das Hotel Matterhorn durch eine Seitentür in der Hotelbar. Monica Sholes ging zum Hotel Zimmertal, nickte dem Empfangschef höflich zu und nahm den Fahrstuhl zu ihrem Zimmer.

Dann ließ sie sich jede Menge Zeit, Monica Sholes’ Kampfkluft anzuziehen, ihr Make-up zu verbessern und noch eine Extra-Schicht Abdeckcreme auf ihr Tattoo aufzutragen. Sie ging ins Hotelrestaurant und aß ein unglaublich leckeres Fischgericht zum Abendessen. Dazu bestellte sie eine edle Flasche Wein, von dem sie noch nie gehört hatte, der aber 1200 Kronen kostete, trank ein Glas und ließ den Rest einfach stehen, als sie an die Hotelbar ging. Sie ließ ein Trinkgeld von 500 Kronen auf dem Tisch liegen, sodass der Kellner sie bestimmt in Erinnerung behalten würde.

In der Bar ließ sie sich drei Stunden lang von einem kräftig beschwipsten jungen Italiener anbaggern. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, sich seinen adeligen Namen zu merken. Sie teilten sich zwei Flaschen Champagner, von denen sie ungefähr ein Glas trank.

Gegen elf Uhr beugte sich ihr betrunkener Kavalier vor und begrapschte ganz ungeniert Monica Sholes Brüste. Zufrieden zog sie seine Hand auf den Tisch zurück. Er schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er weiches Latex liebkost hatte. Sie wurden zwischenzeitlich ziemlich laut und weckten einen gewissen Unwillen bei den anderen Gästen. Als Monica Sholes kurz vor Mitternacht bemerkte, wie ein Angestellter des Hotels sie mit grimmigem Gesichtsausdruck beobachtete, half sie ihrem italienischen Freund auf sein Zimmer.

Während er im Badezimmer war, goss sie ihm und sich ein letztes Glas Rotwein ein. Sie öffnete ein zusammengefaltetes Papierheftchen und würzte seinen Wein mit einer zerstoßenen Rohypnol. Er sackte innerhalb einer Minute zu einem jämmerlichen Häuflein auf seinem Bett zusammen, kaum, dass sie ihm zugeprostet hatte. Sie löste seinen Krawattenknoten, zog ihm die Schuhe aus und deckte ihn zu. Im Bad spülte sie noch die Gläser und trocknete alles ab, bevor sie sein Zimmer verließ.

Am nächsten Morgen frühstückte Monica Sholes um sechs Uhr auf ihrem Zimmer, verteilte reichlich Trinkgeld und checkte vor sieben Uhr aus dem Hotel Zimmertal aus. Bevor sie ging, wischte sie fünf Minuten lang Fingerabdrücke von den Klinken und Kleiderschränken, von der Toilette, dem Telefonhörer und anderen Gegenständen in der Suite, die sie angefasst hatte.

Irene Nesser checkte gegen halb neun aus dem Hotel Matterhorn aus, kurz nachdem sie geweckt worden war. Sie nahm sich ein Taxi und sperrte ihre Koffer in ein Schließfach am Bahnhof. Die folgenden Stunden verbrachte sie damit, neun Privatbanken zu besuchen, auf die sie jeweils kleinere Portionen der Privatobligationen von den Cayman Islands aufteilte. Um drei Uhr nachmittags hatte sie ungefähr zehn Prozent der Obligationen in Geld umgesetzt, das sie auf zirka dreißig Nummernkonten eingezahlt hatte. Den Rest der Obligationen bündelte sie, um sie in einem Bankfach zu lagern.

Irene Nesser würde noch öfter nach Zürich kommen müssen, aber das hatte keine Eile.

Nachmittags um halb fünf nahm Irene Nesser ein Taxi zum Flughafen, wo sie die Damentoilette aufsuchte, Monica Sholes’ Pass und Kreditkarte in kleine Fetzen schnitt und hinunterspülte. Die Schere warf sie in einen Abfalleimer. Nach dem 11. September 2001 war es nicht mehr angebracht, durch spitze Gegenstände im Gepäck die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Irene Nesser nahm den Lufthansa-Flug GD890 nach Oslo und von dort den Airport Shuttle bis Oslo Hauptbahnhof, wo sie wieder die Damentoilette benutzte, um ihre Kleider zu sortieren. Alle Gegenstände, die zur Identität von Monica Sholes gehört hatten - Pagenkopf und Markenkleidung -, packte sie in drei Plastiktüten, die sie in verschiedenen Mülltonnen und Papierkörben rund um den Bahnhof verschwinden ließ. Die Goldkette und die Ohrringe waren Designerkram, der zurückverfolgt werden konnte. Sie warf sie in einen Gully.

Nach kurzem ängstlichem Zögern beschloss Irene Nesser, die falschen Latexbrüste zu behalten.

Dann wurde ihr die Zeit knapp, also aß sie nur ein hastiges Abendessen in Form eines Hamburgers bei McDonald’s, während sie den Inhalt der exklusiven Ledermappe in ihre Reisetasche stopfte. Als sie ging, ließ sie die leere Mappe unter dem Tisch stehen. An einem Kiosk kaufte sie sich noch einen Milchkaffee im Pappbecher, dann rannte sie zu ihrem Nachtzug nach Stockholm. Sie kam gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Türen schlossen. Sie hatte sich ein eigenes Schlafwagenabteil reserviert.

Nachdem sie die Abteiltür geschlossen hatte, spürte sie, wie sich ihr Adrenalinspiegel zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder normalisierte. Sie öffnete das Fenster und setzte sich über das Rauchverbot hinweg. In kleinen Schlucken trank sie ihren Kaffee zu der Zigarette, während der Zug aus dem Osloer Bahnhof rollte.

Gleichzeitig ging sie im Kopf ihre Checkliste durch, um sich zu vergewissern, dass sie kein Detail vergessen hatte. Nach einer Weile runzelte sie die Stirn und tastete ihre Jackentaschen ab. Sie zog einen Reklamekugelschreiber des Hotels Zimmertal hervor und betrachtete ihn nachdenklich ein paar Minuten, bevor sie ihn aus dem Fenster warf.

Eine Viertelstunde später kroch sie in ihr Bett und schlief sofort ein.

EPILOG: REVISION

Donnerstag, 27. November - Dienstag, 30. Dezember

Millenniums Themenheft zu Hans-Erik Wennerström umfasste geschlagene sechsundvierzig Seiten und ging in der letzten Novemberwoche hoch wie eine präzise gezündete Zeitbombe. Der zentrale Artikel war mit Mikael Blomkvists und Erika Bergers Namen unterzeichnet. In den ersten Stunden nach der Veröffentlichung wussten die Medien nicht so recht, wie sie mit dieser Riesenstory umgehen sollten - ein ähnlicher Artikel hatte ein Jahr zuvor schließlich dafür gesorgt, dass Mikael Blomkvist wegen Verleumdung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und von Millennium scheinbar gefeuert worden war. Seine Glaubwürdigkeit wurde daher als relativ gering eingestuft. Jetzt publizierte die Zeitschrift eine Story desselben Journalisten, die noch viel mehr Sprengstoff enthielt als der Artikel, für den er damals verurteilt worden war. Der Inhalt schien streckenweise so absurd, dass er jedem gesunden Menschenverstand widersprach. Die schwedische Medienwelt reagierte mit abwartendem Misstrauen.

Doch am Abend machte TV4 mit einer elfminütigen Zusammenfassung von Mikaels Anschuldigungen den Anfang. Erika Berger hatte sich ein paar Tage zuvor mit einer Mitarbeiterin von TV4 zum Mittagessen getroffen und ihr vorab exklusive Informationen gegeben.

Nachdem sich TV4 so deutlich exponiert hatte, zogen die staatlichen Sender nach, aber erst in den Neun-Uhr-Nachrichten. Dann gab auch die Presseagentur TT ein erstes Telegramm heraus. Die vorsichtige Überschrift lautete: Verurteilter Journalist beschuldigt Industriellen schwerer Verbrechen. Der Text basierte offenbar auf den gezeigten Fernsehbeiträgen, doch allein die Tatsache, dass TT sich zu diesem Thema äußerte, löste eine fieberhafte Aktivität unter den konservativen Morgenzeitungen und einem Dutzend Provinzblättern aus, die sich sofort daranmachten, ihre Seite eins noch schnell umzusetzen, bevor die Druckerpresse anlief. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Zeitungen mehr oder weniger entschlossen gewesen, die Behauptungen von Millennium zu ignorieren.

Eine liberale Morgenzeitung kommentierte die Sensationsstory mit einem Leitartikel, den der Chefredakteur höchstpersönlich am Nachmittag verfasst hatte. Dieser Chefredakteur war anschließend essen gegangen, und als ihn seine Assistentin nach der Ausstrahlung der TV4-Nachrichten mehrmals hektisch anrief, weil an Mikael Blomkvists Behauptungen »vielleicht doch etwas dran sein könnte«, hatte er sie mit den Worten abgefertigt: »Blödsinn - das hätten unsere Wirtschaftsjournalisten doch längst aufgedeckt!« Ein Ausspruch, der in einschlägigen Kreisen zum geflügelten Wort werden sollte. So war der Leitartikel des liberalen Chefredakteurs dann auch die einzige Stimme im Lande, die den Millennium-Artikel gnadenlos niedermachte. Der Artikel enthielt Ausdrücke wie Hetze, krimineller Schundjournalismus sowie üble Verleumdung, die sich gegen ehrenwerte Mitbürger richte. Dies blieb jedoch der einzige Diskussionsbeitrag, den der Chefredakteur zur folgenden Debatte beisteuerte.

