Man erlaubte es ihm, und er hielt das Bild vor sich in die Höhe. Er konnte exakt die Stelle ausmachen, an der Harriet siebenunddreißig Jahre zuvor gestanden hatte. Das eine der zwei Holzgebäude, die man hinter ihr erkennen konnte, war verschwunden und durch ein Ziegelhaus ersetzt worden. In dem anderen, das noch stand, hatte sich 1966 ein Schreibwarenladen befunden. Nun waren dort ein Bio-Laden und ein Solarium. Mikael schloss das Fenster, bedankte sich und bat um Entschuldigung für die Störung.
Unten auf der Straße stellte er sich exakt dorthin, wo Harriet gestanden hatte. Er wandte den Kopf und nahm Harriets Blickrichtung ein. Soweit Mikael abschätzen konnte, hatte sie genau zu der Ecke des Gebäudes geschaut, in dem sich Sundströms Herrenmode befand. Es war eine ganz gewöhnliche Hausecke, an der eine Querstraße abzweigte. Was hast du vor siebenunddreißig Jahren dort gesehen, Harriet?
Mikael steckte das Bild wieder in seine Umhängetasche und ging zum Park am Bahnhof, wo er sich draußen in ein Café setzte und einen Milchkaffee bestellte. Er war auf einmal ganz aufgewühlt.
Plötzlich hatte er etwas völlig Neues entdeckt, was bei den Ermittlungen, die seit siebenunddreißig Jahren auf der Stelle traten, bisher keine Rolle gespielt hatte.
Er war sich nur nicht sicher, wie wertvoll seine neuen Erkenntnisse waren, wenn sie denn überhaupt einen Wert hatten. Trotzdem empfand er es als bedeutsam.
Der Septembertag, an dem Harriet verschwand, war in vieler Hinsicht dramatisch gewesen. In Hedestad war ein Festtag mit sicherlich mehreren tausend Menschen auf der Straße, jungen wie alten. Auf der Hedeby-Insel hatte das jährliche Familientreffen stattgefunden. Schließlich war natürlich noch der Unfall mit dem Tanklaster dazugekommen, der alles andere überschattete.
Kommissar Morell, Henrik Vanger und alle anderen, die sich den Kopf über Harriets Verschwinden zerbrachen, hatten sich auf die Ereignisse auf der Insel konzentriert. Morell hatte sogar geschrieben, er komme nicht von dem Verdacht los, dass der Unfall und Harriets Verschwinden in Beziehung zueinander standen. Mikael war auf einmal davon überzeugt, dass diese Annahme falsch war.
Die Ereigniskette hatte nicht auf der Hedeby-Insel ihren Anfang genommen, sondern schon mehrere Stunden zuvor im Stadtzentrum von Hedestad. Harriet hatte etwas gesehen, das sie erschreckt hatte. Sie fuhr sofort nach Hause und wollte mit Henrik sprechen, der aber leider keine Zeit für sie hatte. Dann passierte der Unfall auf der Brücke. Und dann schlug der Mörder zu.
Mikael machte eine Pause. Allmählich wurde ihm klar, dass er sich Henrik Vangers Überzeugung angeschlossen hatte. Harriet war tot, und nun jagte er einen Mörder. Er wandte sich wieder dem Untersuchungsbericht zu. Von all den tausend Seiten handelte nur ein Bruchteil von den Stunden in Hedestad. Harriet war mit drei Klassenkameraden zusammen gewesen, die alle zu ihren Beobachtungen vernommen worden waren. Sie hatten sich um neun Uhr morgens am Bahnhofspark getroffen. Eines der Mädchen wollte sich eine Jeans kaufen, und ihre Freunde hatten sie begleitet. Sie hatten im Restaurant des EPA-Kaufhauses Kaffee getrunken, waren danach zum Sportplatz gegangen, zwischen Jahrmarktsbuden und Fischteichen herumgeschlendert und hatten weitere Mitschüler getroffen. Nach zwölf Uhr waren sie wieder in die Innenstadt zurückgekehrt, um dem Festzug zuzuschauen. Kurz vor zwei Uhr nachmittags hatte Harriet plötzlich verkündet, dass sie nach Hause fahren müsse. An der Bushaltestelle bei der Bahnhofstraße hatten sie sich getrennt.
Keinem ihrer Freunde war etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Eine von ihnen, Inger Stenberg, hatte behauptet, Harriet sei im letzten Jahr sehr »unpersönlich« geworden. Am Tag ihres Verschwindens sei sie so still wie immer gewesen und den anderen meistens hinterhergelaufen.
Kommissar Morell hatte alle Menschen vernommen, die Harriet an jenem Tag begegnet waren, auch wenn sie sich nur auf dem Festplatz gegrüßt hatten. Ihr Foto war später in den Lokalzeitungen erschienen. Mehrere Einwohner von Hedestad hatten sich bei der Polizei gemeldet, weil sie glaubten, Harriet gesehen zu haben, aber keiner hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt.
Mikael grübelte den ganzen Abend darüber nach, wie er seine neue Idee am besten weiterverfolgen könnte. Am Vormittag ging er zu Henrik Vanger, den er am Frühstückstisch antraf.
»Sie sagten doch, dass die Familie Vanger immer noch Anteile am Hedestads-Kuriren hat.«
»Das stimmt.«
»Ich brauche Zugang zum Bildarchiv der Zeitung.«
Henrik Vanger stellte sein Milchglas ab und trocknete sich die Oberlippe ab.
»Worauf sind Sie gestoßen, Mikael?«
Er sah dem alten Mann in die Augen.
»Nichts Konkretes. Aber ich glaube, wir könnten den Lauf der Ereignisse falsch gedeutet haben.«
Er zeigte ihm das Foto und erzählte von seinen Schlussfolgerungen. Henrik Vanger verstummte.
»Wenn ich recht habe, müssen wir uns darauf konzentrieren, was an diesem Tag in Hedestad passiert ist, nicht nur auf der Hedeby-Insel«, sagte Mikael. »Ich weiß nicht, wie man das nach siebenunddreißig Jahren anstellen soll, aber bei der Feier zum ›Tag des Kindes‹ müssen viele Bilder aufgenommen worden sein, die nie veröffentlicht wurden. Und diese Bilder will ich sehen.«
Henrik Vanger benutzte das Telefon in der Küche. Er rief Harriets Bruder Martin an, erklärte ihm sein Anliegen und fragte, wer nun Chef der Bildredaktion des Kuriren sei. Innerhalb von zehn Minuten waren die richtigen Personen ausfindig gemacht und die Genehmigung erteilt.
Die Chefin der Bildredaktion hieß Madeleine Blomberg, wurde Maja genannt und war schon über sechzig. Sie war der erste weibliche Chef einer Bildredaktion, dem Mikael in seiner Laufbahn begegnet war. Im Zeitungswesen wurde die Kunst der Fotografie gerne als männliche Domäne angesehen.
Am Samstag war zwar niemand in der Redaktion, aber wie sich herausstellte, wohnte Maja Blomberg nur fünf Gehminuten von ihr entfernt. Sie traf sich mit Mikael am Eingang. Sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens für den Hedestads-Kuriren gearbeitet. 1964 hatte sie als Korrektorin angefangen, war dann Kopistin geworden und hatte einige Jahre in der Dunkelkammer gearbeitet. Gleichzeitig hatte man sie immer auf Fototermine geschickt, wenn das reguläre Personal nicht mehr ausreichte. Langsam, aber sicher hatte sie sich den Titel einer Redakteurin erworben, und zehn Jahre später, als der alte Chef in Pension ging, übernahm sie die Leitung der Bildredaktion. Hinter dieser Position verbarg sich kein allzu großes Imperium. Die Bildredaktion war seit zehn Jahren mit der Anzeigenabteilung zusammengelegt und bestand aus nur sechs Personen, die sich alle untereinander bei ihrer Arbeit abwechselten.
Mikael fragte, wie das Bildarchiv organisiert sei.
»Um ehrlich zu sein, das Archiv ist ziemlich unübersichtlich. Seit wir Computer und Bilddateien haben, ist alles auf CDs archiviert worden. Wir hatten hier einen Praktikanten, der wichtige ältere Bilder eingescannt hat, aber es sind nur ein paar Prozent des Archivbestands. Ältere Bilder finden Sie nach Datum sortiert in Negativ-Ordnern. Sie sind entweder hier in der Redaktion oder oben auf dem Dachboden.«
»Ich interessiere mich vor allem für die Bilder vom ›Tag des Kindes‹ 1966 und insgesamt für alle Bilder, die in dieser Woche aufgenommen worden sind.«
Maja Blomberg sah Mikael forschend an.
»Also von der Woche, in der Harriet Vanger verschwand.«
»Sie kennen die Geschichte?«
»Man kann nicht sein ganzes Leben beim Hedestads-Kuriren arbeiten, ohne sie zu kennen, und wenn Martin Vanger mich frühmorgens an meinem freien Tag anruft, dann ziehe ich meine Schlüsse. Ich habe die Texte Korrektur gelesen, die in den sechziger Jahren über den Fall geschrieben wurden. Warum graben Sie wieder in dieser Geschichte? Ist etwas Neues ans Licht gekommen?«
Maja Blomberg hatte offensichtlich eine Nase für Neuigkeiten. Mikael schüttelte lächelnd den Kopf und brachte seine Coverstory vor.
»Nein, und ich bezweifle, dass wir jemals eine Antwort darauf bekommen, was mit ihr passiert ist. Es soll eigentlich geheim bleiben, aber ich schreibe an Henrik Vangers Autobiografie. Die Geschichte mit der verschwundenen Harriet ist ein sonderbares Thema, aber auch ein Kapitel, das man wohl kaum schweigend übergehen kann. Ich suche nach Bildern, die diesen Tag illustrieren können, von Harriet und von ihren Freunden.«
Maja Blomberg sah skeptisch aus, aber die Behauptung war plausibel, und sie hatte keinen Grund, seine Angaben anzuzweifeln.
Ein Zeitungsfotograf verschießt täglich im Schnitt zwei bis drei Filme. Bei großen Anlässen kann sich diese Zahl leicht verdoppeln. Jeder Film ergibt sechsunddreißig Negative, es ist also nicht ungewöhnlich, dass bei einer Zeitung dreihundert Bilder pro Tag zusammenkommen, von denen nur wenige veröffentlicht werden. Eine gut organisierte Redaktion zerschneidet die Filme und steckt die Negative in dafür vorgesehene Taschen, sechs Stück pro Reihe. Ein Film füllt also ungefähr eine Seite in einem Ordner mit Negativen. Ein Ordner enthält dann knapp hundertzehn Filme. Pro Jahr macht das zwanzig bis dreißig Ordner.
Der Hedestads-Kuriren wurde 1922 gegründet, die Bildredaktion gab es seit 1937. Auf dem Dachboden des Kuriren standen ungefähr 1200 Ordner, nach Datum sortiert. Die Bilder vom September 1966 befanden sich in vier billigen Ordnern aus Pappe.
»Wie machen wir es am besten?«, fragte Mikael. »Ich würde mich gerne an einen Leuchttisch setzen und Abzüge von den Bildern machen, die von Interesse sein könnten.«
»Wir haben keine Dunkelkammer. Alles wird eingescannt. Wissen Sie, wie man einen Negativscanner benutzt?«
»Ja, ich habe schon mal mit Bildern gearbeitet und habe selbst einen Agfa-Scanner. Ich arbeite mit PhotoShop.«
»Dann benutzen Sie dieselbe Ausrüstung wie wir.«
Maja Blomberg führte Mikael einmal kurz durch die kleine Redaktion, setzte ihn dann an einen Leuchttisch und schaltete Computer und Scanner für ihn ein. Sie zeigte ihm auch noch, wo der Kaffeeautomat im Pausenraum stand. Sie vereinbarten, dass Mikael auf eigene Faust arbeiten durfte, Maja Blomberg jedoch anrief, sobald er die Redaktion verlassen wollte, damit sie abschließen und die Alarmanlage einschalten konnte. Dann ließ sie ihn allein mit einem munteren: »Na dann viel Spaß!«
Es dauerte mehrere Stunden, bis Mikael sich durch die Ordner durchgearbeitet hatte. Der Hedestads-Kuriren beschäftigte damals zwei Fotografen. An jenem Tag hatte Kurt Nylund Dienst gehabt - den Mikael tatsächlich noch von früher kannte. Nylund war 1966 ungefähr Mitte zwanzig gewesen. Danach war er nach Stockholm gezogen und ein anerkannter Berufsfotograf geworden, der teils freiberuflich arbeitete, teils bei der Bildagentur Pressens Bild in Marieberg angestellt war. Mikaels und Nylunds Wege hatten sich in den neunziger Jahren mehrfach gekreuzt, als Millennium Bilder von Pressens Bild kaufte. Mikael hatte ihn als einen mageren Mann mit schütterem Haar in Erinnerung. Nylund hatte einen Tageslichtfilm verwendet, der nicht allzu körnig ausfiel und bei Pressefotografen sehr beliebt war.
Mikael griff sich einen Ordner nach dem anderen heraus und legte die Bilder des jungen Nylund auf den Leuchttisch, wo er sie mit einer Lupe betrachtete. Einen Negativfilm zu lesen ist jedoch eine Kunst, die eine gewisse Routine verlangt, und die fehlte Mikael. Ihm wurde klar, dass er praktisch jedes Bild einscannen und am Computer ansehen müsste, um herauszufinden, ob wertvolle Informationen dabei waren oder nicht. Das würde mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Daher machte er zuerst eine übersichtliche Liste der Bilder, die ihn eventuell interessierten.
Er begann damit, alle Bilder auszusortieren, die den Unfall auf der Brücke zeigten. Mikael konnte feststellen, dass Henrik Vangers Ordner mit den hundertachtzig Bildern nicht komplett war. Die Person, die Abzüge von der Archivsammlung gemacht hatte - vielleicht Nylund selbst -, hatte ungefähr dreißig Bilder weggelassen, die entweder unscharf waren oder von so schlechter Qualität, dass sie für eine Veröffentlichung nicht infrage kamen.
Mikael fuhr den Computer herunter und schloss den Agfa-Scanner an sein eigenes iBook an. Er verbrachte zwei Stunden damit, die restlichen Bilder einzuscannen.
Ein Bild fesselte sofort sein Interesse. Irgendwann zwischen 15.10 Uhr und 15.15 Uhr, genau zu dem Zeitpunkt, als Harriet verschwand, hatte jemand das Fenster in ihrem Zimmer geöffnet. Er konnte eine Gestalt und ein Gesicht erkennen, aber unscharf und verschwommen. Er beschloss, mit der Bildanalyse zu warten, bis er alle Bilder auf seinen Computer geladen hatte.
In den nächsten Stunden sah Mikael die Bilder von den Feierlichkeiten zum »Tag des Kindes« durch. Nylund hatte sechs Filme verschossen, insgesamt zweihundert Bilder. Es war ein endloser Strom von Kindern mit Ballons, Erwachsenen, Straßengewimmel mit Würstchenverkäufern, der Festzug selbst, ein Artist aus Hedestad auf der Bühne und eine Art Preisverleihung. Nach sechs Stunden hatte er eine Mappe mit neunzig Bildern zusammen. Er würde noch einmal zum Hedestads-Kuriren kommen müssen.
Gegen neun Uhr abends rief er Maja Blomberg an, bedankte sich und fuhr nach Hause auf die Hedeby-Insel.
Am Sonntagmorgen um neun war er wieder da. Das Bildarchiv war immer noch menschenleer, als Maja Blomberg ihn hineinließ. Er wusste, dass Pfingstferien waren und die Zeitung erst wieder am Dienstag erscheinen würde. Er durfte denselben Arbeitstisch benutzen wie tags zuvor und verbrachte den ganzen Tag mit Scannen. Gegen sechs Uhr abends waren ungefähr noch vierzig Bilder vom »Tag des Kindes« übrig. Mikael hatte das uninteressante Material aussortiert. Was er hingegen eingescannt hatte, waren das Treiben auf der Straße und die Menschenmengen.
Am Pfingstmontag ging Mikael das neue Bildmaterial genauestens durch. Er machte zwei Entdeckungen. Die erste bestürzte ihn. Die andere ließ seinen Puls in die Höhe schnellen.
Die erste Entdeckung war das Gesicht in Harriet Vangers Fenster. Das Bild war leicht verwackelt und deshalb bei der ersten Sichtung verworfen worden. Der Fotograf hatte wohl auf dem Hügel bei der Kirche gestanden und in Richtung Brücke geblickt. Die Gebäude lagen im Hintergrund. Mikael beschnitt das Bild so, dass nur das Fenster übrig blieb, und experimentierte dann mit Veränderungen der Kontraste und der Tiefenschärfe, bis er seiner Meinung nach die bestmögliche Qualität erreicht hatte.
Das Resultat war ein körniges Bild mit minimaler Grauskala, das ein rechteckiges Fenster und eine Gardine zeigte, sowie ein diffuses halbmondförmiges Gesicht ein Stück weiter hinten im Raum.
Er konnte feststellen, dass das Gesicht nicht Harriet gehörte, die pechschwarzes Haar hatte, sondern einer Person mit wesentlich hellerer Haarfarbe.
Er stellte außerdem fest, dass er dunklere Partien unterscheiden konnte, wo sich Augen, Nase und Mund befinden mussten, aber es war unmöglich, deutliche Gesichtszüge auszumachen. Er war jedoch sicher, eine Frau zu sehen - die hellere Partie neben dem Gesicht setzte sich bis auf Schulterhöhe fort und ließ langes Haar erahnen. Er konnte erkennen, dass die Person helle Kleidung trug.
Er schätzte ihre Größe im Verhältnis zum Fenster, die Frau musste ungefähr 1 Meter 70 groß sein.
Als er die anderen Bilder vom Brückenunfall durchklickte, bemerkte er, dass eine Person sehr gut mit den Merkmalen übereinstimmte, die er aus dem Foto herausgelesen hatte - die zwanzigjährige Cecilia Vanger.
Kurt Nylund hatte insgesamt achtzehn Bilder vom Fenster im ersten Stock bei Sundströms Herrenmode aufgenommen. Auf siebzehn von ihnen war Harriet Vanger zu sehen.
Harriet und ihre Schulfreunde waren gerade auf der Bahnhofstraße angekommen, als Nylund anfing zu fotografieren. Mikael schätzte, dass die Bilder in einem Zeitraum von knapp fünf Minuten aufgenommen worden waren. Auf dem ersten Bild gingen Harriet und ihre Freunde die Straße hinunter. Auf den Bildern 2 bis 7 standen sie da und sahen dem Festzug zu. Danach waren sie ungefähr sechs Meter weiter gegangen. Auf dem letzten Bild, das wahrscheinlich etwas später gemacht worden war, war die ganze Gruppe verschwunden.
Mikael bearbeitete eine Serie Bilder, indem er die obere Hälfte von Harriet ausschnitt und möglichst große Kontraste herausarbeitete. Er legte die Bilder in einen bestimmten Ordner, öffnete das Graphic-Converter-Programm und startete die Bildpräsentation. Der Effekt war der eines ruckartig ablaufenden Stummfilms, bei dem jedes Bild zwei Sekunden lang gezeigt wird.
Harriet kommt an, Aufnahme im Profil. Harriet bleibt stehen und blickt die Straße hinunter. Harriet dreht das Gesicht zur Straße. Harriet öffnet den Mund, um etwas zu einer Freundin zu sagen. Harriet lacht. Harriet fasst sich mit der linken Hand ans Ohr. Harriet lächelt. Harriet sieht plötzlich überrascht aus, ihr Gesicht ist auf einen Fleck ungefähr zwanzig Grad links neben der Kamera gerichtet. Harriet reißt die Augen auf und hört auf zu lachen. Harriets Mund wird zu einem schmalen Strich. Harriet schaut genau hin. In ihrem Gesicht sieht man … was? Schmerz, Schock, Zorn? Harriet schlägt die Augen nieder. Harriet ist weg.
Mikael spielte die Sequenz immer und immer wieder ab.
Sie bekräftigte sehr deutlich die Theorie, die er aufgestellt hatte. Irgendetwas geschah auf der Bahnhofstraße in Hedestad.
Sie sieht etwas - jemanden? - auf der anderen Straßenseite. Sie reagiert schockiert. Später bittet sie Henrik Vanger um ein persönliches Gespräch, aus dem nie etwas wird. Danach verschwindet sie spurlos.
Irgendetwas war an jenem Tag geschehen. Aber die Bilder verrieten nicht, was.
Am Dienstagmorgen um zwei kochte Mikael sich einen Kaffee und machte sich zwei belegte Brote, die er auf dem Küchensofa verzehrte. Er war zugleich mutlos und erregt. Er hatte gegen seine eigenen Erwartungen neues Beweismaterial gefunden. Das Problem war nur, dass diese Beweise die Kette der Ereignisse zwar in einem ganz neuen Licht erscheinen ließen, ihn der Lösung des Rätsels aber keinen Millimeter näher brachten.
Er dachte intensiv darüber nach, was für eine Rolle Cecilia in diesem Drama gespielt haben mochte. Henrik Vanger hatte ohne Rücksichten das Tun aller anwesenden Personen genau aufgezeichnet, auch bei Cecilia hatte er keine Ausnahme gemacht. 1966 wohnte sie in Uppsala, war aber zwei Tage vor dem unseligen Samstag nach Hedestad gekommen. Sie hatte in einem Gästezimmer bei Isabella Vanger gewohnt. Sie behauptete, Harriet frühmorgens einmal gesehen, aber nicht mit ihr gesprochen zu haben. Am Samstag war sie für irgendeine Erledigung nach Hedestad gefahren. Sie hatte Harriet nicht gesehen und war gegen eins auf die Insel zurückgekehrt, ungefähr zur selben Zeit, als Kurt Nylund auf der Bahnhofstraße seine Bilderserie schoss. Sie hatte sich umgezogen und gegen zwei geholfen, den Tisch für das große Familienessen zu decken.
Als Alibi war das ziemlich vage. Die Zeitpunkte waren ungefähr angegeben, besonders bei der Frage, wann sie auf die Insel zurückgekommen war, aber Henrik hatte niemals einen Hinweis darauf gefunden, dass sie gelogen hatte. Cecilia gehörte zu den Menschen in seiner Verwandtschaft, die er am liebsten mochte. Außerdem war sie Mikaels Geliebte. Er tat sich daher schwer, objektiv zu bleiben, und er konnte sie sich beim besten Willen nicht als Mörderin vorstellen.
Jetzt ließ ein aussortiertes Bild ahnen, dass sie gelogen hatte, als sie behauptete, Harriets Zimmer nie betreten zu haben. Daraus ergab sich eine gewisse Schlussfolgerung, die Mikael nicht gefiel.
Wenn du in dieser Frage gelogen hast, wo hast du dann noch gelogen?
Mikael fasste im Geiste zusammen, was er über Cecilia wusste. Er sah sie als eine recht zurückhaltende Person, die offensichtlich von ihrer Vergangenheit geprägt war, was zur Folge hatte, dass sie allein lebte, weitgehend auf Sex verzichtete und Schwierigkeiten hatte, sich anderen zu nähern. Sie blieb auf Distanz, und wenn sie einen Mann an sich heranließ, dann suchte sie sich einen wie Mikael aus, einen Fremden, der nur zeitweilig zu Besuch war. Cecilia hatte behauptet, das Verhältnis beendet zu haben, weil sie nicht mit dem Gedanken leben konnte, dass er jederzeit plötzlich aus ihrem Leben verschwinden konnte. Mikael glaubte, dass sie es nur aus diesem Grunde gewagt hatte, den ersten Schritt zu tun. Da er nur vorübergehend da war, musste sie nicht befürchten, dass er ihr Leben dramatisch veränderte. Er seufzte und ließ die Hobbypsychologie auf sich beruhen.
Die zweite Entdeckung machte er spät in der Nacht. Der Schlüssel zum Rätsel - davon war er restlos überzeugt - lag in dem, was Harriet auf der Bahnhofstraße in Hedestad gesehen hatte. Mikael würde es nie herausfinden, es sei denn, er könnte eine Zeitmaschine erfinden, sich hinter sie stellen und ihr über die Schulter blicken.
Als ihm dieser Gedanken durch den Kopf ging, schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn und stürzte zurück zu seinem iBook. Er klickte die unbearbeiteten Bilder von der Bahnhofstraße an und schaute … da!
Hinter Harriet, ungefähr einen Meter weiter rechts, stand ein junges Paar, er im gestreiften Pullover, sie mit einer hellen Jacke. Sie hatte eine Kamera in der Hand. Als Mikael das Bild vergrößerte, konnte er erkennen, dass es eine Kodak Instamatic mit automatischem Blitz war - eine billige Urlaubskamera für Leute, die nicht fotografieren können.
Die Frau hielt die Kamera auf Kinnhöhe. Dann hob sie sie und fotografierte die Clowns, und zwar genau in dem Moment, als sich Harriets Gesichtsausdruck veränderte.
Mikael verglich die Position der Kamera mit Harriets Blickrichtung. Die Frau hatte den Sucher fast exakt in die Richtung gehalten, in die Harriet blickte.
Mikael merkte plötzlich, dass er heftiges Herzklopfen hatte. Er lehnte sich zurück und fummelte seine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche. Jemand hatte ein Foto gemacht. Aber wie sollte er diese Frau identifizieren? Wie sollte er an ihr Foto herankommen? War der Film überhaupt entwickelt worden, und wenn ja, wurde das Bild noch irgendwo aufbewahrt?
Mikael öffnete die Mappe mit den Bildern, die Nylund an jenem Festtag von der wimmelnden Menschenmenge gemacht hatte. In der folgenden Stunde vergrößerte er jedes Bild und suchte es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter ab. Erst auf dem allerletzten Foto fand er das Paar wieder. Nylund hatte noch einen Clown mit Luftballons in der Hand aufgenommen, der sein Dauerlachen in die Kamera hielt. Das Foto war auf dem Parkplatz vor dem Eingang zum Sportplatz gemacht worden, wo die Festlichkeiten weitergingen. Es musste vor zwei Uhr gewesen sein - danach war Nylund ja zum Unfall mit dem Tanklaster abkommandiert worden und hatte den »Tag des Kindes« nicht weiter verfolgt.
Die Frau war fast ganz verdeckt, aber der Mann im gestreiften Pullover war deutlich im Profil zu sehen. Er hatte Schlüssel in der Hand und beugte sich gerade vor, um eine Autotür zu öffnen. Der Clown stand im Vordergrund, und das Auto hinter ihm war ein wenig verschwommen. Das Nummernschild war nicht vollständig zu erkennen, aber es begann mit AC3…
Die Nummernschilder begannen in den sechziger Jahren mit den Kennbuchstaben des jeweiligen Verwaltungsbezirks, und Mikael hatte als Kind gelernt, die Herkunft von Autos anhand dieser Buchstaben zu identifizieren. AC war das Kennzeichen für Västerbotten.
Dann entdeckte Mikael noch etwas anderes. Auf der Heckscheibe war irgendein Aufkleber. Er zoomte den Ausschnitt heran, aber dabei verschwamm der Text. Er schnitt das Stück mit dem Aufkleber aus und begann Kontrast und Schärfe zu bearbeiten. Damit war er eine ganze Weile beschäftigt. Den Text konnte er immer noch nicht lesen, aber er versuchte, anhand der vagen Umrisse auf den jeweiligen Buchstaben zu schließen.
