»Hallo, Sie, junger Mann! Kommen Sie doch mal her!«

Der Befehlston war unmissverständlich. Mikael sah sich um und folgerte, dass er gemeint war. Er ging zu ihr.

»Ich bin Isabella Vanger«, verkündete sie.

»Hallo, ich heiße Mikael Blomkvist.« Er streckte ihr die Hand hin, die sie ignorierte.

»Sind Sie dieser Mensch, der in unseren Familienangelegenheiten herumschnüffelt?«

»Na ja, ich bin der Mensch, den Henrik Vanger engagiert hat, um ihm bei der Biografie der Familie Vanger behilflich zu sein.«

»Damit haben Sie nichts zu schaffen.«

»Stört es Sie, dass Henrik mich engagiert hat oder dass ich Ja gesagt habe? Im ersteren Fall meine ich, dass es Henriks Sache ist, und im letzteren, dass die Entscheidung bei mir liegt.«

»Sie wissen genau, was ich meine. Ich mag keine Leute, die in meinem Leben herumschnüffeln.«

»In Ordnung, ich werde nicht in Ihrem Leben herumschnüffeln. Den Rest müssen Sie mit Henrik Vanger besprechen.«

Isabella Vanger hob plötzlich ihren Gehstock und stieß Mikael mit dem Handgriff vor die Brust. Der Schlag war nicht nennenswert, aber er trat verblüfft einen Schritt zurück.

»Halten Sie sich von mir fern.«

Isabella Vanger drehte sich auf dem Absatz um und ging zu ihrem Haus. Mikael blieb mit einem verdutzten Gesichtsausdruck stehen. Als er den Blick hob, sah er plötzlich Henrik Vanger am Fenster seines Arbeitszimmers stehen. Er hatte eine Kaffeetasse in der Hand, mit der er ihm ironisch zuprostete. Mikael zuckte resigniert mit den Achseln, schüttelte den Kopf und ging zu Susannes Café.

Die einzige Reise, die Mikael während des ersten Monats unternahm, war ein Tagesausflug zu einer Bucht des Siljan-Sees. Er lieh sich Dirch Frodes Mercedes aus und fuhr durch die Schneelandschaft, um einen Nachmittag mit Kommissar Gustav Morell zu verbringen.

Mikael hatte versucht, sich mittels des polizeilichen Untersuchungsberichts ein Bild von Morell zu machen. Als er vor ihm stand, fand er sich einem sehnigen Mann gegenüber, der sich langsam bewegte und noch langsamer sprach.

Mikael hatte sich zehn Fragen notiert, die ihm während der Lektüre des Untersuchungsberichts gekommen waren. Morell antwortete wie ein Pädagoge auf jede Frage. Zum Schluss legte Mikael seine Notizen beiseite und erklärte Morell, seine Fragen seien nur ein Vorwand gewesen, um hierherzukommen und den pensionierten Kommissar zu treffen. Eigentlich habe er mit ihm plaudern und die einzige wesentliche Frage stellen wollen: »Gibt es irgendetwas in den Ermittlungen, das Sie nicht auf Papier festgehalten haben - eine Idee oder eine Überlegung oder ein intuitives Gefühl, das Sie mir mitteilen könnten?«

Da Morell sechsunddreißig Jahre damit zugebracht hatte, über das Mysterium von Harriets Verschwinden nachzudenken, hatte Mikael erwartet, auf einen gewissen Widerstand zu stoßen. Schließlich war er der Neue, der hier aufkreuzte und in dem Dickicht herumstocherte, in dem sich Morell verirrt hatte. Aber da war nicht einmal der Ansatz eines Vorbehalts. Morell stopfte sich sorgfältig seine Pfeife und riss ein Streichholz an, bevor er antwortete.

»Doch, natürlich habe ich gewisse Gedanken. Aber die sind derart vage und flüchtig, dass ich sie nicht so recht formulieren kann.«

»Was glauben Sie, was mit Harriet passiert ist?«

»Ich glaube, dass sie ermordet wurde. Darin bin ich mir mit Henrik einig. Es ist die einzig logische Erklärung. Aber das Motiv ist uns nie klar geworden. Ich glaube, dass sie aus einem ganz bestimmten Grund ermordet wurde - keine Wahnsinnstat oder Vergewaltigung oder so etwas. Würden wir das Motiv kennen, wüssten wir auch, wer sie umgebracht hat.«

Morell überlegte kurz.

»Der Mord kann spontan begangen worden sein. Damit meine ich, dass jemand im Chaos nach dem Unfall die Gelegenheit beim Schopf ergriff. Der Mörder versteckte die Leiche und schaffte sie später fort, während wir die Gegend nach ihr absuchten.«

»Sie sprechen von einem eiskalten Menschen.«

»Es gibt da noch ein Detail. Harriet kam in Henriks Zimmer und wollte mit ihm reden. Im Nachhinein sieht mir das bemerkenswert aus. Sie wusste sehr gut, dass er alle Hände voll zu tun hatte mit all den Verwandten, die sich auf dem Hof befanden. Ich glaube, Harriet stellte für irgendjemand eine Bedrohung dar. Sie wollte Henrik etwas erzählen, und dem Mörder war klar, dass sie … tja, dass sie etwas ausplaudern würde.«

»Henrik war mit ein paar Familienmitgliedern beschäftigt …«

»Außer Henrik waren noch vier Personen im Zimmer: sein Bruder Greger, der Sohn einer Kusine namens Magnus Sjögren sowie Harald Vangers Kinder, Birger und Cecilia. Aber das hat nichts zu sagen. Nehmen wir mal an, Harriet hätte entdeckt, dass jemand Firmengelder veruntreut hat, dann kann sie das monatelang gewusst und sogar mit dem Betreffenden darüber gesprochen haben. Vielleicht hat sie versucht, ihn zu erpressen, oder sie hat Mitleid mit ihm gehabt und den Entschluss hinausgezögert, ihn auffliegen zu lassen. Möglicherweise hat sie damit gedroht, worauf der Täter sie in seiner Verzweiflung erschlug.«

»Sie gehen von einem männlichen Täter aus?«

»Rein statistisch gesehen sind die meisten Mörder Männer. Aber natürlich, in der Familie Vanger gibt es ein paar Weiber, das sind die reinsten Besen.«

»Ich habe Isabella kennengelernt.«

»Sie ist eine von ihnen. Aber es gibt noch mehr. Cecilia Vanger kann richtig knallhart sein. Und sind Sie Sara Sjögren schon begegnet?«

Mikael schüttelte den Kopf.

»Sie ist die Tochter von Sofia Vanger, einer von Henriks Kusinen. Eine richtig unangenehme und rücksichtslose Frau. Aber sie wohnte in Malmö und hatte kein Motiv, Harriet zu töten, soviel ich herausfinden konnte.«

»Okay.«

»Doch wie wir das Ganze auch drehen und wenden, wir sind nie so richtig hinter das Motiv gekommen.«

»Sie haben intensiv an diesem Fall gearbeitet. Gibt es irgendetwas, das Sie nicht weiterverfolgt haben?«

»Nein, Mikael. Ich habe diesem Fall unendlich viel Zeit gewidmet, und ich wüsste nicht, was ich nicht so weit verfolgt hätte, wie es nur irgend ging. Auch als ich befördert wurde und aus Hedestad wegzog.«

»Wegzog?«

»Ja, ich bin ursprünglich nicht aus Hedestad. Ich arbeitete dort von 1963 bis 1968. Danach wurde ich Kommissar und ging nach Gävle, wo ich den Rest meiner Karriere blieb. Aber auch in Gävle stellte ich noch weitere Untersuchungen im Fall Harriet an.«

»Henrik Vanger ließ nicht locker, nehme ich an.«

»Das stimmt. Aber es war nicht deswegen. Das Rätsel um Harriet fasziniert mich noch heute. Ich meine … Sie müssen das so sehen: Jeder Polizist hat sein eigenes ungelöstes Rätsel. Ich erinnere mich an meine Zeit in Hedestad, als die älteren Kollegen im Pausenraum immer über den Fall Rebecka sprachen. Besonders ein Polizist, Torstensson - er ist seit vielen Jahren tot -, kehrte Jahr für Jahr immer wieder zu diesem Fall zurück. In seiner Freizeit und im Urlaub. Wenn auf dem Revier in Hedestad mal Flaute herrschte, zog er stets die Ordner wieder hervor und grübelte.«

»Ging es auch um ein verschwundenes Mädchen?«

Kommissar Morell sah einen Moment lang völlig verblüfft aus. Dann lächelte er, als er begriff, dass Mikael irgendeine Verbindung zwischen den beiden Fällen suchte.

»Oh, ich habe das nicht aus diesem Grund aufs Tapet gebracht. Ich spreche von der Seele eines Polizisten. Der Fall Rebecka ereignete sich, bevor Harriet Vanger auf der Welt war, und ist schon lange verjährt. Irgendwann in den vierziger Jahren wurde eine Frau in Hedestad überfallen, vergewaltigt und umgebracht. Das ist nichts Ungewöhnliches. Jeder Polizist muss irgendwann in seiner Laufbahn in so einem Fall ermitteln. Ich will damit sagen, dass es oft einen Fall gibt, der die Ermittler nicht loslässt und ihnen unter die Haut geht. Das Mädchen wurde auf brutalste Weise ermordet. Der Mörder hatte sie gefesselt und ihren Kopf auf die glimmenden Kohlen eines offenen Kamins gelegt. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert haben mag, bis das arme Mädchen starb, und welche Qualen sie durchgemacht hat.«

»Oh, verdammt.«

»Der arme Torstensson war als Erster vor Ort, als sie gefunden wurde. Der Mord blieb ungelöst, obwohl Experten aus Stockholm zu Hilfe kamen. Torstensson konnte den Fall nie wieder vergessen.«

»Ich verstehe.«

»Harriet ist also mein Rebecka-Fall. Bei ihr weiß ich nicht einmal, wie sie gestorben ist. Technisch gesehen können wir ja nicht beweisen, dass ein Mord geschehen ist. Aber ich kriege diesen Fall einfach nicht aus dem Kopf.«

Er überlegte eine Weile.

»In einem Mord zu ermitteln ist manchmal die einsamste Angelegenheit der Welt. Die Freunde des Opfers sind aufgewühlt und verzweifelt, aber früher oder später - nach ein paar Wochen oder Monaten - kehrt der Alltag wieder ins Leben zurück. Bei den nächsten Verwandten dauert es länger, doch sogar sie kommen über ihre Trauer und Verzweiflung hinweg. Das Leben geht weiter. Nur die ungelösten Morde lassen einen nicht los. Zum Schluss ist bloß noch einer übrig, der an das Opfer denkt und ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen will - das ist der Polizist, der mit den Ermittlungen betraut ist.«

Es wohnten noch drei weitere Personen der Familie Vanger auf der Hedeby-Insel, aber Mikael kam nicht näher in Kontakt mit ihnen. Alexander Vanger, geboren 1946 und Sohn des dritten Bruders, Greger, wohnte in einem renovierten Holzhaus aus dem frühen 20. Jahrhundert. Mikael erfuhr von Henrik, dass Alexander sich derzeit auf den Westindischen Inseln aufhielt, wo er sich seiner Lieblingsbeschäftigung widmete - segeln und sich die Zeit vertreiben, ohne einen Finger krumm machen zu müssen. Henrik redete so negativ über seinen Bruder, dass Mikael daraus schloss, Alexander Vanger müsse Gegenstand gewisser Kontroversen gewesen sein. Er begnügte sich zunächst mit der Feststellung, dass Alexander zwanzig Jahre alt gewesen war, als Harriet verschwand, und dass er zum Kreis der Familienmitglieder gehörte, die vor Ort gewesen waren.

Alexander wohnte mit seiner achtzigjährigen Mutter Gerda zusammen, der Witwe von Greger Vanger. Mikael begegnete ihr nie. Sie kränkelte und lag hauptsächlich im Bett.

Das dritte Familienmitglied war natürlich Harald Vanger, doch in den ersten Monaten war es Mikael nicht gelungen, auch nur den kleinsten Blick auf den alten Rassenbiologen zu erhaschen. Harald Vangers Haus, das direkt neben Mikaels Gästehaus stand, sah mit seinen dunklen, stets vorgezogenen Vorhängen düster und Unheil verkündend aus. Mikael hatte ein paarmal zu sehen geglaubt, dass sich die Vorhänge leicht bewegten, als er vorbeiging, und eines Nachts, als er spät schlafen gehen wollte, hatte er plötzlich einen Lichtschein im Obergeschoss bemerkt. Ein Vorhang stand einen Spalt offen. Über zwanzig Minuten hatte er fasziniert an seinem dunklen Küchenfenster gestanden und das Licht betrachtet, bevor er es gut sein ließ und fröstelnd zu Bett ging. Am Morgen war der Vorhang wieder an seinem Platz.

Harald Vanger schien wie ein unsichtbarer, stets anwesender Geist, der einen Teil des Stadtlebens durch seine Gegenwart prägte. In Mikaels Fantasie nahm er immer mehr die Form eines tückischen Gollum an, der hinter seinen Vorhängen die Umgebung ausspionierte und in seiner verrammelten Höhle geheimnisvolle Dinge trieb.

Er wurde einmal am Tag vom Heimpflegedienst besucht, einer älteren Frau von der anderen Seite der Brücke, die mit den Essensbehältern durch die Schneewehen zu seiner Tür stapfte, weil er sich weigerte, den Schnee in der Hofeinfahrt räumen zu lassen. Gunnar Nilsson schüttelte den Kopf, als Mikael ihn darauf ansprach. Er erklärte, dass er sich erboten hatte, Schnee zu schippen, Harald Vanger jedoch offensichtlich nicht wollte, dass irgendeine Menschenseele den Fuß auf sein Grundstück setzte. Ein einziges Mal war Gunnar Nilsson automatisch mit dem Schneeräumfahrzeug bei ihm vorgefahren. Es endete damit, dass Harald Vanger aus dem Haus geschossen kam und so lange krakeelte, bis Nilsson sich wieder entfernt hatte.

Leider konnte Nilsson bei Mikael nicht räumen, weil das Tor zu schmal für sein Fahrzeug war. Da waren weiterhin Schneeschippe und Muskelkraft gefragt.

Mitte Januar beauftragte Mikael seinen Anwalt damit, herauszufinden, wann er seine dreimonatige Gefängnisstrafe absitzen musste. Er wollte die Sache so schnell wie möglich geklärt haben. Ins Gefängnis zu kommen, stellte sich als einfacher heraus, als er sich vorgestellt hatte. Nach mehrwöchigem Hin und Her wurde beschlossen, dass Mikael sich am 17. März in der Rullåker Vollzugsanstalt bei Östersund einfinden sollte, einer offenen Anstalt für Kleinkriminelle. Mikaels Anwalt teilte ihm mit, dass er mit größter Wahrscheinlichkeit vorzeitig entlassen werden würde.

»Prima«, sagte Mikael ohne allzu großen Enthusiasmus.