Über Nacht war die Millennium-Redaktion voll besetzt. Nach Plan sollten nur Erika Berger und die neue Redaktionsassistentin Malin Eriksson bleiben, um eventuell eingehende Anrufe entgegenzunehmen. Um zehn Uhr abends saßen jedoch immer noch sämtliche Angestellten im Büro, denen ein halbes Dutzend freier Mitarbeiter und nicht weniger als vier ehemalige Kollegen Gesellschaft leisteten. Gegen Mitternacht entkorkte Christer Malm eine Flasche Sekt, nachdem ein alter Bekannter das Vorabexemplar einer Abendzeitung mitbrachte, die der Wennerström-Affäre unter der Überschrift Finanzmafia sechzehn Seiten gewidmet hatte. Als am nächsten Tag die Abendzeitungen herauskamen, begann eine Medienhysterie, wie man sie schon lange nicht mehr erlebt hatte.

Die Redaktionsassistentin Malin Eriksson kam zu dem Schluss, dass sie sich bei Millennium sehr wohlfühlen würde.

In der folgenden Woche erbebte die schwedische Börse, als die Steuerfahnder in der Sache zu ermitteln begannen, der Staatsanwalt sich eingeschaltet und panische Verkäufe getätigt wurden. Zwei Tage nach der Veröffentlichung wurde die Wennerström-Affäre zu einer Regierungsangelegenheit, zu der sich sogar der Wirtschaftsminister äußern musste.

Die Medien nahmen die Behauptungen des Millennium-Magazins nicht ohne kritische Fragen hin - dafür waren die Enthüllungen zu krass. Aber im Gegensatz zur ersten Wennerström-Affäre konnte Millennium diesmal überwältigende und überzeugende Beweise vorlegen: Wennerströms E-Mails, Kopien vom Inhalt seines Computers mit Auszügen geheimer Konten auf den Cayman Islands und in zwei Dutzend anderen Ländern. Ferner heimliche Verträge und andere Dummheiten, die ein vorsichtigerer Verbrecher um nichts in der Welt auf seiner Festplatte gespeichert hätte. Und dabei wurde nicht nur ein Firmenimperium unter die Lupe genommen. Sollten die Enthüllungen von Millennium auch der Prüfung des Oberlandesgerichts standhalten - und alle waren sich einig, dass diese Angelegenheit früher oder später dort landen würde -, dann war mit der Wennerström-Gruppe definitiv die größte Blase der schwedischen Finanzwelt seit dem Kreuger-Crash von 1932 geplatzt. Neben dieser Affäre verblassten alle Gotabank-Skandale und Trustor-Schwindel. Das hier war organisierte Kriminalität von solchem Ausmaß, dass niemand auch nur zu spekulieren wagte, wie viele Gesetzesbrüche hier vorliegen mochten.

Zum ersten Mal in der Geschichte des schwedischen Wirtschaftsjournalismus fielen Worte wie systematisches Verbrechen, Mafia und Gangsterkreise. Wennerström und sein engster Kreis von jungen Börsenmaklern, Teilhabern und Armanigekleideten Rechtsanwälten wurden so porträtiert wie jede beliebige Bande von Bankräubern oder Dealern.

Während der ersten vierundzwanzig Stunden des ganzen Medienrummels war Mikael Blomkvist unsichtbar. Er beantwortete keine Mails und war auch telefonisch nicht zu erreichen. Alle redaktionellen Kommentare kamen von Erika Berger, die wie eine Katze schnurrte, als sie von landesweiten schwedischen Medien und wichtigen Lokalzeitungen sowie einer wachsenden Zahl ausländischer Medien interviewt wurde. Wann immer man ihr die Frage stellte, wie Millennium in den Besitz all dieser höchst privaten, internen Dokumente hatte kommen können, antwortete sie mit einem geheimnisvollen Lächeln, das in die nebulöse Aussage mündete: »Unseren Informanten können wir selbstverständlich nicht preisgeben.«

Als man sie fragte, warum die letztjährige Enthüllungsreportage über Wennerström in so einem Fiasko geendet hatte, gab sie sich noch geheimnisvoller. Sie log nie, aber sie sagte vielleicht nicht immer die ganze Wahrheit. Off the record, wenn sie kein Mikrofon vor der Nase hatte, ließ sie ein paar rätselhafte Sticheleien fallen. Wenn man all diese Teilinformationen zusammenfügte, konnte man zu voreiligen Schlüssen gelangen. Und so entstand ein Gerücht, das schnell legendäre Ausmaße annahm: Mikael Blomkvist habe sich vor Gericht nicht verteidigt und sich freiwillig zu einer Gefängnisstrafe und einer hohen Geldbuße verurteilen lassen, weil die Offenlegung seines Beweismaterials unweigerlich zur Identifizierung seines Informanten geführt hätte. Er wurde mit amerikanischen Vorbildern in der Medienwelt verglichen, die eher ins Gefängnis gingen, als einen Informanten zu verraten. Man stilisierte ihn so hemmungslos zum Helden, dass er sich schon genierte. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Missverständnisse aufzuklären.

In einem Punkt waren sich alle einig: Die Person, von der die Beweise stammten, musste aus Wennerströms innerstem Zirkel stammen. Damit begann eine langatmige Nebendebatte, wer in diesem Fall der Maulwurf war. Mitarbeiter, die vielleicht Grund zur Unzufriedenheit hatten, Anwälte, sogar Wennerströms kokainabhängige Tochter und andere Familienmitglieder wurden als mögliche Kandidaten gehandelt. Weder Mikael noch Erika äußerten sich dazu. Sie kommentierten das Thema grundsätzlich nicht.

Erika lächelte zufrieden. Als am dritten Tag des Medienrummels eine der beiden Abendzeitungen mit Revanche für Millennium titelte, wusste sie, dass sie gewonnen hatten. Der Artikel war ein schmeichelhaftes Porträt des Magazins und seiner Mitarbeiter und außerdem mit einem außerordentlich vorteilhaften Foto von Erika Berger illustriert. Man nannte sie die Königin des investigativen Journalismus. Das brachte Pluspunkte in den Klatschspalten, und schon bald war die Rede vom Großen Journalisten-Preis.

Fünf Tage nachdem Millennium die erste Kanonensalve abgefeuert hatte, wurde Mikaels Buch Der Bankier der Mafia an die Buchhändler ausgeliefert. Es war während der fieberhaften Tage in Sandhamn im September und Oktober entstanden und in aller Eile und größter Verschwiegenheit gedruckt worden. Es war das erste Buch, das von einem ganz neuen Verlag mit dem Millennium-Logo herausgegeben wurde. Die kryptische Widmung lautete Für Sally, die mir die Vorteile des Golfsports näher brachte.

Es war ein Wälzer von 615 Seiten im Taschenbuchformat. Die niedrige Auflage von zweitausend Exemplaren war fast eine Garantie für ein Verlustgeschäft, aber die erste Auflage war tatsächlich schon nach ein paar Tagen ausverkauft, sodass Erika schnell 10 000 Exemplare nachdrucken ließ.

Die Rezensenten stellten fest, dass Mikael Blomkvist diesmal nicht mit ausführlichen Quellenangaben gespart hatte. Zwei Drittel des Buches waren Anhang, der aus direkten Abschriften der Dokumente aus Wennerströms Computer bestand. Zeitgleich mit der Veröffentlichung des Buches stellte Millennium Texte aus Wennerströms Computer als pdf-Dateien auf die Website des Magazins. Jeder, der sich nur im Geringsten für den Wahrheitsgehalt des Buches interessierte, konnte die Quellen selbst überprüfen.

Mikaels befremdliche Abwesenheit war ein Teil der Medienstrategie, die Erika und er ausgeheckt hatten. Jede Zeitung im Lande suchte ihn. Erst als das Buch veröffentlicht wurde, trat Mikael mit einem exklusiven Interview an die Öffentlichkeit, das die Kollegin von TV4 führte. Abermals hatte sie das staatliche Fernsehen auf die Ränge verwiesen. Dieses Interview war jedoch kein Gespräch unter Freunden, und ihre Fragen waren alles andere als schmeichlerisch.

Mit einer Passage war Mikael besonders zufrieden, als er sich das Videoband mit seinem Auftritt ansah. Das Interview war live ausgestrahlt worden, als die Börse von Stockholm sich gerade im freien Fall befand und die jungen Börsenspekulanten drohten, sich aus diversen Fenstern zu stürzen. Sie hatte ihn gefragt, welche Verantwortung Millennium dafür trug, dass die schwedische Wirtschaft gerade in die Knie ging.

»Die Behauptung, dass die schwedische Wirtschaft in die Knie geht, ist blanker Unsinn«, hatte Mikael blitzschnell geantwortet.