Viele Buchstaben sahen sich täuschend ähnlich. Ein O konnte man mit einem D verwechseln, ebenso B mit E und dergleichen mehr. Er hantierte mit Zettel und Stift und schloss verschiedene Buchstaben aus, bis er schließlich einen unverständlichen Text erhielt:
T S HLE I R JÖ
Er starrte die Zeile an, bis ihm die Augen tränten. Dann sah er plötzlich den richtigen Text vor sich. TISCHLEREI NORSJÖ, gefolgt von kleineren Zeichen, die man unmöglich entziffern konnte, die aber vermutlich eine Telefonnummer darstellten.
17. Kapitel
Mittwoch, 11. Juni - Samstag, 14. Juni
Beim dritten Puzzleteilchen bekam er Hilfe von unerwarteter Seite.
Nachdem er die ganze Nacht an den Bildern gearbeitet hatte, schlief Mikael tief und fest bis zum Mittag. Er erwachte mit einem diffusen Kopfschmerz, duschte und ging dann in Susannes Café frühstücken. Er hatte Schwierigkeiten, seine Gedanken zu ordnen. Eigentlich hätte er Henrik aufsuchen müssen, um ihm von seiner Entdeckung zu berichten. Stattdessen ging er zu Cecilia hinüber und klopfte. Er wollte sie fragen, was sie in Harriets Zimmer gemacht und warum sie gelogen und behauptet hatte, nie dort gewesen zu sein. Niemand öffnete.
Er wollte gerade wieder nach Hause gehen, da hörte er eine Stimme.
»Deine Hure ist nicht zu Hause.«
Gollum war aus seiner Höhle gekrochen. Er war groß, fast zwei Meter, aber vom Alter so gebeugt, dass seine Augen auf einer Höhe mit Mikaels waren. Seine Haut war vernarbt und voller dunkler Leberflecken. Er trug einen Pyjama und einen braunen Morgenrock und stützte sich auf einen Stock. Er sah aus wie die Hollywood-Version eines »bösen alten Manns«.
»Wie bitte?«
»Ich habe gesagt, deine Hure ist nicht zu Hause.«
Mikael ging so nahe an ihn heran, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten.
»Sie sprechen von Ihrer eigenen Tochter, Sie ungehobelter Kerl.«
»Ich bin nicht derjenige, der sich nachts hierherschleicht«, antwortete Harald Vanger und grinste zahnlos. Mikael ging an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen. Er ging zu Henrik Vanger und fand ihn im Arbeitszimmer.
»Ich habe gerade Ihren Bruder getroffen«, verkündete Mikael mit kaum verhohlener Wut.
»Harald? Ach so, hat er sich mal rausgewagt? Das macht er jedes Jahr ein paarmal.«
»Ich hatte bei Cecilia geklopft, als er plötzlich auftauchte. Er sagte, Zitat: Die Hure ist nicht zu Hause, Zitat Ende.«
»Klingt mir sehr nach Harald«, sagte Henrik Vanger ruhig.
»Er hat seine eigene Tochter als Hure bezeichnet.«
»Das tut er schon seit vielen Jahren. Darum sprechen sie auch nicht mehr miteinander.«
»Warum tut er das?«
»Cecilia hat ihre Unschuld verloren, als sie einundzwanzig Jahre alt war. Es geschah hier in Hedestad, nach einer Sommerromanze, im Jahr nach Harriets Verschwinden.«
»Und?«
»Der Mann, den sie liebte, hieß Peter Samuelsson und arbeitete als Assistent im Vanger-Konzern. Intelligenter Junge. Arbeitet heute für ABB. Wenn sie meine Tochter gewesen wäre, ich wäre stolz gewesen, so einen zum Schwiegersohn zu bekommen. Aber natürlich hatte er einen Fehler.«
»Sagen Sie bitte, dass es nicht das ist, was ich jetzt denke.«
»Harald vermaß seinen Schädel oder studierte seine Ahnentafeln oder was weiß ich und entdeckte, dass er Vierteljude war.«
»Gütiger Himmel.«
»Seitdem nennt er sie Hure.«
»Er wusste, dass Cecilia und ich …?«
»Das weiß höchstwahrscheinlich die ganze Stadt, bis auf Isabella vielleicht, weil keiner, der seine Sinne beisammen hat, ihr irgendetwas erzählen würde. Außerdem ist sie Gott sei Dank so nett und geht um acht Uhr schlafen. Harald hat vermutlich jeden Ihrer Schritte verfolgt.«
Mikael setzte sich und sah dämlich drein.
»Sie wollen also sagen, dass alle …«
»Natürlich.«
»Und Sie missbilligen das nicht?«
»Also bitte, Mikael, das ist nun wirklich nicht meine Sache.«
»Wo ist Cecilia?«
»Die Schulferien haben begonnen. Sie ist am Samstag nach London geflogen, um ihre Schwester zu besuchen, und danach fährt sie in Urlaub nach … hmm, ich glaube, Florida war es. Sie kommt zirka in einem Monat zurück.«
Nun kam Mikael sich noch dämlicher vor.
»Wir hatten unser Verhältnis mehr oder weniger beendet.«
»Verstehe. Aber das geht mich immer noch nichts an. Wie geht es mit der Arbeit voran?«
Mikael goss sich Kaffee aus Henriks Thermoskanne ein. Er sah den alten Mann an.
»Ich habe neues Material gefunden, und ich glaube, ich muss mir von irgendjemandem ein Auto ausleihen.«
Mikael setzte ihm eine ganze Weile seine Überlegungen auseinander. Er holte das iBook aus seiner Umhängetasche und spielte die Bilderserie ab, die Harriets Reaktionen auf der Bahnhofstraße zeigte. Er führte auch vor, wie er die Zuschauer mit ihrer Urlaubskamera und ihr Auto mit dem Aufkleber der Tischlerei Norsjö gefunden hatte. Nachdem er seine Erklärungen beendet hatte, bat Henrik ihn, die Bilderserie noch einmal sehen zu dürfen.
Als Henrik Vanger wieder vom Bildschirm aufblickte, war er ganz grau im Gesicht. Mikael erschrak und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Henrik Vanger machte eine abwehrende Handbewegung und schwieg eine Weile.
»Es ist Ihnen tatsächlich gelungen, was ich für unmöglich gehalten hatte. Sie haben etwas völlig Neues entdeckt. Wie wollen Sie jetzt weitermachen?«
»Ich muss dieses Bild finden - falls es noch existiert.«
Das Gesicht im Fenster und seinen Verdacht, dass es sich dabei um Cecilia handelte, erwähnte er nicht. Was wahrscheinlich ein deutliches Zeichen dafür war, dass er wenig von einem objektiven Privatdetektiv hatte.
Von Harald Vanger war nichts mehr zu sehen, als Mikael auf die Straße trat. Wahrscheinlich war er wieder in seine Höhle zurückgekrochen. Als Mikael um die Ecke bog, entdeckte er, dass jemand mit dem Rücken zu ihm auf dem Treppenabsatz vor seinem Häuschen saß und Zeitung las. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er, es sei Cecilia, aber im nächsten Augenblick ging ihm auf, dass er sich getäuscht hatte. Vor seinem Häuschen saß ein dunkelhaariges Mädchen.
»Hallo, Papa«, sagte Pernilla Abrahamsson.
Mikael umarmte seine Tochter und drückte sie fest an sich.
»Wo um alles in der Welt kommst du denn her?«
»Von zu Hause natürlich. Auf dem Weg nach Skellefteå. Ich übernachte hier.«
»Und wie hast du hierhergefunden?«
»Mama wusste doch, wo du bist. Und ich habe da oben im Café gefragt, wo du wohnst. Sie hat mir den Weg gezeigt. Bin ich willkommen?«
»Natürlich. Komm rein. Du hättest mich vorwarnen sollen, dann hätte ich ein bisschen was Schönes zum Essen gekauft oder so.«
»War eine spontane Idee von mir. Ich wollte dich nach dem Gefängnis in der Freiheit willkommen heißen, aber du hast mich ja nie angerufen.«
»Entschuldige.«
»Ist nicht schlimm. Mama sagt auch, dass du ständig in deiner Gedankenwelt lebst.«
»Das sagt sie über mich?«
»Mehr oder weniger. Aber das macht doch nichts. Ich liebe dich trotzdem.«
»Ich liebe dich auch, aber du weißt …«
»Ich weiß. Ich glaube, ich bin schon erwachsen genug.«
Mikael machte Tee und servierte Gebäck dazu. Plötzlich wurde ihm klar, dass seine Tochter die Wahrheit gesagt hatte. Sie war kein kleines Mädchen mehr, sie wurde demnächst siebzehn und würde bald eine erwachsene Frau sein. Er musste lernen, sie nicht mehr wie ein Kind zu behandeln.
»Also, wie war’s denn jetzt eigentlich?«
»Was?«
»Das Gefängnis.«
Mikael lachte.
»Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es wie ein bezahlter Urlaub war, wo ich wunderbar nachdenken und schreiben konnte?«
»Absolut. Ich glaube nicht, dass zwischen einem Gefängnis und einem Kloster ein großer Unterschied besteht, und die Leute sind immer ins Kloster gegangen, wenn sie sich weiterentwickeln wollten.«
»Tja, so kann man das wohl auch sehen. Ich hoffe, du hattest keine Probleme damit, dass dein Papa ein berüchtigter Gefängnisinsasse ist?«
»Überhaupt nicht. Ich bin stolz auf dich und lasse keine Gelegenheit aus, um damit anzugeben, dass du für das gesessen hast, woran du glaubst.«
»Woran ich glaube?«
»Ich habe Erika Berger im Fernsehen gesehen.«
Mikael wurde blass. Er hatte keinen einzigen Gedanken an seine Tochter verschwendet, als Erika ihre Strategie ausgearbeitet hatte, und Pernilla schien zu glauben, dass ihn nicht die geringste Schuld traf.
»Pernilla, ich war nicht unschuldig. Es tut mir leid, dass ich dir die Hintergründe nicht erklären kann, aber ich wurde rechtmäßig verurteilt. Das Gericht hat sein Urteil auf der Basis der Tatsachen, die im Prozess dargelegt wurden, gefällt.«
»Aber du hast niemals deine Version erzählt.«
»Nein, weil ich sie nicht beweisen kann. Ich habe einen Mordsschnitzer gemacht, und deswegen musste ich ins Gefängnis.«
»Okay. Dann beantworte mir die Frage: Ist Wennerström ein Verbrecher oder nicht?«
»Er ist einer der übelsten Verbrecher, die mir jemals über den Weg gelaufen sind.«
»Na also. Das reicht mir. Ich habe ein Geschenk für dich.«
Sie holte ein Päckchen aus ihrem Koffer. Mikael machte es auf und fand eine Best-of-CD der Eurhythmics. Sie wusste, dass das eine seiner alten Lieblingsbands war. Er umarmte sie, legte die CD sofort in sein iBook ein, und sie hörten sich zusammen Sweet Dreams an.
»Was willst du eigentlich in Skellefteå?«, fragte Mikael.
»Sommerlager mit Bibelschule. Die Vereinigung heißt Licht des Lebens«, gab Pernilla zur Auskunft, als wäre es das Selbstverständlichste in der Welt.
Mikael spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
Er erkannte, wie sehr sich seine Tochter und Harriet ähnelten. Pernilla war sechzehn, genau wie Harriet, als sie verschwand. Beiden fehlte die Vaterfigur in ihrem täglichen Leben. Beide neigten zu religiöser Schwärmerei und schlossen sich befremdlichen Sekten an, Harriet der städtischen Pfingstversammlung und Pernilla einer Vereinigung, die vermutlich ebenso verrückt war wie die populäre, aber eben doch sektenartige Bewegung Licht des Lebens.
Mikael wusste nicht recht, wie er mit ihrem neu erwachten Interesse für Religion umgehen sollte. Er hatte Angst, sich unsensibel einzumischen und sie einzuschränken in ihrem Recht, selbst zu entscheiden, welchen Weg sie im Leben gehen wollte.
Gleichzeitig war Licht des Lebens jedoch ohne Zweifel eine religiöse Vereinigung von der Sorte, über die Erika und er nur zu gerne eine polemische Reportage in Millennium veröffentlichen würden. Er beschloss, die Frage bei nächster Gelegenheit mit Pernillas Mutter zu besprechen.
Pernilla schlief in Mikaels Bett, während er sich in der Nacht aufs Sofa in der Küche legte. Er wachte mit steifem Nacken und schmerzenden Muskeln auf. Pernilla wollte ihre Reise möglichst schnell fortsetzen, also machte Mikael Frühstück und brachte sie dann zum Bahnhof. Sie hatten noch ein bisschen Zeit, kauften sich im Zeitschriftenladen in der Bahnhofshalle zwei Becher Kaffee, setzten sich auf eine Bank am Ende des Bahnsteigs und redeten über alles Mögliche. Kurz bevor der Zug kam, wechselte sie das Thema.
»Es gefällt dir nicht, dass ich nach Skellefteå fahre«, stellte sie plötzlich fest.
Mikael wusste nicht recht, was er antworten sollte.
»Das ist nichts Gefährliches. Aber du bist kein Christ, oder?«
»Nein, zumindest bin ich kein guter Christ.«
»Glaubst du nicht an Gott?«
»Nein, ich glaube nicht an Gott, aber ich respektiere, dass du es tust. Alle Menschen brauchen etwas, woran sie glauben können.«
Als ihr Zug einfuhr, umarmten sie sich lange und innig, bis Pernilla einsteigen musste. Auf dem Weg in den Zug drehte sie sich noch einmal um.
»Papa, ich will nicht missionieren. Von mir aus kannst du glauben, woran du willst, und ich werde dich immer lieben. Aber ich denke, dass auch du deine Bibelstudien fortsetzen solltest.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe das Zitat bei dir an der Wand gesehen«, sagte sie. »Aber warum so düster und neurotisch? Küsschen. Mach’s gut.«
Sie winkte ihm zu und verschwand. Mikael blieb perplex auf dem Bahnsteig stehen und sah den Zug Richtung Norden davonrollen. Erst als er um die Kurve verschwand, wurde ihm die Bedeutung ihrer Abschiedsworte klar, und in seiner Brust machte sich Eiseskälte breit.
Mikael rannte aus dem Bahnhof und sah auf die Uhr. In vierzig Minuten fuhr der Bus nach Hedeby. Er hatte nicht die Nerven, so lange zu warten.
Er trabte zum Taxistand auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes und fand Hussein mit dem norrländischen Dialekt.
Zehn Minuten später bezahlte Mikael sein Taxi und ging sofort in sein Arbeitszimmer. Er hatte den Zettel über seinem Schreibtisch aufgehängt.
Er sah sich im Zimmer um. Dann fiel ihm ein, wo er eine Bibel finden würde. Er steckte den Zettel ein, suchte die Schlüssel heraus, die er in eine Schale auf dem Fensterbrett gelegt hatte, und joggte den ganzen Weg bis zu Gottfrieds Häuschen. Seine Hände zitterten, als er Harriets Bibel aus dem Regal nahm.
Harriet hatte keine Telefonnummern notiert. Die Ziffern gaben Kapitel und Vers in Levitikus, im Dritten Buch Mose, an. Die Strafgesetzgebung.
(Magda) Drittes Buch Mose, Kapitel 20, Vers 16:
Wenn eine Frau sich irgendeinem Tier naht, um mit ihm Umgang zu haben, so sollst du sie töten und das Tier auch. Des Todes sollen sie sterben, und ihre Blutschuld komme über sie.
(Sara) Drittes Buch Mose, Kapitel 21, Vers 9:
Wenn eines Priesters Tochter sich durch Hurerei entheiligt, so soll man sie mit Feuer verbrennen, denn sie hat ihren Vater entheiligt.
(RJ) Drittes Buch Mose, Kapitel 20, Vers 27:
Wenn ein Mann oder eine Frau Geister beschwören oder Zeichen deuten kann, so sollen sie des Todes sterben; man soll sie steinigen; ihre Blutschuld komme über sie.
(RL) Drittes Buch Mose, Kapitel 1, Vers 12:
Und er zerlege es in seine Stücke, und der Priester soll sie samt dem Kopf und dem Fett auf das Holz über dem Feuer legen, das auf dem Altar ist.
(Mari) Drittes Buch Mose, Kapitel 20, Vers 18:
Wenn ein Mann bei einer Frau liegt zur Zeit ihrer Tage und mit ihr Umgang hat und so den Brunnen ihres Blutes aufdeckt und sie den Brunnen ihres Blutes aufdeckt, so sollen sie beide aus ihrem Volk ausgerottet werden.
Mikael ging hinaus und setzte sich auf den Treppenabsatz vorm Haus. Es gab gar keinen Zweifel: Dies hatte Harriet gemeint, als sie die Ziffern in ihr Adressbuch geschrieben hatte. Jedes der Zitate war in ihrer Bibel sorgfältig unterstrichen. Er zündete sich eine Zigarette an und lauschte dem Gesang der Vögel in der Nähe.
Er hatte die Ziffern. Aber er hatte keine Namen. Magda, Sara, Mari, RJ und RL. Da machte sein Gehirn einen intuitiven Sprung, und mit einem Schlag tat sich ein Abgrund vor ihm auf. Er erinnerte sich an das Brandopfer in Hedestad, von dem Kommissar Morell erzählt hatte. Der Fall Rebecka, irgendwann in den späten vierziger Jahren, das Mädchen, das vergewaltigt und dann ermordet worden war, indem man ihren Kopf auf glühende Kohlen legte. Und er zerlege es in seine Stücke, und der Priester soll sie samt dem Kopf und dem Fett auf das Holz über dem Feuer legen, das auf dem Altar ist. Rebecka. RJ. Wie hatte sie mit Nachnamen geheißen?
In was für eine furchtbare Geschichte um Gottes willen war Harriet nur verwickelt gewesen?
Henrik Vanger hatte sich auf einmal schlecht gefühlt und sich bereits am Nachmittag schlafen gelegt, als Mikael bei ihm anklopfte. Anna ließ ihn trotzdem herein, und er konnte den alten Mann für ein paar Minuten besuchen.
»Sommererkältung«, erklärte Henrik und schniefte. »Was wollen Sie?«
»Ich habe eine Frage.«
»Ja?«
»Haben Sie mal von einem Mord gehört, der hier in Hedestad irgendwann Ende der vierziger Jahre geschehen ist? Ein Mädchen namens Rebecka, die ermordet wurde, indem man ihren Kopf in einen offenen Kamin legte.«
»Rebecka Jacobsson«, sagte Henrik Vanger, ohne eine Sekunde zu zögern. »Das ist ein Name, den ich so schnell nicht vergessen werde, aber ich habe ihn seit vielen Jahren nicht mehr gehört.«
»Der Mordfall ist Ihnen bekannt?«
»Oh ja, allerdings. Rebecka Jacobsson war dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, als sie ermordet wurde. Es muss … es ist 1949 passiert. Die Ermittlungen waren sehr umfassend, und ich selbst spielte dabei auch eine kleine Rolle.«
»Sie?«, platzte Mikael verblüfft heraus.
»Ja. Rebecka Jacobsson war Büroangestellte bei Vanger. Sie war ein beliebtes Mädchen und sah unglaublich gut aus. Aber wie kommt es, dass Sie plötzlich nach ihr fragen?«
Mikael wusste nicht, was er sagen sollte. Er stand auf und ging zum Fenster.
»Ich weiß nicht recht, Henrik, ich habe da vielleicht etwas gefunden, aber ich muss mich in Ruhe hinsetzen und eine Weile darüber nachdenken.«
»Sie wollen andeuten, dass es eine Verbindung zwischen Harriet und Rebecka geben könnte. Aber zwischen … zwischen diesen Ereignissen lagen fast siebzehn Jahre.«
»Lassen Sie mich darüber nachdenken. Ich schaue morgen mal bei Ihnen rein, ob es Ihnen schon besser geht.«
Mikael sollte Henrik Vanger am nächsten Tag nicht mehr treffen. Kurz vor ein Uhr nachts saß er immer noch am Küchentisch und las in Harriets Bibel, als er plötzlich einen Wagen mit hoher Geschwindigkeit über die Brücke fahren hörte. Er spähte aus dem Küchenfenster und konnte kurz das Blaulicht eines Krankenwagens erkennen.
Von bösen Vorahnungen erfüllt, rannte Mikael nach draußen und folgte dem Krankenwagen. Er parkte vor Henrik Vangers Haus. Im Obergeschoss brannte Licht, und Mikael begriff sofort, dass etwas passiert war. Er nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe zum Eingang hinauflief, und traf im Flur auf eine erschütterte Anna Nygren.
»Das Herz«, sagte sie. »Er hat mich vor einer Stunde geweckt und klagte über Schmerzen in der Brust. Dann brach er zusammen.«
Mikael nahm die treue Haushälterin in die Arme und blieb bei ihr, als die Rettungshelfer mit einem scheinbar leblosen Henrik Vanger auf der Tragbahre herauskamen. Ein sichtlich mitgenommener Martin Vanger folgte ihnen auf dem Fuße. Er hatte sich gerade hingelegt, als Anna ihn alarmierte. Seine nackten Füße steckten in Pantoffeln, und der Reißverschluss seiner Hose stand offen. Nachdem er Mikael kurz gegrüßt hatte, wandte er sich an Anna.
»Ich fahre mit ins Krankenhaus. Rufen Sie Birger und Cecilia an«, sagte er. »Und benachrichtigen Sie auch Dirch Frode.«
»Ich kann zu Frode rübergehen«, bot Mikael an. Anna nickte dankbar.
Nach Mitternacht an eine Tür zu klopfen bedeutet meistens schlechte Nachrichten, dachte sich Mikael, als er den Finger auf Dirch Frodes Klingel legte. Es dauerte ein paar Minuten, bis ein offensichtlich schlaftrunkener Frode an die Tür kam.
»Ich habe schlechte Neuigkeiten. Henrik Vanger ist gerade ins Krankenhaus gebracht worden. Es scheint ein Herzanfall zu sein. Martin wollte, dass ich Sie benachrichtige.«
»O mein Gott«, sagte Dirch Frode. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Heute ist Freitag, der 13.«, sagte er mit unmissverständlicher Logik und verwirrtem Gesichtsausdruck.
Als Mikael wieder nach Hause kam, war es halb drei Uhr nachts. Er zögerte einen Moment, beschloss dann aber, den Anruf bei Erika aufzuschieben. Erst am nächsten Morgen gegen neun Uhr, als er kurz auf dem Handy mit Dirch Frode telefoniert und sich vergewissert hatte, dass Henrik noch lebte, rief er Erika an, um ihr mitzuteilen, dass der neue Teilhaber von Millennium nach einem Herzanfall ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Wie zu erwarten, wurde die Nachricht mit gedrückter Stimmung und Besorgnis aufgenommen.
Erst spätabends kam Frode mit ausführlichen Auskünften über Henriks Zustand zu Mikael.
»Er lebt, aber es geht ihm nicht gut. Er hatte einen ernsten Infarkt und zudem noch eine Infektion im Körper.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein. Er liegt auf der Intensivstation. Martin und Birger sind dort und wachen an seinem Bett.«
»Wie stehen seine Chancen?«
Frode bewegte die Hand leicht hin und her.
»Er hat den Infarkt überlebt, das ist immer ein gutes Zeichen. Und Henrik hat tatsächlich eine ziemlich gute Konstitution. Aber er ist alt. Wir müssen abwarten.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und dachten über die Zerbrechlichkeit des Lebens nach. Mikael goss Kaffee ein. Frode sah fürchterlich niedergeschlagen aus.
»Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, wie die Dinge jetzt weitergehen sollen«, begann Mikael.
Frode blickte auf.
»An Ihrer Anstellung ändert sich nichts. Das ist alles in dem Vertrag geregelt, der bis zum Ende des Jahres läuft, ob Henrik nun lebt oder nicht. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
»Darüber mache ich mir keine Sorgen, das habe ich nicht gemeint. Ich frage mich nur, wem ich in seiner Abwesenheit Bericht erstatten soll.«
Frode seufzte.
»Sie wissen doch so gut wie ich, Mikael, dass diese ganze Geschichte mit Harriet Vanger ein Zeitvertreib für Henrik ist.«
»Sagen Sie das nicht.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich habe neues Beweismaterial gefunden«, erklärte Mikael. »Ich habe Henrik gestern teilweise davon in Kenntnis gesetzt. Ich befürchte, das könnte zu seinem Herzinfarkt beigetragen haben.«
Frode sah Mikael mit einem seltsamen Blick an.
»Sie machen Witze.«
Mikael schüttelte den Kopf.
»In den letzten Tagen habe ich mehr Material zu Harriets Verschwinden zutage gefördert als die offiziellen Ermittlungen in gut fünfunddreißig Jahren ergeben haben. Nur leider haben wir nie ausgemacht, wem ich Bericht erstatte, wenn Henrik nicht da ist.«
»Sie können es mir erzählen.«
»Okay. Ich muss hier irgendwie weitermachen. Haben Sie ein bisschen Zeit?«
Mikael brachte seine neuen Entdeckungen so pädagogisch wie möglich vor. Er präsentierte die Bilderserie von der Bahnhofstraße und legte seine Theorie dar. Danach erklärte er, wie seine eigene Tochter das Rätsel mit dem Adressbuch geknackt hatte. Zum Schluss brachte er noch die Information über den brutalen Mord von 1949 an Rebecka Jacobsson vor.
Die einzige Information, die er noch für sich behielt, war Cecilia Vangers Gesicht in Harriets Fenster. Er wollte zuerst mit ihr sprechen, bevor er sie einem derartigen Verdacht aussetzte.
Frode legte seine Stirn in bekümmerte Falten.
»Sie meinen, dass der Mord an Rebecka mit Harriets Verschwinden in Zusammenhang steht?«
»Ich weiß nicht. Es wirkt unwahrscheinlich. Aber es ist eine Tatsache, dass Harriet die Initialen RJ in ihrem Adressbuch verzeichnet hatte, ergänzt durch einen Verweis auf das Gesetz für Brandopfer. Rebecka Jacobsson verbrannte. Die Verbindung zur Familie Vanger ist nicht zu übersehen - sie arbeitete im Vanger-Konzern.«
»Und wie erklären Sie sich das alles?«
»Ich erkläre es ja noch gar nicht. Aber ich will weitermachen. Ich betrachte Sie als Henriks Vertreter. Sie müssen für ihn entscheiden.«
»Vielleicht sollten wir die Polizei informieren.«
»Nein. Zumindest nicht ohne Henriks Erlaubnis. Der Mord an Rebecka ist schon lange verjährt, die polizeilichen Ermittlungen sind eingestellt. Sie werden die Ermittlungen in einem Mordfall, der vor vierundfünfzig Jahren geschah, nicht neu aufrollen.«
»Ich verstehe. Was wollen Sie tun?«
Mikael stand auf und drehte eine Runde in der Küche.