Er saß am Küchentisch und streichelte die braun gesprenkelte Katze, die es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht hatte, in mehrtägigem Abstand aufzutauchen und die Nacht bei Mikael zu verbringen. Von Helen Nilsson erfuhr er, dass die Katze Tjorven hieß und niemandem so richtig gehörte, sondern vielmehr in allen Häusern die Runde machte.

Mikael traf seinen Auftraggeber fast jeden Nachmittag. Manchmal fiel das Gespräch kürzer aus, manchmal saßen sie Stunden zusammen und redeten über Harriets Verschwinden und verschiedene Details in Vangers privaten Nachforschungen.

Nicht selten verlief das Gespräch so, dass Mikael eine Theorie formulierte, die Vanger sogleich verwarf. Mikael versuchte, die Distanz zu seinem Auftrag zu wahren, doch gleichzeitig merkte er, dass es Momente gab, in denen er selbst hoffnungslos fasziniert von diesem Puzzle war.

Mikael hatte Erika versprochen, eine Strategie für den neuen Feldzug gegen Hans-Erik Wennerström zu entwerfen, aber nach einem Monat hatte er die alten Ordner, die ihn vor Gericht gebracht hatten, noch nicht einmal aufgeschlagen. Im Gegenteil, er schob das Problem von sich weg. Jedes Mal, wenn er über Wennerström und seine eigene Situation nachzudenken begann, verfiel er in tiefste Niedergeschlagenheit und Apathie. In klareren Momenten fragte er sich, ob er langsam verrückt wurde wie der alte Mann. Seine Karriere war in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus, und er versteckte sich in einem kleinen Ort auf dem Land, wo er Gespenstern nachjagte. Außerdem vermisste er Erika.

Henrik Vanger betrachtete seinen Co-Ermittler mit gedämpfter Besorgnis. Er ahnte, dass Mikael Blomkvist unter Gemütsschwankungen litt. Ende Januar fasste der Alte einen Entschluss, der ihn selbst überraschte. Er griff zum Telefonhörer und rief in Stockholm an. Das Gespräch dauerte zwanzig Minuten und drehte sich zum Großteil um Mikael Blomkvist.

Es hatte fast einen Monat gedauert, bis sich Erikas Zorn gelegt hatte. Eines Abends Ende Januar um halb neun rief sie ihn an.

»Du hast also tatsächlich vor, dort oben zu bleiben«, lautete ihre Begrüßung.

Der Anruf kam so überraschend, dass er zunächst um eine Antwort verlegen war. Dann zog er lächelnd die Wolldecke enger um sich.

»Hallo, Ricky. Das solltest du auch mal ausprobieren.«

»Warum? Hat es irgendeinen besonderen Charme, in Tjottahejti zu wohnen?«

»Ich habe mir gerade die Zähne mit Eiswasser geputzt. Das zieht vielleicht in den Plomben.«

»Selber schuld. Aber hier unten in Stockholm ist es auch schweinekalt.«

»Erzähl.«

»Wir haben zwei Drittel unserer festen Anzeigenkunden eingebüßt. Keiner will es direkt aussprechen, aber …«

»Ich weiß. Mach eine Liste von denen, die abspringen. Eines Tages werden wir sie in einer passenden Reportage erwähnen.«

»Micke … ich habe nachgerechnet. Wenn wir keine neuen Anzeigenkunden gewinnen, sind wir im Herbst pleite. So einfach ist das.«

»Das Blatt wird sich wenden.«

Sie lachte müde am anderen Ende der Leitung.

»Du hast gut reden da oben in deiner Lappen-Hölle.«

»Mach mal halblang - es sind mindestens fünfhundert Kilometer bis zur nächsten Lappensiedlung.«

Erika schwieg.

»Erika, ich bin …«

»Ich weiß. A man’s gotta do what a man’s gotta do and all that crap. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Tut mir leid, dass ich so eine Zicke war und nicht rangegangen bin, wenn du angerufen hast. Können wir noch mal von vorne anfangen? Soll ich mich trauen und dich da oben besuchen?«

»Wann immer du willst.«

»Muss ich eine Schrotflinte für die Wölfe mitbringen?«

»Nein. Wir mieten uns ein paar Lappen mit Hundeschlitten. Wann kommst du?«

»Freitagabend. Okay?«

Das Leben schien Mikael plötzlich unendlich viel heller.

Abgesehen von der schmalen geräumten Schneise bis zu seiner Tür lagen ungefähr neunzig Zentimeter Schnee auf dem Grundstück. Mikael musterte eine Weile die Schneeschippe und ging dann zu Gunnar Nilsson, um zu fragen, ob Erika ihren BMW während ihres Besuches bei ihnen parken konnte. Sie hatten genügend Platz in ihrer Doppelgarage und konnten außerdem noch ihren Motorwärmer anbieten.

Erika fuhr am Nachmittag los und kam gegen sechs Uhr abends. Sie sahen sich ein paar Sekunden lang abwartend an und lagen sich dann bedeutend länger in den Armen.

Im Abenddunkel gab es außer der erleuchteten Kirche nicht viel zu sehen. Der Supermarkt und Susannes Brücken-Café schlossen gerade. Sie zogen sich also schnell ins Haus zurück. Mikael kochte Abendessen, während Erika in seinem Haus herumstöberte, die alten Nummern des Rekordmagasinet aus den fünfziger Jahren kommentierte und sich in seine Ordner im Arbeitszimmer vertiefte. Sie aßen Lammkoteletts mit Salzkartoffeln und Sahnesauce - viel zu viele Kalorien - und tranken Rotwein. Mikael versuchte, den Faden ihres Telefongesprächs wieder aufzunehmen, aber Erika war nicht recht in Stimmung, über Millennium zu reden. Stattdessen redeten sie zwei Stunden über Mikaels Situation und ihre Gefühle. Danach testeten sie, ob das Bett breit genug für sie beide war.

Das dritte Treffen mit Nils Bjurman war anberaumt, verschoben und zum Schluss auf fünf Uhr am selben Freitag gelegt worden. Bei früheren Treffen war Lisbeth Salander stets von einer zirka fünfundfünfzigjährigen Dame in Empfang genommen worden, die nach Moschus roch und als Sekretärin in der Kanzlei arbeitete. Diesmal hatte sie schon Feierabend gemacht und Bjurman eine leichte Alkoholfahne. Er bedeutete Salander mit einer wedelnden Geste, auf einem Besucherstuhl Platz zu nehmen, und blätterte geistesabwesend in irgendwelchen Papieren, bis er sich plötzlich ihrer Gegenwart wieder bewusst zu werden schien.

Abermals war sie regelrecht verhört worden. Diesmal hatte er Lisbeth Salander zu ihrem Sexleben ausgefragt - was ihrer Ansicht nach zu ihrer Privatsphäre gehörte und ihn überhaupt nichts anging.

Nach ihrem Besuch wusste sie, dass sie es falsch angepackt hatte. Sie war zunächst still sitzen geblieben und hatte ihm ausweichende Antworten gegeben. Er hatte das vermutlich so interpretiert, als sei sie schüchtern oder geistig zurückgeblieben oder hätte etwas zu verbergen. Salander sah ein, dass er sie nicht in Ruhe lassen würde, bevor er seine Antworten bekommen hatte, und fing an, ihm knappe und harmlose Antworten zu geben, wie sie höchstwahrscheinlich in ihr psychologisches Profil passten. Sie erwähnte Magnus - in ihrer Beschreibung ein gleichaltriger Computerfreak, der sie wie ein Gentleman behandelte, sie ins Kino einlud und zwischendurch mit ihr ins Bett ging. Magnus war reine Fiktion - sie erfand ihn, während sie von ihm erzählte -, aber Bjurman hatte die Neuigkeit zum Anlass genommen, während der nächsten Stunde eingehend ihr Sexleben auszuforschen. Wie oft haben Sie Sex? Ab und zu. Wer ergreift die Initiative - Sie oder er? Ich. Verwenden Sie Kondome? Natürlich - sie habe schon mal von Aids gehört. Welche Stellung mögen Sie am liebsten? Na ja, meistens auf dem Rücken. Mögen Sie Oralsex? Ääääh, Moment … Haben Sie schon einmal Analsex gehabt?

»Nein, ich steh nicht drauf, in den Arsch gefickt zu werden, aber was zum Teufel geht Sie das eigentlich an?«

Das war das einzige Mal, dass Sie vor Bjurman die Beherrschung verloren hatte. Sie wusste, wie man ihren Blick deuten konnte, und hatte auf den Boden gesehen, damit ihre Augen nicht ihre Gefühle verrieten. Als sie ihn wieder anschaute, blinzelte er von der anderen Seite des Schreibtisches herüber. Lisbeth Salander wusste mit einem Mal, dass ihr Leben eine dramatische Wende nehmen würde. Sie verließ Bjurman mit einem Gefühl des Ekels. Auf so etwas war sie nicht vorbereitet gewesen. Palmgren wäre niemals auf den Gedanken gekommen, ihr solche Fragen zu stellen. Er war immer zugänglich gewesen, wenn sie mit ihm über irgendetwas reden wollte. Eine Möglichkeit, die sie selten genutzt hatte.

Bjurman war ein serious pain in the ass oder - wie ihr dämmerte - auf dem besten Wege, sich zu einem major problem zu entwickeln.

11. Kapitel

Samstag, 1. Februar - Dienstag, 18. Februar

In den wenigen Stunden, die es am Samstag hell war, gingen Mikael und Erika am kleinen Hafen vorbei und schlugen den Weg nach Östergården ein. Obwohl Mikael seit einem Monat auf der Insel wohnte, war er bis jetzt noch nie weiter ins Inselinnere vorgedrungen. Kälte und Schneestürme hatten ihn davon abgehalten. Aber am Samstag war es sonnig und angenehm, als hätte Erika einen Hauch von Frühlingswetter mitgebracht. Es waren nur fünf Grad unter null. Rechts und links der Straße hatten die Räumfahrzeuge meterhohe Schneeberge hinterlassen. Sobald sie die Siedlung verlassen hatten, waren sie mitten in dichtem Tannenwald, und Mikael stellte überrascht fest, dass der Söderberg oberhalb der Häuser wesentlich höher und unzugänglicher war, als er vom Ort aus wirkte. Er überlegte kurz, wie oft Harriet hier wohl als Kind gespielt hatte, verscheuchte dann aber den Gedanken an sie. Nach ein paar Kilometern endete der Wald jäh an einem Zaun, hinter dem der Hof Östergården begann, von dem sie ein weißes Holzhaus und einen großen, roten Viehstall sehen konnten. Sie gingen nicht in Richtung Hof weiter, sondern spazierten denselben Weg nach Hedeby zurück.

Als sie an der Auffahrt zum Vangerschen Haus vorbeikamen, klopfte Henrik Vanger kräftig von innen ans Fenster im Obergeschoss und winkte sie energisch heran. Mikael und Erika sahen sich an.

»Möchtest du gerne einen Großindustriellen kennenlernen?«, fragte Mikael.

»Beißt er?«

»Samstags nie.«

Henrik Vanger empfing sie an der Tür zu seinem Arbeitszimmer und schüttelte ihnen die Hand.

»Ich habe Sie gleich erkannt. Sie müssen Frau Berger sein«, begrüßte er sie. »Mikael hat mit keinem Wort erwähnt, dass Sie nach Hedeby kommen wollten.«

Eine von Erikas hervorstechendsten Eigenschaften war ihre Fähigkeit, sofort freundschaftliche Bande zu den unterschiedlichsten Individuen zu knüpfen. Mikael hatte zugesehen, wie sie mit ihrem Charme fünfjährige Jungen um den Finger wickelte, die innerhalb von zehn Minuten bereit gewesen wären, ihre Mütter zu verlassen. Männer über achtzig machten da keine Ausnahme. Erikas Grübchen schienen ihnen Appetit zu machen. Nach zwei Minuten ignorierte er Mikael vollkommen und plauderte mit ihr, als würden sie sich von Kindesbeinen an kennen - na ja, aufgrund des Altersunterschiedes kamen nur Erikas Kindesbeine infrage.

Erika beschwerte sich zunächst ungeniert darüber, dass er ihren verantwortlichen Herausgeber in die Wildnis gelockt hatte. Der alte Mann gab zurück, sie hätte ihn den Pressemitteilungen zufolge ja bereits vor die Tür gesetzt, und wenn sie es noch nicht getan hätte, dann wäre es vielleicht höchste Zeit, den Ballast aus der Redaktion loszuwerden. Erika tat so, als musterte sie Mikael mit kritischem Blick. Und in diesem Fall, fuhr Henrik fort, könne ein Weilchen robustes Landleben dem jungen Herrn Blomkvist nur guttun. Da pflichtete Erika ihm bei.

Fünf Minuten lang diskutierten sie in provokantem Ton seine Unzulänglichkeiten. Mikael lehnte sich zurück und tat beleidigt, aber er hob die Augenbrauen, als Erika ein paar doppelbödige Bemerkungen machte, die eventuell auf seine Mängel als Journalist anspielten, genauso gut aber auf mangelnde sexuelle Fähigkeiten gemünzt sein konnten. Henrik Vanger legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals.

Mikael staunte. Die Kommentare waren lustig, aber so locker und entspannt hatte er Henrik Vanger noch nie erlebt. Er sah plötzlich vor sich, wie ein fünfzig Jahre - nein, dreißig Jahre - jüngerer Henrik Vanger als charmanter Verführer und attraktiver Frauenheld ausgesehen haben musste. Er hatte nie wieder geheiratet. Ihm mussten noch andere Frauen begegnet sein, aber er war ein knappes halbes Jahrhundert Junggeselle geblieben.

Mikael nahm einen Schluck Kaffee und spitzte plötzlich die Ohren, als er merkte, dass das Gespräch in ernste Bahnen gekommen war und sich nun um Millennium drehte.

»Ich habe von Mikael erfahren, dass Sie ein Problem mit dem Magazin haben.« Erika warf Mikael einen verstohlenen Blick zu. »Nein, nein, er hat keine internen Angelegenheiten mit mir besprochen, aber man müsste taub und blind sein, um nicht zu begreifen, dass es mit Ihrer Zeitschrift, genau wie mit dem Unternehmen Vanger, bergab geht.«

»Wir werden das Ganze schon wieder in Ordnung bringen«, entgegnete Erika vorsichtig.

»Das bezweifle ich«, gab Henrik Vanger zurück.

»Warum?«

»Schauen wir doch mal - wie viele Angestellte haben Sie, sechs? Eine Auflage von 21 000 pro Monat, Druck, Vertrieb, Büroräume … Sie brauchen einen Jahresumsatz von, über den Daumen gepeilt, zehn Millionen. Ungefähr die Hälfte davon muss über die Anzeigeneinnahmen reinkommen.«

»Und?«

»Hans-Erik Wennerström ist ein nachtragender und kleinlicher Mistkerl, der Sie so schnell nicht vergessen dürfte. Wie viele Anzeigenkunden haben Sie in den letzten Monaten verloren?«

Erika betrachtete Henrik Vanger abwartend. Mikael hielt die Luft an. Wann immer er und der alte Mann über das Thema Millennium gesprochen hatten, waren entweder spöttische Kommentare gekommen, oder es ging darum, inwiefern die Situation seiner Zeitschrift Mikael erlaubte, einen vollwertigen Job in Hedestad zu leisten.