Die Journalistin von TV4 war völlig verblüfft. Diese Antwort entsprach nicht ihren Erwartungen, und plötzlich war sie gezwungen zu improvisieren. Sie stellte die Folgefrage, auf die Mikael gehofft hatte: »Wir erleben derzeit den größten Sturz in der Geschichte der schwedischen Börse - Sie meinen also, das sei Unsinn?«

»Sie müssen zwei Dinge unterscheiden - die schwedische Wirtschaft und die schwedische Börse. Die schwedische Wirtschaft ist die Summe aller Dienstleistungen und Waren, die in diesem Land jeden Tag produziert werden. Das sind Telefone von Eriksson, Autos von Volvo, Hühnchen von Scan und Transporte von Kiruna nach Skövde. Das ist die schwedische Wirtschaft, und die ist noch genauso stark oder schwach wie vor einer Woche.«

Er machte eine Kunstpause und trank einen Schluck Wasser.

»Die Börse ist etwas ganz anderes. Da gibt es keine Wirtschaft, keine Produktion von Waren und Dienstleistungen. Da gibt es nur Fantasien, da entscheidet man von einer Stunde auf die andere, dass dieses oder jenes Unternehmen jetzt soundso viele Milliarden mehr oder weniger wert ist. Das hat nicht das Geringste mit der Wirklichkeit oder mit der schwedischen Wirtschaft zu tun.«

»Sie meinen also, es spielt keine Rolle, dass die Börse gerade ins Bodenlose stürzt?«

»Nö, das spielt überhaupt keine Rolle«, antwortete Mikael mit einer so müden und resignierten Stimme, dass er wie ein Orakel wirkte. Diese Replik würde im folgenden Jahr noch so manches Mal zitiert werden. Er fuhr fort:

»Das bedeutet nur, dass unzählige Spekulanten sich jetzt von schwedischen auf deutsche Aktien verlegen werden. Diese Finanzjongleure sollte man dingfest machen und als Landesverräter an den Pranger stellen. Sie sind es nämlich, die der schwedischen Wirtschaft systematisch und vielleicht sogar bewusst schaden, um den Wunsch ihrer Klienten nach Profit zu befriedigen.«

Dann beging die Journalistin den Fehler, genau die Frage zu stellen, auf die Mikael gehofft hatte.

»Sie meinen also, dass die Medien keine Verantwortung tragen?«

»Doch, die Medien tragen in höchstem Maße Verantwortung. Mindestens zwanzig Jahre lang haben es allzu viele Wirtschaftsjournalisten unterlassen, Hans-Erik Wennerström einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Stattdessen haben sie ihm durch unbesonnene Lobeshymnen geholfen, sein Prestige aufzubauen. Wenn sie in den letzten zwanzig Jahren ihren Job gemacht hätten, dann wären wir heute nicht in dieser Situation.«

Dieser Auftritt war ein Wendepunkt gewesen. Im Nachhinein war Erika sicher, dass erst Mikaels souveräner Auftritt im Fernsehen die schwedischen Medien davon überzeugt hatte, dass die Story wirklich wasserdicht war. Sein Auftreten hatte der Geschichte wegweisenden Charakter verliehen.

Nach dem Interview wanderte die Wennerström-Affäre unmerklich von den Wirtschaftsredaktionen auf die Tische der Polizeireporter. Das war ein Zeichen dafür, dass in den Redaktionen ein Umdenken stattgefunden hatte. Früher hatten normale Polizeireporter selten oder nie über Wirtschaftsverbrechen geschrieben, es sei denn, es ging um die russische Mafia oder jugoslawische Zigarettenschmuggler. Man erwartete von ihnen nicht, dass sie verwickelte Geschehnisse an der Börse untersuchten. Eine Abendzeitung nahm Mikael Blomkvist sogar beim Wort und füllte zwei Doppelseiten mit Porträts wichtigster Finanzmakler, die gerade deutsche Wertpapiere kauften. Die Zeitung titelte Sie verkaufen ihr Land. Alle Broker wurden aufgefordert, die Behauptungen zu kommentieren. Alle lehnten ab. Aber der Aktienhandel ging an jenem Tag bedenklich zurück, und ein paar Makler, die sich als progressive Patrioten profilieren wollten, begannen, gegen den Strom zu schwimmen. Mikael Blomkvist lachte sich kaputt.

Der Druck wurde so groß, dass ernste Männer in dunklen Anzügen ihre Stirn in Falten legten und gegen die wichtigste Regel jener exklusiven Gesellschaft verstießen, die den innersten Kreis der schwedischen Hochfinanzwelt bildeten - sie äußerten sich über einen Kollegen. Plötzlich gaben pensionierte Volvo-Chefs, Industriekapitäne und Bankdirektoren Fernsehinterviews, um den Schaden zu begrenzen. Der Ernst der Lage war allen klar, nun ging es darum, sich so schnell wie möglich von der Wennerstroem Group zu distanzieren und eventuelle Aktienbestände abzustoßen. Wennerström (so verkündeten sie fast einstimmig) war trotz allem kein richtiger Industrieller, und er war auch nie so recht im Klub akzeptiert worden. Jemand erinnerte daran, dass Wennerström im Grunde ja nur ein einfacher Arbeiterjunge aus Norrland war, dem der Erfolg zu Kopf gestiegen war. Irgendjemand beschrieb sein Verhalten als eine persönliche Tragödie. Andere taten auf einmal kund, dass sie schon seit Jahren an Wennerström gezweifelt hatten - er trat zu prahlerisch auf und hatte einfach keine Manieren.

In den folgenden Wochen, nachdem das Beweismaterial von Millennium in allen Einzelheiten durchleuchtet worden war, wurde Wennerströms Imperium obskurer Firmen mit dem Herzen der internationalen Mafia in Verbindung gebracht, die so gut wie alles betrieb, von illegalem Waffenhandel über Geldwäsche für südamerikanische Drogenhändler bis hin zur Prostitution in New York oder Geschäften mit Kindersex in Mexiko. Ein in Gibraltar registriertes Wennerström-Unternehmen verursachte großen Wirbel, als herauskam, dass es versucht hatte, auf dem ukrainischen Schwarzmarkt aufbereitetes Uran zu kaufen. An jedem Winkel dieser Erde schien eine von Wennerströms obskuren Briefkastenfirmen in einem anderen Zusammenhang aufzutauchen.

Erika stellte fest, dass das Buch über Wennerström das Beste war, was Mikael jemals geschrieben hatte. Der Stil war uneinheitlich, die Sprache streckenweise sogar holprig - für stilistische Finessen war einfach keine Zeit gewesen -, aber Mikael führte hier seinen großen Rachefeldzug, und so war das Buch beseelt von einer maßlosen Wut, die keinem Leser verborgen bleiben konnte.

Aus reinem Zufall begegnete Mikael seinem Gegenspieler, dem ehemaligen Wirtschaftsjournalisten William Borg. Sie liefen sich an der Garderobe der Mühle über den Weg. Mikael, Erika und Christer hatten sich zum Lucia-Fest am 13. Dezember einen freien Abend genehmigt, um mit ihren Mitarbeitern auszugehen und sich auf Firmenkosten gepflegt volllaufen zu lassen. Borg war in Begleitung eines stockbetrunkenen Mädchens in Lisbeths Alter.

Mikael erstarrte und musste sich schwer zurückhalten, um nichts Unpassendes zu sagen oder zu tun. Stattdessen standen Borg und er sich gegenüber und maßen sich stumm mit Blicken.

Diese Blicke - so behauptete Erika später - hätten das Haus in Brand setzen können. Mikaels Ekel vor Borg war geradezu körperlich spürbar. Sie hatte dem Machogetue schließlich ein Ende bereitet, indem sie Mikael am Arm packte und ihn an die Bar zog.

Mikael beschloss, Lisbeth bei Gelegenheit darum zu bitten, Borg einer ihrer berühmten Personenrecherchen zu widmen.

Während des ganzen Medienrummels blieb die Hauptperson des Dramas, der Geschäftsmann Hans-Erik Wennerström, weitgehend unsichtbar. An dem Tag, als der Millennium-Artikel herausgekommen war, hatte er, auf einer schon vorher angesetzten Pressekonferenz zu einem ganz anderen Thema, einen Kommentar dazu abgegeben. Wennerström erklärte, dass die Anschuldigungen nicht haltbar seien und die angegebenen Quellennachweise eine Fälschung. Er erinnerte daran, dass derselbe Reporter ein Jahr zuvor wegen Verleumdung verurteilt worden war.

Danach antworteten nur noch Wennerströms Anwälte auf die Fragen der Massenmedien. Zwei Tage nach der Auslieferung von Mikaels Buch verbreitete sich das Gerücht, Wennerström habe das Land verlassen. Die Abendzeitungen verwendeten in ihren Überschriften das Wort Flucht. Als die Polizei in der zweiten Woche versuchte, offiziell Kontakt mit ihm aufzunehmen, stellte sie ebenfalls fest, dass er nicht im Lande war. Mitte Dezember bestätigte sie, dass Wennerström zur Fahndung ausgeschrieben sei, und einen Tag vor Silvester ging eine offizielle Suchmeldung an die internationalen Polizeiapparate. Am selben Tag wurde einer von Wennerströms engsten Mitarbeitern auf dem Flughafen Arlanda festgenommen, als er an Bord einer Maschine nach London gehen wollte.