»Als Erstes will ich die Spur mit dem Foto verfolgen. Wenn wir sehen, was Harriet gesehen hat … ich glaube, das könnte ein Schlüssel zu den Ereignissen sein. Das bedeutet zum Zweiten, dass ich ein Auto brauche, damit ich nach Norsjö fahren und die Spur weiterverfolgen kann. Und drittens will ich den Bibelzitaten nachgehen. Wir haben bislang ein Zitat mit einem abscheulichen Mord in Verbindung bringen können. Bleiben noch vier Zitate. Um das zu leisten … brauche ich eigentlich Hilfe.«
»Was für Hilfe?«
»Ich brauche einen Mitarbeiter, der Recherchen betreibt. Er müsste sich durch alte Pressearchive wühlen und Magda und Sara und die anderen Namen finden. Wenn es so ist, wie ich glaube, dann war Rebecka nicht das einzige Opfer.«
»Sie wollen also noch jemand einweihen …«
»Es ist plötzlich so ein riesiger Berg Recherchearbeit zu bewältigen. Wenn ich Kommissar in laufenden Ermittlungen wäre, dann könnte ich Zeit und Personal einteilen und die Leute für mich recherchieren lassen. Ich brauche einen Profi, der sich mit Archivarbeit auskennt und zugleich zuverlässig ist.«
»Ich verstehe … Tatsächlich kenne ich eine kompetente Ermittlerin. Sie hat Ihren persönlichen Hintergrund für uns recherchiert«, rutschte es Frode heraus, bevor er sich auf die Zunge beißen konnte.
»Wer hat was recherchiert?«, fragte Mikael Blomkvist scharf.
Frode wusste, dass er sich verplappert hatte. Ich werde alt, dachte er.
»Ich habe nur laut gedacht. Das hatte gar nichts zu bedeuten«, versuchte er sich herauszureden.
»Sie haben Recherchen zu meiner Person in Auftrag gegeben?«
»Nichts Dramatisches, Mikael. Wir wollten Sie anstellen und haben vorher überprüft, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben.«
»Deswegen scheint Henrik mich also so gut einschätzen zu können. Wie gründlich war der Bericht?«
»Der war ziemlich gründlich.«
»Kam die Geschichte mit Millennium auch darin vor?«
Frode zuckte die Schultern. »Das war damals gerade aktuell.«
Mikael zündete sich eine Zigarette an. Es war seine fünfte an diesem Tag. Ihm war klar, dass ihm das Rauchen schon wieder zur schlechten Angewohnheit wurde.
»Ein schriftlicher Bericht?«
»Mikael, das ist nichts gewesen, woran man sich jetzt festbeißen müsste.«
»Ich will den Bericht lesen«, verlangte er.
»Bitte, das war wirklich nichts Besonderes. Wir wollten Sie nur überprüfen, bevor wir Sie anstellen.«
»Ich will den Bericht lesen«, wiederholte er.
»Dazu kann nur Henrik die Erlaubnis geben.«
»Ach, tatsächlich? Dann machen wir’s doch einfach so: Ich will den Bericht innerhalb der nächsten Stunde in der Hand haben. Wenn ich ihn nicht bekomme, kündige ich auf der Stelle und nehme den Abendzug nach Stockholm. Wo ist der Bericht?«
Dirch Frode und Mikael Blomkvist maßen sich ein paar Sekunden mit Blicken. Dann seufzte Frode und schlug die Augen nieder.
»In meinem Arbeitszimmer, zu Hause.«
Der Fall Harriet Vanger war zweifellos die bizarrste Geschichte, mit der Mikael jemals zu tun gehabt hatte. Überhaupt war das letzte Jahr von dem Moment an, als er die Story über Hans-Erik Wennerström veröffentlichte, eine einzige Achterbahnfahrt gewesen, und er hatte sich wie im freien Fall gefühlt. Und anscheinend war es damit noch nicht vorbei.
Frode zierte sich noch ewig. Erst um sechs Uhr abends hielt Mikael Salanders Bericht in der Hand. Er war knapp achtzig Seiten stark, dazu kamen hundert Seiten Kopien von Artikeln, Zeugnissen und andere Belege, die ein Licht auf verschiedene Facetten von Mikaels Leben warfen.
Es war seltsam, etwas über sich selbst zu lesen, das einer Kombination aus Autobiografie und geheimdienstlichem Bericht gleichkam. Mikaels Erstaunen wuchs immer mehr, als er sah, wie detailliert der Bericht war. Lisbeth Salander hatte zielsicher so manches zutage gefördert, wovon er geglaubt hatte, es sei schon längst auf dem Komposthaufen der Geschichte gelandet. Sie hatte zum Beispiel eine alte Affäre ausgegraben, die er als junger Mann mit einer flammenden Gewerkschaftsanhängerin gehabt hatte, die nun Vollzeitpolitikerin war. Mit wem um alles in der Welt hat sie da nur gesprochen? Sie war auf seine Rockband Bootstrap gestoßen, an die sich heutzutage wohl kaum noch ein Mensch erinnern dürfte. Sie hatte seine finanziellen Verhältnisse bis ins kleinste Detail untersucht. Wie zum Teufel hat sie das angestellt?
Als Journalist hatte Mikael über die Jahre gelernt, Informationen aus Personen herauszulocken, und aus rein beruflichen Gründen konnte er die Qualität dieses Berichts beurteilen. Seines Erachtens gab es keinen Zweifel, dass Lisbeth Salander teuflisch gut darin war, Informationen zutage zu fördern. Er bezweifelte, dass er selbst einen entsprechenden Bericht über einen ihm völlig unbekannten Menschen zustande gebracht hätte.
Mikael bemerkte auch, dass es keinen Grund gab, vornehmen Abstand zu Erika zu wahren, wenn sie mit Henrik zu tun hatten - er war bereits im Detail über ihr langjähriges Verhältnis und die Dreiecksbeziehung mit Greger Beckman informiert.
Salander hatte auch eine exakte Beurteilung geliefert, wie es um Millennium bestellt war. Henrik hatte genau gewusst, wie schlecht es um das Magazin stand, als er sich mit Erika in Verbindung setzte und ihr anbot, Teilhaber zu werden. Was für ein Spiel spielen Sie eigentlich?
Die Wennerström-Affäre wurde nur in einer kurzen Übersicht abgehandelt, aber sie hatte anscheinend an einem der Verhandlungstage im Publikum gesessen. Sie stellte auch Fragen zu Mikaels seltsamem Verhalten, als er im Prozess eine Aussage verweigerte. Cleveres Mädchen, wer immer du bist.
In der nächsten Sekunde setzte Mikael sich auf und traute seinen Augen nicht. Lisbeth Salander hatte einen kurzen Absatz darüber geschrieben, wie sie die Entwicklung der Dinge nach dem Prozess einschätzte. Sie hatte fast wortwörtlich die Pressemitteilung wiedergegeben, die Erika veröffentlichte, als er seinen Posten als verantwortlicher Herausgeber bei Millennium zur Verfügung stellte.
Lisbeth Salander hat den Originalwortlaut des Textes verwendet. Er warf einen Blick auf den Umschlag, in dem der Bericht gesteckt hatte. Er war auf drei Tage vor dem Zeitpunkt datiert, an dem Mikael das Urteil gesprochen wurde. Das ist unmöglich.
An diesem Tag hatte die Pressemitteilung nur an einem einzigen Ort auf der Welt existiert. In Mikaels Computer. In seinem eigenen iBook, nicht im Computer in der Redaktion. Der Text war nie ausgedruckt worden. Nicht einmal Erika hatte eine Kopie davon besessen.
Mikael Blomkvist legte Lisbeth Salanders Bericht langsam aus der Hand. Er beschloss, sich nicht noch eine Zigarette anzuzünden. Stattdessen zog er die Jacke an und ging in die Nacht hinaus, die eine Woche vor Mittsommer ganz hell war. Er folgte dem Ufer des Sunds, passierte Cecilias Grundstück und das protzige Motorboot, das unterhalb von Martin Vangers Villa lag. Er ging langsam und dachte nach. Schließlich setzte er sich auf einen Stein und sah zu den Blinkfeuern in der Hedestads-Bucht hinaus. Es gab nur eine Möglichkeit.
Du bist in meinem Computer gewesen, Lisbeth Salander, sagte er laut zu sich selbst. Du bist eine verdammte Hackerin.
18. Kapitel
Mittwoch, 18. Juni
Lisbeth Salander schreckte aus ihrem traumlosen Schlaf hoch. Ihr war leicht übel. Sie brauchte den Kopf nicht zu drehen, um sich zu vergewissern. Sie wusste auch so, dass Mimmi schon zur Arbeit gegangen war, aber ihr Geruch hing immer noch in der abgestandenen Schlafzimmerluft. Sie hatten auf dem Dienstagstreffen mit den Evil Fingers in der Mühle zu viel Bier getrunken. Kurz bevor das Lokal zumachte, war Mimmi aufgetaucht und hatte sie nach Hause und ins Bett begleitet.
Im Gegensatz zu Mimmi hatte Lisbeth sich nie als Lesbe gesehen. Sie hatte ihre Zeit niemals damit verschwendet, darüber nachzudenken, ob sie hetero-, homo- oder möglicherweise bisexuell war. Im Großen und Ganzen machte sie sich nichts aus solchen Etiketten und fand, dass es ihre Sache war, mit wem sie ins Bett ging. Müsste sie sich unbedingt für eine sexuelle Präferenz entscheiden, dann hätte sie wohl Jungs vorgezogen - zumindest waren die in ihrer persönlichen Statistik die Spitzenreiter. Es war nur ein bisschen problematisch, einen Jungen aufzutreiben, der kein Waschlappen und einigermaßen anständig im Bett war. Da war Mimmi ein süßer Kompromiss. Sie hatte Mimmi ein Jahr zuvor in einem Bierzelt auf dem Gay-Pride-Festival kennengelernt, und sie war die einzige Person, die Lisbeth ihrerseits den Evil Fingers vorgestellt hatte. Sie hatten das Jahr über sporadisch Kontakt gehabt; für beide Seiten war das Ganze nur ein Zeitvertreib. Mimmi hatte einen warmen und weichen Körper, aber sie war auch jemand, mit dem man aufwachen und frühstücken konnte.
Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte halb zehn Uhr vormittags, und sie überlegte gerade, wovon sie aufgewacht war, als es an der Tür läutete. Sie setzte sich verblüfft auf. Nur ganz wenige Menschen klingelten überhaupt bei ihr. Schlaftrunken wickelte sie sich ihr Laken um den Körper, tapste leicht taumelnd auf den Korridor und öffnete. Sie blickte direkt in die Augen von Mikael Blomkvist. Panik fuhr ihr in die Glieder, und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Guten Morgen, Frau Salander«, begrüßte er sie munter. »Ich seh schon, ist ein bisschen spät geworden gestern. Darf ich reinkommen?«
Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, trat er über die Schwelle und zog die Tür hinter sich zu. Er betrachtete neugierig den Kleiderhaufen auf dem Flurboden sowie den Berg von gebündeltem Altpapier und spähte durch die Schlafzimmertür, während Lisbeth Salanders Welt Kopf stand - wie, was, wer? Mikael Blomkvist sah amüsiert, dass ihr der Mund weit offen stand.
»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie noch nicht gefrühstückt haben, deshalb habe ich Bagels mitgebracht. Einmal Roastbeef, einmal Pute mit Dijon-Senf und einmal vegetarisch mit Avocado. Ich weiß nicht, welchen Sie gerne möchten. Roastbeef?« Er verschwand in ihrer Küche und fand ihre Kaffeemaschine sofort. »Wo steht denn der Kaffee?«, rief er. Salander stand wie gelähmt auf dem Flur, bis sie den Wasserhahn hörte. Sie machte drei rasche Schritte.
»Stopp!« Sie merkte, dass sie geschrien hatte, und senkte die Stimme. »Sie können hier nicht einfach reinstiefeln, als würden Sie hier wohnen, verdammt noch mal! Wir kennen uns ja nicht mal.«
Mikael Blomkvist, der mit der Kaffeekanne gerade Wasser in den Behälter gießen wollte, hielt inne und wandte sich zu ihr.
Er antwortete ihr in ernstem Ton:
»Falsch! Sie kennen mich besser als die meisten anderen Menschen. Oder?«
Er drehte ihr wieder den Rücken zu, goss den Wasserbehälter voll und begann, verschiedene Dosen zu öffnen. »Apropos, ich weiß auch, wie Sie das anstellen. Ich kenne Ihre Geheimnisse nämlich auch.«
Lisbeth Salander blinzelte und wünschte sich dringend, dass der Boden aufhören würde zu schwanken. Sie befand sich in einem Zustand geistiger Lähmung. Und sie hatte einen Kater. Die Situation war irreal, und ihr Gehirn weigerte sich zu funktionieren. Er weiß, wo ich wohne! Er stand in ihrer Küche. Das war unmöglich. Das durfte einfach nicht passieren. Er weiß, wer ich bin!
Plötzlich spürte sie, dass das Laken davonglitt, und raffte es fester um ihren Körper. Er sagte etwas, was sie nicht gleich verstand. »Wir müssen uns unterhalten«, wiederholte er. »Aber ich glaube, Sie sollten erst mal unter die Dusche.«
Sie versuchte, vernünftig mit ihm zu reden. »Hören Sie - wenn Sie Schwierigkeiten machen wollen, dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Ich habe meinen Job getan. Sie müssen mit meinem Chef reden.«
Er stellte sich vor sie, die Arme ausgebreitet und die Handflächen ihr zugedreht. Ich bin unbewaffnet. Das universelle Friedenssignal. »Ich habe bereits mit Dragan Armanskij geredet. Er möchte übrigens, dass Sie ihn anrufen. Sie sind gestern Abend nicht an Ihr Handy gegangen.«
Er ging auf sie zu. Sie fühlte sich nicht bedroht, wich aber ein paar Zentimeter zurück, als er ihren Arm berührte und auf die Badezimmertür zeigte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn jemand sie ohne ihre Erlaubnis anfasste, mochte es auch in freundlicher Absicht geschehen.
»Ich will überhaupt keine Schwierigkeiten machen«, sagte er ruhig. »Aber mir ist sehr daran gelegen, mit Ihnen zu reden. Wenn Sie aufgewacht sind, heißt das natürlich. Der Kaffee ist fertig, sobald Sie sich angezogen haben. Und jetzt Dusche. Husch, husch.«
Sie gehorchte ihm willenlos. Lisbeth Salander ist niemals willenlos, dachte sie.
Im Badezimmer lehnte sie sich gegen die Tür und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie war erschütterter, als sie es für möglich gehalten hätte. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass ihr fast die Blase platzte und eine Dusche nicht nur ein guter Rat war, sondern nach dem Chaos der letzten Nacht eine echte Notwendigkeit. Als sie fertig war, schlich sie sich ins Schlafzimmer und zog Slip und Jeans an sowie ein T-Shirt mit der Aufschrift Armageddon was yesterday - today we have a serious problem.
Sie ging zu ihrer Lederjacke, die über einem Stuhl hing, holte die E-Pistole aus der Tasche, kontrollierte die Ladung und steckte sie sich in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Der Duft von Kaffee verbreitete sich in der Wohnung. Sie atmete tief durch und ging zurück in die Küche.
»Machen Sie eigentlich nie sauber?«, fragte er.
Er hatte die Spülmaschine mit altem Geschirr gefüllt, die Aschenbecher geleert, abgelaufene Milch weggeschüttet und den Tisch von einem fünf Wochen alten Zeitungsstapel befreit. Des Weiteren hatte er abgetrocknet und den Tisch mit Tassen sowie - er hatte tatsächlich keine Witze gemacht - Bagels gedeckt. Es sah einladend aus, und sie war nach der Nacht mit Mimmi wirklich hungrig. Okay, schauen wir uns mal an, wie das hier weitergeht. Abwartend nahm sie gegenüber von ihm Platz.
»Sie haben mir immer noch keine Antwort gegeben. Roastbeef, Pute oder vegetarisch?«
»Roastbeef.«
»Dann nehm ich Pute.«
Sie frühstückten schweigend, während sie sich gegenseitig musterten. Als sie ihren Bagel aufgegessen hatte, vertilgte sie auch noch die Hälfte des vegetarischen. Sie nahm ein zerknautschtes Paket vom Fensterbrett und zündete sich eine Zigarette an.
»Okay, dann weiß ich jetzt auch Bescheid«, brach er das Schweigen. »Ich bin vielleicht nicht so gut wie Sie, wenn es darum geht, den persönlichen Hintergrund fremder Personen zu recherchieren, aber jetzt weiß ich zumindest, dass Sie weder Veganerin sind noch - wie Dirch Frode vermutete - an Magersucht leiden. Ich werde diese Informationen in meinem Bericht über Sie vermerken.«
Salander starrte ihn an, aber als sie sein Gesicht sah, wurde ihr klar, dass er sie nur aufziehen wollte. Er sah so amüsiert aus, dass sie nicht widerstehen konnte, ihn schief anzulächeln. Die Situation war absurd. Sie schob den Teller von sich. Er hatte freundliche Augen. Was immer er sein mochte, er war höchstwahrscheinlich kein böser Mensch, sagte sie sich. In ihrem Bericht hatte es ja auch keine Hinweise darauf gegeben, dass er ein bösartiger Dreckskerl war, der seine Freundinnen misshandelte oder Ähnliches. Sie rief sich in Erinnerung, dass sie alles über ihn wusste - nicht umgekehrt. Wissen ist Macht.
»Was grinsen Sie denn so?«, fragte sie.
»Entschuldigung. Ich hatte wirklich nicht vor, Sie einfach zu überfallen. Ich wollte Ihnen auch nicht so einen Schreck einjagen, wie ich es offenbar getan habe. Aber Sie hätten Ihre eigene Miene sehen sollen, als Sie mir die Tür aufmachten. Da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mir einen Spaß daraus zu machen.«
Stille. Zu ihrem eigenen Erstaunen empfand Lisbeth Salander seine ungebetene Gesellschaft als akzeptabel - oder zumindest nicht als unangenehm.
»Betrachten Sie es einfach als meine Rache dafür, dass Sie in meinem Privatleben herumgeschnüffelt haben«, sagte er fröhlich. »Haben Sie Angst vor mir?«
»Nein«, antwortete Salander.
»Gut. Ich bin nicht hier, um Ihnen wehzutun oder Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten.«
»Wenn Sie versuchen, mir wehzutun, werde ich Sie verletzen. Und zwar schwer.«
Mikael musterte sie. Sie war knapp 1 Meter 50 groß und wirkte nicht so, als hätte sie ihm viel entgegensetzen können, wenn er gewaltsam in ihre Wohnung eingedrungen wäre. Aber ihre Augen waren ausdruckslos und ruhig.
»Das steht gar nicht zur Debatte«, sagte er schließlich. »Ich habe keine bösen Absichten. Ich muss mit Ihnen reden. Wenn Sie wollen, dass ich gehe, dann müssen Sie es nur sagen.« Er überlegte kurz. »Irgendwie ist das lustig, weil …« Er führte den Satz nicht zu Ende.
»Was?«
»Ich weiß nicht, ob das irgendwie verständlich klingt, aber vor vier Tagen wusste ich noch nicht einmal, dass es Sie gibt. Dann bekam ich Ihre Analyse von mir in die Finger«, er wühlte in seiner Umhängetasche und fand den Bericht, »und das war eine eher beunruhigende Lektüre.«
Er verstummte und sah eine Weile aus dem Küchenfenster. »Kann ich eine Zigarette von Ihnen haben?« Sie schob ihm die Schachtel zu.
»Sie haben vorhin gesagt, dass wir uns nicht kennen, und ich habe geantwortet, dass wir das sehr wohl tun.«
Er zeigte auf den Bericht. »Ich konnte noch nicht mit Ihnen gleichziehen - ich habe nur eine kleine Routinekontrolle durchgeführt, um Ihre Adresse und Ihr Geburtsdatum herauszukriegen -, aber Sie wissen definitiv ganz schön viel über mich. Vieles davon ist sehr privat, und nur meine engsten Freunde wissen von diesen Dingen. Und jetzt sitze ich hier in Ihrer Küche und esse Bagels mit Ihnen. Wir kennen uns seit einer halben Stunde, doch ich habe irgendwie das Gefühl, als wären wir alte Bekannte. Verstehen Sie, was ich meine?«
Sie nickte.
»Sie haben schöne Augen«, sagte er.
»Sie haben nette Augen«, entgegnete sie. Er konnte nicht einschätzen, ob sie das ironisch meinte.
Schweigen.
»Warum sind Sie hier?«, fragte sie plötzlich.
Kalle Blomkvist - der Spitzname kam ihr in den Sinn, und sie unterdrückte den Impuls, ihn laut auszusprechen - sah auf einmal sehr ernst aus. Seine Augen waren müde. Die Selbstsicherheit, mit der er sich vorhin in ihre Wohnung gedrängt hatte, war verschwunden, und sie schloss daraus, dass die Spaßmacherei vorerst vorbei war. Zum ersten Mal bemerkte sie, wie er sie eingehend und nachdenklich musterte. Sie konnte nicht erraten, was in seinem Kopf vor sich ging, aber sie spürte sofort, dass sein Besuch eine Wendung zum Ernsthaften genommen hatte.
Lisbeth Salander wusste sehr wohl, dass sie ihre Nerven nicht wirklich unter Kontrolle hatte. Blomkvists völlig überraschender Besuch hatte sie so schockiert, wie sie es im Zusammenhang mit ihrem Job noch nie erlebt hatte. Sie verdiente ihr Brot damit, andere Menschen auszuspionieren. Eigentlich hatte sie das, was sie für Armanskij machte, nie als richtige Arbeit definiert, sondern eher als komplizierten Zeitvertreib, fast schon als Hobby.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, liebte sie es, im Leben anderer Menschen herumzuschnüffeln und deren Geheimnisse aufzudecken - das hatte sie selbst schon vor langer Zeit festgestellt. In der einen oder anderen Form hatte sie das getan, so lange sie sich zurückerinnern konnte. Und sie tat es noch heute, nicht nur, wenn Armanskij ihr einen Auftrag gab, sondern manchmal auch zum Vergnügen. Es gab ihr einen Kick, der sie befriedigte. Es war wie ein kompliziertes Computerspiel, mit dem Unterschied, dass es eben um lebende Menschen ging. Und jetzt saß der Gegenstand ihres Hobbys plötzlich in der Küche und lud sie zum Frühstück ein.
»Ich habe ein faszinierendes Problem«, begann Mikael. »Sagen Sie, als Sie mich für Frode überprüften, wussten Sie da, wozu der Bericht verwendet werden sollte?«
»Nein.«
»Frode wollte Informationen über mich, weil er, oder besser gesagt sein Auftraggeber, mich engagieren wollte.«
»Aha.«
Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln.
»Irgendwann werden Sie und ich uns auch noch mal über die moralischen Aspekte dessen unterhalten, dass Sie in anderer Menschen Privatleben herumschnüffeln. Aber im Moment habe ich ein ganz anderes Problem … Der Job, den man mir gegeben hat und den ich aus unerfindlichen Gründen angenommen habe, ist der bizarrste Auftrag, den ich jemals bekommen habe. Kann ich Ihnen vertrauen, Lisbeth?«
»Wie bitte?«
»Dragan Armanskij behauptet, dass Sie absolut zuverlässig sind. Aber ich frage Sie trotzdem. Kann ich Ihnen Geheimnisse anvertrauen, ohne dass Sie sie weitergeben? An niemanden.«
»Warten Sie mal. Sie haben also mit Dragan gesprochen - hat er Sie zu mir geschickt?«
Ich mach dich fertig, du verdammter Armenier.
»Na ja, nicht direkt. Sie sind nicht die Einzige, die sich eine Adresse besorgen kann, das habe ich ganz allein gemacht. Ich habe beim Einwohnermeldeamt nachgefragt. Es gibt drei Personen namens Lisbeth Salander, und die anderen zwei kamen nicht infrage. Aber ich habe gestern mit Armanskij Kontakt aufgenommen, und wir haben uns lange unterhalten. Auch er glaubte zuerst, ich wäre gekommen, um Ärger wegen Ihrer Schnüffeleien in meinem Privatleben zu machen, aber zum Schluss konnte ich ihn überzeugen, dass ich ein ganz legitimes Anliegen habe.«
»Und das wäre?«
»Frodes Auftraggeber hat mich, wie gesagt, für einen Job engagiert. Ich bin mittlerweile an einen Punkt gekommen, an dem ich so schnell wie möglich die Hilfe eines kompetenten Ermittlers brauche. Frode hat mir von Ihnen erzählt und sagte, Sie seien kompetent. Es ist ihm einfach so rausgerutscht, und auf die Art habe ich erfahren, dass Sie Nachforschungen zu meiner Person angestellt haben. Gestern habe ich mit Armanskij geredet und ihm erklärt, was ich brauche. Er hat das Ganze abgenickt und dann versucht, Sie anzurufen, aber Sie sind nicht ans Telefon gegangen, und dann … Hier bin ich. Sie können Armanskij anrufen und alles überprüfen, wenn Sie wollen.«
Lisbeth Salander brauchte ein paar Minuten, bis sie ihr Handy unter den Kleidern fand, von denen Mimmi sie am Abend zuvor befreit hatte. Mikael beobachtete ihr verlegenes Wühlen mit großem Interesse, während er eine Runde durch die Wohnung drehte. Ihre Möbel wirkten durchweg so, als seien sie auf der Müllhalde gefunden worden. Auf einem kleinen Arbeitstisch im Wohnzimmer hatte sie ein imposantes PowerBook, absolut state of the art. Auf einem Regal stand ein CD-Player. Ihre CD-Sammlung war jedoch alles andere als imposant - jämmerliche zehn CDs von Bands, von denen Mikael noch nie gehört hatte und deren Musiker auf den Booklets aussahen wie Vampire aus dem All. Er stellte fest, dass Musik nicht ihr Spezialgebiet war.
Lisbeth sah, dass Armanskij sie am Abend zuvor nicht weniger als sieben Mal angerufen und morgens zwei weitere Versuche unternommen hatte. Sie wählte seine Nummer, während Mikael sich an den Türrahmen lehnte und das Gespräch belauschte.
»Ich bin’s … Tut mir leid, ich hatte es ausgeschaltet … Ich weiß, dass er mich engagieren will … Nein, er ist hier in meinem Wohnzimmer …« Sie hob die Stimme. »Dragan, ich habe einen Kater und Kopfweh, also hören Sie auf, mich vollzuschwallern. Haben Sie Ihr Okay für den Job gegeben oder nicht? … Danke.«
Klick.
Lisbeth Salander musterte Mikael Blomkvist verstohlen durch die Wohnzimmertür. Er sah ihre CDs durch, nahm ein paar Bücher aus ihrem Regal und hatte gerade ein braunes Medizinfläschchen ohne Etikett gefunden, das er neugierig gegen das Licht hielt. Als er schon den Verschluss abschrauben wollte, nahm sie ihm das Fläschchen aus der Hand, ging zurück in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und massierte sich die Stirn, während Mikael wieder Platz nahm.
»Die Regeln sind einfach«, sagte sie. »Nichts von dem, was Sie mit mir oder Armanskij besprechen, wird an Außenstehende weitergegeben. Wir werden einen Vertrag unterzeichnen, in dem Milton Security sich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Ich will wissen, was das für ein Job ist, bevor ich entscheide, ob ich für Sie arbeiten will oder nicht. Das bedeutet, dass ich alles, was Sie mir erzählen, für mich behalten werde, ob ich den Job jetzt annehme oder nicht. Immer vorausgesetzt, Sie haben mir nicht verraten, dass Sie schwere kriminelle Machenschaften betreiben. Dann würde ich alles an Dragan weitergeben, der seinerseits die Polizei einschalten würde.«
»Gut.« Er zögerte. »Armanskij weiß vielleicht ganz genau, wofür ich Sie engagieren will.«
»Er hat gesagt, ich soll Ihnen bei einer historischen Recherche helfen.«
»Ja, das ist schon korrekt. Aber eigentlich will ich, dass Sie für mich einen Serienmörder identifizieren.«
Mikael brauchte über eine Stunde, bis er alle heiklen Details des Falls Harriet Vanger dargelegt hatte. Er ließ nichts aus. Frode hatte ihm die Erlaubnis erteilt, sie anzuheuern, und dazu musste er ihr auch volles Vertrauen entgegenbringen.