»Dürfte ich noch ein bisschen Kaffee haben?«, fragte Erika.

Vanger schenkte ihr sofort nach.

»Okay, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Wir sind in Schwierigkeiten. Und wennschon.«

»Wie ernst ist die Lage?«

»Ein halbes Jahr können wir uns noch irgendwie über Wasser halten. Maximal acht bis zehn Monate. Aber wir haben einfach nicht genug Eigenkapital, um es länger zu schaffen.«

Die Miene des alten Mannes war unergründlich, als er aus dem Fenster sah. Die Kirche stand immer noch da.

»Wussten Sie, dass mir einmal einige Zeitungen gehörten?«

Mikael und Erika schüttelten den Kopf.

Vanger lachte plötzlich.

»Uns gehörten sechs Tageszeitungen in Norrland. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren. Es war die Idee meines Vaters gewesen. Er meinte, es könnte einen politischen Vorteil bedeuten, wenn man die Medien hinter sich hat. Wir sind sogar immer noch einer der Teilhaber des Hedestads-Kuriren, und Birger ist Vorsitzender des Aufsichtsrats. Das ist Haralds Sohn«, fügte er an Mikael gewandt hinzu.

»Und außerdem Kommunalpolitiker«, stellte Mikael fest.

»Martin sitzt auch im Aufsichtsrat. Er hat ein Auge auf Birger.«

»Warum haben Sie die Zeitungen aufgegeben?«, fragte Mikael.

»Das lag an den Umstrukturierungen und Rationalisierungen in den sechziger Jahren. Zeitungen verlegen war irgendwie mehr ein Hobby als ein echtes Interesse. Als wir das Budget kürzen mussten, haben wir zuerst die Zeitungen abgestoßen. Aber ich weiß, was es bedeutet, eine Zeitschrift herauszugeben … Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«

Die Frage war an Erika gerichtet, die eine Augenbraue hob und Vanger ein Zeichen gab fortzufahren.

»Ich habe Mikael nicht danach gefragt, und wenn Sie nicht antworten wollen, brauchen Sie nichts dazu zu sagen. Ich will wissen, wie Sie in diesen Schlamassel geraten sind. Hatten Sie eine Story oder nicht?«

Mikael und Erika tauschten einen Blick. Nun war es an Mikael, eine unergründliche Miene aufzusetzen. Erika zögerte einen Moment, bevor sie anfing zu sprechen.

»Wir hatten eine Story. Aber das war eigentlich eine ganz andere Story.«

Henrik Vanger nickte.

»Ich will nicht darüber reden«, schnitt Mikael die Diskussion ab. »Ich habe recherchiert und den Artikel geschrieben. Ich hatte alle Quellen, die ich brauchte. Dann ging alles in die Binsen.«

»Aber Sie hatten Quellen für alles, was Sie geschrieben haben?«

Mikael nickte.

Henrik Vangers Stimme wurde plötzlich scharf.

»Ich will nicht so tun, als wüsste ich, wie Sie auf diese Mine treten konnten. Mir fällt keine ähnliche Geschichte ein, außer vielleicht der Lundahl-Affäre im Expressen in den sechziger Jahren, aber das war lange vor Ihrer Zeit.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich mit leiser Stimme an Erika. »Ich bin Zeitungsherausgeber gewesen und kann es wieder werden. Was würden Sie dazu sagen, wenn Sie einen weiteren Teilhaber bekämen?«

Die Frage kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, aber Erika schien nicht im Geringsten überrascht zu sein.

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie.

Henrik Vanger wich der Frage mit einer Gegenfrage aus. »Wie lange bleiben Sie hier in Hedestad?«

»Ich fahre morgen nach Hause.«

»Könnten Sie sich vorstellen - Sie und Mikael, meine ich natürlich -, einem alten Mann eine Freude zu machen und heute Abend zu mir zum Essen zu kommen? Um sieben Uhr?«

»Das passt prima. Wir kommen gerne. Aber Sie sind meiner Frage ausgewichen. Warum sollten Sie Teilhaber bei Millennium werden wollen?«

»Ich bin der Frage nicht ausgewichen. Ich dachte nur, dass wir bei einem kleinen Essen darüber reden sollten. Ich muss mit Dirch Frode, meinem Anwalt, sprechen, bevor ich konkret werden kann. Aber um es einfach auszudrücken: Ich habe Geld, das ich investieren kann. Wenn’s nicht funktioniert - tja, ich habe in meinem Leben schon bedeutend größere Verluste gemacht.«

Mikael wollte gerade den Mund aufmachen, als Erika ihm die Hand aufs Knie legte.

»Mikael und ich haben hart darum gekämpft, völlig unabhängig zu sein.«

»Unsinn. Kein Mensch ist völlig unabhängig. Aber ich bin gar nicht darauf aus, die Zeitschrift an mich zu reißen, und der Inhalt ist mir völlig egal. Dieser verdammte Stenbeck hat sich Pluspunkte geholt, als er Moderna Tider herausgab, da kann ich ja wohl hinter Millennium stehen. Das obendrein noch eine gute Zeitschrift ist.«

»Hat das etwas mit Wennerström zu tun?«, fragte Mikael plötzlich.

Henrik Vanger lächelte.

»Mikael, ich bin über achtzig Jahre alt. Ich habe es bereut, so manches versäumt und einigen Mistkerlen das Leben nicht saurer gemacht zu haben. Doch apropos« - er wandte sich wieder an Erika - »eine solche Investition ist mit mindestens einer Bedingung verbunden.«

»Schießen Sie los«, sagte Erika.

»Herr Blomkvist muss wieder den Posten des verantwortlichen Herausgebers übernehmen.«

»Das geht nicht!«, widersprach Mikael sofort.

»Doch!«, gab Henrik Vanger ebenso entschieden zurück. »Wennerström kriegt einen Schlaganfall, wenn wir mit der Pressemitteilung rausgehen, dass der Vanger-Konzern Millennium unter die Arme greift und Sie gleichzeitig als verantwortlicher Herausgeber zurückkommen. Deutlicher können wir nicht signalisieren, dass dies keine Machtübernahme ist und die Politik der Redaktion feststeht. Und allein das wird die Anzeigenkunden, die sich jetzt zurückziehen wollen, noch einmal zum Nachdenken zwingen. Wennerström ist nicht allmächtig. Er hat auch Feinde, und es wird Firmen geben, die Inserate schalten wollen.«

»Was zum Teufel sollte das denn bedeuten?«, fragte Mikael, sobald Erika die Haustür schloss.

»Ich glaube, das nennt man vorbereitende Erkundigungen vor einem Geschäftsabschluss«, antwortete sie. »Du hattest mir ja gar nicht erzählt, dass Henrik Vanger so ein Schatz ist.«

Mikael baute sich vor ihr auf. »Ricky, du weißt genau, wovon dieses Gespräch handeln sollte.«

»Ach, komm schon. Es ist erst drei Uhr, und ich will mich vor diesem Abendessen noch ein bisschen amüsieren.«

Mikael Blomkvist kochte vor Wut. Aber er hatte Erika noch nie lange böse sein können.

Erika trug ein schwarzes Kleid, eine taillenkurze Jacke und Pumps, die sie rein zufällig in ihre kleine Reisetasche gesteckt hatte. Sie bestand darauf, dass auch Mikael sich in Schale warf. Er zog eine schwarze Hose an, ein graues Hemd, einen dunklen Schlips und ein graues Sakko. Als sie pünktlich bei Henrik Vanger erschienen, stellte sich heraus, dass auch Dirch Frode und Martin Vanger zu den Gästen gehörten. Alle trugen Schlips und Sakko, bis auf Henrik, der mit Fliege und brauner Strickjacke herumlief.

»Achtzig Jahre alt zu sein hat den Vorteil, dass keiner mehr beanstanden kann, wie man sich anzieht«, stellte er fest.

Erika war den ganzen Abend strahlender Laune.

Erst als sie es sich später in einem Salon mit offenem Kamin bequem machten und sich einen Cognac eingossen, kam ein ernsthaftes Gespräch in Gang. Sie redeten fast zwei Stunden, bis sie den Entwurf eines Vertrages auf dem Tisch hatten.

Frode sollte ein Unternehmen gründen, das zu 100 Prozent Henrik Vanger gehörte und dessen Leitung aus ihm, Frode und Martin Vanger bestehen sollte. Diese Firma würde über vier Jahre hinweg einen Betrag investieren, der Millenniums Defizit ausglich. Das Geld kam aus Henrik Vangers Privatvermögen. Im Gegenzug würde Henrik Vanger einen sichtbaren Posten im Vorstand erhalten. Diese Vereinbarung sollte vier Jahre gelten, konnte aber nach zwei Jahren von Millennium aufgekündigt werden. Eine solche vorzeitige Kündigung würde jedoch kostspielig werden, denn Henrik würde mit derselben Summe ausbezahlt werden müssen, die er eingezahlt hatte.

Im Falle seines plötzlichen Todes würde Martin Vanger für die restliche Zeit seinen Posten übernehmen. Wenn Martin sein Engagement über diese Zeit hinaus fortsetzen wollte, musste er zum gegebenen Zeitpunkt selbst dazu Stellung nehmen. Auch Martin Vanger schien erfreut über die Möglichkeit, es Hans-Erik Wennerström heimzuzahlen, und Mikael fragte sich, welche Differenzen er wohl mit Wennerström haben mochte.

Nachdem sie eine vorläufige Einigung erzielt hatten, schenkte Martin Vanger noch einmal Cognac nach. Henrik Vanger ergriff die Gelegenheit, um Mikael zuzuflüstern, dass dieser Vertrag ihre alte Vereinbarung in keiner Weise beeinträchtige.

Um in den Medien die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzielen, beschloss man außerdem, die neuen Eigentumsverhältnisse am selben Tag zu veröffentlichen, an dem Mikael sich Mitte März ins Gefängnis begab. Ein so negatives Ereignis mit der Bekanntmachung der neuen Strukturen zu verbinden, war rein PR-technisch so verkehrt, dass es Mikaels Verleumder verblüffen und Henrik Vangers Beitritt das maximale Rampenlicht verschaffen musste. Aber allen war die Logik dieses Plans klar - es war ein Signal, dass die Pestflagge, die derzeit über der Millennium-Redaktion wehte, wieder eingeholt wurde. Ab jetzt wurde mit harten Bandagen gekämpft.

Das Unternehmen Vanger steckte in einer Krise, aber es war immer noch ein gewichtiger Industriekonzern, der, wenn nötig, offensiv agieren konnte.

Das ganze Gespräch verlief in Form einer Diskussion zwischen Erika auf der einen Seite und Henrik und Martin auf der anderen. Keiner hatte Mikael gefragt, was er von der Sache hielt.

Spätnachts lag Mikael mit dem Kopf auf Erikas Brust und sah ihr in die Augen.

»Wie lange diskutiert ihr schon über diese Vereinbarung, du und Henrik Vanger?«, fragte er.

»Ungefähr seit einer Woche«, antwortete sie lächelnd.

»Ist Christer einverstanden?«

»Natürlich.«

»Warum durfte ich nichts davon erfahren?«

»Warum hätte ich das mit dir besprechen sollen? Du bist als verantwortlicher Herausgeber ausgeschieden, hast die Redaktion und die Verlagsleitung verlassen und dich mitten im Wald angesiedelt.«

Mikael dachte ein Weilchen darüber nach.

»Du meinst, ich verdiene es, wie ein Idiot behandelt zu werden?«

»Oh ja!«, sagte sie mit Nachdruck.

»Du warst wirklich sauer auf mich.«

»Ich habe mich noch nie so verraten und verkauft gefühlt wie in dem Moment, als du aus der Redaktion spaziert bist. Ich war noch nie so böse auf dich.« Sie griff ihm fest in die Haare und schob seinen Kopf weiter nach unten.

Als Erika Hedeby am Sonntag verließ, war Mikael so wütend auf Henrik Vanger, dass er nicht riskieren wollte, ihm oder einem anderen Mitglied der Familie über den Weg zu laufen. Stattdessen fuhr er nach Hedestad und verbrachte den Nachmittag damit, durch die Stadt zu bummeln, die Bibliothek zu besuchen und in einer Konditorei Kaffee zu trinken. Am Abend ging er ins Kino und sah sich Herr der Ringe an, den er in all dem Premierentrubel vor einem Jahr verpasst hatte. Plötzlich fand er, dass die Orks im Vergleich zu den Menschen doch einfache, unkomplizierte Wesen waren.

Er rundete den Abend bei McDonald’s in Hedestad ab und fuhr gegen Mitternacht mit dem letzten Bus auf die Insel zurück. Er machte Kaffee, setzte sich an den Küchentisch und holte einen Ordner hervor. Er las bis vier Uhr morgens.

Die Ermittlungen im Fall Harriet Vanger hatten einige Fragen aufgeworfen. Sie traten umso deutlicher hervor, je länger Mikael sich in den Bericht einarbeitete. Es waren keine sensationellen Entdeckungen, die er da machte, sondern altbekannte Probleme, die Gustav Morell lange Zeit beschäftigt hatten, sogar in seiner Freizeit.

Im letzten Jahr ihres Lebens hatte Harriet sich verändert. In gewisser Weise konnte man die Veränderung als die Metamorphose interpretieren, die alle Jugendlichen in ihrer Teenagerzeit in der einen oder anderen Form erleben. Harriet wurde langsam erwachsen, aber in ihrem Fall hatten Klassenkameraden, Lehrer und mehrere Familienmitglieder bezeugt, dass sie reserviert und verschlossen geworden war.

Zwei Jahre zuvor noch ein ganz normaler, ausgelassener Teenie, war sie auf einmal sichtbar auf Distanz zu ihrer Umgebung gegangen. In der Schule war Harriet immer noch mit ihren Mitschülern zusammen, doch plötzlich auf eine Weise, die eine ihrer Freundinnen als »unpersönlich« beschrieb. Das Wort, das die Freundin verwendete, war so außergewöhnlich, dass Morell es notierte und weitere Fragen dazu stellte. Sie erklärte ihm, dass Harriet aufgehört hatte, über sich selbst zu sprechen, zu tratschen oder über vertrauliche Dinge zu reden.

Harriet war auf kindliche Art christlich gewesen, während sie heranwuchs - Sonntagsschule, Abendgebet und Konfirmation. Im letzten Jahr schien sie jedoch richtiggehend religiös geworden zu sein. Sie las in der Bibel und ging regelmäßig in die Kirche. Sie hatte sich allerdings nicht Pastor Falk angeschlossen, der ein Freund der Familie Vanger war, sondern sich im Frühling eine Pfingstgemeinde in Hedestad gesucht. Dieses Engagement in der Pfingstgemeinde dauerte aber nicht lange. Schon nach zwei Monaten hatte sie die Gemeinde wieder verlassen und stattdessen begonnen, Bücher über den Katholizismus zu lesen.