Ein paar Wochen später berichtete ein schwedischer Tourist, er habe Wennerström in Bridgetown, der Hauptstadt von Barbados, in ein Auto steigen sehen. Als Beweis für seine Behauptung legte er ein Foto vor, das aus relativ großer Entfernung einen weißen Mann mit Sonnenbrille, weit aufgeknöpftem Hemd und heller Hose zeigte. Der Mann konnte nicht mit Sicherheit identifiziert werden, aber die Abendzeitungen schickten ihre Reporter los, die sich ohne Erfolg bemühten, Wennerström auf den karibischen Inseln aufzuspüren.

Nach sechs Monaten wurde die Suche eingestellt. Kurz darauf wurde Hans-Erik Wennerström tot in einer Wohnung in Marbella, Spanien, aufgefunden, wo er unter dem Namen Victor Fleming gelebt hatte. Er war aus nächster Nähe mit drei Schüssen in den Kopf getötet worden. Die spanische Polizei ging davon aus, dass er einen Einbrecher überrascht hatte.

Wennerströms Tod kam für Lisbeth Salander nicht überraschend. Aus gutem Grund brachte sie sein Hinscheiden mit der Tatsache in Verbindung, dass er bei einer gewissen Bank auf den Cayman Islands keinen Zugang zum Geld mehr hatte, das er eigentlich dringend gebraucht hätte, um gewisse obskure Schulden in Kolumbien zu begleichen.

Wenn jemand sich die Mühe gemacht hätte, Lisbeth Salander bei der Suche nach Wennerström um Hilfe zu bitten, hätte sie fast jeden Tag exakt sagen können, wo er sich gerade befand. Sie hatte seine verzweifelte Flucht durch ein Dutzend Länder per Internet verfolgt und die wachsende Panik aus seinen Mails herauslesen können, sobald er irgendwo seinen Laptop anschloss. Aber nicht einmal Mikael Blomkvist hielt den fliehenden Ex-Milliardär für so dumm, dass er denselben Computer mit sich herumschleppte, der bereits so gründlich ausgeschlachtet worden war.

Nach einem halben Jahr hatte Lisbeth es satt gehabt, Wennerström zu folgen. Blieb nur noch die Frage, wie weit ihr eigenes Engagement gehen sollte. Wennerström war zweifellos ein Riesenschwein, aber er war nicht ihr persönlicher Feind, und sie hatte kein Interesse, selbst tätig zu werden. Sie konnte Mikael einen Tipp geben, aber der würde wahrscheinlich nur einen Artikel daraus machen. Sie konnte der Polizei einen Tipp geben, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Wennerström gewarnt werden würde und sich wieder aus dem Staub machen konnte, war relativ groß. Außerdem redete sie aus Prinzip nicht mit der Polizei.

Aber da gab es ja noch andere unbezahlte Schulden. Sie dachte an die schwangere zweiundzwanzigjährige Kellnerin, der man in ihrer Badewanne den Kopf unter Wasser gehalten hatte.

Vier Tage bevor Wennerström tot aufgefunden wurde, hatte sie sich entschieden. Sie hatte ihr Handy aufgeklappt und einen Anwalt in Miami angerufen, der einer der Leute zu sein schien, vor denen Wennerström sich hauptsächlich versteckte. Sie hatte mit einer Sekretärin gesprochen und sie gebeten, eine geheimnisvolle Botschaft auszurichten: den Namen »Wennerstroem« sowie eine Adresse in Marbella. Das war alles.

Sie schaltete die Nachrichten aus, als gerade ein dramatischer Bericht über Wennerströms Hinscheiden lief. Dann schaltete sie die Kaffeemaschine ein und schmierte sich ein Leberwurstbrot mit Gurkenscheiben.

Erika Berger und Christer Malm trafen die alljährlichen Weihnachtsvorbereitungen, während Mikael auf Erikas Sessel saß und ihnen, Glühwein trinkend, zusah. Alle Angestellten und die meisten freien Mitarbeiter bekamen ein Weihnachtsgeschenk - dieses Jahr war es eine Umhängetasche mit dem Millennium-Logo. Nachdem sie die Geschenke eingepackt hatten, begannen sie knapp zweihundert Weihnachtskarten an die Druckerei, an Fotografen und Kollegen aus der Medienbranche zu schreiben und zu frankieren.

Mikael versuchte lange, der Versuchung zu widerstehen, aber schließlich konnte er es sich doch nicht verkneifen. Er nahm eine letzte Weihnachtskarte und schrieb: Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Danke für einen fantastischen Einsatz im letzten Jahr.

Er unterschrieb mit seinem Namen und adressierte die Karte an Janne Dahlman c/o Redaktion des Wirtschaftsmagazins Monopol.

Als Mikael abends nach Hause kam, fand er selbst eine Paketabholkarte vor. Er holte sein Weihnachtsgeschenk am nächsten Morgen bei der Post ab und öffnete es, sobald er in der Redaktion war. Das Paket enthielt einen Mückenstift und eine kleine Flasche Reimersholmer Schnaps. Mikael öffnete die Karte und las: Wenn du nichts anderes vorhast, gehe ich am Mittsommerabend in Arholma vor Anker. Unterzeichnet war die Karte von seinem ehemaligen Schulkameraden Robert Lindberg.

Traditionellerweise schloss die Millennium-Redaktion eine Woche vor Weihnachten bis nach Neujahr. Dieses Jahr war das nicht ganz so einfach; der Druck auf die kleine Redaktion war enorm gewesen, und immer noch riefen täglich Journalisten aus allen Ecken der Welt an. Erst einen Tag vor Heiligabend stieß Mikael zufällig auf einen Artikel der Financial Times, der die derzeitigen Ergebnisse der internationalen Bankenkommission zusammenfasste, welche in aller Eile ins Leben gerufen worden war, um Wennerströms Imperium zu untersuchen. Die Kommission ging davon aus, dass Wennerström wohl in letzter Sekunde in irgendeiner Form vor seiner bevorstehenden Enttarnung gewarnt worden war.

Seine Konten bei der Bank of Kronenfeld auf den Cayman Islands - mit einem Guthaben von 260 Millionen US-Dollar - waren einen Tag vor der Veröffentlichung der Millennium-Reportage leer geräumt worden.

Die Gelder waren auf anderen Konten wieder aufgetaucht, über die nur Wennerström persönlich verfügen konnte, und zwar ohne bei der Bank vorstellig werden zu müssen. Um das Geld zu jeder anderen Bank der Welt zu transferieren, brauchte er nur eine Serie von Clearingcodes anzugeben. Die Gelder waren in die Schweiz überführt worden, wo eine weibliche Helferin die Summe in anonyme Privatobligationen umgesetzt hatte. Alle Clearingcodes waren in Ordnung gewesen.

Europol hatte eine internationale Suchmeldung nach dieser unbekannten Frau ausgegeben. Sie hatte einen gestohlenen englischen Pass mit dem Namen Monica Sholes verwendet und angeblich ein Luxusleben in einem der teuersten Hotels in Zürich geführt. Das Foto - es war erstaunlich scharf, obwohl es von einer Überwachungskamera stammte - zeigte eine kleine Frau mit blondem Pagenkopf, breitem Mund, großen Brüsten, exklusiver Designerkleidung und Goldschmuck.

Mikael sah das Bild an, zuerst flüchtig, dann immer aufmerksamer.

Wenige Sekunden später wühlte er in seiner Schreibtischschublade nach einem Vergrößerungsglas und versuchte die Details ihrer Gesichtszüge aus dem Raster des Zeitungsfotos herauszulesen.

Schließlich legte er die Zeitung aus der Hand und war mehrere Minuten sprachlos. Dann begann er so hysterisch zu lachen, dass Christer Malm den Kopf zur Tür hereinsteckte und fragte, was denn los sei. Mikael winkte nur ab.

Am Vormittag des 24. Dezember fuhr Mikael nach Årsta zu seiner Exfrau und seiner Tochter Pernilla, um ihnen seine Weihnachtsgeschenke zu bringen. Pernilla bekam einen Computer, den sie sich gewünscht hatte und den Mikael und Monica gemeinsam gekauft hatten. Mikael bekam eine Krawatte von seiner Exfrau und einen Åke-Edwardson-Krimi von seiner Tochter. Im Gegensatz zur letzten Weihnacht waren sie diesmal ganz aufgekratzt von dem Mediendrama, das sich rund um Millennium abspielte.

Sie aßen zusammen zu Mittag. Mikael musterte Pernilla verstohlen. Er hatte seine Tochter seit ihrem Überraschungsbesuch in Hedestad nicht mehr gesehen. Plötzlich fiel ihm auch ein, dass er mit ihrer Mutter nie über ihre Leidenschaft für eine Sekte von Bibelchristen in Skellefteå gesprochen hatte. Ebenso wenig konnte er erzählen, dass es die Bibelkenntnisse seiner Tochter gewesen waren, die ihn bei der Suche nach Harriet Vanger letztendlich auf die richtige Spur gebracht hatten. Er hatte seitdem tatsächlich kaum an seine Tochter gedacht und spürte, wie ihm das schlechte Gewissen einen Stich versetzte.