Er berichtete ebenfalls von seinem Verhältnis mit Cecilia Vanger und wie er ihr Gesicht in Harriets Fenster entdeckt hatte. Er gab Lisbeth so viele Details zu ihrer Persönlichkeit, wie er nur konnte. Er musste sich eingestehen, dass Cecilia auf der Liste der Verdächtigen ganz nach oben geklettert war. Aber er konnte nicht im Entferntesten begreifen, wie Cecilia mit einem Mörder in Verbindung gebracht werden konnte, der schon aktiv war, als sie noch ein kleines Kind war.
Als er fertig war, gab er Lisbeth eine Kopie der Liste aus dem Adressbuch.
»Was soll ich tun?«
»Ich habe RJ identifiziert, Rebecka Johansson, und habe sie mit einem Bibelzitat in Verbindung bringen können, das von Brandopfern handelt. Sie wurde ermordet, indem man ihren Kopf auf eine glimmende Feuerstelle legte; das hat Ähnlichkeit mit der Beschreibung in diesem Zitat. Wenn es so ist, wie ich glaube, dann werden wir noch vier weitere Opfer finden: Magda, Sara, Mari und RL.«
»Sie glauben, dass sie tot sind? Ermordet?«
»Von einem Mörder, der in den fünfziger, vielleicht auch in den sechziger Jahren aktiv war und irgendwie mit Harriet in Verbindung steht. Ich bin alte Nummern des Hedestads-Kuriren durchgegangen. Der Mord an Rebecka war das einzige bizarre Verbrechen mit Verbindung zu Hedestad, das ich finden konnte. Ich möchte, dass Sie im restlichen Schweden weitersuchen.«
Lisbeth Salander überlegte so lange mit ausdruckslosem Schweigen, dass Mikael sich ungeduldig zu winden begann. Er fragte sich schon, ob er sich die falsche Person ausgesucht hatte, als sie schließlich den Blick hob.
»Okay. Ich nehme den Job an. Aber Sie müssen einen Vertrag mit Armanskij machen.«
Armanskij druckte den Vertrag aus, den Mikael mit nach Hedestad nehmen und dort von Frode unterzeichnen lassen sollte. Als er an Lisbeth Salanders Büro vorbeiging, sah er durch die Glasscheibe, wie sie und Mikael Blomkvist sich über ihr PowerBook beugten. Mikael legte ihr eine Hand auf die Schulter - er berührte sie - und zeigte auf etwas. Armanskij verlangsamte seine Schritte.
Mikael sagte etwas, was Salander zu erstaunen schien. Dann lachte sie laut.
Armanskij hatte sie noch nie lachen gehört, obwohl er mehrere Jahre versucht hatte, ihr Vertrauen zu gewinnen. Mikael Blomkvist kannte sie seit fünf Minuten, und jetzt lachten sie schon gemeinsam.
Plötzlich hasste er Blomkvist mit einer Heftigkeit, die ihn selbst überraschte. Er räusperte sich, als er in der Tür stand, und legte die Plastikmappe mit dem Vertrag auf den Tisch.
Mikael schaute am Nachmittag bei der Millennium-Redaktion vorbei. Es war das erste Mal, seit er vor Weihnachten seinen Schreibtisch geräumt hatte. Er hatte ein befremdliches Gefühl, als er die vertrauten Treppen hinauflief. Sie hatten die Zahlenkombination für die Tür nicht geändert, und so konnte er unbemerkt in die Redaktion schleichen, wo er kurz stehen blieb und sich umsah.
Millennium hatte ein L-förmiges Büro. Der Eingangsbereich war ein großer Flur, der viel Platz beanspruchte, den man eigentlich zu nichts Vernünftigem brauchen konnte. Sie hatten dort eine Sitzgruppe aufgestellt, um Besucher zu empfangen. Dahinter befanden sich der Pausenraum mit der kleinen Küche, die Toiletten sowie zwei Abstellräume mit Bücherregalen und das Archiv. Auch der Schreibtisch für den ständigen Praktikanten stand hier. Rechts vom Eingang war eine Glaswand, die das Büro von Christer Malms Atelier trennte. Er hatte sein eigenes Unternehmen, das auf 80 Quadratmetern untergebracht war und das einen eigenen Zugang vom Treppenhaus hatte. Linker Hand befand sich die ungefähr 150 Quadratmeter große Redaktion, durch deren Glasfassade man auf die Götgata blickte.
Erika hatte die Einrichtung gestaltet und Zwischenwände aus Glas einziehen lassen: Sie beanspruchte den größten Raum für sich, während Mikael am anderen Ende der Redaktion untergebracht war. Es war der einzige Raum, in den man vom Eingang aus hineinsehen konnte. Er bemerkte, dass niemand dort eingezogen war.
Der dritte Raum lag ein bisschen abgesondert und wurde vom sechzigjährigen Sonny Magnusson benutzt, der jahrelang erfolgreich Anzeigen für Millennium verkauft hatte. Erika hatte Sonny gefunden, nachdem er den Rationalisierungsmaßnahmen seines alten Betriebs, in dem er den Großteil seines Berufslebens verbracht hatte, zum Opfer gefallen war. Sonny war damals schon in einem Alter gewesen, in dem er nicht mehr damit rechnen konnte, noch eine neue Stelle zu finden. Doch Erika hatte ihn sorgfältig ausgewählt. Sie bot ihm ein bescheidenes Monatshonorar sowie Prozente auf die Einnahmen aus den Anzeigen an. Sonny war darauf eingegangen, und niemand hatte es jemals bereut. Aber im letzten Jahr hatte Sonnys Verkaufstalent auch nichts mehr genutzt, die Anzeigeneinnahmen waren in den Keller gestürzt. Sonnys Lohn war dadurch ebenfalls dramatisch gesunken, aber statt sich nach etwas Neuem umzusehen, hatte er den Gürtel enger geschnallt und loyal die Stellung gehalten. Im Gegensatz zu mir, der ich den Erdrutsch ausgelöst habe, dachte Mikael.
Schließlich nahm er also seinen Mut zusammen und betrat die halb leere Redaktion. Er konnte Erika mit dem Telefonhörer am Ohr in ihrem Büro sitzen sehen. Nur zwei der Angestellten waren in der Redaktion. Die siebenunddreißigjährige Monika Nilsson war eine erfahrene Journalistin, die sich auf politische Beobachtung spezialisiert hatte und vermutlich die lupenreinste Zynikerin war, die Mikael jemals kennengelernt hatte. Sie arbeitete seit neun Jahren bei Millennium und fühlte sich dort extrem wohl. Henry Cortez war vierundzwanzig Jahre alt und der jüngste Mitarbeiter. Er war vor zwei Jahren direkt von der Journalistenschule gekommen und hatte verkündet, dass er bei Millennium arbeiten wollte und sonst nirgends. Erika hatte nicht genug Geld, um ihn anzustellen, aber sie bot ihm einen Schreibtisch in einer Ecke an und beschäftigte ihn mit freien Aufträgen.
Beide stießen einen überraschten Schrei aus, als sie Mikael plötzlich entdeckten. Man küsste ihn auf die Wange und klopfte ihm auf den Rücken. Sie erkundigten sich sofort, ob er seinen Dienst wieder aufnehmen würde, und seufzten enttäuscht, als er erklärte, er müsse noch ein halbes Jahr auf seinem Posten in Norrland bleiben und sei nur gekommen, um Hallo zu sagen und mit Erika zu reden.
Erika freute sich ebenfalls, ihn zu sehen, schenkte Kaffee ein und schloss ihre Zimmertür. Sie fragte sofort nach Henrik Vangers Zustand. Mikael berichtete, er wisse nicht mehr als das, was Dirch Frode ihm erzählt hatte: Der Zustand war ernst, aber der alte Mann lebte noch.
»Was machst du in der Stadt?«
Mikael war plötzlich verlegen. Da Milton Security nur ein paar Blöcke entfernt lag, war er auf einen spontanen Impuls hin in die Redaktion gekommen. Es schien ihm zu kompliziert, Erika zu erklären, dass er gerade eine private Ermittlerin angeheuert hatte, die sich zuvor in seinen Computer gehackt hatte. Stattdessen zuckte er mit den Schultern und sagte, er müsse im Vanger-Fall etwas erledigen und würde umgehend wieder in Richtung Norden zurückfahren. Er fragte sie, wie es in der Redaktion ginge.
»Abgesehen von der angenehmen Nachricht, dass das Anzeigenvolumen und die Zahl der Abonnenten weiterhin steigen, hätten wir da leider auch eine dunkle Wolke am Himmel.«
»Aha?«
»Janne Dahlman.«
»Natürlich.«
»Ich musste im April ein Einzelgespräch mit ihm führen, direkt nachdem wir bekannt gegeben hatten, dass Henrik Vanger als Teilhaber eingestiegen ist. Ich weiß nicht, ob es einfach in seiner Natur liegt, negativ zu sein, oder ob er eine Art Spiel spielt.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich hatte kein Vertrauen mehr zu ihm. Nachdem wir die Vereinbarung mit Vanger unterzeichnet hatten, mussten Christer und ich entscheiden, ob wir sofort die ganze Redaktion darüber informieren, dass wir vorerst weitermachen, oder …«
»Oder ob ihr nur ein paar ausgewählte Mitarbeiter informiert.«
»Genau. Vielleicht bin ich paranoid, aber ich wollte nicht riskieren, dass Dahlman die Story nach draußen durchsickern lässt. Also beschlossen wir, die ganze Redaktion am selben Tag zu informieren, an dem die öffentliche Bekanntmachung erfolgte. Wir haben also über einen Monat dichtgehalten.«
»Und?«
»Tja, das waren die ersten guten Nachrichten seit einem Jahr. Alle jubelten, bis auf Dahlman. Ich meine - wir sind ja nicht gerade die allergrößte Redaktion. Drei Mitarbeiter und ein Praktikant brachen also in wilden Jubel aus, während ein Einziger sich wahnsinnig darüber aufregte, dass wir die Vereinbarung nicht früher bekannt gegeben hatten.«
»Er hat nicht ganz Unrecht …«
»Ich weiß. Aber leider hat er wegen dieser Geschichte noch tagelang rumgezickt, und die Stimmung in der Redaktion ging in den Keller. Als ich mir diesen Mist zwei Wochen lang angesehen hatte, rief ich ihn in mein Büro und erklärte ihm, ich hätte nur deswegen die Redaktion nicht früher informiert, weil ich ihm nicht mehr vertraue und nicht sicher war, ob er den Mund halten würde.«
»Wie hat er es aufgenommen?«
»Er war natürlich furchtbar gekränkt und erregt. Ich gab aber nicht nach, sondern stellte ihm ein Ultimatum - entweder er reißt sich zusammen, oder er sieht sich allmählich nach einem neuen Job um.«
»Und?«
»Er hat sich zusammengerissen. Aber er agiert zurückhaltend, und zwischen ihm und dem Rest der Redaktion ist die Stimmung gespannt. Christer kann ihn nicht mehr ertragen und zeigt das ziemlich deutlich.«
»Was für einen Verdacht hast du gegen Dahlman?«
Erika seufzte.
»Ich weiß nicht. Wir haben ihn vor einem Jahr angestellt, als der Ärger mit Wennerström schon am Laufen war. Ich kann nicht das Geringste beweisen, aber ich habe so ein Gefühl, dass er nicht auf unserer Seite steht.«
Mikael nickte.
»Vertrau deinen Instinkten.«
»Vielleicht ist er auch nur ein Idiot, der schlechte Stimmung verbreitet.«
»Möglich. Aber ich teile deine Meinung, dass wir uns verschätzt haben, als wir ihn damals einstellten.«
Zwanzig Minuten später fuhr Mikael mit dem Auto von Dirch Frodes Frau in Richtung Norden. Es war ein zehn Jahre alter Volvo, den sie nie benutzte. Man hatte Mikael erlaubt, ihn so oft zu fahren, wie er wollte.
Es waren kleine, subtile Details, die Mikael leicht hätte übersehen können, wenn er weniger aufmerksam gewesen wäre. Ein Papierstapel lag schiefer da, als er ihn in Erinnerung hatte. Ein Ordner war nicht richtig ins Regal geschoben. Die Schreibtischschublade war ganz geschlossen - Mikael erinnerte sich deutlich, dass er sie einen Spalt offen gelassen hatte, als er tags zuvor in Richtung Stockholm aufgebrochen war.
Er blieb ein Weilchen unbeweglich sitzen und zweifelte an sich selbst. Dann aber wuchs seine Gewissheit, dass jemand im Haus gewesen war.
Er ging vor die Tür und sah sich um. Er hatte die Tür abgeschlossen, aber das alte Schloss ließ sich gewiss mit einem kleinen Schraubenzieher öffnen. Außerdem wusste er nicht, wie viele Schlüssel überhaupt in Umlauf waren. Er ging wieder hinein und durchsuchte systematisch sein Arbeitszimmer. Nach einer Weile stellte er fest, dass anscheinend noch alles da war.
Doch es blieb eine Tatsache, dass jemand in sein Haus eingedrungen war, in seinem Arbeitszimmer gesessen und seine Papiere und Ordner durchgeblättert hatte. Seinen Computer hatte er zum Glück mitgenommen. Zwei Fragen stellten sich: Wer war der geheimnisvolle Besucher? Und wie viel hatte er herausfinden können?
Die Ordner waren diejenigen aus Henrik Vangers Sammlung, die er ins Gästehäuschen zurückgeholt hatte, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war. In ihnen war kein neues Material enthalten. Die Notizbücher auf dem Schreibtisch waren für Uneingeweihte zu kryptisch - aber war die Person, die den Schreibtisch durchsucht hatte, denn überhaupt uneingeweiht?
Am bedenklichsten war, dass er eine kleine Plastikmappe auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte, die den Zettel mit den Telefonnummern und eine Reinschrift der entsprechenden Bibelzitate enthielt. Wer auch immer das Arbeitszimmer durchsucht hatte, wusste nun, dass er den Bibelcode geknackt hatte.
Wer?
Henrik Vanger war im Krankenhaus. Die Haushälterin Anna verdächtigte er auch nicht. Frode? Aber dem hatte er schon vorher alle Details erzählt. Cecilia hatte die Florida-Reise abgeblasen und war zusammen mit ihrer Schwester aus London zurückgekommen. Er hatte sie seit ihrer Rückkehr noch nicht getroffen, aber er hatte sie gesehen, als sie tags zuvor mit dem Auto über die Brücke gefahren war. Er ging die verschiedenen Familienmitglieder Vanger durch: Harald Vanger. Birger Vanger - er war am Tag nach Henriks Infarkt anlässlich eines Familienrats aufgetaucht, zu dem Mikael nicht eingeladen worden war. Alexander Vanger. Isabella Vanger - sie war alles andere als sympathisch.
Mit wem hatte Frode gesprochen? Was war ihm herausgerutscht? Wer von Henriks nächsten Verwandten hatte womöglich aufgeschnappt, dass Mikael bei seiner Ermittlungsarbeit ein Durchbruch gelungen war?
Es war nach acht Uhr abends. Er rief beim Schlüsseldienst in Hedestad an und bestellte ein neues Schloss für das Gästehaus. Der Mann erklärte sich bereit, am nächsten Tag vorbeizukommen. Mikael versprach ihm doppelte Bezahlung, wenn er sofort käme. Sie einigten sich, dass er um halb elf Uhr abends kommen sollte, um ein Sicherheitsschloss einzubauen.
Während er auf den Mann vom Schlüsseldienst wartete, ging Mikael gegen halb neun zu Frode hinüber und klopfte an die Tür. Frodes Frau führte ihn in den Garten hinter dem Haus und bot ihm ein kaltes Bier an, das Mikael gerne annahm. Er wollte wissen, wie es um Henrik Vanger bestellt war.
Frode schüttelte den Kopf.
»Sie haben ihn operiert. Er hat Ablagerungen in den Herzkranzgefäßen. Der Arzt sagt, die Tatsache, dass er überhaupt noch lebt, macht Hoffnung, aber in den nächsten Tagen wird der Zustand kritisch bleiben.«
Sie dachten eine Weile nach, während sie ihr Bier tranken.
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein. Er konnte nicht sprechen. Wie lief es denn in Stockholm?«
»Lisbeth Salander hat den Auftrag angenommen. Hier ist der Vertrag von Dragan Armanskij. Sie müssen ihn nur noch unterzeichnen und in den Briefkasten werfen.«
Frode blätterte die Papiere kurz durch.
»Die nimmt ja ganz schöne Preise«, stellte er fest.
»Henrik kann es sich leisten.«
Frode nickte, zog einen Stift aus der Brusttasche und kritzelte seinen Namen auf das Blatt.
»Ich unterschreibe am besten, solange Henrik noch lebt. Kommen Sie beim Briefkasten am Supermarkt vorbei?«
Mikael ging schon gegen Mitternacht schlafen, aber er konnte nicht einschlafen. Bis jetzt war alles wie ein Spiel gewesen, aber wenn sich jemand so sehr für sein Tun interessierte, dass er in seinen Arbeitsraum eindrang, dann war die Sache vielleicht ernster, als er gedacht hatte.
Schlagartig wurde ihm klar, dass es auch noch andere gab, die an seiner Arbeit interessiert waren. Henrik Vangers plötzliches Erscheinen in der Führungsspitze von Millennium konnte Hans-Erik Wennerström kaum entgangen sein. Oder zeugten solche Gedanken nur von seiner beginnenden Paranoia?
Mikael stand auf, stellte sich nackt ans Küchenfenster und betrachtete aufmerksam die Kirche auf der anderen Seite der Brücke. Er zündete sich eine Zigarette an.
Er wurde aus Lisbeth Salander nicht schlau. Sie zeigte ein seltsames Verhalten und legte mitten im Gespräch manchmal lange Pausen ein. Ihr Zuhause war ein einziges Chaos: ein Berg von Altpapier im Flur und eine Küche, die seit Jahren nicht mehr geputzt worden war. Ihre Kleider lagen in Haufen auf dem Boden. Am Hals hatte sie frische Knutschflecken, offensichtlich hatte sie über Nacht Gesellschaft gehabt. Sie war an verschiedenen Körperstellen tätowiert - er hatte sicher nicht alle gesehen - und an einigen Stellen im Gesicht gepierct. Sie sah ziemlich eigen aus.
Auf der anderen Seite hatte Armanskij ihm versichert, sie sei die beste Ermittlerin der ganzen Firma, und ihr eingehender Bericht über Mikael Blomkvist hatte ja unbestreitbar gezeigt, dass sie sehr gründlich war. Ein seltsames Mädchen.
Lisbeth Salander saß an ihrem PowerBook und dachte über ihre Reaktion auf Mikael Blomkvist nach. Noch nie zuvor in ihrem Erwachsenenleben hatte sie jemandem erlaubt, ihre Schwelle zu überschreiten, wenn sie ihn nicht ausdrücklich dazu aufgefordert hatte. Und diese kleine Schar konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Mikael war ganz ungeniert direkt in ihr Leben getreten, und sie hatte nur schwach protestiert.
Und damit nicht genug - er hatte sie aufgezogen. Er hatte sich einen Spaß mit ihr gemacht.
Für gewöhnlich hätte sie bei so einem Verhalten im Geiste die Pistole entsichert. Aber sie hatte sich nicht im Geringsten bedroht gefühlt, und von seiner Seite war keine Feindseligkeit zu bemerken gewesen. Er hätte allen Grund gehabt, sie nach Strich und Faden zusammenzustauchen - er hätte sie sogar anzeigen können, weil er wusste, dass sie sich in seinen Computer gehackt hatte. Stattdessen hatte er auch das wie einen Witz behandelt.
Das war der heikelste Teil ihres Gesprächs gewesen. Mikael schien den Faden absichtlich nicht wieder aufzunehmen, bis sie sich irgendwann die Frage nicht mehr verkneifen konnte: »Sie haben gesagt, Sie wissen, was ich getan habe.«
»Sie sind eine Hackerin. Sie waren in meinem Computer.«
»Woher wissen Sie das?« Lisbeth war sich völlig sicher, dass sie keine Spuren hinterlassen hatte und ihr Eindringen nur entdeckt werden konnte, wenn ein Security-Administrator den Datenstrom an der Netzwerkkarte scannte, während sie gerade im gehackten Computer war.
»Sie haben einen Fehler gemacht.« Er erklärte, dass sie die Version eines Textes zitiert hatte, der nur in seinem Computer abgespeichert war und nirgendwo sonst.
Lisbeth Salander schwieg lange. Zum Schluss sah sie ihn ausdruckslos an.
»Wie haben Sie das angestellt?«, fragte er.
»Mein Geheimnis. Was wollen Sie unternehmen?«
Mikael zuckte die Achseln.
»Was kann ich schon tun? Vielleicht hätte ich mit Ihnen mal über Ethik und Moral reden sollen, und über die Gefahren, die es mit sich bringt, wenn man im Privatleben anderer Leute herumschnüffelt.«
»Das ist doch nichts anderes als das, was Sie als Journalist machen.«
Er nickte.
»Stimmt. Deswegen haben wir Journalisten einen Ethik-Ausschuss, der die Spielregeln überwacht. Wenn ich einen Artikel über irgendeinen Schweinehund im Bankwesen schreibe, dann lasse ich sein oder ihr Sexleben aus dem Spiel. Ich schreibe nicht, dass eine Scheckbetrügerin lesbisch ist oder auf Sex mit seinem Hund abfährt oder so was, selbst wenn das zufällig der Wahrheit entsprechen sollte. Auch Schweinehunde haben ein Recht auf Privatleben, und es ist so einfach, Leuten durch Angriffe auf ihren Lebensstil zu schaden. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja.«
»Sie haben meine Intimsphäre verletzt. Mein Arbeitgeber braucht nicht zu wissen, mit wem ich Sex habe. Das ist meine Angelegenheit.«
Ein schiefes Grinsen zog sich quer durch Lisbeth Salanders Gesicht.
»Sie meinen, das hätte ich nicht erwähnen sollen.«
»In meinem Fall spielt das keine größere Rolle. Die halbe Stadt weiß über mein Verhältnis mit Erika Bescheid. Es geht ums Prinzip.«
»Wenn das so ist, dann amüsiert es Sie vielleicht zu erfahren, dass auch ich Prinzipien habe, die Ihrem Ethik-Ausschuss entsprechen. Ich nenne das Salanders Prinzip. Ich finde, dass ein Schweinehund immer ein Schweinehund bleibt, und wenn ich einem Schweinehund schaden kann, indem ich ans Licht zerre, was er für Dreck am Stecken hat, dann hat er es halt verdient. Ich zahle es ihm nur heim.«
»Okay«, lächelte Mikael Blomkvist. »Ich argumentiere nicht völlig anders, aber …«
»Aber dazu kommt, dass ich bei so einer Untersuchung auch danach gehe, was ich selbst von dem Menschen denke. Ich bin nicht neutral. Wenn ich mir einen Schweinehund vorgenommen habe, dann strenge ich mich extra an. Wenn es ein guter Mensch zu sein scheint, dann kann ich in meinem Bericht alles ein bisschen herunterspielen.«
»Wirklich?«
»In Ihrem Fall habe ich alles ein bisschen abgeschwächt. Ich hätte ein Buch über Ihr Sexleben schreiben können. Ich hätte Frode auch mitteilen können, dass Erika Berger eine Vergangenheit im Club Xtreme hat und in den achtziger Jahren mit Bondage- und Sadomaso-Spielchen experimentiert hat - das hätte wohl unausweichlich gewisse Assoziationen zu Ihrem gemeinsamen Sexleben aufkommen lassen.«
Mikael Blomkvists und Lisbeth Salanders Blicke trafen sich. Dann sah er aus dem Fenster und lachte.
»Sie sind wirklich gründlich. Warum haben Sie das nicht in Ihren Bericht geschrieben?«
»Erika Berger und Sie sind erwachsene Menschen, die sich anscheinend sehr nahestehen. Was Sie im Bett machen, geht keinen etwas an. Außerdem wollte ich ihr nicht schaden oder irgendjemandem Erpressungsmaterial an die Hand geben. Wer weiß - ich kenne Dirch Frode nicht, und das Material hätte auch bei Wennerström landen können.«
»Und Wennerström wollen Sie nicht mit Informationen versorgen?«
»Wenn ich mich im Kampf zwischen Ihnen und Wennerström für eine Seite entscheiden müsste, würde ich in Ihrer Ecke des Boxrings stehen.«
»Erika und ich haben ein … Unser Verhältnis ist …«
»Ich scheiße drauf, was für ein Verhältnis Sie haben. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet, was Sie mit dem Wissen anfangen wollen, dass ich Ihren Computer gehackt habe.«
Er machte eine Pause, die fast genauso lang war wie ihre.
»Ich bin nicht gekommen, um Ihnen Ärger zu bereiten, Lisbeth. Ich habe nicht vor, Sie zu erpressen. Ich bin hier, um Sie bei meinen Recherchen um Hilfe zu bitten. Sie können mit Ja oder Nein antworten. Wenn Sie Nein sagen, dann gehe ich weg und suche mir jemand anders, und Sie werden nie wieder etwas von mir hören.«
Lächelnd fügte er hinzu: »Das heißt, natürlich nur, wenn ich Sie nicht mehr in meinem Computer erwische.«
»Und das heißt?«
»Sie wissen sehr viel über mich, teilweise sehr private und persönliche Dinge. Aber jetzt ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Ich hoffe nur, dass Sie Ihr Wissen nicht dazu verwenden wollen, Erika Berger oder mir zu schaden.«
Sie sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.
19. Kapitel
Donnerstag, 19. Juni - Sonntag, 29. Juni
Mikael verbrachte zwei Tage damit, sein Material durchzugehen, während er auf die Nachricht wartete, ob Henrik Vanger überleben würde oder nicht. Er hielt engen Kontakt zu Dirch Frode. Am Donnerstagabend kam Frode zum Gästehäuschen hinüber und teilte mit, dass Henrik Vanger über den Berg zu sein schien.
»Er ist schwach, aber ich konnte heute ein bisschen mit ihm reden. Er will Sie so bald wie möglich sehen.«
Am Mittsommertag gegen 13 Uhr fuhr Mikael also ins Krankenhaus von Hedestad und suchte den Gang, auf dem Henrik Vangers Zimmer lag. Er traf einen irritierten Birger Vanger an, der sich ihm in den Weg stellte und gebieterisch verkündete, dass Henrik Vanger unmöglich Besuch empfangen könne. Mikael blieb ruhig stehen und sah den Stadtrat an.
»Was Sie nicht sagen. Henrik Vanger hat mir ausdrücklich ausrichten lassen, dass er mich heute treffen will.«
»Sie gehören nicht zur Familie und haben hier nichts zu suchen.«
»Sie haben recht, ich gehöre nicht zur Familie. Aber ich handle in direktem Auftrag von Henrik Vanger und nehme nur von ihm Anweisungen entgegen.«
Es hätte zu einem heftigen Wortwechsel kommen können, wäre in diesem Moment nicht Dirch Frode aus Henriks Zimmer gekommen.
»Ah, da sind Sie ja. Henrik hat eben nach Ihnen gefragt.«
Frode hielt ihm die Tür auf, und Mikael ging an Birger Vanger vorbei ins Krankenzimmer.