Teeniehafte religiöse Schwärmerei? Vielleicht, aber in der Familie war sonst niemand in nennenswertem Ausmaß religiös, und es war schwer herauszufinden, welche Impulse ihre Gedanken lenkten. Eine Erklärung für ihr Interesse an Gott konnte freilich sein, dass ihr Vater zwei Jahre zuvor bei einem Unfall ertrunken war. Morell mutmaßte, dass in Harriets Leben irgendetwas geschehen sein musste, das sie bedrückte oder sonstwie beeinflusste. Ebenso wie Henrik Vanger hatte Morell viel Zeit darauf verwendet, mit Harriets Freunden zu sprechen, um jemand zu finden, dem sie sich vielleicht anvertraut hatte.

Man setzte eine gewisse Hoffnung in die zwei Jahre ältere Anita Vanger, Haralds Tochter, die den Sommer 1969 auf der Hedeby-Insel verbracht und sich nach eigener Aussage intensiv mit Harriet angefreundet hatte. Aber auch Anita Vanger konnte keine richtigen Auskünfte geben. Sie waren den Sommer über viel zusammen gewesen, waren baden gegangen, hatten Spaziergänge unternommen und über Filme, Popbands und Bücher geredet. Harriet war oft mitgekommen, wenn Anita Übungsfahrten für ihren Führerschein machte. Einmal tranken sie sich einen kleinen Schwips mit einer Flasche Wein an, die sie aus den Vorräten im Haus gemopst hatten. Außerdem wohnten sie mehrere Wochen zusammen in »Gottfrieds Hütte«, einem entlegenen kleinen Häuschen, das Harriets Vater Anfang der fünfziger Jahre errichtet hatte.

Die Fragen nach Harriets privaten Gedanken und Gefühlen blieben unbeantwortet. Mikael fiel jedoch eine Diskrepanz in den Beschreibungen auf: Die Angaben zu Harriets zurückgezogenen Wesen stammten zum Großteil von Mitschülern und Familienmitgliedern, während Anita Vanger sie überhaupt nicht als verschlossen empfunden hatte. Er wollte bei Gelegenheit mit Henrik Vanger darüber sprechen.

Ein konkreteres Fragezeichen, dem Morell bedeutend mehr Interesse zugewandt hatte, war eine rätselhafte Seite in Harriets Kalender, einem schön eingebundenen Weihnachtsgeschenk, das sie im Jahr vor ihrem Verschwinden bekommen hatte. Die erste Hälfte des Kalenders enthielt einen Zeitplan, in dem Harriet jeden Tag Treffen, Prüfungstermine am Gymnasium, Hausaufgaben und anderes notiert hatte. Der Kalender ließ viel Platz für Tagebuchaufzeichnungen, allerdings führte Harriet nur sehr sporadisch Tagebuch. Sie begann im Januar noch recht ehrgeizig, mit kurzen Anmerkungen, wen sie in den Weihnachtsferien getroffen hatte, und mit Kommentaren zu Filmen, die sie gesehen hatte. Danach schrieb sie nichts Persönliches mehr auf. Nur eine kurze Notiz deutete darauf hin, dass ihr ein nicht namentlich genannter Junge auf der Schulabschlussfeier ganz gut gefallen hatte.

Aber die Seiten mit den Telefonnummern enthielten das wahre Geheimnis. Säuberlich waren dort in alphabetischer Reihenfolge Familienmitglieder, Klassenkameraden, gewisse Lehrer, ein paar Mitglieder der Pfingstgemeinde und andere leicht zu identifizierende Personen ihrer Umgebung aufgeführt. Auf der allerletzten Seite, die ganz weiß war und eigentlich schon außerhalb des alphabetischen Registers lag, standen fünf Namen und ebenso viele Telefonnummern. Es waren drei Frauennamen und zwei Namen in Initialen.

Die fünfstelligen Telefonnummern, die mit 32 anfingen, waren in den sechziger Jahren die Nummern in Hedestad. Die davon abweichende 30er-Nummer führte nach Norrby außerhalb von Hedestad. Allerdings wusste keiner, wer diese Personen waren, als Kommissar Morell in Harriets Bekanntenkreis nachfragte.

Die erste Nummer, die von »Magda«, schien vielversprechend. Die Nummer gehörte zu einem Stoff- und Kurzwarengeschäft in der Parkgata 12. Der Anschluss war auf eine Margot Lundmark zugelassen, deren Mutter tatsächlich Magda hieß und stundenweise im Laden aushalf. Magda war jedoch neunundsechzig Jahre alt und hatte keine Ahnung, wer Harriet Vanger war. Es gab auch keinerlei Hinweise, dass Harriet jemals in diesem Geschäft gewesen wäre oder dort etwas gekauft hätte. Handarbeiten gehörte nicht zu ihren Freizeitbeschäftigungen.

Die andere Nummer gehörte zu einer Familie Toresson in Väststan, auf der anderen Seite der Eisenbahnlinie. Die Familie bestand aus Anders und Monica sowie ihren Kindern Jonas und Peter, die im Vorschulalter waren. Eine Sara gab es nicht in der Familie, und man wusste nicht mehr über Harriet Vanger, als dass sie in den Massenmedien als vermisst gemeldet worden war. Die einzige vage Verbindung zwischen Harriet und den Toressons war, dass Anders, ein Dachdecker, im Jahr zuvor ein paar Wochen lang das Dach der Schule gedeckt hatte, in der Harriet die erste Gymnasialklasse besuchte. Es bestand also theoretisch die Möglichkeit, dass sie sich getroffen haben könnten, obwohl das als äußerst unwahrscheinlich betrachtet werden musste.

Die restlichen drei Telefonnummern führten in ähnliche Sackgassen. Bei »RL«, Nummer 32027, hatte tatsächlich eine Rosmarie Larsson gewohnt. Leider war sie schon vor ein paar Jahren verstorben.

Angesichts dieses Rätsels konzentrierten sich Morells Ermittlungen im Winter 1966/67 auf die Frage, warum Harriet diese Namen und Nummern notiert haben mochte.

Nicht allzu überraschend tippte er zunächst darauf, dass die Nummern mit einer Art persönlichem Code verschlüsselt waren - Morell versuchte also, sich vorzustellen, wie ein Teenie gedacht haben könnte. Da die 32er-Serie offensichtlich für Hedestad stand, versuchte er es mit einem Umstellen der letzten drei Ziffern. Doch weder 32601 noch 32160 führten zu einer Magda. Während Morell mit seiner Zahlenmystik weitermachte, war er guten Mutes, dass er früher oder später eine Verbindung zu Harriet finden würde, wenn er nur genügend Ziffern vertauschte. Wenn er zum Beispiel die letzten drei Stellen von 32016 erhöhte, bekam er 32127 - und das war die Nummer von Dirch Frodes Kanzlei in Hedestad. Dummerweise brachte ihn das auch nicht weiter.

Außerdem fand er keinen Code, der alle fünf Nummern zugleich erklärt hätte.

Konnten die Ziffern etwas anderes bedeuten? Die Nummernschilder der Autos trugen in den sechziger Jahren Buchstaben, die die Provinz bezeichneten, und fünf Ziffern - eine Sackgasse.

Da gab der Kommissar die Zahlen auf und konzentrierte sich auf die Namen. Er besorgte sich eine Liste aller Personen in Hedestad, die Mari, Magda oder Sara hießen oder die Initialen RL beziehungsweise RJ hatten. Er kam auf ein Verzeichnis von insgesamt dreihundertsieben Personen. Unter ihnen befanden sich ganze neunundzwanzig, die irgendwie in Beziehung zu Harriet standen. Ein ehemaliger Mitschüler hieß zum Beispiel Roland Jacobsson, RJ. Die beiden waren jedoch nur oberflächlich miteinander bekannt gewesen und hatten keinen Kontakt mehr gehabt, seit Harriet aufs Gymnasium ging. Und außerdem gab es natürlich keine Verbindung zu der entsprechenden Telefonnummer.

Das Telefonnummern-Rätsel blieb ungelöst.

Das vierte Treffen mit Rechtsanwalt Bjurman war keiner ihrer offiziell vereinbarten Termine. Sie war gezwungen gewesen, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

In der zweiten Februarwoche ging Lisbeth Salanders Laptop bei einem Unfall zu Bruch, der so absurd war, dass sie, frustriert, Mordgelüste gegen den Verursacher hegte. Sie war zu einer Besprechung bei Milton Security gefahren, hatte das Fahrrad hinter einen Pfeiler der Tiefgarage geschoben und den Rucksack auf den Boden gestellt, um das Rad abschließen zu können. Im nächsten Moment parkte ein dunkelroter Saab rückwärts aus. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und hörte nur das Knacken in ihrem Rucksack. Der Autofahrer hatte nichts bemerkt und war unbekümmert durch die Ausfahrt verschwunden.

Der Rucksack enthielt ihr weißes Apple-iBook 600 mit einer 25-Gigabyte-Festplatte und 420 MB RAM, hergestellt im Januar 2002 und ausgestattet mit einem 14-Zoll-Bildschirm. Als sie ihn kaufte, war dieser Laptop das Neueste vom Neuesten. Computerzubehör war im Großen und Ganzen der einzige extravagante Posten in ihren Ausgaben.

Als sie den Rucksack aufmachte, konnte sie sehen, dass der Deckel des Laptops zerbrochen war. Sie steckte den Netzstecker ein und versuchte, den Computer zu starten, aber er gab nicht einmal eine letzte Zuckung von sich. Sie brachte die Überreste zu Timmys MacJesus Shop, in der Hoffnung, dass zumindest die Festplatte gerettet werden könnte. Timmy fummelte nur ein wenig daran herum, dann schüttelte er den Kopf.

»Sorry. Keine Hoffnung«, sagte er. »Bereite ihm ein schönes Begräbnis.«

Der Verlust des Computers war deprimierend, aber keine Katastrophe. Lisbeth Salander war in dem einen Jahr, in dem sie ihn gehabt hatte, bestens mit ihm zurechtgekommen. Sie besaß Sicherheitskopien von allen Dokumenten und zu Hause einen älteren Mac G3 sowie einen fünf Jahre alten Toshiba PC Laptop, den sie auch noch benutzen konnte. Aber - verflucht! - sie brauchte eine schnelle und moderne Kiste.

Es war wohl nicht sonderlich überraschend, dass sie auf die denkbar beste Alternative verfiel: das neu herausgekommene Apple PowerBook G4/1.0 GHz mit Aluminiumgehäuse, mit einem PowerPC 7451 Prozessor mit AltiVec Velocity Engine, 960 Mb RAM und einer 60 Gigabyte-Festplatte, inklusive BlueTooth sowie einem CD- und DVD-Brenner.

Vor allem hatte er als erster Laptop einen 17-Zoll-Bildschirm mit NVIDIA-Grafik und einer Auflösung von 1440 x 900 Pixel, was eingefleischte PC-Fürsprecher schockierte und alles andere auf dem Markt in den Schatten stellte.

Das war der Rolls-Royce unter den Laptops, aber was Lisbeth Salanders Will-haben-Reflex wirklich in Gang setzte, war die simple Finesse, dass die Tastatur mit Hintergrundbeleuchtung ausgestattet war, sodass sie die Tasten auch im Dunkeln sehen konnte. Warum hatte früher keiner an so etwas gedacht?

Es war Liebe auf den ersten Blick.

Er kostete 38 000 Kronen zuzüglich Mehrwertsteuer.

Das war ein Problem.

Sie gab eine Bestellung bei MacJesus auf, von dem sie ihren gesamten Computerkram kaufte und der ihr daher einen ordentlichen Rabatt einräumte. Ein paar Tage später rechnete Lisbeth Salander ihre Ausgaben zusammen. Die Versicherung ihres verunglückten Laptops würde den Neukauf weitgehend abdecken, aber mit der Selbstbeteiligung und der Preisdifferenz zu ihrem Neuerwerb hatte sie immer noch knapp 18 000 Kronen zu wenig. In einer Kaffeedose zu Hause hatte sie noch 10 000 Kronen versteckt, um immer ein bisschen Bargeld zur Hand zu haben, aber das reichte nicht. Sie verfluchte Bjurman in Gedanken, biss dann aber in den sauren Apfel, rief ihren Vormund an und erklärte ihm, dass sie Geld für eine unerwartete Ausgabe benötigte. Bjurman entgegnete, dass er heute keine Zeit mehr habe. Salander erwiderte, es würde ihn zwanzig Sekunden kosten, einen Scheck über 10 000 Kronen auszuschreiben. Er erklärte, er könne einen solchen Betrag nicht einfach aufs Geratewohl herausgeben, lenkte dann jedoch ein und bat sie nach einer kurzen Bedenkzeit zu einem Treffen außerhalb der Bürozeiten, um halb acht Uhr abends.

Mikael musste zugeben, dass ihm die Kompetenz fehlte, die Qualität der polizeilichen Ermittlungen zu beurteilen. Kommissar Morell war äußerst gewissenhaft vorgegangen und hatte jeden Stein umgedreht, was in mancher Hinsicht weit über seine dienstlichen Pflichten hinausging. Nachdem Mikael den polizeilichen Untersuchungsbericht aus der Hand gelegt hatte, tauchte Morell immer noch in Henriks privaten Aufzeichnungen auf. Zwischen den beiden Männern waren freundschaftliche Bande entstanden, und Mikael fragte sich, ob sich in Morells Kopf dieselbe fixe Idee festgesetzt hatte wie bei Henrik Vanger. Er kam aber zu dem Schluss, dass Morell kaum etwas entgangen sein konnte. Die Lösung für das Rätsel Harriet Vanger würde keine polizeiliche Ermittlung ans Tageslicht bringen, und sei sie auch so gut wie perfekt. Alle denkbaren Fragen waren bereits gestellt und alle Spuren verfolgt worden, sogar die augenscheinlich unsinnigen.

Er hatte noch nicht den ganzen Untersuchungsbericht gelesen, aber je weiter er vorankam, umso obskurer wurden die Spuren und Tipps, denen man nachgegangen war. Er erwartete nicht, etwas zu finden, was sein Vorgänger übersehen hatte, und er war unschlüssig, wie er selbst das Problem angehen sollte. Schließlich war eine Überzeugung in ihm herangereift: Für ihn lag der einzig vernünftige Weg im Versuch, die Beweggründe der beteiligten Personen zu erforschen.

Das größte Fragezeichen stand hinter Harriet selbst. Wer war sie eigentlich?

Vom Fenster seines Hauses aus hatte Mikael gesehen, dass das Licht im ersten Stock bei Cecilia Vanger um fünf Uhr nachmittags anging. Er klopfte um halb acht an ihre Tür, als gerade das Logo der Nachrichtensendung eingeblendet wurde. Als sie ihm aufmachte, trug sie einen Bademantel und hatte ihr nasses Haar mit einem gelben Frotteehandtuch bedeckt. Mikael entschuldigte sich für die Störung und wollte sofort wieder kehrtmachen, aber sie winkte ihn in die Küche. Sie setzte Kaffee auf und verschwand für ein paar Minuten ins Obergeschoss. Als sie wieder herunterkam, hatte sie sich Jeans und ein kariertes Flanellhemd angezogen.