Er war kein guter Vater.

Nach dem Mittagessen gab er seiner Tochter einen Abschiedskuss, traf sich mit Lisbeth und fuhr mit ihr nach Sandhamn. Seit die Millennium-Bombe hochgegangen war, hatten sie sich kaum gesehen. Sie kamen am Heiligabend spät bei Mikaels Hütte an und blieben über die Feiertage dort.

Mikael war wie immer kurzweilig, aber Lisbeth hatte das unangenehme Gefühl, dass er sie äußerst eigenartig ansah, als sie ihm sein Darlehen mit einem Scheck über 120 000 Kronen zurückzahlte. Doch er sagte nichts.

Sie machten einen Spaziergang nach Trovill und zurück (was Lisbeth als Zeitverschwendung betrachtete), aßen ein festliches Abendessen im Gasthaus und zogen sich in Mikaels Hütte zurück, wo sie ein Feuer im Kachelofen machten, eine Elvis-CD auflegten und sich unspektakulärem Sex hingaben. Als Lisbeth zwischendurch an die Oberfläche kam, versuchte sie, sich über ihre eigenen Gefühle klar zu werden.

Sie hatte kein Problem mit Mikael als Liebhaber. Sie hatten Spaß im Bett. Ihr Zusammensein war eine äußerst körperliche Angelegenheit. Und er versuchte nie, sie zu dressieren.

Ihr Problem war, dass sie ihre Gefühle für Mikael nicht deuten konnte. Schon lange vor ihrer Pubertät hatte sie begonnen, sorgfältig darauf zu achten, ja keinen anderen Menschen so nah an sich heranzulassen, wie sie es jetzt mit Mikael Blomkvist tat. Offen gesagt hatte er die lästige Begabung, ihre Abwehrmechanismen zu durchdringen und sie immer wieder dazu zu verführen, mit ihm über persönliche Angelegenheiten und private Gefühle zu reden. Auch wenn sie noch genug Verstand besaß, die meisten seiner Fragen zu ignorieren, erzählte sie ihm doch auf eine Art und Weise von sich selbst, wie sie es sich bei anderen Menschen nicht mal unter Todesdrohungen hätte vorstellen können. Das erschreckte sie, sie fühlte sich nackt und seiner Willkür ausgeliefert.

Dann wieder - wenn sie auf den schlafenden Mikael herabblickte und seinem Schnarchen lauschte - fühlte sie, dass sie noch nie zuvor in ihrem Leben einem anderen Menschen so vorbehaltlos vertraut hatte. Sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass Mikael sein Wissen über sie niemals dazu verwenden würde, ihr zu schaden. Das lag nicht in seiner Natur.

Das Einzige, worüber sie nie sprachen, war ihr Verhältnis. Wie es dazu gekommen war, wusste sie selbst nicht, ebenso wenig, wie sie damit umgehen sollte. Zum ersten Mal in ihrem fünfundzwanzigjährigen Leben war sie verliebt.

Dass er fast doppelt so alt war wie sie, war ihr egal. Ebenso, dass er zu den Personen gehörte, über die in den schwedischen Zeitungen derzeit am meisten geschrieben wurde, und dass er es sogar auf das Cover von Newsweek geschafft hatte - das war nur eine billige Soap. Aber Mikael war keine erotische Fantasie und kein Tagtraum. Es musste ein Ende nehmen, es konnte nicht funktionieren. Zu welchem Zweck sollte er sich schon mit ihr abgeben, wenn nicht zum Zeitvertreib, während er auf jemand wartete, dessen Leben nicht ein einziges stinkendes Chaos war?

Mit einem Mal ging ihr auf, dass Liebe der Augenblick ist, in dem einem plötzlich das Herz brechen will.

Als Mikael aufwachte, hatte sie Kaffee gekocht und Brötchen auf den Tisch gestellt. Er setzte sich zu ihr an den Tisch und bemerkte sofort, dass sich in ihrem Verhalten irgendetwas geändert hatte - dass sie ein klein wenig distanzierter war. Als er sie fragte, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei, sah sie ihn auf ihre neutrale Art verständnislos an.

Am ersten Tag nach Weihnachten nahm Mikael den Zug nach Hedestad. Er hatte warme Kleidung und richtige Winterschuhe an, als Dirch Frode ihn am Bahnhof abholte und diskret zu seinem Erfolg in den Medien gratulierte. Es war das erste Mal seit August, dass er Hedestad wieder besuchte, und es war fast auf den Tag genau ein Jahr her, dass er zum ersten Mal hierhergekommen war. Sie schüttelten sich die Hand und unterhielten sich höflich, aber es stand zu viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, und Mikael fühlte sich unwohl.

Es war schon alles vorbereitet, sodass die geschäftlichen Transaktionen bei Frode nur ein paar Minuten in Anspruch nahmen. Frode hatte ihm angeboten, das Geld auf ein bequemes Auslandskonto zu überweisen, aber Mikael hatte darauf bestanden, dass es ihm als ganz normal zu versteuerndes Honorar an seine Firma gezahlt werden sollte.

»Eine andere Art von Aufwandsentschädigung kann ich mir nicht leisten«, hatte er kurz angebunden geantwortet, als Frode nachfragte.

Der Besuch war nicht nur pekuniärer Natur. Mikael hatte auch noch Kleidung, Bücher und ein paar persönliche Habseligkeiten im Gästehäuschen zurückgelassen, als Lisbeth und er so überstürzt aus Hedeby aufgebrochen waren.

Henrik war nach seinem Herzanfall immer noch schwach auf den Beinen, aber inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er war in ständiger Gesellschaft einer Privatpflegerin, die ihm das Recht verweigerte, lange Spaziergänge zu unternehmen, Treppen zu steigen oder über Dinge zu reden, die ihn aufregen könnten. Zwischen den Jahren hatte er sich nun auch noch eine Erkältung zugezogen, worauf sie ihm strengste Bettruhe verordnet hatte.

»Und dann ist sie auch noch teuer«, beklagte er sich.

Das berührte Mikael relativ wenig, denn er fand, der Alte konnte sich diese Ausgabe durchaus leisten, wenn man bedachte, wie viele Steuern er im Laufe seines Lebens hinterzogen hatte. Henrik betrachtete ihn verdrießlich, bevor er in Lachen ausbrach.

»Verdammt noch mal, Sie waren jede einzelne Krone wert. Ich wusste es.«

»Ehrlich gesagt, ich habe nie geglaubt, dass ich das Rätsel lösen könnte.«

»Ich habe nicht vor, Ihnen zu danken«, erklärte Henrik.

»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Mikael.

»Sie sind anständig bezahlt worden.«

»Ich beklage mich nicht.«

»Sie haben einen Job für mich erledigt, und der Lohn sollte Dank genug sein.«

»Ich bin auch nur hier, um Ihnen zu erklären, dass ich meine Arbeit als abgeschlossen betrachte.«

Henrik Vanger kräuselte die Lippen. »Im Grunde haben Sie die Arbeit gar nicht abgeschlossen«, sagte er.

»Ich weiß.«

»Sie haben die vereinbarte Chronik der Familie Vanger nicht geschrieben.«

»Auf Ihren eigenen Wunsch habe ich davon Abstand genommen. Ich sehe auch keine Möglichkeit, von der Familie Vanger zu berichten und dabei absichtlich die zentrale Handlung der letzten Jahrzehnte unter den Tisch fallen zu lassen - Harriet, ihren Vater, ihren Bruder und die Morde. Wie könnte ich ein Kapitel über Martins Zeit als Geschäftsführer schreiben und so tun, als wüsste ich nicht, was in seinem Keller los war? Aber ich kann die Story auch nicht schreiben, ohne Harriets Leben noch einmal zu zerstören.«

»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie meine Bitte befolgen.«

»Gratuliere. Es ist Ihnen tatsächlich gelungen, mich zu korrumpieren. Ich werde alle Notizen und Tonbandaufnahmen von Ihnen zerstören.«

»Ich kann eigentlich nicht finden, dass Sie korrumpiert worden sind«, meinte Henrik Vanger.

»Aber es kommt mir so vor. Und dann ist es wahrscheinlich auch so.«

»Sie mussten sich zwischen Ihrer Arbeit als Journalist und Ihrer Aufgabe als Mitmensch entscheiden. Ich bin sicher, ich hätte Ihr Schweigen nicht erkaufen können, und Sie hätten sich für Ihre Rolle als Journalist entschieden, wenn Harriet Mittäterin gewesen wäre, oder wenn Sie mich für einen Mistkerl gehalten hätten.«

Mikael sagte nichts. Henrik sah ihn an.