Henrik Vanger sah aus, als wäre er in der letzten Woche um zehn Jahre gealtert. Er lag erschöpft auf dem Bett, mit halb geschlossenen Augen und einem Sauerstoffschlauch in der Nase, die Haare zerzauster denn je. Eine Krankenschwester hielt Mikael zurück, indem sie ihm eine Hand auf den Arm legte.
»Zwei Minuten. Mehr nicht. Und regen Sie ihn nicht auf.« Mikael nickte und setzte sich auf einen Besucherstuhl, sodass er Henriks Gesicht sehen konnte. Er empfand eine Zärtlichkeit, die ihn verblüffte, und drückte vorsichtig die Hand des alten Mannes. Henrik Vanger sprach stoßweise und mit schwacher Stimme.
»Neuigkeiten?«
Mikael nickte.
»Ich werde Ihnen Bericht erstatten, sobald es Ihnen besser geht. Ich habe das Rätsel noch nicht gelöst, aber ich habe neues Material gefunden und verfolge gerade eine ganze Menge Spuren. In ein oder zwei Wochen kann ich sagen, ob sie irgendwohin führen.«
Henrik Vanger versuchte zu nicken. Es wurde eher ein Zwinkern, mit dem er signalisierte, dass er verstanden hatte.
»Ich muss ein paar Tage verreisen.«
Henriks Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Ich muss verreisen, um etwas zu recherchieren. Ich habe mit Dirch Frode ausgemacht, dass ich ihm Bericht erstatten werde. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Dirch ist … in jeder Hinsicht … mein Vertreter.«
Mikael nickte.
»Mikael … wenn ich es … nicht schaffe … dann möchte ich, dass Sie … den Job trotzdem zu Ende bringen.«
»Ich verspreche Ihnen, ich werde den Job zu Ende bringen.«
»Dirch hat alle … Vollmachten.«
»Henrik, ich möchte, dass Sie wieder auf die Beine kommen. Ich wäre entsetzlich wütend auf Sie, wenn Sie einfach sterben würden, jetzt, wo ich mit meiner Arbeit so weit gekommen bin.«
»Zwei Minuten«, sagte die Krankenschwester.
»Ich muss gehen. Nächstes Mal, wenn ich komme, möchte ich mich lange mit Ihnen unterhalten.«
Als er wieder auf den Flur trat, wurde Mikael von Birger Vanger erwartet, der ihm eine Hand auf die Schulter legte.
»Ich möchte, dass Sie Henrik nicht weiter belasten. Er ist schwer krank und darf in keinster Weise gestört oder aufgeregt werden.«
»Ich verstehe Ihre Sorge und kann Ihnen versichern, ich sehe die Dinge genauso. Ich werde ihn nicht aufregen.«
»Alle wissen, dass Henrik Sie für sein kleines Hobby angestellt hat … Harriet. Frode hat mir erzählt, dass Henrik nach einem Gespräch mit Ihnen, kurz vor seinem Herzinfarkt, furchtbar aufgeregt war. Er hat gesagt, Sie befürchten, den Anfall ausgelöst zu haben.«
»Das glaube ich jetzt nicht mehr. Henrik litt unter starker Arterienverkalkung. Er hätte den Herzanfall genauso gut bekommen können, wenn er auf die Toilette gegangen wäre. Ich glaube, das wissen Sie mittlerweile auch.«
»Ich möchte vollen Einblick in diese Dummheiten nehmen. Es ist schließlich meine Familiengeschichte, in der Sie da wühlen.«
»Wie gesagt … ich arbeite für Henrik. Nicht für die Familie.«
Birger Vanger war es offensichtlich nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Einen Moment starrte er Mikael mit einem Blick an, der wohl Respekt einflößend wirken sollte, ihn aber eher wie einen aufgeblasenen Elch aussehen ließ. Birger Vanger drehte sich um und ging in Henriks Zimmer.
Mikael hätte fast losgelacht, beherrschte sich aber. Es war nicht unbedingt angebracht, auf dem Flur vor Henriks Krankenbett zu lachen, das ebenso gut sein Totenbett werden konnte. Aber Mikael hatte plötzlich an eine Strophe aus Lennart Hylands gereimter Abc-Fibel aus den sechziger Jahren denken müssen. Aus unerfindlichen Gründen hatte er sie auswendig gelernt, als er lesen und schreiben lernte. Und beim Buchstaben E hieß es:
Der Elch, der saß still lächelnd da,
der Wald um ihn her zerschossen war.
Vor dem Eingang zum Krankenhaus stieß Mikael mit Cecilia zusammen. Seit sie aus ihrem abgebrochenen Urlaub zurückgekommen war, hatte er schon Dutzende von Malen vergeblich versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Auch zu Hause hatte er sie nicht antreffen können.
»Hallo, Cecilia«, sagte er. »Tut mir leid, was mit Henrik passiert ist.«
»Danke«, sagte sie und nickte.
Mikael versuchte, ihre Gefühle zu erraten, aber er konnte weder Wärme noch Kühle ausmachen.
»Wir müssen reden«, sagte er.
»Tut mir leid, dass ich dich so auf Distanz halte. Ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber im Moment komme ich nicht mal mit mir selbst richtig klar.«
Mikael blinzelte, bevor ihm klar wurde, worauf sie anspielte. Schnell legte er ihr eine Hand auf den Arm und lächelte sie an.
»Warte, Cecilia, du hast mich missverstanden. Ich bin absolut nicht sauer auf dich. Ich hoffe, wir können immer noch Freunde bleiben, aber wenn du mich nicht mehr sehen willst … wenn du das so beschlossen hast, dann werde ich das auf jeden Fall respektieren.«
»Das mit den Beziehungen kann ich nicht so gut«, sagte sie.
»Ich auch nicht. Wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?« Er nickte in Richtung Krankenhaus-Cafeteria.
Cecilia zögerte. »Nein, nicht heute. Ich will jetzt Henrik besuchen.«
»Okay, aber ich muss trotzdem noch mit dir reden. Rein beruflich.«
»Was meinst du damit?«
»Erinnerst du dich an unser erstes Treffen im Gästehäuschen im Januar? Damals habe ich dir zugesichert, dass unser Gespräch off the record ist und dass ich dir Bescheid sage, wenn ich dich richtig befragen will. Es geht um Harriet.«
Cecilia Vanger wurde rot vor Wut.
»Du verdammter Mistkerl!«
»Cecilia, ich bin auf Sachen gestoßen, über die ich ganz einfach mit dir reden muss.«
Sie trat einen Schritt zurück.
»Begreifst du denn nicht, dass die irrwitzige Jagd nach dieser verfluchten Harriet nur eine Beschäftigungstherapie für Henrik ist? Begreifst du nicht, dass er vielleicht da drinnen liegt und stirbt? Dass es das Letzte ist, was er jetzt brauchen kann, wenn er sich aufregt und sich falsche Hoffnungen macht und …«
Sie verstummte.
»Vielleicht ist es nur ein Hobby für Henrik, aber ich habe gerade mehr neues Material zutage gefördert als irgend jemand sonst in den letzten fünfunddreißig Jahren. In diesen Ermittlungen sind noch ein paar Fragen offen, und ich arbeite in Henriks Auftrag.«
»Wenn Henrik stirbt, wird es mit den Ermittlungen verdammt schnell zu Ende sein. Dann fliegst du hier raus, bevor du bis drei zählen kannst«, sagte Cecilia und ging an ihm vorbei.
Sämtliche Geschäfte waren geschlossen, Hedestad so gut wie ausgestorben. Die Einwohner waren in ihren Sommerhäuschen und feierten Mittsommer. Nach langem Suchen entdeckte Mikael, dass zumindest das Café auf der Terrasse des Stadthotels noch geöffnet hatte. Er bestellte sich einen Kaffee und ein belegtes Brot und setzte sich mit seiner Abendzeitung hin. In der Welt war nichts Wichtiges passiert.
Er legte die Zeitung aus der Hand und dachte über Cecilia nach. Er hatte weder Henrik noch Frode von seinem Verdacht erzählt, dass sie das Fenster in Harriets Zimmer geöffnet hatte. Er hatte Angst gehabt, sie damit einem schlimmen Verdacht auszusetzen, und er wollte ihr auf keinen Fall schaden. Doch früher oder später musste diese Frage gestellt werden.
Er blieb eine Stunde auf der Terrasse sitzen, bevor er beschloss, das ganze Problem beiseitezuschieben und sich am Mittsommerabend anderen Dingen zuzuwenden als der Familie Vanger. Sein Handy schwieg. Erika war verreist und amüsierte sich irgendwo mit ihrem Mann, und er hatte niemanden, mit dem er hätte sprechen können.
Er fuhr um vier Uhr nachmittags auf die Hedeby-Insel zurück und fasste einen weiteren Entschluss - mit dem Rauchen aufzuhören. Er hatte seit seinem Wehrdienst regelmäßig trainiert, sowohl im Fitnessstudio als auch durch Joggen am südlichen Ufer des Mälar-Sees, aber er war aus dem Rhythmus gekommen, als die Probleme mit Hans-Erik Wennerström losgingen. Erst im Gefängnis hatte er wieder begonnen, Gewichte zu heben, in erster Linie als Therapie, aber seit seiner Entlassung hatte er sich nicht sonderlich angestrengt. Höchste Zeit, wieder anzufangen. Entschlossen zog er sich seine Joggingmontur an und setzte sich träge in Trab auf dem Weg zu Gottfrieds Häuschen, bog dann Richtung Befestigung ab und machte eine etwas anstrengendere Runde durchs Gelände. Er hatte seit seiner Militärzeit nicht mehr an Orientierungsläufen teilgenommen, war aber stets lieber durch den Wald als auf flachen Wegen gelaufen. Am Zaun des Östergården entlang lief er zurück zur Stadt. Er fühlte sich total erschöpft, als er atemlos die letzten Schritte zu seinem Haus tat.
Gegen sechs Uhr hatte er geduscht. Anschließend kochte er Kartoffeln und aß dazu Senfhering mit Schnittlauch auf einem wackeligen Tisch vor dem Gästehäuschen. Er goss sich einen Schnaps ein und prostete sich selbst zu. Danach schlug er einen Krimi mit dem Titel Das Lied der Sirenen von Val McDermid auf.
Gegen sieben kam Frode zu ihm und ließ sich ihm gegenüber auf einen Gartenstuhl sinken. Mikael goss ihm auch einen Schnaps ein.
»Sie haben heute für ein bisschen Aufregung gesorgt«, sagte Frode.
»Das habe ich gemerkt.«
»Birger Vanger ist ein Idiot.«
»Ich weiß.«
»Im Gegensatz zu Cecilia, die entsetzlich wütend auf Sie ist.«
Mikael nickte.
»Sie hat mich angewiesen, dafür zu sorgen, dass Sie aufhören, in den Familienangelegenheiten herumzuschnüffeln.«
»Verstehe. Und Ihre Antwort?«
Dirch Frode sah sein Glas mit dem Schnaps an und leerte es dann in einem Zug.
»Meine Antwort ist die, dass Henrik Ihnen sehr deutliche Anweisungen gegeben hat. Solange er diese Anweisungen nicht ändert, sind Sie an unseren Vertrag gebunden. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihr Bestes geben, um Ihren Teil des Vertrags zu erfüllen.«
Mikael nickte. Er blickte zum Himmel hinauf, an dem sich langsam Regenwolken sammelten.
»Da zieht ein Unwetter auf«, bemerkte Frode. »Doch keine Sorge. Wenn es richtig stürmisch werden sollte, werde ich mich hinter Sie stellen.«
»Danke.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Könnte ich noch einen Schnaps haben?«, fragte Dirch Frode.
Nur wenige Minuten nachdem Frode gegangen war, bremste Martin Vanger vor Mikaels Häuschen und parkte sein Auto am Straßenrand. Er kam auf Mikael zu und grüßte. Mikael wünschte ihm einen schönen Mittsommerabend und bot ihm einen Schnaps an.
»Nein, das lasse ich wohl besser. Ich bin nur gekommen, um mich umzuziehen, danach fahre ich wieder in die Stadt und verbringe den Abend mit Eva.«
Mikael wartete.
»Ich habe mit Cecilia gesprochen. Sie ist momentan ein bisschen aufgeregt - Henrik und sie stehen sich sehr nah. Ich hoffe, Sie verzeihen ihr, wenn sie etwas … Unschönes zu Ihnen gesagt hat.«
»Ich mag Cecilia sehr gern«, antwortete Mikael.
»Ich weiß. Aber sie kann schwierig sein. Ich möchte bloß, dass Sie sich über eines im Klaren sind: Cecilia ist entschieden dagegen, dass Sie weiter in der Vergangenheit graben.«
Mikael seufzte. Alle in Hedestad schienen zu wissen, womit Henrik ihn beauftragt hatte.
»Wie denken Sie darüber?«
Martin Vanger zuckte mit den Schultern.
»Henrik war jahrzehntelang von der Geschichte mit Harriet wie besessen. Ich weiß nicht … Harriet war meine Schwester, aber irgendwie ist das alles schon so weit weg. Frode hat gesagt, dass Sie einen wasserdichten Vertrag mit Henrik hätten, der nur von ihm selbst aufgelöst werden kann. Ich fürchte, in seinem derzeitigen Zustand würde das mehr schaden als nützen.«
»Sie wollen also, dass ich weitermache.«
»Haben Sie denn schon irgendetwas gefunden?«
»Tut mir leid, Martin, aber es wäre ein Vertragsbruch, wenn ich darüber mit Ihnen ohne Henriks Erlaubnis sprechen würde.«
»Verstehe.« Plötzlich lächelte er. »Henrik hat was übrig für Verschwörungstheorien. Aber ich will vor allem nicht, dass Sie falsche Hoffnungen in ihm wecken.«
»Das werde ich nicht tun, ich verspreche es Ihnen. Ich gebe nur Fakten an ihn weiter, die ich belegen kann.«
»Gut … übrigens, wo wir gerade dabei sind … wir haben da ja noch einen anderen Vertrag, über den wir nachdenken müssten. Da Henrik krank geworden ist und seine Aufgaben bei Millennium nicht wahrnehmen kann, bin ich verpflichtet, ihn zu vertreten.«
Mikael wartete.
»Wir sollten eine Sitzung der Führungskräfte einberufen, um die Lage zu klären.«
»Das ist eine gute Idee. Aber soweit ich informiert bin, soll die nächste Sitzung erst im August stattfinden.«
»Ich weiß, aber eventuell müssen wir das vorverlegen.«
Mikael lächelte höflich.
»Vielleicht sprechen Sie da einfach mit dem Falschen. Derzeit sitze ich gar nicht im Führungskreis von Millennium. Ich habe die Zeitschrift im Dezember verlassen und keinen Einfluss auf das, was auf der Führungsebene geschieht. Ich schlage vor, dass Sie sich in dieser Frage mit Erika Berger in Verbindung setzen.«
Mit dieser Antwort hatte Martin Vanger nicht gerechnet. Er überlegte kurz und stand auf.
»Sie haben natürlich recht. Ich werde mit ihr sprechen.« Er klopfte Mikael zum Abschied auf die Schulter und ging zu seinem Auto.
Mikael sah ihm hinterher. Es war nichts Konkretes ausgesprochen worden, aber die Drohung stand deutlich im Raum. Martin Vanger hatte Millennium in die Waagschale geworfen. Nach einer Weile goss Mikael sich noch einen Schnaps ein und nahm seinen Roman wieder zur Hand.
Gegen neun Uhr kam die braun gesprenkelte Katze vorbei und strich ihm um die Beine. Er hob sie hoch und kraulte sie hinter den Ohren.
»Dann sind wir ja schon zwei, die sich am Mittsommerabend langweilen«, sagte er.
Als die ersten Regentropfen fielen, ging er hinein. Die Katze wollte draußen bleiben.
Am Mittsommertag nahm sich Lisbeth Salander ihre Kawasaki vor und checkte sie einmal gründlich durch. So eine 125 Kubik-Maschine war sicher nicht das beeindruckendste Gefährt auf Erden, aber dafür gehörte sie ihr, und sie konnte gut mit ihr umgehen. Sie hatte sie eigenständig Schraube für Schraube instand gesetzt - und dabei ein bisschen mehr frisiert, als legal gewesen wäre.
Nachmittags schnappte sie sich Helm und Lederjacke und fuhr hinaus zum Pflegeheim Äppelviken, wo sie den Abend mit ihrer Mutter im Park verbrachte. Lisbeths Sorge und ihr schlechtes Gewissen versetzten ihr einen Stich. Ihre Mutter schien abwesender denn je. Während der drei Stunden, die sie miteinander verbrachten, wechselten sie nur ein paar wenige Worte, und augenscheinlich war ihrer Mutter dabei nicht bewusst, mit wem sie eigentlich redete.
Mikael vergeudete mehrere Tage damit, nach dem Auto mit dem AC-Nummernschild zu suchen. Nach jeder Menge Kopfzerbrechen konsultierte er schließlich einen pensionierten Kfz-Mechaniker in Hedestad und erfuhr, dass das Auto ein Ford Anglia war, ein damals gängiger Autotyp, von dem er noch nie gehört hatte. Danach kontaktierte er einen Mitarbeiter der Kfz-Meldestelle und erkundigte sich, ob er ein Verzeichnis sämtlicher Ford Anglia bekommen könne, die 1966 ein Nummernschild gehabt hatten, das mit AC3 anfing. Nach einigem Hin und Her ließ sich der Mitarbeiter überreden - obgleich es eigentlich nicht rechtens sei und ein wenig dauern könnte, wie er sagte.
Erst ein paar Tage nach Mittsommer setzte Mikael sich in seinen geliehenen Volvo und fuhr auf der E4 gen Norden. Er war noch nie gerne schnell gefahren und steuerte das Auto ganz gemütlich bis kurz vor die Härnsands-Brücke, wo er eine Pause machte und einen Kaffee in Vesterlunds Konditorei trank.
Der nächste Halt war Umeå, wo er eine Raststätte ansteuerte und das Tagesmenü bestellte. Er kaufte sich einen Straßenatlas und fuhr weiter nach Skellefteå, wo er nach links in Richtung Norsjö abbog. Gegen sechs Uhr abends war er angekommen und checkte im Hotel Norsjö ein.
Er begann seine Suche früh am nächsten Morgen. Die Tischlerei Norsjö war nicht im Telefonbuch verzeichnet. Die Dame am Empfang des Polarhotels, eine Frau Mitte zwanzig, hatte noch nie von dieser Firma gehört.
»Wen müsste ich da fragen?«
Sie sah einen Moment verwirrt drein, bis sich ihr Gesicht aufhellte und sie erklärte, sie könne ihren Vater anrufen. Zwei Minuten später kam sie zurück und sagte ihm, die Tischlerei Norsjö habe schon Anfang der achtziger Jahre zugemacht. Wenn Mikael Genaueres wissen wolle, müsse er sich an Eugen Burman wenden, der dort Vorarbeiter gewesen war und nun in einer Straße wohnte, die Solvändan hieß.
Norsjö war ein kleiner Ort mit einer Hauptstraße, passenderweise Storgata, also »große Straße«, genannt, von der rechts und links Geschäfte sowie Nebenstraßen mit Wohnhäusern abzweigten. An der östlichen Einfahrt in den Ort lagen ein kleines Gewerbegebiet und eine alte Scheune, an der Ausfahrt im Westen stand eine ungewöhnlich schöne Holzkirche. Mikael bemerkte, dass es im Ort eine Missionskirche und eine Kirche der Pfingstgemeinde gab. Ein Anschlag an der Bushaltestelle warb für ein Jagd- und ein Skimuseum. Ein veraltetes Plakat verriet, dass Veronika am Mittsommerabend auf dem Festplatz gesungen hatte. Er konnte den Ort in knapp zwanzig Minuten vom einen Ende zum anderen durchqueren.
In der Solvändan-Straße, die ungefähr fünf Minuten vom Hotel entfernt war, standen nur Einfamilienhäuser. Burman öffnete nicht, als Mikael an der Tür klingelte. Es war halb zehn, und er vermutete, dass Burman entweder zur Arbeit gegangen war oder, falls er schon pensioniert war, für irgendeine Erledigung das Haus verlassen hatte.
Die nächste Anlaufstelle war der Eisenwarenladen in der Storgata. Wenn man in Norsjö wohnt, muss man früher oder später auch mal in den Eisenwarenladen, überlegte Mikael. Im Geschäft waren zwei Verkäufer. Mikael wandte sich an den älteren der beiden, der knapp fünfzig Jahre alt sein mochte.
»Guten Tag. Ich suche ein Paar, das in den sechziger Jahren vermutlich hier im Ort gewohnt hat. Der Mann hat eventuell in der Tischlerei Norsjö gearbeitet. Ich weiß nicht, wie sie heißen, aber ich habe zwei Bilder, die 1966 aufgenommen worden sind.«
Die Verkäufer sahen sich die Bilder lange an, schüttelten aber zum Schluss die Köpfe und erklärten, weder den Mann noch die Frau zu kennen.
Zu Mittag aß Mikael eine Frikadelle an einer Würstchenbude. Er war in mehrere Geschäfte gegangen und hatte das Gemeindebüro, die Bibliothek und die Apotheke abgeklappert. Auf dem Polizeirevier traf er niemanden an, und so begann er auf gut Glück, ältere Menschen anzusprechen. Gegen zwei Uhr nachmittags fragte er zwei jüngere Frauen, die das Paar zwar nicht kannten, aber eine gute Idee hatten:
»Wenn das Foto 1966 aufgenommen wurde, dann müssen die beiden heute über sechzig sein. Fragen Sie doch mal im Altenwohnheim nach.«
Dort stellte sich Mikael am Empfang einer ungefähr dreißigjährigen Frau vor und setzte ihr sein Anliegen auseinander. Sie musterte ihn misstrauisch, ließ sich zu guter Letzt aber erweichen. Mikael durfte mit ihr in den Aufenthaltsraum gehen und dort eine halbe Stunde lang den vielen Heimbewohnern seine Bilder zeigen. Die Rentner, im Alter von knapp 70 aufwärts, waren sehr hilfsbereit, aber keiner konnte die Personen identifizieren, die 1966 in Hedestad fotografiert worden waren.
Gegen fünf Uhr fuhr er wieder in die Solvändan-Straße zurück und klopfte bei Eugen Burman. Diesmal hatte er mehr Glück. Herr und Frau Burman waren beide schon pensioniert und tagsüber unterwegs gewesen. Man bat ihn in die Küche, wo Eugens Frau sogleich Kaffee aufsetzte, während Mikael sein Anliegen vorbrachte. Wie all die anderen Versuche an diesem Tag stellte sich auch dieser als Niete heraus. Burman kratzte sich am Kopf, zündete sich eine Pfeife an und stellte nach einer Weile fest, dass er die Personen auf den Bildern nicht kannte. Die Burmans sprachen einen ausgeprägten Norsjöer Dialekt, und Mikael tat sich zuweilen schwer, ihnen zu folgen.
»Sie haben ganz richtig erkannt, dass der Aufkleber von der Tischlerei ist«, sagte Burman. »Sie sind ja ganz schön auf Zack, dass sie den erkannt haben. Aber leider haben wir mit diesen Aufklebern nur so um uns geschmissen. Jeder hat die gekriegt, Fahrer, Kunden, Handwerker und viele andere.«
»Dieses Paar zu finden ist schwieriger, als ich gedacht habe.«
»Warum wollen Sie sie denn finden?«
Mikael hatte sich entschlossen, die Wahrheit zu sagen, wenn die Leute ihn fragen sollten. Jeder Versuch, eine Geschichte zu diesem Paar zu konstruieren, würde nur unwahrscheinlich klingen und Verwirrung hervorrufen.
»Das ist eine lange Geschichte. Ich untersuche ein Verbrechen, das 1966 in Hedestad begangen wurde, und ich glaube, es besteht eine minimale Chance, dass die Personen auf dem Foto gesehen haben, was geschehen ist. Sie sind in keiner Weise verdächtig, und ich glaube, sie wissen nicht einmal selbst, dass sie vielleicht Informationen besitzen, die dieses Verbrechen aufklären könnten.«
»Ein Verbrechen? Was für ein Verbrechen?«
»Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen nicht erzählen. Mir ist klar, dass es sehr seltsam aussieht, wenn nach fast vierzig Jahren jemand daherkommt und versucht, diese Personen hier ausfindig zu machen, aber das Verbrechen ist bis heute nicht aufgeklärt worden, und es sind erst vor Kurzem neue Fakten aufgetaucht.«
»Ich verstehe. Tja, da haben Sie ein ganz schön ungewöhnliches Anliegen.«
»Wie viele Personen haben denn in der Tischlerei gearbeitet?«
»Normalerweise waren wir vierzig Personen. Ich war dort seit meinem siebzehnten Lebensjahr angestellt, also seit Mitte der fünfziger Jahre, bis zur Schließung des Betriebs. Dann wurde ich Fahrer.«
Burman dachte kurz nach.
»Ich kann auf jeden Fall versichern, dass der Junge auf diesem Foto nie in der Tischlerei gearbeitet hat. Es könnte sein, dass er Fahrer war, aber ich glaube, dann würde ich ihn auch wiedererkennen. Es gibt natürlich noch eine andere Möglichkeit. Es könnte ja sein, dass sein Vater oder irgendein Verwandter im Betrieb gearbeitet hat und dass das gar nicht sein Auto ist.«
Mikael nickte.
»Ich weiß, es gibt viele Möglichkeiten. Haben Sie noch einen Vorschlag, mit wem ich sprechen könnte?«
»Oh ja«, sagte Burman und nickte. »Kommen Sie morgen Vormittag vorbei, dann fahren wir eine Runde und reden mit ein paar von den Jungs.«
Lisbeth Salander stand vor einem methodischen Problem von gewisser Bedeutung. Sie war eine unbestreitbare Expertin darin, sich Informationen über jede beliebige Person zu beschaffen, aber ihr Ausgangspunkt war dabei immer ein Name oder die Personenkennnummer gewesen. Wenn die Daten zur Person in irgendeinem Register gespeichert waren, was kein Mensch vermeiden konnte, dann landete das Objekt schnell in ihrem Spinnennetz. Wenn die Person über einen Computer mit Internetanschluss verfügte, eine E-Mail-Adresse oder vielleicht sogar eine eigene Homepage, dann konnte sie ihre tiefsten Geheimnisse lüften.
Die Arbeit, die sie für Mikael Blomkvist übernommen hatte, sah ganz anders aus. Jetzt lautete der Auftrag - vereinfacht ausgedrückt -, vier Personenkennnummern auf äußerst vager Grundlage zu identifizieren. Zudem handelte es sich um Personen, die früher einmal gelebt hatten; vielleicht musste sie bis in die vierziger Jahre zurückgehen. Somit gab es auch keine gespeicherten Daten.
Mikaels These - ausgehend vom Fall Rebecka Jacobsson - war, dass diese Personen ein und demselben Mörder zum Opfer gefallen waren. Sie mussten also in diversen Polizeiberichten zu unaufgeklärten Kriminalfällen auftauchen. Sicher war nur, dass diese Morde vor 1966 geschehen sein mussten. Sie stand mit dieser Recherche vor einer völlig neuen Situation.
Sie fuhr ihren Computer hoch und gab bei Google die Suchbegriffe »Magda« und »Mord« ein. Das war die simpelste Art von Recherche, die sie überhaupt durchführen konnte. Zu ihrer Überraschung gelang ihr sofort ein Durchbruch in ihren Ermittlungen. Ihr erster Treffer war das Fernsehprogramm von TV Värmland in Karlstad, in dem eine Folge der Serie Morde in Värmland angekündigt wurde, die bereits 1999 gesendet worden war. Danach kam eine kurze Meldung in Värmlands Folkblad.