»Ich dachte schon, Sie trauen sich nicht, mich mal zu besuchen.«

»Ich hätte vorher anrufen sollen, aber ich habe das Licht brennen sehen und dachte spontan, ich komme mal rüber.«

»Ich habe gesehen, dass bei Ihnen manchmal die ganze Nacht das Licht brennt. Und Sie gehen oft nach Mitternacht draußen spazieren. Nachteule, was?«

Michael zuckte mit den Schultern. »Das hat sich so ergeben.« Er sah einen Stapel Schulbücher auf dem Küchentisch liegen. »Unterrichten Sie immer noch, Frau Direktor?«

»Nein, als Rektorin fehlt mir die Zeit dazu. Aber ich war Lehrerin für Geschichte, Religion und Sozialkunde. Und ich habe ja noch ein paar Jahre vor mir.«

»Ein paar Jahre?«

Sie lächelte. »Ich bin sechsundfünfzig und gehe auf die Rente zu.«

»Sie sehen nicht älter aus als fünfzig, eher Ende vierzig.«

»Danke für die Blumen. Wie alt sind Sie?«

»Über vierzig«, lächelte Mikael.

»Und vor Kurzem waren Sie noch zwanzig, nicht wahr. Wie schnell es geht. Das Leben, meine ich.«

Cecilia Vanger goss Kaffee ein und fragte Mikael, ob er Hunger habe. Er antwortete, er habe schon gegessen, was der Wahrheit entsprach. Er nahm es nicht allzu genau mit den Mahlzeiten und aß stattdessen belegte Brote. Hunger hatte er aber nicht.

»Sind Sie gekommen, um mir Fragen zu stellen?«

»Nein, ich wollte einfach mal vorbeischauen.«

Cecilia Vanger lächelte plötzlich.

»Sie sind zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, Sie ziehen nach Hedeby, gucken sich das Material zu Henriks Lieblingshobby durch, schlafen nachts nicht, machen lange Nachtspaziergänge bei Eiseskälte … hab ich was vergessen?«

»Dass mein Leben vor die Hunde geht, vielleicht.« Mikael lächelte zurück.

»Wer war die Frau, die Sie am Wochenende besucht hat?«

»Erika … sie ist Chefredakteurin bei Millennium

»Ihre Freundin?«

»Wie man’s nimmt. Sie ist verheiratet. Ich bin mehr ein guter Freund und occasional lover

Cecilia Vanger lachte laut.

»Was ist daran so lustig?«

»Wie Sie das sagen. Occasional lover. Der Ausdruck gefällt mir.«

Mikael lachte auch. Auf einmal mochte er Cecilia Vanger.

»Ich könnte auch einen occasional lover brauchen«, sagte sie.

Sie kickte ihre Pantoffeln weg und stellte ihm einen Fuß aufs Knie. Mikael legte ihr automatisch seine Hand auf den Fuß und berührte ihre Haut. Einen Moment zögerte er - er spürte, dass er sich in unerwartetes und unbekanntes Fahrwasser begab. Vorsichtig begann er, ihre Fußsohle mit dem Daumen zu massieren.

»Ich bin auch verheiratet«, sagte Cecilia Vanger.

»Ich weiß. Im Vanger-Clan lässt man sich nicht scheiden.«

»Ich habe meinen Mann seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«

»Was ist passiert?«

»Das geht Sie nichts an. Ich habe seit … hmm, seit mittlerweile drei Jahren keinen Sex mehr gehabt.«

»Das erstaunt mich.«

»Wieso? Das ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Ich will absolut keinen Freund oder Ehemann oder Lebensgefährten. Ich fühle mich allein ganz gut. Mit wem sollte ich also Sex haben? Mit einem meiner Kollegen? Lieber nicht. Mit einem der Schüler? Das wäre ein gefundenes Fressen für die Klatschtanten im Ort. Sie haben ein wachsames Auge auf alle Leute, die Vanger heißen. Und hier auf der Insel wohnen nur Verwandte oder Verheiratete.«

Sie lehnte sich vor und küsste ihn auf den Hals.

»Schockiere ich Sie?«

»Nein. Aber ich weiß nicht recht, ob das hier so eine gute Idee ist. Ich arbeite für Ihren Onkel.«

»Ich wäre die Letzte, die plaudern würde. Und um ehrlich zu sein, Henrik hätte vermutlich nichts dagegen.«

Sie setzte sich rittlings auf ihn und küsste ihn auf den Mund. Ihr Haar war immer noch nass, und sie duftete nach Shampoo. Plötzlich fummelte er an den Knöpfen ihres Flanellhemds und zog es ihr über die Schultern herunter. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen BH anzuziehen. Sie presste sich an ihn, als er ihre Brüste küsste.

Rechtsanwalt Bjurman kam hinter seinem Schreibtisch hervor und zeigte ihr die Bilanz ihres Kontos, das ihr bis auf die letzte Öre bekannt war, über das sie aber nicht mehr selbst verfügen konnte. Er stand hinter ihr. Plötzlich fing er an, ihr den Nacken zu massieren, und ließ eine Hand über ihre linke Schulter quer zu ihrer Brust gleiten. Er legte die Hand auf ihre rechte Brust und ließ sie dort liegen. Als sie nicht zu protestieren schien, drückte er die Brust. Lisbeth Salander war zur Salzsäule erstarrt. Sie spürte seinen Atem im Nacken. Eingehend musterte sie den spitzen Brieföffner auf seinem Schreibtisch - mit ihrer freien Hand konnte sie ihn bequem erreichen.

Aber sie unternahm nichts. Wenn Holger Palmgren ihr irgendetwas beigebracht hatte in all den Jahren, dann war es die Erkenntnis, dass impulsive Handlungen meist Schwierigkeiten herbeiführten, und Schwierigkeiten konnten weitere unangenehme Konsequenzen bedeuten. Sie unternahm nie etwas, ohne zuerst über die Konsequenzen nachzudenken.

Der erste sexuelle Übergriff - der in juristischer Terminologie als sexuelle Belästigung und Ausnutzung einer Person in einem Abhängigkeitsverhältnis definiert wurde und Bjurman theoretisch bis zu zwei Jahre Gefängnis einbringen konnte - dauerte nur ein paar Sekunden. Das reichte aus, um eine Grenze unwiderruflich zu überschreiten. Für Lisbeth Salander kam es der militärischen Machtdemonstration einer feindlichen Truppe gleich - ein Zeichen, dass sie jenseits ihrer wohldefinierten juristischen Beziehung seiner Willkür ausgeliefert war. Als sich ihre Augen für ein paar Sekunden trafen, war sein Mund halb geöffnet, und sie konnte die Lust in seinem Gesicht lesen. Ihr Gesicht war ausdruckslos.

Bjurman ging hinter seinen Schreibtisch zurück und setzte sich in seinen bequemen Ledersessel.

»Ich kann dir nicht einfach so einen Scheck ausschreiben«, sagte er plötzlich. »Warum brauchst du überhaupt so einen teuren Computer? Für Computerspiele gibt es wesentlich billigere Geräte.«

»Ich möchte wieder selbst über mein Geld verfügen können, so wie früher.«

Bjurman bedachte sie mit einem mitleidigen Blick.

»Schauen wir einfach mal, was die Zeit bringt. Zuerst musst du lernen, dich sozial zu verhalten und dich anderen Leuten anzupassen.«

Bjurmans Lächeln wäre vielleicht ein bisschen schwächer ausgefallen, hätte er die Gedanken hinter ihren ausdruckslosen Augen lesen können.

»Ich glaube, wir werden richtig gute Freunde«, sagte Bjurman. »Wir müssen uns aufeinander verlassen können.«

Als sie keine Antwort gab, wurde er deutlicher.

»Du bist jetzt eine erwachsene Frau, Lisbeth.«

Sie nickte.

»Komm her«, sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen.

Lisbeth Salander heftete ihren Blick ein paar Sekunden auf den Brieföffner, bevor sie aufstand und zu ihm ging. Konsequenzen. Er nahm ihre Hand und drückte sie sich gegen den Schritt. Sie konnte sein Geschlecht durch den festen Stoff seiner dunklen Hose fühlen.

»Wenn du nett zu mir bist, werde ich auch nett zu dir sein«, sagte er.

Sie war stocksteif, als er seine andere Hand um ihren Nacken legte und sie herunterzog, bis sie vor ihm kniete, das Gesicht vor seinem Schritt.

»Das hast du doch früher auch schon gemacht, oder?«, sagte er, als er seinen Hosenschlitz öffnete. Er roch, als hätte er sich kurz zuvor mit Wasser und Seife gewaschen.

Lisbeth Salander drehte den Kopf zur Seite und versuchte aufzustehen, aber er hielt sie mit festem Griff an ihrem Platz. Rein physisch konnte sie es nicht mit ihm aufnehmen: Sie wog knapp vierzig Kilo, er fünfundneunzig. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und drehte ihr Gesicht herum, sodass sich ihre Blicke trafen.

»Wenn du nett zu mir bist, werde ich auch nett zu dir sein«, wiederholte er. »Aber wenn du Zicken machst, kann ich dich für den Rest deines Lebens ins Irrenhaus bringen. Würde dir das gefallen?«

Sie antwortete nicht.

»Würde dir das gefallen?«, wiederholte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Er wartete, bis sie die Augen niederschlug, was er als eine Unterwerfungsgeste deutete. Dann zog er sie näher zu sich heran. Lisbeth Salander öffnete die Lippen und nahm ihn in den Mund. Er hielt sie die ganze Zeit im Nacken fest und zog sie mit Gewalt weiter zu sich heran. Während der zehn Minuten, die er seinen Schwanz in ihren Mund hinein- und hinausfahren ließ, spürte sie ununterbrochenen Brechreiz. Als er endlich kam, hielt er sie so fest umklammert, dass sie kaum noch atmen konnte.

Er ließ sie eine kleine Toilette in seinem Büro benutzen. Lisbeth Salander zitterte, als sie ihr Gesicht wusch und versuchte, die Flecken von ihrem Pullover zu reiben. Sie aß ein bisschen von seiner Zahnpasta, um den Geschmack loszuwerden. Als sie wieder in sein Büro kam, saß er ungerührt an seinem Schreibtisch und blätterte in den Papieren.

»Setz dich, Lisbeth«, forderte er sie auf, ohne sie anzusehen. Sie setzte sich. Schließlich sah er sie an und lächelte.

»Du bist jetzt doch erwachsen, oder, Lisbeth?«

Sie nickte.

»Dann musst du auch Erwachsenenspiele spielen können«, sagte er. Er sprach, als redete er mit einem Kind. Sie antwortete nicht. Auf seiner Stirn bildete sich eine kleine Falte.

»Ich glaube, es wäre keine gute Idee, wenn du irgendjemand von unseren Spielen erzählen würdest. Denk doch mal nach - wer würde dir schon glauben? Ich habe es schwarz auf weiß, dass du nicht zurechnungsfähig bist.« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Dein Wort würde gegen meines stehen. Was glaubst du, wessen Wort wiegt schwerer?«

Er seufzte, als sie immer noch schwieg. Plötzlich irritierte ihn ihr hartnäckiges Schweigen, aber er beherrschte sich.

»Wir werden gute Freunde werden, wir zwei«, sagte er. »Ich finde, dass es klug von dir war, dich heute an mich zu wenden. Du kannst immer zu mir kommen.«

»Ich brauche 10 000 für meinen Computer«, sagte sie auf einmal leise, ganz so, als würde sie das Gespräch fortführen, das sie vorhin unterbrochen hatten.

Rechtsanwalt Bjurman hob die Brauen. Hartgesottenes Miststück. Verdammt, die ist ja wirklich so was von zurückgeblieben. Er reichte ihr den Scheck, den er ausgestellt hatte, während sie auf der Toilette gewesen war. Das ist besser als mit einer Hure - sie wird von ihrem eigenen Geld bezahlt. Er lächelte jovial.

Lisbeth Salander nahm den Scheck und ging.

12. Kapitel

Mittwoch, 19. Februar

Wäre Lisbeth Salander eine normale Bürgerin gewesen, hätte sie mit größter Wahrscheinlichkeit die Polizei angerufen und die Vergewaltigung angezeigt, und zwar unmittelbar nachdem sie seine Kanzlei verlassen hatte. Die blauen Flecke an Nacken und Hals sowie die DNA-Unterschrift seines Spermas auf ihrem Körper und ihren Kleidern hätten einen schwer wiegenden Beweis abgegeben. Obwohl Bjurman sicher behaupten würde: Sie hat doch mitgemacht oder Sie hat mich verführt oder Sie wollte mir einen blasen, wie Vergewaltiger dies immer tun, hatte er sich doch schon so vieler Vergehen gegen das Vormundschaftsgesetz schuldig gemacht, dass man ihm umgehend die rechtliche Betreuung für Lisbeth Salander entzogen hätte. Eine Anzeige würde wahrscheinlich dazu führen, dass Lisbeth Salander einen richtigen Rechtsanwalt bekam, der mit sexuellen Übergriffen gegen Frauen vertraut war, und das hätte wiederum zu einer Diskussion über den Kern des Problems geführt - die Feststellung ihres Betreuungsbedarfs.

Lisbeth Salander war ein für alle Mal anders als normale Menschen. Sie hatte nur rudimentäre juristische Kenntnisse - das war ein Gebiet, in das sie sich nie vertieft hatte -, und ihr Vertrauen in die Polizei ging gegen null. Für sie war die Polizei eine undefinierbare feindliche Streitmacht, deren praktische Einsätze in all den Jahren darin bestanden hatten, sie festzunehmen und zu erniedrigen. Das letzte Mal, dass sie mit der Polizei zu tun gehabt hatte, war an einem Nachmittag im Mai gewesen, als sie auf dem Weg zu Milton Security durch die Götgata ging und plötzlich Auge in Auge einem Bereitschaftspolizisten mit Helm und Visier gegenüberstand, der ihr ohne jeden Grund einen Stockschlag auf die Schulter verpasste. Ihr spontaner Impuls war, mit der Colaflasche, die sie zufällig in der Hand hielt, zum Gegenangriff überzugehen. Glücklicherweise war der Polizist auf dem Absatz umgedreht und weitergelaufen, bevor sie reagieren konnte. Erst später erfuhr sie, dass ein Stückchen weiter die Straße entlang eine Demonstration stattgefunden hatte.

Der Gedanke, Nils Bjurman anzuzeigen, kam ihr gar nicht. Und im Übrigen - was sollte sie eigentlich anzeigen? Dass Bjurman ihr an die Brust gefasst hatte. Jeder Polizist musste nur einen Blick auf ihre Miniknöspchen werfen, um zu erkennen, dass das ziemlich unwahrscheinlich war, und wenn es denn tatsächlich passiert sein sollte, müsste sie eher stolz darauf sein, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte. Und das mit dem Blow-job - da stand ihr Wort gegen seines, und für gewöhnlich wog das Wort anderer stets schwerer als ihr eigenes. Nein, die Polizei war keine Alternative.

Nachdem sie Bjurmans Kanzlei verlassen hatte, war sie also nach Hause gefahren, hatte geduscht, zwei Brote mit Käse und Salzgurken gegessen und sich zum Nachdenken auf das zerschlissene, fusselige Wohnzimmersofa gesetzt.