»Wir haben Cecilia in die ganze Geschichte eingeweiht. Dirch und ich werden bald abtreten, und Harriet wird die eine oder andere Stütze in der Familie brauchen. Cecilia wird auch ins Unternehmen eintreten und aktiv am Führungskreis beteiligt sein. In Zukunft werden Harriet und sie das Unternehmen leiten.«

»Wie hat sie es aufgenommen?«

»Sie war natürlich schockiert. Sie ist für eine Weile ins Ausland gefahren. Eine Zeit lang hatte ich schon Angst, dass sie nicht mehr zurückkommen würde.«

»Aber sie ist zurückgekommen.«

»Martin war einer der wenigen Verwandten, mit dem Cecilia sich immer verstanden hatte. Es war schwer für sie, die Wahrheit über ihn zu erfahren. Cecilia weiß jetzt also auch, was Sie für die Familie getan haben.«

Mikael zuckte mit den Schultern.

»Danke, Mikael«, sagte Henrik.

Mikael zuckte nochmals mit den Schultern.

»Außerdem könnte ich die Story gar nicht mehr schreiben«, erklärte er. »Mir steht die Familie Vanger bis obenhin.«

Sie dachten wieder einen Moment nach, bevor Mikael das Thema wechselte.

»Wie fühlt es sich an, nach fünfundzwanzig Jahren wieder Geschäftsführer zu sein?«

»Es ist ja nur vorübergehend, aber … ich wünschte, ich wäre jünger. Im Moment arbeite ich nur drei Stunden am Tag. Alle Treffen werden in diesem Zimmer abgehalten, und Dirch steht mir wieder zur Seite, für den Fall, dass jemand aus der Reihe tanzt.«

»Dann hoffe ich, dass sie die Junioren gut unter Kontrolle haben. Ich habe ein ganzes Weilchen gebraucht, bis mir klar wurde, dass Frode nicht nur ein braver Ratgeber in Finanzdingen für Sie war, sondern die Person, die all Ihre Probleme löst.«

»Genau. Aber wir fassen alle Beschlüsse gemeinsam mit Harriet, und sie leistet auch die ausführenden Arbeiten im Büro.«

»Reicht das?«

»Ich weiß es nicht. Birger arbeitet ihr entgegen und versucht ständig, ihr ein Bein zu stellen. Alexander ist plötzlich aufgegangen, dass er eine Chance hat, sich Geltung zu verschaffen, und hat sich mit Birger zusammengetan. Mein Bruder Harald hat Krebs und wird nicht mehr lange leben. Er hat als Einziger noch einen großen Aktienanteil von sieben Prozent, den die Kinder erben werden. Cecilia und Anita werden sich mit Harriet verbünden.«

»Dann kontrollieren Sie über vierzig Prozent.«

»So ein Stimmenkartell hat es in der Familie noch nie zuvor gegeben. Und genügend Teilhaber mit einem oder zwei Prozent werden sich uns anschließen. Harriet wird im Februar meinen Posten als Geschäftsführer übernehmen.«

»Sie wird nicht glücklich werden.«

»Wer weiß. Wir müssen neue Partner und neues Blut in unsere Firma holen. Wir haben auch die Möglichkeit, mit ihrer Firma in Australien zusammenzuarbeiten. Da gibt es Chancen.«

»Wo ist Harriet heute?«

»Sie haben Pech. Sie ist in London. Aber sie möchte Sie furchtbar gerne sehen.«

»Ich werde sie im Januar auf der Vorstandssitzung bei Millennium sehen, wenn sie Ihre Nachfolge antritt.«

»Ich weiß.«

»Richten Sie ihr aus, dass ich über die Geschehnisse der sechziger Jahre mit niemand außer Erika Berger sprechen werde.«

»Da sind wir uns ganz sicher. Wir kennen Ihre Integrität.«

»Aber sagen Sie ihr auch, dass alles, was sie von jetzt an tut, in die Zeitung kommen kann, wenn sie nicht aufpasst. Der Vanger-Konzern hat bei uns keinen Freibrief, wir werden ihn genauso beobachten wie andere Unternehmen.«

»Ich werde sie warnen.«

Mikael verließ Henrik Vanger, als der alte Mann langsam einschlummerte. Er packte seine Habseligkeiten in zwei Taschen. Als er die Tür des Gästehäuschens zum letzten Mal schloss, zögerte er kurz, bevor er zu Cecilia hinüberging und klopfte. Sie war nicht zu Hause. Er zückte seinen Taschenkalender, riss eine Seite heraus und schrieb ein paar Worte drauf. Verzeih mir. Ich wünsche Dir alles Gute. Zusammen mit seiner Visitenkarte warf er den Zettel in ihren Briefkasten. In ihrem Küchenfenster stand ein weihnachtlicher Kerzenleuchter mit elektrischen Lichtern.

Er nahm den Abendzug zurück nach Stockholm.

Zwischen den Jahren kapselte sich Lisbeth Salander völlig von der Welt ab. Sie ging nicht ans Telefon und schaltete ihren Computer nicht an. Sie verbrachte zwei Tage damit, ihre Kleider zu waschen, die Wohnung zu schrubben und aufzuräumen. Uralte Pizzakartons und Tageszeitungen wurden gebündelt und weggeworfen. Insgesamt trug sie sechs schwarze Müllsäcke hinaus und ungefähr zwanzig Tüten Altpapier. Als hätte sie beschlossen, ein völlig neues Leben anzufangen. Sie hatte vor, sich eine Wohnung zu kaufen - falls sie etwas Passendes fand -, aber bis dahin sollte ihr altes Zuhause so strahlend sauber sein wie nie zuvor.

Danach saß sie wie gelähmt auf dem Sofa und grübelte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Sehnsucht verspürt. Sie wollte, dass Mikael an ihrer Tür klingelte und … was? Sie in den Arm nahm, leidenschaftlich ins Schlafzimmer zerrte und ihr die Kleider vom Leib riss? Nein, eigentlich wollte sie bloß mit ihm zusammen sein. Sie wollte hören, wie er sagte, dass er sie so mochte, wie sie war. Sie wollte hören, wie er sagte, dass sie in seiner Welt und in seinem Leben etwas ganz Besonderes war. Sie wollte, dass er ihr eine Geste der Liebe zuteil werden ließ, nicht nur der Freundschaft und Kameradschaft. Jetzt dreh ich wohl langsam durch.

Sie zweifelte an sich selbst. Mikael Blomkvist lebte in einer anderen Welt, voller Menschen mit respektablen Berufen und einem wohlgeordneten Dasein. Seine Bekannten machten tolle Sachen, waren im Fernsehen zu sehen und sorgten für Schlagzeilen. Wofür solltest du mich brauchen? Lisbeths größte Angst - so groß und so schwarz, dass sie schon fast die Ausmaße einer Phobie annahm - war, dass die Leute sie für ihre Gefühle auslachen könnten. Und während sie ihre Wohnung putzte, schien plötzlich nach und nach all ihr mühsam aufgebautes Selbstwertgefühl wieder einzustürzen.

Da fasste sie einen Entschluss. Sie brauchte zwar ein paar Stunden, um den erforderlichen Mut aufzubringen, aber sie musste ihn unbedingt treffen und ihm erzählen, wie sie sich fühlte.

Alles andere wäre unerträglich.

Sie benötigte freilich einen Vorwand, um an seine Tür zu klopfen. Sie hatte ihm kein Weihnachtsgeschenk gegeben, wusste aber, was sie ihm kaufen wollte. In einem Trödelladen hatte sie ein paar alte Reklameschilder aus Blech aus den fünfziger Jahren gefunden, auf denen die Figuren in Halbreliefs hervortraten. Eines der Schilder stellte Elvis Presley dar, die Gitarre auf der Hüfte und daneben eine Sprechblase mit dem Text Heartbreak Hotel. Zwar hatte Lisbeth nicht das geringste Gespür für Inneneinrichtung, aber sogar ihr war klar, dass dieses Schild perfekt in die Hütte in Sandhamn passen würde. Es kostete 780 Kronen, und rein aus Prinzip handelte sie den Preis auf 700 herunter. Sie ließ es sich einpacken, nahm es unter den Arm und spazierte damit zu seiner Wohnung in der Bellmansgata.

Auf der Hornsgata warf sie zufällig einen Blick in die Kaffeebar und sah plötzlich Mikael mit Erika im Schlepptau herauskommen. Er sagte etwas, woraufhin Erika lachte, ihm die Arme um die Taille legte und ihm einen Kuss auf die Wange gab. Sie verschwanden über die Brännkyrkagata in Richtung Bellmansgata. Ihre Körpersprache ließ keinen Zweifel daran, was sie im Sinn hatten.

Der Schmerz war so jäh und brutal, dass Lisbeth innehielt - unfähig, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun. Ein Teil von ihr wollte ihnen hinterherlaufen. Am liebsten hätte sie das Blechschild genommen, um mit der scharfen Kante Erikas Kopf zu spalten. Sie unternahm gar nichts, während die Gedanken durch ihren Kopf rasten. Konsequenzanalyse. Schließlich beruhigte sie sich wieder.

Salander, du bist so ein peinliches Rindvieh, sagte sie laut zu sich selbst.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging nach Hause in ihre frisch geputzte Wohnung. Als sie am Zinkensdamm vorbeikam, begann es zu schneien. Den Elvis Presley warf sie in einen Müllcontainer.