In der Serie Morde in Värmland ist diesmal Magda Lovisa Sjöberg an der Reihe, ein scheußlicher Mordfall, der die Polizei in Karlstad über mehrere Jahrzehnte beschäftigte. Im April 1960 wurde die sechsundvierzigjährige Bauersfrau Lovisa Sjöberg im Viehstall der Familie brutal ermordet. Der Reporter Claes Gunnars schildert die letzten Stunden in ihrem Leben und die ergebnislose Jagd nach einem Mörder, der die Polizei immer noch zum Narren hält. Der Mord erregte seinerzeit großes Aufsehen. Es gab viele Theorien, wer der Schuldige gewesen sein könnte. Ein jüngerer Verwandter der Ermordeten erzählt in TV Värmland, wie die Verdächtigungen sein Leben zerstört haben. 20.00 Uhr.
Nützlichere Informationen fand sie im Artikel Der Fall Lovisa hat eine ganze Region erschüttert, der in der Zeitschrift Värmlandskultur veröffentlicht worden war, deren Artikel komplett ins Netz gestellt waren. Mit offenkundiger Begeisterung und im Plauderton wurde beschrieben, wie Lovisa Sjöbergs Mann, der Holzfäller Holger Sjöberg, seine Frau tot aufgefunden hatte, als er gegen fünf Uhr von der Arbeit nach Hause kam. Nachdem sie sexuell brutal missbraucht worden war, hatte man mit einem Messer auf sie eingestochen und sie dann mit einer Heugabel getötet. Der Mord war im Viehstall der Familie verübt worden. Was allerdings am meisten Aufmerksamkeit erregte, war, dass der Mörder sie nach vollbrachter Tat kniend in einer Pferdebox festgebunden hatte.
Später entdeckte man, dass eines der Tiere auf dem Hof durch einen Messerstich seitlich am Hals verletzt worden war.
Zunächst verdächtigte man den Ehemann des Mordes, aber er konnte ein wasserfestes Alibi vorweisen. Er war seit sechs Uhr morgens mit seinen Arbeitskollegen zusammen gewesen, im vier Meilen von seinem Zuhause entfernten Wald. Lovisa Sjöberg war nachweislich bis zehn Uhr vormittags noch am Leben gewesen, da sie zu diesem Zeitpunkt Besuch von einer Nachbarin gehabt hatte. Keiner der Nachbarn hatte irgendetwas gehört oder gesehen. Der nächste Nachbar wohnte vierhundert Meter vom Sjöbergschen Hof entfernt.
Nachdem ihr Mann als Hauptverdächtiger ausgeschieden war, konzentrierte sich die Polizei auf den dreiundzwanzigjährigen Neffen der Ermordeten. Dieser war schon wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt geraten, war knapp bei Kasse und hatte sich schon mehrmals geringfügige Beträge von seiner Tante geliehen. Sein Alibi war bedeutend wackeliger, und er wurde vorläufig festgenommen, bis man ihn aus Mangel an Beweisen, wie es hieß, wieder freiließ. Viele Bewohner hielten seine Schuld trotzdem für sehr wahrscheinlich.
Die Polizei verfolgte noch verschiedene andere Spuren. Ein Großteil der Ermittlungen konzentrierte sich auf die Jagd nach einem geheimnisvollen Hausierer, der in der Gegend gesehen worden war. Außerdem gab es Gerüchte, ein Trupp »diebischer Zigeuner« sei auf Raubzug gewesen. Warum diese einen brutalen Sexualmord hätten begehen sollen, ohne überhaupt etwas zu stehlen, wurde nicht ganz klar.
Zeitweise richtete sich das Interesse auf einen Nachbarn, einen Junggesellen, den man in seiner Jugend eines Verbrechens in Verbindung mit Homosexualität verdächtigt hatte - damals war Homosexualität noch strafbar. Mehreren Aussagen zufolge galt er als »seltsamer Typ«. Warum ein vermutlich homosexueller Mann ein Sexualverbrechen an einer Frau begehen sollte, wurde ebenfalls nicht erläutert. Keine dieser Spuren führte zu einer Festnahme oder einem Urteil.
Lisbeth Salander fand die Verbindung zu der Liste in Harriet Vangers Adressbuch frappant. Das Bibelzitat aus dem Dritten Buch Mose, 20, 16, lautete: Wenn eine Frau sich irgendeinem Tier naht, um mit ihm Umgang zu haben, so sollst du sie töten und das Tier auch. Des Todes sollen sie sterben, und ihre Blutschuld komme über sie. Es konnte kein Zufall sein, dass eine Bäuerin namens Magda ermordet und in einer Pferdebox festgebunden worden war.
Es stellte sich die Frage, warum Harriet Vanger den Namen Magda statt Lovisa notiert hatte, der ja anscheinend ihr Rufname war. Wäre der vollständige Name in der Programmankündigung nicht ausgeschrieben gewesen, hätte Lisbeth sie gar nicht gefunden.
Und dann natürlich die wichtigste Frage von allen: Gab es eine Verbindung zwischen dem Mord an Rebecka 1949, dem Mord an Magda Lovisa 1960 und Harriet Vangers Verschwinden 1966? Und wie um alles in der Welt war Harriet Vanger dann an diese Informationen gekommen?
Burman nahm Mikael auf einen trostlosen Samstagsspaziergang durch Norsjö mit. Am Vormittag besuchten sie fünf ehemalige Angestellte, die in nächster Nähe wohnten. Drei von ihnen lebten im Zentrum von Norsjö, zwei am Stadtrand. Alle boten ihnen Kaffee an, betrachteten die Fotos eingehend und schüttelten den Kopf.
Nach einem einfachen Mittagessen bei Eugen Burman setzten sie sich ins Auto und klapperten vier Dörfer rund um Norsjö ab, in denen ehemalige Angestellte der Tischlerei wohnten. Überall wurde Eugen Burman herzlich begrüßt, aber keiner konnte ihnen helfen. Mikael war kurz davor, die Hoffnung zu verlieren, und er fragte sich, ob die ganze Fahrt nach Norsjö überflüssig gewesen war.
Gegen vier Uhr nachmittags parkte Burman das Auto vor einem roten Haus nördlich von Norsjö und stellte Mikael dem pensionierten Tischlermeister Henning Forsman vor.
»Na, das ist doch Assar Brännlunds Junge«, sagte Henning Forsman sofort, als Mikael ihm die Bilder zeigte. Bingo.
»Ach wirklich?«, fragte Eugen. Und an Mikael gewandt: »Das war ein Einkäufer.«
»Wo kann ich ihn finden?«
»Den Jungen? Tja, da kommen Sie zu spät. Er hieß Gunnar und arbeitete bei Boliden. Er kam bei einem Sprengstoffunfall Mitte der siebziger Jahre ums Leben. Aber seine Frau lebt noch. Die von dem Bild hier. Sie heißt Mildred und wohnt in Bjursele.«
»Bjursele?«
»Das ist knapp eine Meile die Straße nach Bastuträsk runter. Sie wohnt in der länglichen roten Bruchbude gleich rechts, wenn Sie in die Stadt kommen. Das dritte Haus ist das. Ich kenne die Familie ziemlich gut.«
»Guten Tag, ich bin Lisbeth Salander und schreibe eine kriminologische Abhandlung über Gewalt gegen Frauen im 20. Jahrhundert. Ich würde gerne das Polizeirevier in Landskrona besuchen und die Akten zu einem Fall von 1957 einsehen. Es geht um den Mord an einer fünfundvierzigjährigen Frau namens Rakel Lunde. Wissen Sie zufällig, wo man diese Akten heute finden kann?«
Bjursele war das reinste Werbeplakat für die ländliche Västerbotten-Region. Das Dorf bestand aus zwanzig Häusern, die am Ende eines Sees halbkreisförmig und relativ dicht nebeneinanderstanden. In der Mitte des Dorfes gabelte sich eine Straße, dort wies ein Pfeil nach Hemmingen, 11 km, und einer nach Bastuträsk, 17 km. Daneben war eine Brücke, die über einen kleinen Fluss führte. Im Hochsommer musste es hier so aussehen wie auf einer Postkarte.
Mikael hatte sein Auto auf dem Parkplatz des Supermarktes geparkt, schräg gegenüber vom dritten Haus auf der rechten Seite. Als er klopfte, war niemand da.
Er ging eine Stunde lang auf der Straße nach Hemmingen spazieren und passierte eine Stelle, an der sich der kleine Fluss in einen reißenden Strom verwandelte. Dort kehrte er wieder um. Die einzigen Lebewesen, die ihm begegneten, waren zwei Katzen und ein Reh. Mildred Brännlunds Tür war immer noch verschlossen.
An einem Pfosten bei der Brücke entdeckte er ein zerfleddertes Flugblatt, das zum BTCC einlud, den »Bjursele Tukting Car Championships 2002«. Tukting war anscheinend ein winterliches Vergnügen, bei dem man Autos auf dem zugefrorenen See zu Schrott fuhr. Nachdenklich betrachtete Mikael den Anschlag.
Er wartete bis zehn Uhr abends, dann gab er auf und fuhr nach Norsjö zurück, wo er ein spätes Abendessen zu sich nahm und sich dann im Bett der Auflösung von Val McDermids Krimi widmete.
Und die war ziemlich grausig.
Gegen zehn Uhr abends fügte Lisbeth Salander zögerlich einen weiteren Namen zu Harriet Vangers Liste hinzu, nachdem sie ein paar Stunden darüber nachgegrübelt hatte.
Sie hatte eine Abkürzung entdeckt. In regelmäßigen Abständen wurden Artikel über ungelöste Morde veröffentlicht, und in der Sonntagsbeilage einer Abendzeitung hatte sie einen Artikel von 1999 mit der Überschrift Mehrere Frauenmörder immer noch auf freiem Fuß gefunden. Der Artikel war eher summarisch, enthielt aber Namen und Bilder bestimmter Mordopfer, die besondere Aufmerksamkeit erregt und damals offensichtlich den Fortsetzungsroman des Sommers geliefert hatten: Da gab es den Solveig-Fall in Norrtälje, den Anita-Mord in Norrköping, Margareta in Helsingborg und eine ganze Reihe anderer Fälle.
Der älteste dieser Fälle stammte jedoch aus den sechziger Jahren, und keiner der Morde passte zu der Liste, die Lisbeth von Mikael bekommen hatte. Ein Fall weckte allerdings ihre Aufmerksamkeit.
Im Juni 1962 war eine zweiunddreißigjährige Prostituierte namens Lea Persson aus Göteborg nach Uddevalla gereist, um ihre Mutter und ihren neunjährigen Sohn zu besuchen, für den ihre Mutter das Sorgerecht hatte. Nach ein paar Tagen hatte sich Lea an einem Sonntagabend von ihrer Mutter verabschiedet und war zum Bahnhof aufgebrochen, um nach Göteborg zurückzufahren. Zwei Tage später wurde sie hinter einem Container gefunden, der auf einem ehemaligen Industriegelände zurückgelassen worden war. Sie war vergewaltigt und außergewöhnlich brutal misshandelt worden.
Der Lea-Mord erregte große Aufmerksamkeit und wurde die Fortsetzungsreportage des Sommers, aber ein Täter konnte nie identifiziert werden. Eine Lea kam auf Harriet Vangers Liste nicht vor. Und es passte auch keines von ihren Bibelzitaten.
Ein Tatumstand war jedoch so bizarr, dass er Lisbeth Salander sofort ins Auge stach: Ungefähr zehn Meter von der Stelle entfernt, an der man Leas Leiche gefunden hatte, fand man einen Blumentopf mit einer toten Taube. Irgendjemand hatte der Taube eine Schnur um den Hals gelegt und sie durch das Loch im Blumentopfboden gezogen. Danach hatte man den Topf auf ein kleines Feuer gestellt, das zwischen zwei Ziegelsteinen entfacht worden war. Es gab keinen Hinweis darauf, dass diese Tierquälerei etwas mit dem Lea-Mord zu tun hatte. Es hätte genauso gut sein können, dass Kinder hier ein schrecklich grausames Sommerspiel gespielt hatten, aber die Medien titelten Der Taubenmord.
Lisbeth Salander war keine Bibelleserin - sie besaß nicht einmal eine Bibel -, aber am Abend ging sie zur Högalids-Kirche, und mit ein bisschen Mühe glückte es ihr schließlich, sich eine Bibel auszuleihen. Sie setzte sich auf eine Parkbank vor der Kirche und las das Dritte Buch Mose. Als sie bei Kapitel 12, Vers 8 angekommen war, zog sie die Augenbrauen hoch. Kapitel 12 handelte von der Reinigung der Wöchnerinnen.
Vermag sie aber nicht ein Schaf aufzubringen, so nehme sie zwei Turteltauben oder zwei andere Tauben, eine zum Brandopfer, die andere zum Sündopfer; so soll sie der Priester entsühnen, dass sie rein werde.
Lea hätte problemlos in Harriets Adressbuch stehen können, als Lea - 31208.
Lisbeth Salander wurde plötzlich klar, dass keine Recherche früher auch nur annähernd die Dimensionen von Mikael Blomkvists Auftrag gehabt hatte.
Mildred Brännlund, die nach ihrer zweiten Heirat Mildred Berggren hieß, öffnete die Tür, als Mikael Blomkvist am Sonntagmorgen gegen zehn bei ihr klopfte. Die Frau war fast vierzig Jahre älter und ungefähr genauso viele Kilo schwerer, aber Mikael erkannte sofort das Mädchen vom Foto wieder.
»Hallo, ich heiße Mikael Blomkvist. Sie müssen Mildred Berggren sein.«
»Ja, das ist richtig.«
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich hier einfach so bei Ihnen anklopfe, aber ich versuche schon seit geraumer Zeit, Sie zu erreichen. Es geht um eine Angelegenheit, die ziemlich kompliziert zu erklären ist.« Mikael lächelte sie an. »Dürfte ich kurz reinkommen und ein wenig Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?«
Mildreds Mann und ein zirka fünfunddreißigjähriger Sohn waren zu Hause. Sie bat Mikael ohne großes Zögern, in der Küche Platz zu nehmen. Er gab allen die Hand. In den vergangenen Tagen hatte Mikael mehr Kaffee getrunken als je zuvor in seinem Leben, aber dabei hatte er gelernt, dass es in Norrland unhöflich wäre, das Angebot abzulehnen. Als die Kaffeetassen auf dem Tisch standen, setzte Mildred sich hin und fragte neugierig, wie sie ihm helfen könne.
Mikael konnte ihren Norsjö-Dialekt kaum verstehen, und so wechselte sie ins Hochschwedische.
Mikael atmete tief durch. »Es ist eine lange und seltsame Geschichte. Im September 1966 waren Sie in Hedestad, zusammen mit Ihrem damaligen Mann Gunnar Brännlund.«
Sie war verblüfft. Er wartete, bis sie nickte, bevor er das Foto von der Bahnhofstraße vor ihr auf den Tisch legte.
»Damals wurde dieses Bild aufgenommen. Erinnern Sie sich an die Zusammenhänge?«
»Ach du lieber Gott«, sagte Mildred Berggren. »Das ist ja fast schon vierzig Jahre her.«
Ihr zweiter Mann und ihr Sohn stellten sich hinter sie und betrachteten das Foto.
»Da waren wir auf Hochzeitsreise. Wir sind mit dem Auto nach Stockholm und Sigtuna gefahren. Auf dem Rückweg haben wir einfach irgendwo haltgemacht. In Hedestad, sagten Sie?«
»Ja, genau, das war in Hedestad. Dieses Bild wurde ungefähr um ein Uhr mittags aufgenommen. Ich habe lange daran gearbeitet, Sie zu identifizieren, das war kein Kinderspiel.«
»Sie sind auf ein altes Bild von mir gestoßen und haben mich dann gefunden? Ich habe keine Ahnung, wie Sie das geschafft haben.«
Mikael legte das Bild vom Parkplatz auf den Tisch.
»Dank dieses Bildes, das etwas später gemacht wurde.« Mikael erklärte ihr, wie er über die Tischlerei Norsjö Eugen Burman ausfindig gemacht hatte, der ihn wiederum zu Henning Forsman in Norsjövallen führte.
»Ich schätze, Sie haben einen guten Grund für diese außergewöhnliche Suchaktion.«
»Allerdings. Dieses Mädchen, das hier auf dem Bild schräg vor Ihnen steht, hieß Harriet. Sie verschwand an diesem Tag, und es wird angenommen, dass sie Opfer eines Mörders wurde. Ich will Ihnen zeigen, was passiert ist.«
Mikael holte sein iBook hervor und erklärte zunächst die Zusammenhänge. Dann spielte er die Bilderserie ab, auf der man sehen konnte, wie sich Harriets Gesichtsausdruck veränderte.
»Als ich diese alten Bilder durchging, habe ich Sie entdeckt. Sie stehen mit einer Kamera in der Hand hinter Harriet, und es sieht so aus, als würden Sie gerade das fotografieren, was Harriets Reaktion ausgelöst haben könnte. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Sie fragen wollte, ob Sie vielleicht noch Fotos von diesem Tag besitzen.«
Mikael war darauf gefasst, dass Mildred Berggren ablehnen oder erklären würde, die Fotos nie entwickelt oder weggeworfen zu haben. Stattdessen sah sie Mikael mit ihren hellblauen Augen an und meinte, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit auf Erden, dass sie alle ihre alten Urlaubsfotos noch habe.
Sie ging hinaus und kam nach ein paar Minuten mit einem kleinen Karton zurück, in dem sie Unmengen von Fotos in unbeschrifteten Kuverts gesammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie die Fotos von dieser Urlaubsreise gefunden hatte. In Hedestad hatte sie drei Bilder geschossen. Eines war unscharf und zeigte die Hauptstraße. Eines zeigte ihren ersten Mann. Das dritte zeigte die Clowns im Festzug.
Eifrig beugte Mikael sich vor. Er sah eine Gestalt auf der anderen Straßenseite. Sie sagte ihm überhaupt nichts. Das Bild war wahrscheinlich völlig wertlos.
20. Kapitel
Dienstag, 1. Juli - Mittwoch, 2. Juli
Am Morgen nach seiner Rückkehr ging Mikael zunächst zu Dirch Frode hinüber, um sich nach Henriks Zustand zu erkundigen. Er erfuhr, dass der alte Mann in der vergangenen Woche erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Er war immer noch schwach und gebrechlich, aber mittlerweile konnte er sich schon im Bett aufsetzen. Sein Zustand galt nicht mehr als kritisch.
»Gott sei Dank«, sagte Mikael. »Mir ist nämlich klar geworden, dass ich ihn wirklich gern habe.«
Frode nickte. »Ich weiß. Und Henrik mag Sie auch. Wie war die Reise nach Norrland?«
»Erfolgreich und gleichzeitig unbefriedigend. Ich erzähl es Ihnen nachher. Doch zuvor eine Frage.«
»Bitte sehr.«
»Was geschieht mit Millennium, wenn Henrik stirbt?«
»Gar nichts. Martin wird Mitglied der Geschäftsführung.«
»Könnten Sie sich vorstellen, rein hypothetisch natürlich, dass Martin Millennium irgendwelche Probleme bereiten würde, wenn ich nicht aufhöre, Harriets Verschwinden zu untersuchen?«
Dirch Frode sah Mikael scharf an.
»Was ist passiert?«
»Eigentlich gar nichts.« Mikael berichtete von dem Gespräch, das er am Mittsommerabend mit Martin Vanger geführt hatte. »Als ich von Norsjö zurückfuhr, rief Erika mich an und erzählte, dass Martin gerade mit ihr gesprochen und sie gebeten hatte, auf meine Anwesenheit in der Redaktion zu drängen.«
»Ich verstehe. Vermutlich hat Cecilia ihn angespitzt. Aber ich glaube nicht, dass Martin ernsthaft versuchen würde, Sie zu erpressen. Dafür ist er viel zu anständig. Und vergessen Sie nicht, dass auch ich in der Führungsspitze der kleinen Tochtergesellschaft sitze, die wir gegründet haben, als wir bei Millennium eingestiegen sind.«
»Aber wenn es zu einer heiklen Situation kommen sollte - wie werden Sie sich dann verhalten?«
»Verträge sind dazu da, eingehalten zu werden. Ich arbeite für Henrik. Henrik und ich sind seit fünfundvierzig Jahren Freunde, und in diesen Dingen sind wir uns sehr ähnlich. Wenn Henrik sterben sollte, dann erbe tatsächlich ich - und nicht Martin - Henriks Anteil an der Tochtergesellschaft. Wir haben einen wasserdichten Vertrag, der uns verpflichtet, Millennium vier Jahre lang zu unterstützen. Wenn Martin vorhaben sollte, irgendwelchen Unfug anzustellen - was ich nicht glaube -, dann kann er eventuell eine geringe Zahl neuer Anzeigenkunden verhindern.«
»Die für Millennium von existenzieller Bedeutung sind …«
»Ja, aber sehen Sie es mal so - es ist zeitaufwändig, sich mit solchem Kleinkram abzugeben. Martin kämpft derzeit um sein Überleben in der Industrielandschaft und arbeitet vierzig Stunden am Tag. Für andere Dinge hat er gar keine Zeit.«
Mikael dachte eine Weile nach.
»Darf ich mal fragen … ich weiß, es geht mich nichts an, aber wie ist der allgemeine Zustand des Konzerns?«
Frode wirkte ernst.
»Wir haben Probleme.«
»Tja, das kapiert sogar ein normalsterblicher Wirtschaftsjournalist wie ich. Ich meine, wie ernst ist es denn?«
»Unter uns?«
»Ganz unter uns.«
»Wir haben in den letzten Wochen zwei Großaufträge in der Elektronikindustrie verloren und stehen kurz davor, komplett vom russischen Markt verdrängt zu werden. Im September müssen wir 1600 Angestellte in Örebro und Trollhättan freistellen. Eine Katastrophe für diese Menschen, die jahrelang für das Unternehmen gearbeitet haben. Mit jeder weiteren Fabrik, die wir schließen, wird das Vertrauen in den Konzern weiter untergraben.«
»Martin Vanger steht also gewaltig unter Druck.«
»Er schuftet wie ein Ochse und balanciert dabei auf Eierschalen.«
Mikael ging nach Hause und rief Erika an. Sie war nicht in der Redaktion, also sprach er stattdessen mit Christer Malm.
»Es sieht folgendermaßen aus: Erika hat mich gestern angerufen, als ich auf der Rückfahrt von Norsjö war. Martin Vanger hat ihr in den Ohren gelegen und hat, wie soll ich es formulieren, er hat sie ermuntert, sie solle vorschlagen, dass ich langsam wieder größere Verantwortung in der Redaktion übernehme.«
»Das finde ich auch«, sagte Christer.
»Das verstehe ich ja. Aber ich habe hier einen Vertrag mit Henrik Vanger, den ich nicht brechen kann, und Martin agiert im Auftrag einer Person hier oben, die will, dass ich mit meiner Schnüffelei aufhöre und von hier verschwinde.«
»Verstehe.«
»Schöne Grüße an Erika, ich komme nach Stockholm, sobald ich hier oben fertig bin. Vorher nicht.«
»Alles klar. Du bist vollkommen verrückt. Ich werde es ausrichten.«
»Christer, hier oben ist irgendwas im Gange, und ich habe nicht vor, jetzt einen Rückzieher zu machen.«
Christer stieß einen tiefen Seufzer aus.
Mikael ging zu Martin Vangers Haus und klopfte. Eva Hassel machte ihm auf und grüßte freundlich.
»Hallo. Ist Martin da?«
Wie zur Antwort kam Martin Vanger mit einer Aktentasche heraus. Er küsste Eva auf die Wange und grüßte Mikael.
»Ich bin auf dem Weg ins Büro. Wollten Sie mit mir sprechen?«
»Das können wir auch noch später, wenn Sie es jetzt eilig haben.«
»Schießen Sie los.«
»Ich werde nicht in die Millennium-Redaktion zurückkehren, bevor ich nicht Henrik Vangers Auftrag erledigt habe. Ich informiere Sie nur, damit Sie nicht vor dem Jahreswechsel mit meiner Anwesenheit im Führungskreis rechnen.«
Martin Vanger wiegte sich einen Moment auf den Absätzen vor und zurück.
»Sie glauben offenbar, ich will Sie loswerden.« Er machte ein Pause. »Wir müssen später darüber sprechen, Mikael. Ich habe wirklich nicht die Zeit, mich hobbymäßig der Leitung von Millennium zu widmen, und ich wünschte, ich hätte Henriks Vorschlag nie angenommen. Aber glauben Sie mir - ich werde mein Bestes tun, damit Millennium überlebt.«
»Das habe ich niemals bezweifelt«, antwortete Mikael höflich.
»Wenn wir für nächste Woche einen Termin vereinbaren, können wir eine Stunde lang die wirtschaftliche Situation durchgehen, und ich kann Ihnen erklären, wie ich die Dinge einschätze. Aber im Grunde denke ich, dass das Magazin es sich nicht leisten kann, dass eine seiner Schlüsselfiguren hier auf der Insel sitzt und Däumchen dreht. Ich mag die Zeitschrift, und ich denke, wir können ihr gemeinsam wieder auf die Füße helfen, aber bei dieser Arbeit werden Sie gebraucht. Ich bin hier in einen Loyalitätskonflikt geraten: Entweder ich richte mich nach Henriks Wünschen, oder ich mache meinen Job bei der Führung von Millennium.«
Mikael zog seinen Trainingsanzug an und drehte eine Runde durchs Gelände, bis hin zur Befestigung und hinunter zu Gottfrieds Häuschen, bevor er in langsamerem Tempo am Wasser entlang nach Hause lief. Frode saß an seinem Gartentisch. Er wartete geduldig, während Mikael eine Flasche Wasser trank und sich den Schweiß vom Gesicht wischte.
»Das sieht mir aber nicht gesund aus bei dieser Hitze.«
»Uah«, antwortete Mikael.
»Ich habe mich geirrt. Es ist nicht in erster Linie Cecilia, die Martin in den Ohren liegt. Isabella ist diejenige, die den ganzen Clan aufstachelt, Sie zu teeren und zu federn und nach Möglichkeit auch noch auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Birger unterstützt sie.«
»Isabella?«
»Sie ist ein böser und kleinlicher Mensch, der eigentlich niemanden leiden kann. Doch gegen Sie scheint sie eine ganz besondere Abneigung zu hegen. Sie verbreitet die Behauptung, Sie seien ein Betrüger, der Henrik dazu verleitet hat, Sie anzustellen. Auch seinen Herzanfall lastet sie Ihnen an.«
»Nimmt ihr das jemand ab?«
»Es gibt immer Menschen, die bereit sind, bösen Zungen zu glauben.«
»Ich versuche herauszufinden, was mit ihrer Tochter geschehen ist - und sie hasst mich dafür. Wenn es hier um meine Tochter ginge, hätte ich wohl etwas anders reagiert.«
Gegen zwei Uhr nachmittags klingelte Mikaels Handy.