Ein normaler Mensch hätte ihr die scheinbare Gleichgültigkeit zum Nachteil angerechnet - es wäre ein weiterer Beweis dafür gewesen, wie unnormal sie war, wenn nicht einmal eine Vergewaltigung eine befriedigende emotionale Reaktion hervorrufen konnte.

Ihr Bekanntenkreis war nicht groß und stammte auch nicht aus der wohlbehüteten Mittelklasse der bürgerlichen Vororte, doch schon mit achtzehn hatte Lisbeth Salander kein einziges Mädchen gekannt, das nicht zumindest einmal gegen seinen Willen irgendeine sexuelle Handlung hatte ausführen müssen.

In Lisbeth Salanders Welt war das ein natürlicher Zustand. Als Mädchen war sie Freiwild, vor allem, wenn sie eine abgetragene schwarze Lederjacke trug, eine gepiercte Augenbraue, Tattoos und null sozialen Status hatte.

Das war kein Grund zum Heulen.

Doch das hieß noch lange nicht, dass Anwalt Bjurman sie ungestraft zwingen konnte, ihm einen zu blasen. Einmal zugefügtes Unrecht vergaß Lisbeth Salander nie, und sie war von Natur aus alles andere als nachsichtig.

Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie immer als schwierig und grundlos gewalttätig gegolten. Die Regeln für den sozialen Umgang in der Schule hatten sie immer verwirrt. Sie kümmerte sich nur um sich und nicht um das, was die Leute um sie herum trieben. Und trotzdem war da immer einer, der sie nicht in Frieden lassen wollte.

Später war sie mehrmals nach Hause geschickt worden, nachdem sie in gewalttätige Auseinandersetzungen mit Klassenkameraden geraten war. Wesentlich kräftigere Jungen in ihrer Klasse lernten schnell, dass es unangenehm werden konnte, wenn man sich mit dem schmächtigen Mädchen anlegte - im Gegensatz zu den anderen Mädchen in der Klasse kniff sie nie, sondern zögerte keine Sekunde, sich mit Fäusten oder Waffen zur Wehr zu setzen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich eher totschlagen lassen würde, als klein beizugeben.

Außerdem rächte sie sich.

Als Lisbeth Salander in die sechste Klasse ging, war sie mit einem wesentlich größeren und stärkeren Jungen in Streit geraten. Rein körperlich konnte sie es nicht mit ihm aufnehmen. Er hatte sich einen Spaß daraus gemacht, sie herumzuschubsen, und als sie zum Gegenangriff übergehen wollte, hatte er ihr ein paar Ohrfeigen verpasst. Es half jedoch nichts, so überlegen er ihr auch war, das dumme Ding ging immer wieder auf ihn los. Zum Schluss fanden sogar die Klassenkameraden, dass es zu weit ging. Sie war so offensichtlich unterlegen, dass es schon peinlich war. Zu guter Letzt hatte ihr der Junge einen so kräftigen Fausthieb versetzt, dass ihr die Lippe platzte und sie Sternchen sah. Sie ließen sie auf dem Boden hinter der Turnhalle liegen. Sie blieb zwei Tage zu Hause. Am Morgen des dritten Tages erwartete sie ihren Peiniger mit einem Baseballschläger, den sie ihm übers Ohr zog. Dafür wurde sie zum Direktor bestellt, der beschloss, Anzeige wegen Körperverletzung gegen sie zu erstatten.

Ihre Klassenkameraden hielten sie für verrückt und behandelten sie entsprechend. Bei ihren Lehrern, die sie manchmal als echte Plage empfanden, weckte sie ebenso wenig Sympathie. Ein ungeliebtes Mädchen mit eigenartigem Verhalten.

Dann geschah All Das Böse, an das sie nicht denken wollte, gerade als sie an der Schwelle zum Teenageralter stand. Der letzte Ausbruch, der das Muster vervollständigte. Und dann wurde ihre Akte hervorgeholt, die zu ihren Ungunsten sprach. Seitdem wurde sie juristisch als … na ja, als verrückt betrachtet. Ein Freak. Lisbeth Salander hatte noch nie ein Papier gebraucht, um zu wissen, dass sie anders war. Und andererseits hatte es sie auch nicht wirklich gestört, solange Holger Palmgren ihr Betreuer war.

Mit Bjurmans Auftritt drohte die Anordnung der umfassenden Betreuung eine dramatische Belastung in ihrem Leben zu werden. An wen sie sich auch wenden mochte, überall würden sich potenzielle Fallgruben auftun, und was geschah, wenn sie den Kampf verlor? Würde sie in eine Anstalt eingewiesen werden? In ein Irrenhaus? Das war wirklich keine Alternative.

Später in der Nacht, als Cecilia und Mikael eng umschlungen im Bett lagen, sah sie zu ihm hoch.

»Danke. Das ist schon lange her gewesen. Du bist wirklich nicht schlecht im Bett.«

Mikael lächelte. Sexuelle Schmeicheleien machten ihn immer auf eine kindliche Weise glücklich.

»Es hat mir Spaß gemacht«, sagte er.

»Wir können das jederzeit wieder machen«, sagte Cecilia Vanger. »Wenn du Lust hast.«

Mikael sah sie an.

»Willst du dir etwa einen Liebhaber zulegen?«

»Einen occasional lover«, sagte Cecilia Vanger. »Aber ich will, dass du gehst, bevor du einschläfst. Ich will nicht morgen früh aufwachen und dich hier haben, bevor ich mein Gesicht in Ordnung gebracht habe. Und dann wäre es auch schön, wenn du nicht der ganzen Stadt erzählst, dass wir hier was laufen haben.«

»Kein Problem, denke ich«, sagte Mikael.

»Vor allem möchte ich nicht, dass Isabella davon erfährt, die alte Hexe.«

»Deine nächste Nachbarin … ich bin ihr schon begegnet.«

»Glücklicherweise kann sie meine Haustür von ihrem Fenster aus nicht sehen. Sei bitte diskret, Mikael.«

»Ich werde diskret sein.«

»Danke. Trinkst du Alkohol?«

»Manchmal.«

»Ich hab furchtbar Lust auf was Fruchtiges mit Gin drin. Willst du auch was?«

»Gerne.«

Sie raffte sich ein Laken um den Körper und verschwand ins Erdgeschoss. Mikael nutzte die Gelegenheit, um zur Toilette zu gehen und sich ein bisschen zu waschen. Er stand nackt vor ihrem Bücherregal, als sie mit einer Karaffe Eiswasser und zwei Gin and Lime zurückkam. Sie prosteten sich zu.

»Warum bist du zu mir gekommen?«, fragte sie.

»Einfach so …«

»Zuerst hast du Henriks Bericht gelesen. Und dann bist du direkt zu mir gekommen. Man muss nicht besonders schlau sein, um zwei und zwei zusammenzuzählen.«

»Hast du den Bericht gelesen?«

»Teilweise. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben mit diesem Bericht verbracht. Man kann keinen Kontakt mit Henrik haben, ohne auch mit dem Rätsel Harriet in Berührung zu kommen.«

»Es ist aber auch wirklich ein faszinierender Fall. Ich meine, diese Insel ist wie ein geschlossenes System. Und nichts in den Ermittlungen scheint normaler Logik zu folgen. Alle Fragen bleiben unbeantwortet, jede Spur führt in eine Sackgasse.«

»Mmmh, von so was können Menschen besessen sein.«

»Du warst an dem Tag auch auf der Insel.«

»Ja, ich war hier und hab das ganze Trara mitbekommen. Eigentlich wohnte und studierte ich in Stockholm. Ich wünschte, ich wäre an dem Wochenende zu Hause geblieben.«

»Wie war sie eigentlich? Die Leute scheinen sie ganz unterschiedlich wahrgenommen zu haben.«

»Ist das hier jetzt off the record, oder …«

»Es ist off the record

»Ich habe keinen Schimmer, was in Harriets kleinem Kopf vorging. Du hebst natürlich auf das letzte Jahr ab. Mal war sie auf einem völlig durchgedrehten religiösen Trip. Dann legte sie wieder Make-up auf wie eine Nutte und ging mit dem engsten Pullover in die Schule, den sie im Schrank hatte. Man muss kein Psychologe sein, um zu verstehen, dass sie zutiefst unglücklich war. Aber wie gesagt, ich habe nicht hier gewohnt und kenne bloß das Gerede.«

»Was hat die Probleme denn ausgelöst?«

»Ich denke, es war die verrückte Ehe ihrer Eltern. Entweder machten sie zusammen einen drauf oder sie bekämpften einander. Nicht körperlich - Gottfried war nicht gewalttätig und hatte außerdem Angst vor Isabella. Sie hatte schreckliche Launen. Irgendwann Anfang der sechziger Jahre zog er mehr oder weniger dauerhaft in sein Haus am anderen Ende der Insel, wo Isabella niemals hinging. Phasenweise tauchte er völlig verlottert in der Stadt auf. Dann war er wieder nüchtern und zog sich ordentlich an und versuchte, seine Arbeit zu machen.«

»Gab es niemanden, der versucht hätte, Harriet zu helfen?«

»Henrik natürlich. Sie zog ja zum Schluss in sein Haus. Aber du darfst nicht vergessen, dass er auch damit beschäftigt war, die Rolle des Großindustriellen zu spielen. Er war meist irgendwo unterwegs und hatte keine Zeit, auf die Kinder aufzupassen. Ich habe vieles nicht mitbekommen, weil ich zuerst in Uppsala wohnte und danach in Stockholm. Ich hatte es auch nicht leicht mit Harald als Vater, das kann ich dir versichern. Aber das Hauptproblem lag darin, dass Harriet sich nie jemandem anvertraute. Im Gegenteil, sie versuchte immer, den Schein zu wahren und so zu tun, als wären sie eine glückliche Familie.«

»Einfach alles verdrängen?«

»Klar. Aber sie veränderte sich, als ihr Vater ertrank. Da konnte sie nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung. Von da an war sie - ich weiß nicht, wie ich es erklären soll - hochbegabt und frühreif, aber gleichzeitig ein ganz normaler Teenager. Auch im letzten Jahr hatte sie brillante Schulnoten, aber es kam einem so vor, als hätte sie keine eigene Seele.«

»Wie ist ihr Vater ertrunken?«

»Gottfried? Prosaischer geht’s kaum. Er fiel beim Bootssteg vor seinem Häuschen aus seinem Ruderboot. Er hatte den Hosenschlitz offen und einen extrem hohen Blutalkoholgehalt, du kannst dir also vorstellen, was passiert ist. Martin hat ihn gefunden.«

»Das wusste ich nicht.«

»Das ist schon lustig. Martin ist zu einem richtig guten Kerl herangewachsen. Hättest du mich vor fünfunddreißig Jahren gefragt, hätte ich gesagt, dass er derjenige ist, der in dieser Familie einen Psychologen braucht.«

»Wieso denn das?«

»Harriet war nicht die Einzige, die unter der Situation litt. Martin war jahrelang so still und verschlossen, dass man ihn fast schon als menschenscheu bezeichnen konnte. Beide Kinder hatten es schwer. Ich meine, schwer hatten wir es alle. Ich nehme an, dir ist schon aufgegangen, dass mein Vater völlig verrückt ist. Meine Schwester Anita hatte dieselben Probleme mit ihm, genauso Alexander, mein Cousin. Es war ganz schön hart, Kind in der Familie Vanger zu sein.«

»Was geschah mit deiner Schwester?«

»Anita wohnt in London. Sie ist in den siebziger Jahren dorthin gegangen, um in einem schwedischen Reisebüro zu arbeiten und ist geblieben. Sie hat irgendeinen Typen geheiratet, den sie der Familie nie vorgestellt hat und von dem sie sich mittlerweile getrennt hat. Heute ist sie leitende Angestellte bei British Airways. Wir verstehen uns gut, haben aber nur sehr losen Kontakt und treffen uns alle zwei Jahre oder so. Sie kommt nie nach Hedestad.«

»Warum nicht?«

»Weil unser Vater verrückt ist. Reicht das nicht als Erklärung?«

»Aber du bist hiergeblieben.«

»Ich und Birger, mein Bruder.«

»Der Politiker.«

»Genau. Birger ist älter als Anita und ich. Wir haben nie besonders guten Kontakt gehabt. Er hält sich tatsächlich für einen bedeutenden Politiker mit einer Zukunft im Reichstag, vielleicht sogar als Minister, wenn die Konservativen gewinnen sollten. In Wirklichkeit ist er ein mäßig talentierter Kommunalpolitiker in einem Provinzkaff, und das dürfte dann wohl auch schon der Höhepunkt und zugleich der Schlusspunkt seiner Karriere gewesen sein.«

»Eine Sache, die mich an der Familie Vanger fasziniert, ist, dass alle schlecht voneinander denken.«

»Das stimmt nicht ganz. Ich mag Martin und Henrik furchtbar gern. Und ich habe mich immer gut mit meiner Schwester verstanden, obwohl wir uns nur sehr selten treffen. Ich hasse Isabella und habe nicht sonderlich viel für Alexander übrig. Allerdings spreche ich nicht mit meinem Vater. Birger ist … hmm, eher ein aufgeblasener Trottel als ein schlechter Mensch. Aber ich verstehe schon, was du meinst. Sieh es mal so: Wenn man zur Familie Vanger gehört, lernt man sehr früh, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir sagen, was wir denken.«

»Ja, ich habe schon gemerkt, dass ihr keine großen Umstände macht.« Mikael streckte die Hand aus und berührte ihre Brust. »Ich war gerade mal eine Viertelstunde hier, als du mich überfallen hast.«

»Ehrlich gesagt, habe ich von Anfang an darüber nachgedacht, wie du wohl im Bett bist. Und es war absolut kein Fehler, es auszuprobieren.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Lisbeth Salander ein dringendes Bedürfnis, jemanden um Rat zu bitten. Das Problem war allerdings, wenn sie jemanden um Rat fragen wollte, musste sie sich ihm wohl auch anvertrauen, und das wiederum bedeutete, dass sie sich jemandem ausliefern und ihre Geheimnisse preisgeben musste. Wem sollte sie sie erzählen? Was Kontakte zu anderen Menschen anging, war sie einfach hoffnungslos untalentiert.

Lisbeth Salander hatte sorgfältig nachgezählt, als sie ihr Adressbuch im Kopf durchging, und kam auf zehn Personen, die man irgendwie zu ihrem Bekanntenkreis rechnen konnte. Sie selbst wusste am besten, dass das noch großzügig angesetzt war.

Sie konnte mit Plague reden, der eine einigermaßen feste Größe in ihrem Leben war. Aber er war absolut kein Freund und der Letzte, der etwas zur Lösung ihres Problems hätte beitragen können. Das war auch keine Alternative.

Lisbeth Salanders Sexleben war nicht ganz so bescheiden, wie sie Bjurman gegenüber behauptet hatte. Doch Sex hatte immer (oder jedenfalls ziemlich oft) zu ihren Bedingungen und auf ihre Initiative hin stattgefunden.