STIEG LARSSON

Verdammnis

Roman

Ein ehrgeiziger junger Journalist bietet Mikael Blomkvist für sein Magazin Millennium eine Story an, die skandalöser nicht sein könnte. Amts- und Würdenträger der schwedischen Gesellschaft vergehen sich an jungen russischen Frauen, die gewaltsam zur Prostitution gezwungen werden. Als sich Lisbeth Salander in die Recherchen einschaltet, stößt sie auf ein pikantes Detail: Nils Bjurman, ihr ehemaliger Betreuer, scheint in den Mädchenhandel involviert zu sein. Wenig später werden der Journalist und Bjurman tot aufgefunden. Die Tatwaffe trägt Lisbeths Fingerabdrücke. Sie wird an den Pranger gestellt und flüchtet. Nur Mikael Blomkvist glaubt an ihre Unschuld und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Seine Nachforschungen führen in Lisbeth Salanders Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ihn bald das Fürchten lehrt.

»Wenn ein Autor ein so komplexes und faszinierendes Porträt abliefert wie das von Lisbeth Salander, können wir nur schweigend und dankbar den Hut ziehen. Besser geht es kaum noch.«

Gefle Dagblad

»Der zweite Band ist noch einen Tick besser. Nicht mal der eifrigste Fehlersucher findet hier etwas Störendes. Stieg Larsson ist der bedeutendste Krimiautor unserer Zeit«.

Kristianstadsbladet

Der neue große Roman des preisgekrönten Bestsellerautors Stieg Larsson!

Prolog

Er hatte sie mit Lederriemen auf einer schmalen, stählernen Pritsche gefesselt. Ein straff gespannter Riemen verlief über ihren Brustkorb. Sie lag auf dem Rücken. Die Hände hatte er zu beiden Seiten auf Hüfthöhe an das Stahlgestell gebunden.

Den Versuch, sich loszumachen, hatte sie schon lange aufgegeben. Obwohl sie wach war, hielt sie die Augen geschlossen, denn um sie herum war es dunkel. Nur ein schmaler Streifen Licht drang durch den Spalt über der Tür. Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund und sehnte sich danach, sich die Zähne putzen zu dürfen.

Unbewusst horchte sie immer mit einem Ohr nach dem Geräusch von Schritten, mit dem er sich ankündigte. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es schon war; es kam ihr allerdings so vor, als ob es langsam schon zu spät für seinen Besuch wäre. Als ihre Liege plötzlich leicht vibrierte, öffnete sie die Augen. Es war, als hätte man irgendwo im Haus eine Maschine angeworfen. Doch nach ein paar Sekunden war sie schon nicht mehr sicher, ob sie sich das Ganze einbildete oder ob das Geräusch tatsächlich existierte.

Im Geiste hakte sie einen weiteren Tag ab.

Heute war der dreiundvierzigste Tag ihrer Gefangenschaft.

Ihre Nase juckte, und sie drehte den Kopf zur Seite, um sich am Kissen reiben zu können. Sie schwitzte. Im Zimmer herrschte schwüle Wärme. Sie trug ein schlichtes Nachthemd, das unter ihrem Körper Falten schlug. Wenn sie die Hüften hob, konnte sie mit Zeigefinger und Mittelfinger gerade eben den Stoff zu fassen bekommen und das Hemd einen Zentimeter hinunterziehen. Dann wiederholte sie die Prozedur mit der anderen Hand. Trotzdem blieb im Kreuz eine hartnäckige Falte.

Ihre Matratze war durchgelegen und unbequem. Durch die völlige Isolation steigerte sich jeder geringfügige Reiz, den sie sonst kaum wahrgenommen hätte, um ein Vielfaches. Immerhin waren ihre Lederfesseln so locker, dass sie ab und zu ihre Stellung ändern und sich auf die Seite drehen konnte, aber das war auf die Dauer auch nicht sonderlich bequem, denn dann blieb eine Hand hinter ihrem Rücken, und der Arm schlief ihr ständig ein.

Trotz ihrer allgegenwärtigen Angst spürte sie, wie sich von Tag zu Tag mehr Wut in ihr aufstaute.

Gleichzeitig wurde sie von ihren Gedanken gequält, von unschönen Fantasien, was mit ihr geschehen würde. Sie hasste die Hilflosigkeit, in die er sie gezwungen hatte. So sehr sie auch versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, um sich die Zeit zu vertreiben und ihre Situation zu verdrängen, so hing die Angst doch über ihr wie eine Gaswolke und drohte jeden Moment durch ihre Poren zu dringen und ihr Dasein völlig zu vergiften. Mittlerweile hatte sie jedoch eine Methode entdeckt, mit der sie ihre Angst in Schach halten konnte: Sie fantasierte sich ein Szenario zusammen, das ihr ein Gefühl von Kraft einflößte. Sie schloss die Augen und beschwor den Geruch von Benzin herauf.

Er saß in seinem Auto, das Fenster war heruntergelassen. Sie rannte zum Auto, goss das Benzin durchs Fenster und riss ein Streichholz an. Das dauerte nur einen Augenblick. Im nächsten Moment loderten auch schon die Flammen auf. Er wand sich in Todesqualen, und sie hörte seine erschrockenen, schmerzerfüllten Schreie. Der Geruch von verbranntem Fleisch drang ihr in die Nase, und dazwischen der stechende Gestank von verkohltem Plastik und der versengten Polsterung des Autositzes.

Sie musste eingenickt sein, denn sie hatte gar keine Schritte gehört. Als die Tür aufging, war sie jedoch sofort hellwach. Das Licht, das durch die Türöffnung hereinfiel, blendete sie.

Er war also gekommen.

Er war groß. Sie wusste nicht, wie alt er war, aber er war auf jeden Fall schon erwachsen. Er hatte rotbraunes, zotteliges Haar, trug eine Brille mit schwarzem Gestell und ein dünnes Kinnbärtchen. Und er roch nach Rasierwasser.

Sie hasste seinen Geruch.

Schweigend blieb er am Fußende ihrer Pritsche stehen und betrachtete sie eine geraume Weile.

Sie hasste sein Schweigen.

Im Gegenlicht sah sie nur seine Silhouette und konnte sein Gesicht nicht erkennen. Plötzlich sprach er mit ihr. Er hatte eine tiefe, klare Stimme, mit der er jedes Wort pedantisch betonte.

Sie hasste seine Stimme.

Er erzählte, dass heute ihr Geburtstag sei und er ihr gratulieren wolle. Dabei war seine Stimme weder unfreundlich noch ironisch, sondern völlig neutral. Sie konnte sein Lächeln ahnen.

Sie hasste ihn.

Er kam näher und trat ans Kopfende. Dann legte er ihr seine feuchte Hand auf die Stirn und strich ihr mit den Fingern über den Haaransatz. Wahrscheinlich sollte diese Geste freundlich wirken. Das war sein Geburtstagsgeschenk für sie.

Sie hasste seine Berührung.

Er sprach mit ihr. Sie sah, wie sich sein Mund bewegte, blendete den Ton seiner Stimme jedoch aus. Sie wollte nicht zuhören. Sie wollte nicht antworten. Sie hörte, wie er die Stimme hob. Eine Spur von Gereiztheit über ihre mangelnde Reaktion hatte sich in seine Stimme geschlichen. Er sprach von gegenseitigem Vertrauen. Nach ein paar Minuten verstummte er endlich. Sie ignorierte seinen Blick. Schließlich zuckte er die Achseln und überprüfte ihre Fesseln. Nachdem er den Lederriemen über ihrer Brust ein wenig enger geschnallt hatte, beugte er sich über sie.

In der nächsten Sekunde warf sie sich, so schnell sie konnte, nach links, so weit wie möglich von ihm weg, so weit, wie es die Riemen zuließen. Sie zog die Knie unters Kinn und stieß ihm dann mit aller Kraft ihre Füße gegen den Kopf. Eigentlich hatte sie auf seinen Adamsapfel gezielt, aber sie traf ihn nur mit der Zehenspitze irgendwo unterm Kinn. Er hatte schnell reagiert und war ausgewichen, sodass sie ihn nur ganz leicht streifte. Als sie einen zweiten Tritt versuchte, war er bereits außer Reichweite.

Sie ließ die Beine wieder auf die Liege sinken.

Ihre Decke hing auf den Boden, ihr Nachthemd war ihr bis weit über die Hüften hochgerutscht.

Eine ganze Weile blieb er wortlos stehen. Dann ging er zum Fußende und nahm die Fesseln, die dort an der Pritsche hingen. Sie versuchte, die Beine anzuziehen, doch er packte sie beim Knöchel, drückte mit der anderen Hand ihr Knie auf die Matratze und fesselte ihren Fuß mit dem Lederriemen. Dasselbe wiederholte er auf der anderen Seite mit ihrem zweiten Fuß.

Nun war sie völlig hilflos.

Er hob die Decke auf und deckte sie zu. Schweigend betrachtete er sie zwei Minuten. Auch im Dunkeln konnte sie seine Erregung spüren, obwohl er sie nicht zeigte. Ganz bestimmt hatte er eine Erektion. Sie wusste, dass er eine Hand ausstrecken und sie berühren wollte.

Doch dann drehte er sich um, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sie hörte, wie er den Riegel vorlegte, was gänzlich sinnlos war, da sie ja sowieso keine Möglichkeit hatte, sich von ihrer Liege loszumachen.