»Hallo, mein Name ist Conny Torsson, ich bin vom Hedestads-Kuriren. Hätten Sie Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten? Wir haben einen Tipp bekommen, dass Sie hier in Hedeby wohnen.«
»Nicht gerade brandheiß der Tipp. Ich wohne hier schon seit Neujahr.«
»Das wusste ich nicht. Was machen Sie in Hedestad?«
»Schreiben. Ich mache eine Art Sabbatjahr.«
»Woran arbeiten Sie?«
»Sorry. Das erfahren Sie erst, wenn ich es veröffentliche.«
»Sie sind ja gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden …«
»Ja?«
»Wie denken Sie über Journalisten, die Material fälschen?«
»Journalisten, die Material fälschen, sind Idioten.«
»Sie meinen also, Sie sind ein Idiot?«
»Warum sollte ich? Ich habe niemals Material gefälscht.«
»Aber Sie sind wegen Verleumdung verurteilt worden.«
»Und?«
Der Reporter Conny Torsson zögerte so lange, dass Mikael ihm auf die Sprünge helfen musste.
»Ich bin für Verleumdung verurteilt worden, nicht für die Fälschung von Material.«
»Aber Sie haben das Material veröffentlicht.«
»Wenn Sie angerufen haben, um das Urteil mit mir zu diskutieren, dann kann ich leider keinen Kommentar abgeben.«
»Ich würde gerne zu Ihnen rauskommen und ein Interview mit Ihnen machen.«
»Tut mir leid, aber ich habe zu diesem Thema nichts zu sagen.«
»Sie wollen den Prozess also nicht diskutieren.«
»Das haben Sie richtig verstanden«, antwortete Mikael und beendete das Gespräch. Er dachte eine ganze Weile nach, bevor er sich wieder an seinen Computer setzte.
Lisbeth Salander folgte der Wegbeschreibung: Sie steuerte ihre Kawasaki über die Brücke auf die Hedeby-Insel und hielt beim ersten kleinen Häuschen auf der linken Seite. Ihrer Meinung nach war sie hier am Ende der Welt. Aber solange ihr Auftraggeber sie bezahlte, war sie auch bereit, zum Nordpol zu fahren. Außerdem war es schön gewesen, auf der langen Fahrt über die E4 so richtig Gas zu geben. Sie stellte ihre Maschine ab und löste die Gepäckriemen, mit denen ihre Tasche mit den nötigen Utensilien für eine Übernachtung befestigt war.
Mikael machte die Tür auf und winkte ihr zu. Er kam heraus und inspizierte ihr Motorrad mit aufrichtigem Staunen.
»Klasse Maschine!«
Lisbeth Salander sagte nichts, beobachtete ihn aber wachsam, als er an Lenker und Gashebel herumfummelte. Sie mochte es gar nicht, wenn jemand etwas anfasste, was ihr gehörte. Dann sah sie sein kindlich-jungenhaftes Lächeln und war fast wieder versöhnt. Die meisten Motorradfans rümpften für gewöhnlich die Nase über ihre leichte Maschine.
»Ich hatte auch eine, als ich neunzehn war«, sagte er und wandte sich zu ihr. »Danke für Ihren Besuch. Kommen Sie rein, ich zeige Ihnen alles.«
Mikael hatte sich von Nilssons gegenüber ein Feldbett ausgeliehen und es im Arbeitszimmer aufgestellt. Lisbeth Salander machte einen misstrauischen Rundgang durch das Gästehaus, schien sich aber zu entspannen, als sie keine direkten Anzeichen für irgendwelche Hinterhalte entdecken konnte. Mikael zeigte ihr das Badezimmer.
»Falls Sie sich duschen und frisch machen wollen.«
»Ich muss mich umziehen. In der Lederkluft will ich nicht unbedingt rumlaufen.«
»Nur zu - ich mache uns inzwischen was zu essen.«
Mikeal bereitete Lammkoteletts in Rotweinsauce zu und deckte den Tisch auf der Terrasse in der Abendsonne, während Lisbeth duschte und sich umzog. Sie kam barfuß mit einem schwarzen Top und einem kurzen, abgetragenen Jeansrock hinaus. Das Essen roch gut, und sie verdrückte zwei große Portionen. Heimlich musterte Mikael das faszinierende Tattoo auf ihrem Rücken.
»Fünf plus drei«, sagte Lisbeth Salander. »Fünf Fälle von Harriets Liste und drei Fälle, die meiner Meinung nach auch auf dieser Liste hätten stehen müssen.«
»Erzählen Sie.«
»Ich habe erst elf Tage daran gearbeitet und noch nicht alle Untersuchungsberichte ausgraben können. In manchen Fällen ist der Polizeibericht ins Landesarchiv gewandert, in anderen wird er immer noch auf dem Polizeirevier verwahrt. Ich habe drei Tagesausflüge zu verschiedenen Polizeirevieren unternommen, die restlichen habe ich nicht mehr geschafft. Aber alle fünf sind identifiziert.«
Lisbeth legte einen ansehnlichen Papierstapel auf den Küchentisch, knapp fünfhundert A4-Seiten. Sie sortierte das Material schnell zu verschiedenen Häufchen.
»Sehen wir sie uns in chronologischer Reihenfolge an.« Sie gab Mikael eine Liste.
1949 - Rebecka Jacobsson, 24, Hedestad (30112)
1954 - Mari Holmberg, Kalmar (32018)
1957 - Rakel Lunde, Landskrona (32027)
1960 - (Magda) Lovisa Sjöberg, Karlstad (32016)
1960 - Liv Gustavsson, Stockholm (32016)
1962 - Lea Persson, Uddevalla (31208)
1964 - Sara Witt, Ronneby (32109)
1966 - Lena Andersson, Uppsala (30112)
»Der erste Fall in dieser Serie scheint Rebecka Jacobsson zu sein, 1949, da sind Ihnen die Details ja schon bekannt. Der nächste Fall, den ich gefunden habe, ist Mari Holmberg, eine zweiunddreißigjährige Prostituierte aus Kalmar, die im Oktober 1954 in ihrer Wohnung umgebracht wurde. Der Tatzeitpunkt konnte nicht genau ermittelt werden, da sie erst nach einer Weile gefunden wurde. Vermutlich neun oder zehn Tage nach dem Mord.«
»Und wie bringen Sie sie mit Harriets Liste in Verbindung?«
»Sie war gefesselt und schwer misshandelt worden, die Todesursache war jedoch Ersticken. Der Mörder hatte ihr eine Damenbinde in den Rachen gestopft.«
Mikael schwieg einen Moment, bevor er die angegebene Bibelstelle nachschlug, das Dritte Buch Mose, Kapitel 20, Vers 18:
Wenn ein Mann bei einer Frau liegt zur Zeit ihrer Tage und mit ihr Umgang hat und so den Brunnen ihres Blutes aufdeckt und sie den Brunnen ihres Blutes aufdeckt, so sollen sie beide aus ihrem Volk ausgerottet werden.
Lisbeth nickte.
»Harriet Vanger hat dieselbe Verbindung gesehen. Okay. Die nächste.«
»Mai 1957. Rakel Lunde, fünfundvierzig Jahre alt. Diese Frau arbeitete als Putzfrau und galt in ihrer Gegend als schrulliges Original. Sie war Wahrsagerin, las aus der Hand. Rakel wohnte außerhalb von Landskrona in einem ziemlich abgelegenen Haus, in dem sie irgendwann am frühen Morgen ermordet wurde.
Sie wurde nackt und gefesselt bei einem Wäscheständer im Garten hinter ihrem Haus gefunden. Ihr Mund war mit Klebeband zugeklebt.
Sie war getötet worden, indem man wieder und wieder einen schweren Stein auf sie geworfen hat. Sie hatte unzählige Quetschwunden und Frakturen.«
»Verdammt. Lisbeth, das ist absolut grauenvoll.«
»Es wird noch schlimmer. Die Initialen RL stimmen - finden Sie das Bibelzitat?«
»Ganz klar. Wenn ein Mann oder eine Frau Geister beschwören oder Zeichen deuten kann, so sollen sie des Todes sterben; man soll sie steinigen; ihre Blutschuld komme über sie.«
»Dann kommt Lovisa Sjöberg in Ranmo bei Karlstad. Sie ist die, die Harriet als Magda aufgeführt hat. Ihr vollständiger Name lautet Magda Lovisa, aber Lovisa war ihr Rufname.«
Mikael hörte aufmerksam zu, während Lisbeth die bizarren Details des Karlstad-Mordes wiedergab. Als sie sich eine Zigarette anzündete, deutete er mit fragendem Blick auf das Paket. Sie schob es ihm zu.
»Der Mörder hat also auch das Tier angegriffen?«
»Das Bibelzitat lautet so, dass wenn eine Frau Sex mit einem Tier hat, beide getötet werden sollen.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Frau Sex mit einem Pferd hatte, dürfte wohl gegen null gehen.«
»Man kann das Bibelzitat wörtlich auslegen. Es reicht, wenn sie sich einem Tier naht, was eine Bäuerin unbestreitbar jeden Tag tut.«
»Okay. Fahren Sie fort.«
»Der nächste Fall auf Harriets Liste ist Sara. Ich habe sie als Sara Witt identifiziert, siebenunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Ronneby. Sie wurde im Januar 1964 ermordet. Die Umstände waren Folgende: Sie wurde gefesselt in ihrem Bett aufgefunden. Man hatte sie sexuell schwer misshandelt, Todesursache war allerdings Ersticken. Sie wurde erdrosselt. Der Mörder legte sogar noch ein Feuer. Er wollte das ganze Haus anscheinend bis auf die Grundmauern niederbrennen, aber das Feuer ging zum Teil von selbst aus, und außerdem war die Feuerwehr sehr schnell vor Ort.«
»Und die Verbindung?«
»Sara Witt war sowohl Pfarrerstochter als auch mit einem Pfarrer verheiratet. Ihr Mann war ausgerechnet an jenem Wochenende verreist.«
»Wenn eines Priesters Tochter sich durch Hurerei entheiligt, so soll man sie mit Feuer verbrennen, denn sie hat ihren Vater entheiligt. Okay. Damit passt sie in die Liste. Sie haben gesagt, Sie hätten mehrere Fälle gefunden.«
»Ich habe drei weitere Frauen gefunden, die unter so bizarren Umständen ermordet wurden, dass sie auf Harriets Liste stehen müssten. Bei dem ersten Fall geht es um eine junge Frau namens Liv Gustavsson. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und wohnte in Farsta. Sie war ein Pferdenarr, nahm an Reitturnieren teil und galt als vielversprechendes Talent. Außerdem hatte sie zusammen mit ihrer Schwester eine kleine Tierhandlung.«
»Okay.«
»Sie wurde in ihrem Laden aufgefunden. Sie hatte Überstunden gemacht, um die Buchführung zu erledigen, und war ganz allein. Sie muss den Mörder freiwillig hereingelassen haben. Sie wurde vergewaltigt und erwürgt.«
»Das klingt aber nicht so richtig nach Harriets Liste, oder?«
»Nicht so richtig, aber da gibt es noch ein Detail: Der Mörder hatte ihr ganz zum Schluss noch einen Wellensittich in den Unterleib gestopft und danach alle Tiere, die sich in der Zoohandlung befanden, freigelassen: Katzen, Schildkröten, weiße Mäuse, Kaninchen, Vögel. Sogar die Fische aus den Aquarien. Ihrer Schwester bot sich am nächsten Morgen ein grausiger Anblick.«
Mikael nickte.
»Sie wurde im August 1960 ermordet, vier Monate nach dem Mord an der Bäuerin. In beiden Fällen handelte es sich um Frauen, die berufsmäßig mit Tieren zu tun hatten, und in beiden Fällen wurde ein Tieropfer gebracht. Die Kuh in Karlstad hat zwar überlebt, aber vermutlich ist es auch nicht einfach, eine Kuh zu erstechen. Ein Wellensittich ist da doch irgendwie einfacher. Außerdem gab es noch ein weiteres Tieropfer.«
»Und zwar?«
Lisbeth erzählte von dem seltsamen Taubenmord an Lea Persson in Uddevalla. Mikael schwieg und überlegte so lange, bis sogar Lisbeth ungeduldig wurde.
»Okay«, meinte er schließlich. »Ich schließe mich Ihrer Theorie an. Ein Fall fehlt noch.«
»Ein Fall, den ich zufällig entdeckt habe. Ich weiß nicht, wie viele mir vielleicht entgangen sind.«
»Erzählen Sie.«
»Februar 1966 in Uppsala. Das jüngste Opfer war eine siebzehnjährige Gymnasiastin namens Lena Andersson. Sie verschwand nach einem Klassenfest und wurde drei Tage später in einem Graben in der Gegend von Uppsala gefunden, ein gutes Stückchen außerhalb der Stadt. Sie war an einem anderen Ort ermordet und dann dorthin gebracht worden.«
Mikael nickte.
»Dieser Mord hat in den Massenmedien für Aufsehen gesorgt, aber über die genauen Umstände ihres Todes wurde nie berichtet. Das Mädchen war auf äußerst groteske Weise gefoltert worden. Ich habe den Bericht des Pathologen gelesen. Ihre Hände und ihre Brust wiesen schwere Verbrennungen auf, und am ganzen Körper waren ihr wieder und wieder Brandverletzungen zugefügt worden. Man fand Wachsflecken auf ihr, die bewiesen, dass eine Kerze verwendet worden war, aber die Hände waren so verkohlt, dass sie in ein größeres Feuer gehalten worden sein mussten. Schließlich hat der Mörder ihr den Kopf abgesägt und ihn neben den Körper gelegt.«
Nun wurde Mikael doch blass.
»Lieber Gott«, sagte er.
»Ich finde kein passendes Bibelzitat, aber es gibt mehrere Abschnitte, die von Brand- und Sühneopfern handeln, und an ein paar Stellen wird angeordnet, dass das Opfertier - meistens ein Stier - in seine Stücke zerlegt werden soll. Der Einsatz von Feuer erinnert auch an den ersten Mord, den an Rebecka in Hedestad.«
Als gegen Abend die Mückenschwärme anrückten, räumten Mikael und Lisbeth den Gartentisch ab und setzten sich in die Küche, um dort weiterzureden.
»Dass Sie kein exaktes Bibelzitat finden, muss nichts heißen. Es geht nicht um Zitate. Das hier ist eine groteske Parodie dessen, was in der Bibel steht - es sind eher Assoziationen zu aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten.«
»Ich weiß. Es ist nicht mal logisch. Wenn der Mörder das Zitat buchstabengetreu ausgelegt hätte, dass sowohl die Frau als auch der Mann ausgerottet werden sollen, wenn sie während ihrer Menstruation Sex hatten, dann hätte er ja Selbstmord begehen müssen.«
»Worauf läuft das also alles hinaus?«, fragte Mikael.
»Ihre Harriet hatte entweder das ziemlich seltsame Hobby, Bibelzitate zu sammeln und mit Mordopfern in Verbindung zu bringen, von denen sie gehört hatte … oder sie muss gewusst haben, dass zwischen diesen Morden eine Verbindung bestand.«
»Soweit wir wissen, wurden die Morde zwischen 1949 und 1966 verübt. Es müsste also ein vollkommen verrückter Sadist und Serienmörder mit der Bibel unterm Arm durch die Gegend geschlichen sein, um in einem Zeitraum von mindestens siebzehn Jahren Frauen zu ermorden, ohne dass jemand die Morde jemals miteinander in Verbindung gebracht hätte. Das klingt völlig unplausibel.«
Lisbeth Salander schob den Stuhl zurück und holte die Kaffeekanne vom Herd. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in alle Richtungen. Mikael fluchte innerlich und stibitzte sich noch eine Zigarette von ihr.
»Nein, das ist gar nicht mal so unplausibel«, sagte sie und hob einen Finger. »Im 20. Jahrhundert haben wir in Schweden mehrere Dutzend unaufgeklärte Frauenmorde. Dieser Kriminologie-Professor namens Persson hat in der Fernsehserie Gesucht darauf hingewiesen, dass Serienmörder in Schweden furchtbar selten sind, dass es aber sicher einige gegeben hat, die einfach nie überführt wurden.«
Mikael nickte. Sie hielt einen weiteren Finger in die Höhe.
»Diese Morde sind über einen sehr langen Zeitraum hinweg verübt worden, und an weit auseinanderliegenden Orten im Land. Zwei von den Morden wurden kurz hintereinander begangen, aber die Umstände sahen sich nicht sonderlich ähnlich - eine Bäuerin in Karlstad und eine zweiundzwanzigjährige Pferdenärrin in Stockholm.«
Dritter Finger.
»Es gibt kein offensichtliches Muster. Die Morde geschahen auf unterschiedliche Art und Weise, der Täter hat also keine deutliche Handschrift hinterlassen, aber gewisse Dinge kehren bei allen Fällen wieder. Tiere. Feuer. Brutalste sexuelle Gewalt. Und - wie Sie schon sagten - eine Bibelparodie. Aber anscheinend hat noch kein Ermittler der Polizei einen dieser Morde von der Bibel her interpretiert.«
Mikael nickte. Er warf Lisbeth einen verstohlenen Blick zu. Mit ihrem dünnen Körper, dem schwarzen Hemd, dem Tattoo und den Piercingringen im Gesicht wirkte sie in einem Gästehäuschen in Hedeby, gelinde gesagt, fehl am Platze. Als er beim Abendessen versucht hatte, ein bisschen Konversation zu betreiben, war sie einsilbig gewesen und hatte auch nur knappe Antworten gegeben, wenn er sie direkt ansprach. Aber bei der Arbeit wirkte sie bis in die Fingerspitzen wie ein Profi. In ihrer Wohnung in Stockholm sah es so aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, doch Mikael nahm an, dass in ihrem Kopf die Dinge außergewöhnlich gut sortiert waren. Seltsam!
»Es ist schwer, den Zusammenhang zu erkennen zwischen einer Prostituierten aus Uddevalla, die auf einem Industriegelände erschlagen wurde, und einer Pfarrersfrau aus Ronneby, die man erwürgt und verbrannt hat - wenn man nicht zufällig den Schlüssel in der Hand hält, den Harriet uns gegeben hat«, fügte er hinzu.
»Was uns zur nächsten Frage führt«, sagte Lisbeth.
»Genau, wie zum Teufel ist Harriet hier hineingeraten? Ein sechzehnjähriges Mädchen aus einer behüteten Umgebung.«
»Es gibt nur eine Antwort«, sagte sie.
Mikael nickte abermals.
»Es muss eine Verbindung zur Familie Vanger geben.«
Bis elf Uhr abends hatten sie über mögliche Zusammenhänge und befremdliche Details sämtlicher Mordfälle diskutiert. Mikael dröhnte der Kopf. Er rieb sich die Augen, streckte sich und fragte, ob sie Lust auf einen Abendspaziergang hätte. Lisbeth sah so aus, als würde sie so etwas für reine Zeitverschwendung halten, nickte aber nach kurzer Bedenkzeit doch. Mikael riet ihr, wegen der Mücken eine lange Hose anzuziehen.
Sie gingen unter der Brücke hindurch, am Kleinboothafen vorbei und auf Martin Vangers Landzunge zu. Mikael zeigte auf die verschiedenen Häuser und erklärte ihr, wer wo wohnte. Er konnte seine Gedanken nur schwer formulieren, als er ihr Cecilias Haus zeigte. Lisbeth musterte ihn verstohlen aus dem Augenwinkel.
Als sie an Martin Vangers Motoryacht vorbeikamen und die Landzunge erreichten, setzten sie sich auf einen Stein und teilten sich eine Zigarette.
»Es gibt noch eine weitere Verbindung zwischen den Mordopfern«, sagte Mikael plötzlich. »Sie haben vielleicht schon daran gedacht.«
»Was?«
»Die Namen.«
Lisbeth überlegte kurz. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Es sind alles biblische Namen.«
»Stimmt nicht«, antwortete Lisbeth sofort. »Weder Liv noch Lena kommen in der Bibel vor.«
»Doch. Liv bedeutet Leben, das ist die biblische Bedeutung des Namens Eva. Und jetzt mal scharf nachgedacht - Lena ist eine Abkürzung von welchem Namen?«
Lisbeth kniff die Augen verärgert zusammen und fluchte innerlich. Mikael hatte schneller gedacht als sie. Das gefiel ihr gar nicht.
»Magdalena«, sagte sie.
»Die Hure, die erste Frau, die Jungfrau Maria … das Ganze ist so verrückt, dass vermutlich jedem Psychologen schwindelig würde. Aber ich hatte bei den Namen eigentlich an etwas anderes gedacht.«
Lisbeth wartete geduldig ab.
»Es sind auch traditionelle jüdische Frauennamen. In der Familie Vanger gibt es überdurchschnittlich viele verrückte Judenhasser, Nazis und Verschwörungstheoretiker. Harald Vanger ist über neunzig Jahre alt und hatte seine große Zeit in den sechziger Jahren. Das einzige Mal, als ich ihn traf, zischte er mir zu, dass seine eigene Tochter eine Hure sei. Er hat ganz offensichtlich Probleme mit Frauen.«
Als sie wieder zu Mikaels Haus zurückkamen, strichen sie sich noch ein paar Brote und wärmten den Kaffee auf. Mikael schielte auf die zirka fünfhundert Seiten, die Armanskijs Lieblingsermittlerin erstellt hatte.
»Sie haben da in Rekordzeit eine phantastische Recherchearbeit hingelegt«, sagte er. »Danke. Und danke auch, dass Sie so nett waren, hierherzukommen, um Bericht zu erstatten.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Lisbeth.
»Ich werde mit Frode sprechen, dann erledigen wir das mit der Bezahlung.«
»Das hatte ich nicht gemeint.«
Mikael zog die Augenbrauen hoch.
»Tja … der Rechercheauftrag, für den ich Sie angeheuert hatte, ist hiermit erledigt«, sagte er vorsichtig.
»Ich bin mit dieser Sache aber noch nicht fertig.«
Als Mikael sich auf dem Küchensofa zurücklehnte, trafen sich ihre Blicke. Er konnte in ihren Augen überhaupt nichts lesen. Ein halbes Jahr hatte er alleine am Fall Harriet gearbeitet, und nun war da plötzlich ein anderer Mensch - eine erfahrene Ermittlerin -, die die Tragweite des Falles erkannte. Er fasste einen spontanen Entschluss.
»Ich weiß. Diese Geschichte geht mir auch unter die Haut. Ich rede morgen mit Frode. Wir werden Sie für eine weitere Woche anstellen … oder auch zwei. Als … hmm, als Recherche-Assistentin. Ich weiß nicht, ob er bereit ist, denselben Tarif wie an Armanskij zu zahlen, aber einen vernünftigen Monatslohn sollten wir wohl aus ihm herausholen können.«
Lisbeth bedachte ihn auf einmal mit einem unbeholfenen Lächeln. Bei diesem Fall wollte sie unbedingt bis zum Ende dabei sein - notfalls auch gratis.
»Ich schlaf jetzt gleich ein«, sagte sie, ging ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer und schloss die Tür.
Nach zwei Minuten öffnete sie die Tür noch einmal und streckte den Kopf hinaus.
»Ich glaube, Sie täuschen sich. Das ist kein verrückter Serienmörder, der zu viel in der Bibel gelesen hat. Das ist nur ein ganz gewöhnliches Arschloch, das Frauen hasst.«
21. Kapitel
Donnerstag, 3. Juli - Donnerstag, 10. Juli
Lisbeth Salander erwachte vor Mikael, um sechs Uhr morgens. Sie setzte Kaffee auf und stellte sich unter die Dusche. Als Mikael gegen acht Uhr wach wurde, saß sie vor seinem iBook und las seine Zusammenfassung des Falles Harriet Vanger. Er kam mit einem Laken um die Hüften in die Küche und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Auf dem Herd steht Kaffee«, sagte sie.
Mikael spähte ihr über die Schulter.
»Dieses Dokument war passwortgesichert«, sagte er.
Sie wandte den Kopf und blickte zu ihm hoch.
»Es dauert genau dreißig Sekunden, sich ein Programm aus dem Netz herunterzuladen, mit dem man solche Passwörter knacken kann«, sagte sie.
»Wir müssen noch mal ein Gespräch über persönliches Eigentum führen«, sagte Mikael und ging unter die Dusche.
Als er zurückkam, hatte Lisbeth seinen Computer ausgeschaltet und wieder an seinen Platz im Arbeitszimmer zurückgestellt. Sie hatte ihr eigenes PowerBook hochgefahren. Mikael war überzeugt, dass sie den Inhalt des Dokuments bereits auf ihren eigenen Computer übertragen hatte.
Lisbeth Salander war ein Informations-Junkie mit einer höchst liberalen Auffassung von Moral und Ethik. Mikael hatte sich gerade an den Frühstücktisch gesetzt, als es an der Haustür klopfte. Er stand auf und öffnete. Martin Vanger wirkte so verbissen, dass Mikael für einen Moment dachte, er sei gekommen, um die Nachricht von Henrik Vangers Tod zu überbringen.
»Nein, Henrik geht es genauso wie gestern. Ich komme in einer ganz anderen Angelegenheit. Kann ich kurz reinkommen?«
Mikael ließ ihn herein und stellte ihn der »Recherche-Assistentin« Lisbeth Salander vor. Sie bedachte den Großindustriellen nur mit einem halben Blick und einem kurzen Nicken, bevor sie sich wieder ihrem Computer zuwandte. Martin Vanger grüßte zerstreut und schien sie kaum wahrzunehmen. Mikael goss ihm eine Tasse Kaffee ein und bat ihn, Platz zu nehmen.
»Worum geht es denn?«
»Sie haben nicht zufällig den Hedestads-Kuriren abonniert, oder?«
»Nein. Ich lese ihn manchmal in Susannes Café.«
»Dann haben Sie die Morgenausgabe also noch nicht gelesen.«
»Sie sagen das so, als hätte ich das tun sollen.«
Martin Vanger legte den Hedestads-Kuriren vor Mikael auf den Tisch. Man hatte ihm einen Leitartikel über zwei Spalten und eine Fortsetzung auf Seite vier gewidmet. Er betrachtete die Schlagzeile:
Hier versteckt sich der verurteilte Journalist
Der Artikel war mit einem Foto illustriert, das von der anderen Seite der Brücke, vom Kirchhügel aus, mit dem Teleobjektiv aufgenommen worden war. Es zeigte Mikael, wie er gerade aus der Tür des Gästehäuschens trat.
Der Reporter Conny Torsson hatte mit dem Schmähartikel, den er über Mikael zusammengeschustert hatte, ganze Arbeit geleistet. Er skizzierte noch einmal kurz die Wennerström-Affäre und hob hervor, dass Mikael Millennium unter Schimpf und Schande verlassen und kürzlich eine Gefängnisstrafe abgebüßt habe. Der Artikel schloss mit der altbekannten Behauptung, dass Mikael ein Gespräch mit dem Hedestads-Kuriren verweigert habe. Der Ton war so gehalten, dass keinem Bewohner von Hedestad verborgen bleiben konnte, was für ein dubioser Typ hier durch die Gegend schlich. Keine der Behauptungen in diesem Artikel war angreifbar, aber sie waren so dargestellt, dass Mikael mehr als fragwürdig dastand. Sowohl das Bild als auch der Text erinnerten an die Art Artikel, in denen man sonst über politische Terroristen berichtet. Millennium wurde als »Agitationsblatt« mit geringer Glaubwürdigkeit hingestellt und Mikaels Buch über Wirtschaftsjournalismus als ein Sammelsurium »kontroverser Behauptungen« über angesehene Journalisten bezeichnet.
»Mikael … ich kann kaum in Worte fassen, was für Gefühle dieser Artikel in mir hervorgerufen hat. Es ist einfach widerlich.«
»Das war eine Auftragsarbeit«, entgegnete Mikael ruhig. Er sah Martin forschend an.
»Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass ich nicht das Geringste damit zu tun habe. Ich hätte mich fast an meinem Morgenkaffee verschluckt, als ich die Zeitung las.«
»Wer steckt dahinter?«
»Ich habe heute Morgen ein paar Telefongespräche geführt. Conny Torsson arbeitet den Sommer über als Aushilfe. Er hat in Birgers Auftrag gehandelt.«
»Ich dachte, Birger hätte keinen Einfluss auf die Redaktion; er ist doch immerhin Gemeinderat und Politiker.«
»Offiziell hat er auch keinen Einfluss. Aber Chefredakteur des Kuriren ist Gunnar Karlman, Sohn von Ingrid Vanger aus Johan Vangers Zweig der Familie. Birger und Gunnar sind seit vielen Jahren eng befreundet.«
»Verstehe.«
»Torsson fliegt mit sofortiger Wirkung raus.«
»Wie alt ist er?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin ihm nie begegnet.«
»Schmeißen Sie ihn nicht raus. Als er mich anrief, klang er nach einem ziemlich jungen und unerfahrenen Reporter.«
»Diese Geschichte kann ich ihm nicht durchgehen lassen.«
»Wenn Sie mich fragen, sieht die Situation ein bisschen absurd aus. Der Chefredakteur einer Zeitung, die der Familie Vanger gehört, geht auf eine Zeitschrift los, bei der Henrik Vanger Teilhaber ist und Sie im Führungskreis sitzen. Chefredakteur Karlman attackiert also Sie und Henrik.«
Martin Vanger ließ sich Mikaels Worte durch den Kopf gehen, schüttelte dann aber langsam den Kopf.
»Ich verstehe, was Sie meinen. Ich sollte die Verantwortung an der richtigen Stelle suchen. Karlman ist Teilhaber am Konzern und hat immer aus dem Hinterhalt gegen mich agiert, aber das hier sieht mir eher aus wie Birgers Rache dafür, dass Sie ihn auf dem Krankenhausflur abgefertigt haben. Sie sind ihm ein Dorn im Auge.«
»Ich weiß. Deswegen glaube ich ja auch, dass Torsson immer noch der Unschuldigste in diesem Spiel ist. Es wäre wohl ein bisschen zu viel verlangt von einer jungen Aushilfe, einen Auftrag seines Chefredakteurs zu verweigern.«
»Ich kann verlangen, dass Sie morgen an prominenter Stelle eine öffentliche Entschuldigung bekommen.«
»Lassen Sie’s. Dann zieht sich der Streit nur noch länger hin, und die Situation verschlimmert sich noch mehr.«
»Sie meinen also, ich soll gar nichts unternehmen?«
»Das lohnt sich nicht. Karlman wird sich querstellen, und im schlimmsten Fall werden Sie noch als Gauner hingestellt, der seine Rechte als Eigner missbraucht, um die freie Meinungsbildung zu beeinflussen.«
»Tut mir leid, Mikael, ich kann Ihnen nicht zustimmen. Ich habe tatsächlich auch das Recht, freie Meinungsbildung zu betreiben. Ich finde, dieser Artikel stinkt zum Himmel, und ich habe vor, meine persönliche Einstellung kundzutun. Ich bin immer noch Henriks Stellvertreter in der Millennium-Führungsspitze, und in dieser Funktion kann ich solche versteckten Anschuldigungen nicht unkommentiert lassen.«
»Okay.«
»Ich werde verlangen, dass meine Richtigstellung veröffentlicht wird. In der werde ich wiederum Karlman als Idiot hinstellen. Das hat er sich selbst zuzuschreiben.«
»Okay, Sie müssen nach Ihrer Überzeugung handeln.«
»Ich will Sie davon überzeugen, dass ich nichts mit dieser infamen Attacke zu tun habe.«
»Ich glaube Ihnen«, versicherte Mikael.
»Außerdem - ich wollte das eigentlich nicht bei dieser Gelegenheit wieder aufs Tapet bringen, aber dieser Vorfall hängt unmittelbar mit dem Thema zusammen, über das wir neulich gesprochen haben. Es ist wichtig, dass Sie wieder fest in der Millennium-Redaktion sitzen, sodass wir nach außen geeint auftreten. Solange Sie fortbleiben, geht das dumme Gerede immer weiter. Ich glaube an Millennium und bin sicher, dass wir diesen Kampf gemeinsam gewinnen können.«
»Ich verstehe Ihren Standpunkt ja, aber in dieser Sache kann ich Ihnen nicht zustimmen. Ich kann den Vertrag mit Henrik nicht brechen, und ich will ihn auch nicht brechen. Ich mag den alten Mann wirklich. Und die Geschichte mit Harriet …«
»Ja?«
»Ich begreife, dass Henriks Besessenheit für Sie manchmal sehr anstrengend war.«
»Mal ganz unter uns - ich liebe Henrik, und er ist mein Mentor, aber was Harriet angeht, grenzte seine Besessenheit schon an Rechthaberei.«
»Als ich diesen Job anfing, erwartete ich, dass ich damit nur meine Zeit verschwenden würde. Aber nun haben wir wider Erwarten doch neues Material gefunden. Ich glaube, dass wir vor einem Durchbruch stehen. Vielleicht werden wir bald eine Antwort auf die Frage haben, was damals wirklich geschehen ist.«
»Sie wollen mir nicht erzählen, was Sie gefunden haben?«
»Laut Vertrag darf ich ohne Henriks persönliche Genehmigung mit niemandem darüber sprechen.«
Martin Vanger stützte das Kinn auf die Hand. Mikael konnte den Zweifel in seinen Augen sehen. Schließlich fasste Martin einen Entschluss.
»Okay, dann ist es wohl das Beste, das Rätsel Harriet so schnell wie möglich zu lösen. Ich würde sagen, ich gebe Ihnen jedwede Unterstützung, damit Sie die Arbeit zufriedenstellend abschließen und danach wieder zu Millennium zurückkehren können.«
»Gut. Ich möchte nicht auch noch gegen Sie kämpfen müssen.«
»Das brauchen Sie auch nicht. Sie haben meine volle Unterstützung. Wenn Sie wollen, können Sie sich an mich wenden, sobald Sie auf Probleme stoßen. Ich kann Druck auf Birger ausüben, damit er Sie nicht behindert. Und ich kann versuchen, mit Cecilia zu reden, damit sie sich wieder beruhigt.«
»Danke. Ich muss ihr nämlich ein paar Fragen stellen, und sie ignoriert meine Versuche, mich mit ihr zu unterhalten, mittlerweile seit einem Monat.«
Martin Vanger lachte plötzlich auf.
»Sie haben vielleicht ganz andere Dinge miteinander zu klären. Aber da mische ich mich nicht ein.«
Sie gaben sich die Hand.
Lisbeth Salander hatte dem Wortwechsel zwischen Mikael und Martin Vanger schweigend gelauscht. Als Martin gegangen war, nahm sie sich den Hedestads-Kuriren und überflog den Artikel. Danach legte sie die Zeitung kommentarlos wieder weg.
Mikael überlegte. Gunnar Karlman war Jahrgang 1942, also vierundzwanzig Jahre alt gewesen, als Harriet verschwand. Er gehörte auch zu denjenigen, die sich zum kritischen Zeitpunkt auf der Insel aufgehalten hatten.
Nach dem Frühstück gab Mikael seiner Recherche-Assistentin den polizeilichen Untersuchungsbericht zu lesen. Er sah das Material vorher durch und gab ihr nur die Ordner, die sich auf Harriets Verschwinden konzentrierten. Außerdem gab er ihr alle Bilder vom Unfall auf der Brücke sowie die ausführliche redigierte Zusammenstellung von Henriks Privatermittlungen.
Danach ging Mikael zu Frode hinüber und ließ ihn Lisbeths Vertrag um einen Monat verlängern.
Als er zum Gästehäuschen zurückkam, war Lisbeth in den Garten umgezogen und ganz in den Untersuchungsbericht versunken. Mikael ging hinein und wärmte den Kaffee auf. Er betrachtete sie durchs Küchenfenster. Sie schien den Bericht eher zu überfliegen und maximal zehn bis fünfzehn Sekunden auf jede Seite zu verwenden. Sie blätterte völlig mechanisch, und Mikael wunderte sich, dass sie mit der Lektüre so schlampig war; das stand in krassem Gegensatz zu der Kompetenz, mit der sie ihren eigenen Bericht verfasst hatte. Er brachte zwei Kaffeetassen nach draußen und leistete ihr am Gartentisch Gesellschaft.
»Als Sie dies geschrieben haben, wussten Sie noch nicht, dass wir einen Serienmörder jagen, stimmt’s?«
»Stimmt. Ich habe Dinge notiert, die ich für wichtig hielt, Fragen, die ich Henrik stellen wollte, und so weiter. Wie Ihnen sicher aufgefallen ist, war das Ganze ziemlich unstrukturiert. Bis jetzt bin ich eigentlich nur im Dunkeln herumgetappt und habe versucht, eine Story zu schreiben - ein Kapitel in Henrik Vangers Biografie.«
»Und jetzt?«
»Vorher hat sich die gesamte Ermittlung auf die Hedeby-Insel beschränkt. Mittlerweile bin ich aber davon überzeugt, dass diese Story schon früher begonnen hat, und zwar in Hedestad. Das verleiht dem Ganzen eine völlig neue Perspektive.«
Lisbeth nickte. Sie überlegte einen Moment.
»Das mit diesen Bildern hier war eine großartige Idee von Ihnen«, sagte sie.
Mikael hob die Augenbrauen. Lisbeth wirkte eigentlich nicht wie jemand, der verschwenderisch mit Lob umging, und Mikael fühlte sich seltsam geschmeichelt. Auf der anderen Seite - rein journalistisch betrachtet war es tatsächlich ein ungewöhnliches Vorgehen.
»Jetzt müssen Sie die Details klären. Wie ist es mit diesem Bild gelaufen, dem Sie in Norsjö hinterhergejagt sind?«
»Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten die Bilder in meinem Computer noch nicht gecheckt?«
»Ich hatte keine Zeit dazu. Ich wollte lieber lesen, auf was für Gedanken und Schlussfolgerungen Sie gekommen sind.«
Mikael seufzte, fuhr sein iBook hoch und öffnete den Ordner mit den Bildern.
»Es ist faszinierend. Der Besuch in Norsjö war ein Erfolg und gleichzeitig eine totale Enttäuschung. Ich habe das Bild gefunden, aber es gibt nicht viel her.
Diese Frau, Mildred Berggren, hat sämtliche Urlaubsfotos in einem Karton aufgehoben. Darunter auch dieses Bild. Nach siebenunddreißig Jahren war der Abzug ziemlich verblichen und gelbstichig, aber sie hatte noch das Negativ. Ich durfte mir alle Negative von Hedestad ausleihen und habe sie eingescannt. Folgendes hat Harriet also gesehen.«
Er klickte ein Bild mit dem Dokumentennamen HARRIET/bd-19.eps an.
Lisbeth konnte seine Enttäuschung verstehen. Sie sah ein leicht unscharfes, mit Weitwinkel aufgenommenes Bild, das die Clowns im Festzug zum »Tag des Kindes« zeigte. Im Hintergrund war die Ecke von Sundströms Herrenmode zu erkennen. Dort standen ungefähr zehn Personen auf dem Gehweg, die man durch eine Lücke zwischen den Clowns und dem Kühler des nachfolgenden Lastwagens sehen konnte.
»Ich glaube, dies hier war die Person, die sie gesehen hat. Zum einen habe ich diese Straßenkreuzung sehr exakt nachgezeichnet und versucht, den exakten Winkel ihrer Gesichtsdrehung auszurechnen. Zum anderen ist dies die einzige Person, die direkt in die Kamera zu blicken scheint. Das heißt, sie hat Harriet angestarrt.«
Lisbeth sah eine unscharfe Gestalt, die hinter den anderen Zuschauern in der Seitenstraße stand. Sie trug einen dunklen Steppanorak mit roter Schulterpartie und eine dunkle Hose, vielleicht Jeans. Mikael zoomte die Figur heran, sodass ihre obere Körperhälfte den ganzen Bildschirm ausfüllte. Sofort wurde das Bild verschwommener.
»Es ist ein Mann. Er ist ungefähr 1 Meter 80 groß, normale Statur. Er hat dunkelblondes, halblanges Haar und ist glatt rasiert. Aber es ist unmöglich, seine Gesichtszüge genauer zu erkennen oder auch nur das Alter zu schätzen. Von Teenager bis mittelalt ist alles möglich.«
»Man kann das Bild noch manipulieren …«
»Ich habe das Bild bereits manipuliert. Ich habe sogar eine Kopie an Christer Malm bei Millennium geschickt, und der ist ein echter Fuchs in Sachen Bildbearbeitung.« Mikael klickte ein neues Bild an. »Mehr als das hier kann ich nicht rausholen. Die Kamera war ganz einfach mies und der Abstand zu groß.«
»Haben Sie die Bilder jemandem gezeigt? Die Leute könnten die Körperhaltung wiedererkennen...«
»Ich habe Frode das Bild gezeigt. Er hatte keine Ahnung, wer diese Person ist.«
»Na ja, Dirch Frode ist ja nicht gerade der aufgeweckteste Mensch in Hedestad.«
»Nein, aber ich arbeite nun mal für Henrik Vanger und ihn. Ich will das Bild Henrik vorlegen, bevor ich es anderen zeige.«
»Vielleicht ist er ja nur ein argloser Zuschauer.«
»Schon möglich. Aber dann hat er doch eine sonderbare Reaktion bei Harriet ausgelöst.«
In der nächsten Woche arbeiteten Mikael und Lisbeth nahezu ununterbrochen am Fall Harriet. Lisbeth las weiter im Untersuchungsbericht und bombardierte Mikael mit Fragen. Es konnte nur eine Wahrheit geben, und jede Unklarheit und ungenaue Antwort führte zu einer abermaligen Prüfung ihrer Überlegungen.
Lisbeth war Mikael zunehmend ein Rätsel. Obwohl es stets so aussah, als würde sie den Bericht nur überfliegen, schien sie regelmäßig bei den fragwürdigsten und widersprüchlichsten Details hängen zu bleiben.
Nachmittags, wenn es in der Hitze im Garten nicht mehr auszuhalten war, machten sie eine Pause. Ein paarmal gingen sie hinunter ans Wasser und badeten, oder sie setzten sich auf die Terrasse von Susannes Brücken-Café. Susanne begegnete Mikael plötzlich mit einer gewissen demonstrativen Kühle. Ihm ging auf, dass Lisbeth aussah, als wäre sie kaum volljährig, und trotzdem wohnte sie offensichtlich mit ihm in seinem Gästehäuschen zusammen. Das machte ihn in Susannes Augen zu einem Lüstling, der sich mit jungen Mädchen vergnügte. Ein unschönes Gefühl.
Mikael machte weiterhin jeden Abend seinen Geländelauf. Lisbeth gab keinen Kommentar ab, wenn er atemlos zum Gästehaus zurückkam. Über Stock und Stein zu rennen entsprach anscheinend nicht ihrer Vorstellung von Sommerfrische.
»Ich bin über vierzig«, verteidigte sich Mikael. »Ich muss mich bewegen, wenn ich in der Mitte nicht auseinandergehen will.«
»Aha.«
»Trainieren Sie nie?«
»Ich boxe ab und zu.«
»Boxen?«
»Ja, Sie wissen schon, mit Handschuhen.«
Mikael ging duschen und versuchte, sich Lisbeth in einem Boxring vorzustellen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht vielleicht doch auf den Arm genommen hatte.
»In welcher Gewichtsklasse boxen Sie denn?«
»In gar keiner. Ich mache hie und da ein bisschen Sparring mit den Typen vom Boxclub in Söder.«
Warum wundert mich das gar nicht?, fragte sich Mikael. Aber er stellte fest, dass sie auf jeden Fall etwas Persönliches über sich erzählt hatte. Er wusste immer noch nicht über die grundlegendsten Fakten in ihrem Leben Bescheid - wie es sich ergeben hatte, dass sie für Armanskij arbeitete, was für eine Ausbildung sie hatte und was ihre Eltern machten. Sobald Mikael versuchte, mehr über sie zu erfahren, verschloss sie sich wie eine Auster und gab entweder einsilbige Antworten oder ignorierte ihn komplett.
Eines Nachmittags legte Lisbeth plötzlich einen Ordner aus der Hand und sah Mikael mit einer senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen an.
»Was wissen Sie über Otto Falk, den Pfarrer?«
»Ziemlich wenig. Anfang des Jahres habe ich die jetzige Pfarrerin hier in der Kirche ein paarmal gesehen. Sie hat mir erzählt, dass Falk inzwischen in einem Altenheim in Hedestad lebt. Alzheimer.«
»Woher kommt er?«
»Hier aus Hedestad. Er hat in Uppsala studiert und war ungefähr dreißig, als er wieder hierherzog.«
»Er war unverheiratet. Und Harriet war viel mit ihm zusammen.«
»Warum fragen Sie?«
»Ich stelle nur fest, dass der Bulle, dieser Morell, ihn beim Verhör ziemlich sanft angefasst hat.«
»In den sechziger Jahren hatten Pfarrer immer noch eine besondere Stellung in der Gesellschaft. Dass er hier auf der Insel wohnte, im direkten Umfeld der Macht sozusagen, war ganz natürlich.«
»Ich frage mich nur, wie sorgfältig die Polizei das Pfarrhaus durchsucht hat. Auf den Bildern sieht man ein großes Holzhaus; da muss es genug Platz gegeben haben, um eine Leiche eine Weile zu verstecken.«
»Stimmt. Aber es gibt keinen Hinweis, dass er irgendwie mit der Mordserie oder Harriets Verschwinden in Verbindung stehen könnte.«
»O doch«, sagte Lisbeth Salander und grinste Mikael schief an. »Erstens war er Pfarrer, und gerade Pfarrer haben ein ganz besonderes Verhältnis zur Bibel. Zweitens war er der Letzte, der mit Harriet gesprochen hat.«
»Aber er ging sofort zur Unfallstelle und blieb dort mehrere Stunden. Er ist auf jeder Menge Bildern zu sehen, besonders während der Zeitspanne, in der Harriet verschwunden sein muss.«
»Ach wo, sein Alibi kann man widerlegen. Aber ich habe eigentlich an etwas ganz anderes gedacht. Diese Geschichte handelt doch von einem sadistischen Frauenmörder.«
»Ja?«
»Ich war … Ich habe im Frühjahr in einem ganz anderen Zusammenhang ein bisschen über Sadisten gelesen. Einer der Texte, den ich gelesen habe, war ein Handbuch des FBI; dort stand, dass auffällig viele der gefassten Serienmörder aus dysfunktionalen Familien kommen und in ihrer Kindheit Tiere gequält haben. Einige amerikanische Serienmörder wurden auch festgenommen, weil sie Feuer gelegt hatten, um andere Menschen zu töten.«
»Sie meinen Tieropfer und Brandopfer.«
»Ja. Sowohl Tierquälerei als auch Feuer tauchen in mehreren von Harriets Mordfällen auf. Doch eigentlich dachte ich daran, dass das Pfarrhaus Ende der siebziger Jahre abgebrannt ist.«
Mikael überlegte eine Weile.
»Ziemlich vage«, meinte er schließlich.
»Da stimme ich Ihnen zu. Aber man sollte es trotzdem festhalten. Die Brandursache habe ich im Ermittlungsbericht nicht gefunden, und es wäre mal interessant zu erfahren, ob es in den sechziger Jahren noch andere geheimnisvolle Brände gegeben hat. Außerdem sollten wir in Erfahrung bringen, ob in jener Zeit auch Fälle von Tierquälerei oder -verstümmelung in der Gegend dokumentiert wurden.«
Als Lisbeth sich in der siebten Nacht in Hedeby schlafen legte, war sie leicht irritiert. Sieben Tage lang hatte sie so gut wie jede Minute mit Mikael Blomkvist verbracht - normalerweise reichten ihr schon sieben Minuten mit einem anderen Menschen vollauf, um Kopfschmerzen zu bekommen.
Sie hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass ihr soziale Bindungen schwerfielen, und sich auf ein Leben als Einzelgänger eingerichtet. Mit diesem Leben war sie völlig zufrieden, wenn die Menschen sie nur in Frieden ließen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Doch leider war ihre Umwelt nicht immer so klug und verständig; ständig musste sie sich gegen irgendjemanden wehren: gegen Sozialämter, Jugendämter, Vormundschaftsgerichte, Finanzämter, Polizisten, Fürsorgebeauftragte, Psychologen, Psychiater, Lehrer und Türsteher, die sie nicht in die Kneipe lassen wollten, obwohl sie ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr schon vollendet hatte (außer in der Mühle, wo man sie mittlerweile kannte). Es gab eine ganze Armada von Menschen, die anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als zu versuchen, ihr Leben zu lenken und nach Möglichkeit den Lebensstil, den sie gewählt hatte, zu korrigieren.
Sie hatte beizeiten gelernt, dass es nichts nutzte, wenn sie weinte. Sie hatte auch gelernt, dass jeder ihrer Versuche, jemanden auf irgendetwas in ihrem Leben aufmerksam zu machen, die Situation nur noch verschlimmerte. Sie musste ihre Probleme also selbst lösen - mit den Methoden, die sie für nötig hielt. Wie Rechtsanwalt Bjurman am eigenen Leib erfahren hatte.
Wie alle anderen Menschen hatte auch Mikael Blomkvist die ärgerliche Angewohnheit, neugierige Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollte. Hingegen reagierte er überhaupt nicht so wie der Großteil der Männer, die sie bis jetzt getroffen hatte.
Wenn sie seine Fragen ignorierte, zuckte er nur mit den Achseln und ließ sie in Frieden. Verblüffend.
Als sie sich am ersten Morgen in seinem Haus sein iBook vornahm, hatte sie gleich alle Informationen auf ihren eigenen Computer kopiert. Damit war es nicht mehr so wichtig, ob er sie von der weiteren Arbeit an diesem Fall ausschloss, denn so hatte sie immer noch Zugang zum gesamten Material.
Aber dann hatte sie ihn absichtlich provoziert, als sie vor seinem iBook saß und seine Dokumente durchlas, als er aufwachte. Sie hatte einen Wutanfall erwartet.
Stattdessen hatte er fast schon resigniert dreingeblickt und eine ironische Bemerkung gemacht. Danach war er duschen gegangen und hatte mit ihr über das diskutiert, was sie gelesen hatte. Ein seltsamer Typ. Man konnte fast versucht sein zu glauben, dass er ihr vertraute.
Aber dass er über ihre Hackertalente Bescheid wusste, war eine ernste Sache. Lisbeth war sich darüber im Klaren, dass der juristische Begriff für ihre beruflich wie auch privat betriebene Hackerei »Eindringen in fremde Datenbestände« lautete und mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft wurde. Das war ein heikler Punkt für sie, denn eine Gefängnisstrafe würde mit größter Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass man ihr ihren Computer wegnahm und damit die einzige Beschäftigung, bei der sie richtig gut war. Es war ihr niemals in den Sinn gekommen, Armanskij oder sonst irgendjemand zu erzählen, wie sie an die Informationen kam, für die man sie bezahlte.
Abgesehen von Plague und ein paar wenigen Personen im Netz, die auf professionellem Niveau hackten - die meisten von ihnen kannten sie nur als Wasp und wussten nicht, wer sie war oder wo sie wohnte -, war nur Kalle Blomkvist über ihr Geheimnis gestolpert. Er war ihr auf die Schliche gekommen, weil sie einen Fehler gemacht hatte, wie ihn sich nicht mal ein zwölfjähriger Branchenneuling geleistet hätte - was nur bewies, dass sie an Gehirnschwund litt und Prügel verdiente. Aber er war nicht ausgerastet vor Wut und hatte auch nicht Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen hatte er sie angestellt.
Als sie vorhin noch ein Brot gegessen hatten, bevor sie sich schlafen legte, hatte er sie plötzlich gefragt, ob sie eine gute Hackerin sei. Zu ihrer eigenen Überraschung beantwortete sie die Frage ganz spontan.
»Ich bin wahrscheinlich die beste in Schweden. Es gibt vielleicht noch zwei bis drei Personen, die so ungefähr mein Niveau haben.«
Sie zweifelte den Wahrheitsgehalt ihrer Antwort nicht an. Plague war früher einmal besser als sie gewesen, aber sie hatte ihn schon vor geraumer Zeit überholt.
Es fühlte sich jedoch seltsam an, diese Worte auszusprechen. Das hatte sie noch nie zuvor gemacht. Vor allem hatte es noch nie einen Außenstehenden gegeben, mit dem sie so ein Gespräch hätte führen können. Plötzlich gefiel es ihr, dass er von ihren Fähigkeiten beeindruckt schien. Dann hatte er dieses Gefühl gleich wieder zerstört, indem er die Frage stellte, wie sie das Hacken gelernt hatte.
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Das habe ich schon immer gekonnt, hätte sie sagen sollen. Stattdessen war sie gereizt zu Bett gegangen, ohne Gute Nacht zu sagen.
Es irritierte sie noch mehr, dass Mikael nicht darauf zu reagieren schien, dass sie ihrer eigenen Wege ging. Während sie im Bett lag, hörte sie ihn in der Küche herumgehen, abräumen und abwaschen. Er war die ganze Zeit immer später als sie aufgestanden, aber nun wollte er offenbar auch gleich schlafen gehen. Sie hörte, wie er im Badezimmer rumorte, in sein Schlafzimmer ging und die Tür schloss. Nach einer Weile hörte sie das Knarzen, als er in sein Bett stieg, einen halben Meter von ihr entfernt, aber auf der anderen Seite der Wand.
Während der ganzen Woche hatte er nicht mit ihr geflirtet. Er hatte mit ihr gearbeitet, sie um ihre Meinung gefragt, hatte ihr auf die Finger geklopft, wenn sie Fehler machte, und es akzeptiert, wenn sie ihn korrigiert hat. Verdammt, er hatte sie wie einen Menschen behandelt.
Mit einem Mal ging ihr auf, dass sie Mikael Blomkvists Gesellschaft mochte und ihm vielleicht sogar vertraute. Sie hatte noch nie jemandem vertraut, außer vielleicht Holger Palmgren. Wenn auch aus ganz anderen Gründen. Palmgren war ein vorhersehbarer do gooder gewesen.
Sie stand plötzlich auf, stellte sich nackt ans Fenster und blickte rastlos ins Dunkel. Sie kannte nichts Schwierigeres, als sich einem anderen Menschen zum ersten Mal nackt zu zeigen. Sie war überzeugt, dass ihr magerer Körper abstoßend wirken musste. Ihr Busen war ein schlechter Witz. Sie hatte keine nennenswerten Hüften. In ihren Augen hatte sie nicht sonderlich viel zu bieten. Aber abgesehen davon war sie eine ganz normale Frau mit genau derselben Lust und demselben Sexualtrieb wie alle anderen. Sie blieb am Fenster stehen und überlegte fast zwanzig Minuten, bis sie sich zu einem Entschluss durchgerungen hatte.
Mikael hatte sich ins Bett gelegt und gerade einen Roman von Sara Paretsky aufgeschlagen, als er hörte, wie sich die Türklinke bewegte, und aufblickte. Lisbeth stand schweigend im Türrahmen und sah aus, als würde sie über etwas nachdenken. Sie hatte sich das Laken um den Körper gewickelt.