Wenn sie nachrechnete, hatte sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr ungefähr fünfzig Partner gehabt. Das bedeutete zirka fünf Sexpartner pro Jahr, was ganz okay war für einen weiblichen Single, der im Laufe der Jahre begonnen hatte, Sex als vergnüglichen Zeitvertreib zu betrachten.

Die meisten dieser zufälligen Partner hatte sie jedoch in einer knapp zweijährigen Phase gehabt, was die monatliche Statistik für diese Zeit beträchtlich nach oben korrigierte. Das war in der turbulenten Endphase ihrer Teenagerzeit gewesen, als sie eigentlich volljährig hätte werden sollen. Eine Weile hatte Lisbeth Salander vor einem Scheideweg gestanden und ihr Leben nicht so recht unter Kontrolle gehabt. Doch seit sie zwanzig geworden war und bei Milton Security arbeitete, hatte sie sich deutlich beruhigt und - wie sie selbst fand - ihr Leben in den Griff gekriegt.

Sie fühlte sich nicht länger verpflichtet, jemandem zu Willen zu sein, der sie in der Kneipe auf drei Bier eingeladen hatte, und sie empfand es nicht mehr als Akt der Selbstverwirklichung, einen Betrunkenen nach Hause zu begleiten, dessen Namen sie kaum kannte. Im letzten Jahr hatte sie einen einzigen regelmäßigen Sexpartner gehabt und konnte schwerlich promiskuitiv genannt werden, wie es die Eintragungen in ihrer Akte andeuteten.

Sex hatte sie meistens mit jemandem aus der losen Clique gehabt, zu der sie eigentlich nicht gehörte, in der sie aber akzeptiert wurde, weil sie Cilla Norén kennengelernt hatte. Sie traf Cilla am Ende ihrer Teenagerzeit, als sie - auf Palmgrens beharrliches Drängen - versucht hatte, ihre fehlenden Schulabschlüsse in der Abendschule nachzuholen. Cilla hatte pflaumenfarbenes Haar mit schwarzen Strähnchen, trug schwarze Lederhosen, einen Ring in der Nase und genauso viele Nieten im Gürtel wie Lisbeth. In der ersten Stunde hatten sie sich misstrauisch beäugt.

Aus irgendeinem Grund, der Lisbeth nicht ganz klar wurde, hatten sie sich angefreundet. Lisbeth war nicht gerade der unkomplizierteste Mensch, mit dem man sich anfreunden konnte - in jenen Jahren erst recht nicht -, aber Cilla hatte ihr mürrisches Schweigen ignoriert und sie mit in die Kneipe geschleift. Durch sie war Lisbeth Mitglied der Evil Fingers geworden, eigentlich eine aus vier Enskeder Teenagermädchen bestehende Vorstadt-Band, die Hardrock liebten, zehn Jahre später jedoch eine größere Clique bildeten, die sich am Dienstagabend in der Mühle traf, um über Typen, Feminismus, Pentagramme, Musik und Politik zu quatschen und dabei große Mengen Bier zu trinken. Sie trugen ihren Namen auch nicht zu Unrecht.

Lisbeth lief am Rande der Gang mit und trug selten etwas zum Gespräch bei, aber sie wurde so akzeptiert, wie sie war, konnte kommen und gehen, wie es ihr passte, oder auch den ganzen Abend schweigend vor ihrem Bier sitzen. Sie wurde auch zu Geburtstags- und Weihnachtspartys nach Hause eingeladen, obwohl sie fast nie kam.

In den fünf Jahren, die sie mit den Evil Fingers zusammen war, hatten sich die Mädchen verändert. Die Haarfarben waren normaler geworden, und ihre Klamotten stammten immer öfter von H & M statt aus irgendwelchen Secondhandläden. Sie studierten oder arbeiteten, und eines der Mädchen war Mutter geworden. Lisbeth fühlte sich, als sei sie die Einzige, die sich nicht im Geringsten verändert hatte, was freilich auch heißen konnte, dass sie auf der Stelle trat.

Sie hatten aber immer noch Spaß, wenn sie sich trafen. Wenn sie je ein Gemeinschaftsgefühl erlebte, dann war es in Gesellschaft der Evil Fingers, und als Verlängerung quasi mit den Typen aus dem Bekanntenkreis der Mädchen.

Die Evil Fingers würden zuhören. Sie würden ihr auch helfen. Aber sie wussten nicht, dass Lisbeth Salander per Gerichtsbeschluss für geschäftsunfähig erklärt worden war. Sie wollte nicht, dass sie sie noch schiefer anschauten, als sie es sowieso schon taten. Auch das war keine Alternative.

Ansonsten hatte sie keinen einzigen ehemaligen Mitschüler in ihrem Adressbuch. Sie hatte nicht das geringste Kontaktnetz. An wen sollte sie sich also wenden, um von ihrem Problem mit Rechtsanwalt Bjurman zu erzählen?

Einer war da vielleicht. Sie überlegte lange und gründlich, ob sie sich Dragan Armanskij anvertrauen, bei ihm klopfen und ihre missliche Lage erklären sollte. Er hatte gesagt, sie solle nicht zögern, sich an ihn zu wenden, wenn sie einmal Hilfe brauche. Sie war überzeugt, dass er es ernst gemeint hatte.

Auch Armanskij hatte sie einmal begrabscht, aber es war ein freundliches Grabschen ohne böse Hintergedanken gewesen und keine Machtdemonstration. Dennoch widerstrebte es ihr, ihn um Hilfe zu bitten. Er war ihr Chef, und sie würde ihm dadurch etwas schuldig sein. Sie fragte sich, wie ihr Leben aussehen würde, wenn Armanskij ihr Betreuer wäre und nicht Bjurman. Sie lächelte plötzlich. Der Gedanke war nicht unangenehm, aber Armanskij würde seinen Auftrag wahrscheinlich so ernst nehmen, dass er sie mit seiner Fürsorge fast ersticken würde. Das war … hmm, vielleicht eine Alternative.

Obwohl sie sehr gut wusste, wofür es Frauenhäuser gab, fiel es ihr gar nicht ein, sich an so eine Einrichtung zu wenden. Frauenhäuser waren in ihren Augen etwas für Opfer, und als solches hatte sie sich noch nie gesehen. Ihre einzige verbliebene Alternative bestand also darin, das zu tun, was sie schon immer getan hatte - die Sache selbst in die Hand zu nehmen und ihre Probleme eigenhändig zu lösen. Das war definitiv eine Alternative.

Und das bedeutete nichts Gutes für Rechtsanwalt Bjurman.

13. Kapitel

Donnerstag, 20. Februar - Freitag, 7. März

Im Februar war Lisbeth Salander zwei Wochen lang ihre eigene Auftraggeberin und erhob Nils Erik Bjurman, geboren 1950, zum Spezialprojekt Nummer eins. Sie arbeitete ungefähr sechzehn Stunden am Tag und recherchierte genauer als je zuvor. Sie nutzte alle Archive und öffentlichen Dokumente, zu denen sie Zugang hatte. Sie kundschaftete seinen nächsten Familien- und Freundeskreis aus.

Das Resultat war niederschmetternd.

Er war Jurist, Mitglied in der Anwaltskammer und Autor einer beeindruckend eloquenten, aber ausnehmend langweiligen Abhandlung über Handelsrecht. Sein Ruf war untadelig. Er war nie abgemahnt worden. Einmal war er der Anwaltskammer gemeldet worden, weil er vor knapp zehn Jahren verdächtigt wurde, in einem illegalen Immobiliengeschäft vermittelt zu haben, konnte seine Unschuld aber beweisen. Das Verfahren war eingestellt worden. Seine Finanzen waren in Ordnung; Rechtsanwalt Bjurman hatte ein Vermögen von ungefähr zehn Millionen Kronen. Er bezahlte mehr Steuern, als er musste, war Mitglied bei Greenpeace und Amnesty und unterstützte den Herz- und Lungen-Fonds mit Spenden. Er tauchte selten in den Massenmedien auf, war jedoch mehrmals bei öffentlichen Aufrufen zur Befreiung politischer Gefangener in der Dritten Welt in Erscheinung getreten. Er wohnte in einer Fünfzimmerwohnung in der Nähe des Oden-Platzes und war Schriftführer der Eigentümerversammlung. Er war geschieden und kinderlos.

Lisbeth Salander konzentrierte sich auf seine Exfrau, die Elena hieß und aus Polen stammte, aber ihr ganzes Leben in Schweden gewohnt hatte. Sie arbeitete im Bereich der Reha-Pflege und war mit einem Kollegen von Bjurman anscheinend glücklich wieder verheiratet. Da war wohl nichts zu holen. Die Ehe hatte vierzehn Jahre gehalten, und die Scheidung war reibungslos über die Bühne gegangen.

Rechtsanwalt Bjurman war regelmäßig als Bewährungshelfer für Jugendliche tätig, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Er war Teilbetreuer für vier Jugendliche gewesen, bevor er umfassender Betreuer für Lisbeth Salander wurde. In all diesen Fällen war es um Minderjährige gegangen, deren Betreuung per Gerichtsbeschluss beendet wurde, sobald seine Schützlinge die Volljährigkeit erreicht hatten. Einer von ihnen hatte Bjurman als Rechtsanwalt behalten, auch dort schien es also keine Differenzen gegeben zu haben. Sollte Bjurman seine Schützlinge systematisch ausnutzen, so war davon zumindest nichts an die Oberfläche gedrungen. Wie tief Lisbeth auch grub, sie fand keine Anzeichen, dass hier irgendetwas faul war. Alle vier hatten ein geordnetes Leben mit Freunden und festen Partnern, inklusive Anstellung, Wohnung und Kundenkarte beim Supermarkt.

Sie hatte jeden der vier angerufen und sich als Sozialarbeiterin vorgestellt, die an einer Untersuchung über Kinder arbeite, die früher einmal einer Teilbetreuung unterlagen. Sie wolle wissen, wie sie im Vergleich zu anderen Kindern mit ihrem Leben zurechtkämen. Selbstverständlich würden alle Aussagen anonym bleiben. Sie hatte einen Fragebogen mit zehn Fragen zusammengestellt, die sie ihnen am Telefon stellte. Mehrere dieser Fragen waren so formuliert, dass die Befragten erklären mussten, wie die Betreuung ihrer Meinung nach funktioniert habe. Sie war sich sicher, hätten sie etwas Negatives über Bjurman zu sagen gehabt, hätte zumindest einer der vier etwas erwähnt. Aber niemand konnte Nachteiliges über ihn berichten.

Als Lisbeth Salander ihre Untersuchung abgeschlossen hatte, sammelte sie alle Unterlagen in einen Karton und stellte ihn neben die zwanzig anderen Kartons auf den Flur. Rein äußerlich war Bjurman untadelig. Es gab einfach nichts in seiner Vergangenheit, womit Lisbeth ihn hätte aushebeln können. Sie wusste zweifelsfrei, dass er ein Wurm und ein Ekel war - aber sie konnte nichts tun.

Es wurde Zeit, sich andere Alternativen zu überlegen. Als alle Analysen fertig waren, wurde eine letzte Alternative zunehmend attraktiver. Die Einfachste wäre, wenn Bjurman einfach aus ihrem Leben verschwinden würde. Ein plötzlicher Herzinfarkt. End of problem. Der Haken war nur, dass Menschen keinen Herzinfarkt auf Bestellung bekommen, nicht einmal eklige fünfundfünfzigjährige Männer.

Aber vielleicht konnte man da ein wenig nachhelfen.

Mikael Blomkvist behandelte seine Affäre mit Cecilia Vanger mit allergrößter Diskretion. Sie hatte drei Regeln aufgestellt: Niemand durfte bemerken, dass sie sich trafen. Mikael durfte sie nur besuchen, wenn sie ihn anrief und in Stimmung war. Und er durfte nicht bei ihr übernachten.

Ihre Leidenschaft überrumpelte und verblüffte Mikael. Wenn er sie in Susannes Brücken-Café traf, war sie freundlich, aber kühl und distanziert. Doch sobald sie in ihrem Schlafzimmer waren, kannte ihre Leidenschaft keine Grenzen.

Mikael wollte eigentlich nicht in ihrem Privatleben herumschnüffeln, aber er war ja buchstäblich dafür angestellt worden, im Privatleben aller Familienmitglieder herumzuschnüffeln. Er war unsicher und neugierig zugleich. Einmal fragte er Henrik, mit wem sie verheiratet gewesen war. Er stellte diese Frage im Zusammenhang mit Recherchen zu Alexanders und Birgers Hintergrund und zu anderen Mitgliedern der Familie Vanger, die auf der Hedeby-Insel gewesen waren, als Harriet verschwand.

»Cecilia? Ich glaube nicht, dass sie etwas mit Harriets Verschwinden zu tun hat.«

»Erzählen Sie mir etwas über ihren Hintergrund.«

»Sie zog nach ihrem Studium hierher zurück und begann als Lehrerin zu arbeiten. Sie lernte einen Mann namens Jerry Karlsson kennen, der unglücklicherweise in unserem Konzern arbeitete. Sie heirateten. Ich dachte, die Ehe sei glücklich - zumindest anfangs. Aber nach ein paar Jahren erkannte ich langsam, dass die Dinge nicht zum Besten standen. Er misshandelte sie. Die übliche Geschichte - er verprügelte sie, und sie verteidigte ihn loyal. Schließlich hat er sie einmal zu viel geschlagen. Sie wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Ich sprach mit ihr und bot ihr meine Hilfe an. Sie zog hierher auf die Insel und hat sich seitdem geweigert, ihren Mann noch einmal zu sehen. Ich habe dafür gesorgt, dass er gefeuert wurde.«

»Aber sie ist immer noch mit ihm verheiratet.«

»Das ist eine Frage der Definition, würde ich sagen. Ich weiß wirklich nicht, warum sie nicht die Scheidung eingereicht hat. Aber sie hat nie wieder heiraten wollen, also ist das einfach nicht aktuell geworden.«

»Dieser Jerry Karlsson, hatte er etwas …«

»… mit Harriet zu tun? Nein, er wohnte 1966 nicht in Hedestad und hatte noch nicht angefangen, für den Konzern zu arbeiten.«

»Okay.«

»Ich mag Cecilia. Sie kann schwierig sein, aber sie ist zweifellos einer der guten Menschen in meiner Familie.« Lisbeth Salander verbrachte eine Woche damit, Nils Bjurmans Hinscheiden mit der Sachlichkeit eines Bürokraten zu planen. Sie erwog - und verwarf - verschiedene Methoden, bis sie ein paar realistische Szenarien zur Auswahl hatte. Keine Affekthandlungen. Zuerst hatte sie daran gedacht, einen Unfall zu arrangieren, dann jedoch erkannt, dass es eigentlich keine Rolle spielte, wenn alles auf einen Mord hindeutete.