Mehrere Minuten blieb sie liegen und fixierte den schmalen Lichtstreifen über der Tür. Schließlich bewegte sie sich ein wenig, um festzustellen, wie fest die Riemen saßen. Sie konnte die Knie noch leicht anziehen, doch dann setzten die Fesseln jeder Bewegung ein Ende. Sie entspannte sich, blieb ganz still liegen, starrte ins Nichts und wartete.

Fantasierte von einem Benzinkanister und einem Streichholz.

Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, völlig benzingetränkt. Sie konnte die Streichholzschachtel in ihrer Hand geradezu physisch wahrnehmen. Sie schüttelte sie. Es rasselte. Sie öffnete die Schachtel und nahm ein Streichholz heraus. Sie hörte ihn etwas sagen, ohne auf seine Worte zu achten. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, als sie das Streichholz entzündete. Sie hörte, wie der Schwefelkopf mit einem ratschenden Geräusch über die raue Fläche rieb. Es klang wie ein lang gezogener Donnerschlag. Sie sah die Flamme auflodern.

Sie lächelte und machte sich innerlich hart.

In dieser Nacht wurde sie 13 Jahre alt.

Teil I

Unregelmäßige Gleichungen

16.- 20. Dezember

Eine Gleichung wird nach der höchsten Potenz (dem Wert des Exponenten) der in ihr vorkommenden Unbekannten benannt. Ist dieser Exponent 1, handelt es sich um eine Gleichung ersten Grades, ist der Exponent 2, ist es eine Gleichung zweiten Grades etc. Bei Gleichungen zweiten oder höheren Grades ergeben sich für die Unbekannten mehrere Lösungen. Die Werte nennt man Wurzeln.

Gleichung ersten Grades (lineare Gleichung): 3x - 9 = 0 Lösung: x = 3

1. Kapitel

Donnerstag, 16. Dezember - Freitag, 17. Dezember

Lisbeth Salander schob sich die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und blinzelte unter der Krempe ihres Sonnenhutes hervor. Sie sah die Dame aus Zimmer 32 aus dem Seiteneingang des Hotels treten und auf eine der grün-weiß gestreiften Liegen am Pool zusteuern. Konzentriert heftete sie ihre Blicke auf den Boden, und es wirkte, als wäre sie etwas wackelig auf den Beinen.

Salander hatte sie zuvor nur aus der Entfernung gesehen. Sie schätzte sie auf ungefähr 35, aber bei ihrem Aussehen hätte sie jedes Alter zwischen 25 und 50 haben können. Ihr braunes Haar reichte ihr bis zu den Schultern, ihr Gesicht war etwas länglich, und ihr reifer Körper sah aus, als wäre er einem Versandkatalog für Damenunterwäsche entstiegen. Sie trug Sandalen, einen schwarzen Bikini und eine lila getönte Sonnenbrille. Ihr Amerikanisch hatte einen Südstaatenakzent. Nachdem sie ihren gelben Sonnenhut neben ihrer Liege auf den Boden hatte fallen lassen, gab sie dem Barkeeper an Ella Carmichaels Bar ein Zeichen.

Lisbeth Salander legte ihr Buch in den Schoß und nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie ihre Hand nach den Zigaretten ausstreckte. Ohne den Kopf zu drehen, warf sie einen Blick auf den Horizont. Von ihrem Platz auf der Poolterrasse aus konnte sie durch ein paar Palmen und Rhododendronsträucher an der Hotelmauer einen Blick auf das Karibische Meer erhaschen. Weit draußen war ein Segelboot mit Wind von achtern unterwegs nach Saint Lucia oder Dominica. In noch größerer Entfernung konnte sie die Konturen eines grauen Frachters ausmachen, der Richtung Süden nach Guyana oder in ein Nachbarland fuhr. Eine schwache Brise milderte die Vormittagshitze ein wenig, dennoch spürte sie, wie ihr ein Schweißtropfen langsam über die Stirn zur Augenbraue rann. Lisbeth Salander briet nicht gern in der Sonne und verbrachte die Tage weitgehend im Schatten, indem sie sich beständig unter dem Sonnendach aufhielt. Sie trug Kaki-Shorts und ein schwarzes Top.

Sie lauschte den merkwürdigen Klängen der steel pans, die aus dem Lautsprecher an der Bar drangen. Für Musik hatte sie sich noch nie im Geringsten interessiert und konnte Sven-Ingvars nicht von Nick Cave unterscheiden, aber die steel pans faszinierten sie irgendwie. Es schien so abwegig, ein Ölfass zu stimmen, und noch abwegiger, dass man das Fass dazu bringen konnte, kontrollierbare Töne von sich zu geben, die mit nichts anderem zu vergleichen waren. Sie fand diese Klänge geradezu magisch.

Plötzlich irritierte sie irgendetwas. Sie wandte ihren Blick wieder der Frau zu, die gerade ein Glas mit einem orangefarbenen Drink bekommen hatte.

Mit dem Drink hatte Lisbeth Salander freilich kein Problem. Aber sie konnte sich nicht erklären, warum die Frau plötzlich zur Salzsäule erstarrte. Seit das Paar vor vier Nächten angekommen war, hatte Lisbeth Salander dem Terror gelauscht, der sich in ihrem Nachbarzimmer abspielte. Sie hatte Schluchzen gehört, leise, aber erregte Stimmen und zeitweilig sogar Ohrfeigen. Der Mann, der diese Schläge austeilte - Lisbeth vermutete, dass es der Ehemann war -, mochte Mitte 40 sein. Er hatte sein dunkles, glattes Haar zu etwas so Unmodischem wie einem Mittelscheitel gekämmt und schien sich aus beruflichen Gründen in Grenada aufzuhalten. Was das für ein Beruf sein könnte, hatte sich Lisbeth Salander noch nicht erschlossen, aber bis jetzt war er jeden Morgen sorgfältig gekleidet erschienen, mit Schlips und Jackett, und hatte an der Hotelbar einen Kaffee getrunken, bevor er sich seine Aktentasche griff und hinausging, um in ein Taxi zu steigen.

Lisbeth kam immer spätnachmittags ins Hotel zurück, wenn er gerade mit seiner Frau am Pool war. Das Paar aß meistens zusammen zu Abend und machte dabei einen zurückhaltenden und liebevollen Eindruck. Vielleicht trank die Frau ein, zwei Gläschen zu viel, aber ihr kleiner Schwips wirkte nicht weiter störend oder auffällig.

Der Streit im Nachbarzimmer begann routinemäßig zwischen zehn und elf Uhr abends, ungefähr um die Zeit, wenn Lisbeth gerade mit einem Buch über die Geheimnisse der Mathematik ins Bett ging. Soweit Lisbeth das durch die Wand mitverfolgen konnte, kam es zu keinen gröberen Misshandlungen, aber die beiden stritten sich mit zermürbender Ausdauer. Die Nacht zuvor hatte Lisbeth ihre Neugier nicht mehr zügeln können und war auf den Balkon gegangen, um durch die offene Balkontür ihrer Nachbarn mitzuhören, worum es eigentlich ging. Er lief über eine Stunde im Zimmer auf und ab und gab zu, dass er ein mieser Schuft war, der sie überhaupt nicht verdiente. Immer wieder hatte er wiederholt, sie müsse ihn doch für einen Betrüger halten. Und jedes Mal hatte sie geantwortet, dass sie nicht so von ihm dachte, und versucht, ihn zu beruhigen. Er wurde immer eindringlicher, und zum Schluss packte und schüttelte er sie. Schließlich antwortete sie, wie er wollte … ja, du bist ein Betrüger. Kaum hatte er ihr diese Worte abgepresst, nahm er sie zum Vorwand, nun seine Frau anzugreifen, ihren Lebenswandel und ihren Charakter. Er bezeichnete sie als Hure, ein Ausdruck, gegen den Lisbeth sich zweifellos wirkungsvoll zur Wehr gesetzt hätte, wäre sie so genannt worden. Das war zwar nicht der Fall und somit war das Ganze auch nicht ihr persönliches Problem, aber sie konnte sich nicht recht entschließen, ob sie in irgendeiner Form eingreifen sollte oder nicht.

Erstaunt hatte Lisbeth seiner ständig wiederkehrenden Leier gelauscht, aber dann hörte sie plötzlich eine Ohrfeige. Als sie gerade beschlossen hatte, auf den Flur zu gehen und die Tür zum Nachbarzimmer einzutreten, wurde es nebenan still.

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Verdammnis

von

Stieg Larsson

ISBN 978-3-453-01360-5

HEYNE<

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Män som hatar kvinnor

bei Norstedts Förlag, Stockholm

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 06/2007

Copyright © 2005 by Stieg Larsson

Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Statistik auf den Seiten 11, 157, 321 und 525 aus: Eva Lundgren,

Gun Heimer, Jenny Westerstrand, Anne-Marie Kalliokoski: Slagen dam -

Mäns våld mot kvinnor i jämställda Sverige, en omfångsundersökning/

Die geschlagene Frau - Männergewalt gegen Frauen im gleichberechtigten

Schweden (Dienststelle für Verbrechensopfer an der Universität

von Umeå und Uppsala, 2001)

eISBN : 978-3-641-20334-4

www.heyne.de

www.randomhouse.de

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