Nur eine einzige Bedingung musste erfüllt sein: Rechtsanwalt Bjurman musste so sterben, dass sie niemals damit in Verbindung gebracht werden konnte. Dass sie zum Gegenstand polizeilicher Ermittlungen werden würde, hielt sie für unvermeidlich. Ihr Name würde früher oder später auftauchen, sobald man Bjurmans Aktivitäten unter die Lupe nahm. Aber sie war nur eine aus einem ganzen Universum von derzeitigen und früheren Mandanten. Sie hatte ihn nur wenige Male getroffen, und wenn Bjurman nicht selbst in seinem Kalender verzeichnet hatte, dass er sie zu einem Blow-job gezwungen hatte - was sie als unwahrscheinlich einstufte -, dann gab es auch kein Motiv für sie, ihn umzubringen. Es würde nicht den geringsten Hinweis geben, dass sein Tod mit einem seiner Mandanten zusammenhinge; es existierten schließlich Exfreundinnen, Verwandte, Zufallsbekanntschaften, Kollegen und andere. Es gab sogar den sogenannten Fall der random violence, in dem Täter und Opfer sich nicht kannten.

Sie würde in jedem Fall das hilflose, unmündige Mädchen spielen, das schwarz auf weiß nachweisen konnte, dass es geistig zurückgeblieben war. Es wäre also von Vorteil, wenn Bjurman unter so komplizierten Umständen ums Leben käme, dass ein geistig zurückgebliebenes Mädchen als Täterin nicht sonderlich wahrscheinlich schien.

Den Gedanken an eine Schusswaffe verwarf sie sofort. Die Anschaffung selbst war dabei nicht das Problem, aber die Waffe konnte ihr bei den polizeilichen Ermittlungen zum Verhängnis werden.

Sie zog ein Messer in Erwägung, das man im Eisenwarenladen um die Ecke kaufen konnte, aber auch diese Idee verwarf sie. Selbst wenn sie ohne Vorwarnung auftauchte und ihm das Messer in den Rücken rammte, gab es keine Garantie dafür, dass er unmittelbar und lautlos starb oder dass er überhaupt starb. Außerdem konnte es dabei möglicherweise zu einem Gerangel kommen, das Aufmerksamkeit erregen würde, und Blut an ihrer Kleidung wäre ein erdrückender Beweis.

Sie dachte an eine Bombe, aber das war zu kompliziert. Die Herstellung der Bombe wäre sicher machbar - im Internet wimmelte es von Anleitungen, wie man sich die tödlichsten Dinger zusammenbasteln konnte. Es war jedoch schwierig, die Bombe so zu platzieren, dass kein Unschuldiger verletzt wurde. Außerdem gab es abermals keine Garantie dafür, dass Bjurman wirklich starb.

Das Telefon klingelte.

»Hallo, Lisbeth, hier ist Dragan. Ich habe einen Job für Sie.«

»Ich habe keine Zeit.«

»Es ist wichtig.«

»Ich bin beschäftigt.«

Sie legte auf.

Zu guter Letzt verfiel sie auf eine unerwartete Alternative - Gift. Die Wahl überraschte sie selbst. Bei näherer Betrachtung war es einfach perfekt.

Lisbeth Salander verbrachte ein paar Tage damit, das Internet nach einem passenden Gift zu durchkämmen. Es gab jede Menge Alternativen. Zum Beispiel eines der absolut tödlichsten Gifte, das der Wissenschaft bekannt war - Cyanwasserstoff, besser bekannt als Blausäure.

Cyanwasserstoff fand als Komponente in gewissen chemischen Industrien Verwendung, unter anderem bei der Herstellung von Farbstoffen. Ein paar Milligramm reichten aus, um einen Menschen zu töten, ein Liter in einem Wasserreservoir, um eine mittelgroße Stadt zu verseuchen.

Aus verständlichen Gründen unterlag ein so tödlicher Stoff rigorosen Sicherheitskontrollen. Doch obwohl ein politischer Fanatiker nicht einfach in die nächste Apotheke gehen und zehn Milliliter Cyanwasserstoff kaufen konnte, war der Stoff in jeder gewöhnlichen Küche in nahezu unbegrenzter Menge herstellbar. Alles, was man dazu brauchte, war eine bescheidene Laborausrüstung, die man sich mit einem Chemiebaukasten für Kinder für ein paar hundert Kronen beschaffen konnte, sowie ein paar Zutaten, die sich aus ganz alltäglichen Haushaltswaren gewinnen ließen. Die Anleitung für die Herstellung war im Internet zu finden.

Ein anderer Stoff war Nikotin. Davon konnte sie aus einer Stange Zigaretten genügend Milligramm extrahieren und zu einem dünnen Sirup einkochen. Eine noch bessere Alternative, allerdings ein bisschen umständlicher in der Herstellung, war Nikotinsulfat, das von der Haut absorbiert wurde - da würde es schon reichen, sich Gummihandschuhe anzuziehen, eine Wasserpistole zu füllen und auf Bjurmans Gesicht zu schießen. Innerhalb von zwanzig Sekunden würde er das Bewusstsein verlieren und nach ein paar Minuten mausetot sein.

Lisbeth Salander hatte bis dahin nicht einmal geahnt, dass so viele gewöhnliche Haushaltswaren aus dem Drogeriemarkt um die Ecke in tödliche Waffen verwandelt werden konnten. Nachdem sie sich ein paar Tage lang in das Thema vertieft hatte, war sie sicher, dass es nicht das geringste technische Problem bereiten würde, kurzen Prozess mit ihrem Betreuer zu machen.

Doch zwei Tatsachen blieben bestehen: Bjurmans Tod würde ihr nicht die Kontrolle über ihr Leben wiedergeben, und es gab keine Garantie dafür, dass sein Nachfolger nicht zehnmal so schlimm sein würde. Konsequenzanalyse.

Was sie brauchte, war eine Möglichkeit, ihren Betreuer und damit ihre eigene Situation zu kontrollieren. Sie saß einen ganzen Abend unbeweglich auf dem zerschlissenen Sofa im Wohnzimmer und ging die Situation noch einmal durch. Als der Abend vergangen war, hatte sie ihre Giftmordpläne fallen lassen und einen neuen Gedanken gefasst.

Dieser Plan war zwar nicht sehr verlockend und erforderte, dass sie Bjurman abermals an sich heranließ, doch am Ende würde sie Erfolg haben.

Glaubte sie.

Ende Februar geriet Mikael in einen Trott, der den Aufenthalt in Hedeby in Routine verwandelte. Er stand jeden Morgen um neun Uhr auf, frühstückte und arbeitete bis zwölf. In dieser Zeit las er sich in neues Material ein. Danach ging er, unabhängig vom Wetter, eine Stunde spazieren. Am Nachmittag machte er weiter, zu Hause oder in Susannes Café, indem er entweder sein Pensum vom Vormittag bearbeitete oder Teile von Henriks Autobiografie schrieb. Zwischen drei und sechs Uhr hatte er immer frei. Dann kaufte er ein, wusch ab oder fuhr nach Hedestad und erledigte Besorgungen. Gegen sieben ging er zu Henrik Vanger hinüber und besprach mit ihm die offenen Fragen, die während des Tages aufgetaucht waren. Gegen zehn war er wieder zu Hause und las bis ein oder zwei Uhr nachts. Systematisch ackerte er Henriks Dokumentensammlung durch.

Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die Arbeit an Henriks Autobiografie wie am Schnürchen lief. Er hatte bereits einen Abriss der Familienchronik von fast 120 Seiten fertig - er umfasste den Zeitraum von Jean Baptiste Bernadottes Ankunft in Schweden bis hinein in die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Danach musste er langsamer vorangehen und seine Worte sorgfältiger abwägen. In der Bibliothek in Hedestad hatte er Bücher bestellt, die den schwedischen Nazismus jener Zeit behandelten, unter anderem Helene Lööws Doktorarbeit Hakenkreuz und Wasa-Garbe. Er hatte einen weiteren vierzigseitigen Entwurf über Henrik und seine Brüder geschrieben, in dem Henrik im Mittelpunkt stand und die Erzählung zusammenhielt. Bevor er wusste, wie das Unternehmen damals aussah und arbeitete, musste er noch eine ganze Reihe von Dingen recherchieren. Außerdem entdeckte er, dass die Familie Vanger tief ins Wirtschaftsimperium des Großindustriellen Ivar Kreuger verstrickt war - noch eine Nebenhandlung der Familiengeschichte, die es galt, sich in Erinnerung zu rufen. Insgesamt rechnete er damit, dass er noch dreihundert bis dreihundertfünfzig Seiten zu schreiben hatte. Sein Zeitplan war so konzipiert, dass er Henrik Vanger am 1. September einen ersten Entwurf vorlegen konnte. Dann konnte er den Herbst mit der Umarbeitung des Textes verbringen.

Bei den Untersuchungen zu Harriet Vanger kam Mikael hingegen keinen Millimeter voran. Soviel er auch las und über die Details des umfangreichen Materials nachgrübelte, er fand keine einzige Anregung, die auf die vorliegende Ermittlung ein neues Licht geworfen hätte.

Eines Samstagabends Ende Februar hatte er ein langes Gespräch mit Henrik Vanger, in dem er die Gründe für seine minimalen Fortschritte erläuterte. Der Alte hörte ihm geduldig zu, während Mikael all die Sackgassen aufzählte, in denen er gelandet war.

»Um es kurz zu machen, Henrik - ich finde nichts in den Ermittlungen, dem man nicht bereits restlos auf den Grund gegangen wäre.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe mir selbst jahrzehntelang den Kopf zerbrochen. Aber gleichzeitig bin ich ganz sicher, dass wir etwas übersehen haben. Kein Verbrechen ist absolut perfekt.«

»Wir können ja nicht mal herausfinden, ob wirklich ein Verbrechen begangen wurde.«

Vanger seufzte und zuckte resigniert mit den Schultern.

»Machen Sie weiter«, bat er. »Führen Sie Ihren Auftrag zu Ende.«

»Das ist sinnlos.«

»Vielleicht. Aber geben Sie nicht auf.«

Mikael seufzte.

»Die Telefonnummern«, sagte er schließlich.

»Ja.«

»Sie müssen etwas zu bedeuten haben.«

»Ja.«

»Sie sind mit Absicht notiert worden.«

»Ja.«

»Aber wir können sie nicht deuten.«

»Nein.«

»Oder wir missdeuten sie.«

»Genau.«

»Vielleicht sind es gar keine Telefonnummern. Vielleicht bedeuten sie etwas ganz anderes.«

»Ja, vielleicht.«

Mikael seufzte nochmals und ging nach Hause, um weiterzulesen.

Rechtsanwalt Nils Bjurman war erleichtert, als Lisbeth Salander ihn erneut anrief und sagte, sie brauche mehr Geld. Ihrem letzten offiziellen Treffen war sie mit der Entschuldigung ferngeblieben, sie müsse arbeiten. Er war beunruhigt gewesen, da er fürchtete, Lisbeth Salander wolle ihm Scherereien machen. Aber da sie nicht zum Treffen erschienen war, hatte sie auch kein Taschengeld bekommen, und früher oder später würde sie sich an ihn wenden müssen. Außerdem machte er sich Sorgen, dass sie einem Außenstehenden von seinem Verhalten erzählt haben könnte.

Ihr kurzes Gespräch, in dem sie ihm mitteilte, dass sie Geld brauchte, bestätigte ihm jedoch, dass die Situation unter Kontrolle war. Aber sie musste gebändigt werden, beschloss Nils Bjurman. Sie musste lernen, wer hier das Sagen hatte, erst dann konnten sie eine konstruktivere Beziehung aufbauen. Deswegen gab er ihr diesmal Anweisungen, ihn in seiner Wohnung am Oden-Platz zu treffen, nicht im Büro. Als er diesen Wunsch äußerte, hatte Lisbeth Salander am anderen Ende der Leitung ein Weilchen geschwiegen - verdammte, begriffsstutzige Fotze -, bevor sie schließlich einwilligte.

Nach ihrem Plan hätten sie sich in seinem Büro treffen müssen, genau wie letztes Mal. Jetzt war sie gezwungen, ihn auf unbekanntem Territorium zu treffen. Das Treffen wurde für Freitagabend angesetzt. Sie hatte den Zahlencode für die Tür bekommen und klingelte um halb neun bei ihm, eine halbe Stunde später als verabredet. Das war die Zeit, die sie im Dunkel des Treppenhauses benötigte, um ihren Plan ein letztes Mal durchzugehen, die Alternativen abzuwägen, ihre ganze Kraft zu sammeln und den nötigen Mut zu mobilisieren.

Gegen acht Uhr abends schaltete Mikael seinen Computer aus und zog sich Jacke und Schuhe an. Das Licht im Arbeitszimmer ließ er brennen. Draußen war es sternenklar, die Temperatur lag bei null Grad. Er ging rasch den Hügel hinauf, vorbei an Henrik Vangers Haus, auf dem Weg Richtung Östergården. Gleich hinter Henriks Haus bog er nach links ab und folgte einem ungeräumten Fußweg in Strandnähe, auf dem der Schnee aber schon festgetrampelt war. Draußen auf dem Wasser blinkten die Leuchttürme, und die Lichter von Hedestad leuchteten hübsch in der Dunkelheit. Er brauchte frische Luft, aber vor allem wollte er Isabella Vangers spähendem Blick entgehen. Bei Martin Vangers Haus ging er zur Straße hoch und kam kurz nach halb neun bei Cecilia an. Sie gingen sofort in ihr Schlafzimmer hinauf.

Sie trafen sich ein- oder zweimal pro Woche. Cecilia war nicht nur seine Geliebte in der Einöde geworden, sie war auch die Person, der er sich allmählich anvertraute. Wenn er mit ihr über Harriet redete, zog er wesentlich größeren Gewinn daraus als aus einem Gespräch mit Henrik.

Der Plan schien von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Rechtsanwalt Bjurman hatte einen Morgenrock an, als er seine Wohnungstür öffnete. Er war etwas gereizt wegen ihrer Verspätung und winkte sie herein. Sie trug eine schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt und die obligatorische Lederjacke. Dazu schwarze Stiefel und einen kleinen Rucksack mit einem Riemen über der Brust.

»Kannst du noch nicht mal die Uhr lesen?«, fuhr Bjurman sie scharf an. Lisbeth schaute sich schweigend um. Die Wohnung sah ungefähr so aus, wie sie erwartet hatte, nachdem sie die Planzeichnung im Archiv des Bauamts studiert hatte. Er hatte helle Möbel in Birke und Buche.

»Komm«, sagte Bjurman etwas freundlicher. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie durch einen Korridor ins Innere der Wohnung. Kein großes Drumherumgerede. Er öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer. Es gab nicht den geringsten Zweifel, welche Dienste Lisbeth Salander leisten sollte.

Sie sah sich rasch um. Junggesellenmöbel. Ein Doppelbett mit hohem Kopf- und Fußende aus rostfreiem Stahl. Eine Kommode, die auch als Nachttisch diente. Eine Nachttischlampe mit gedämpftem Licht. Ein Kleiderschrank mit Spiegelglas an der einen Längsseite. Ein Rattanstuhl und ein kleiner runder Tisch in der Ecke bei der Tür. Er nahm sie bei der Hand und führte sie zum Bett.

»Erzähl mir, wozu du das Geld diesmal brauchst. Noch mehr Computer-Zubehör?«

»Essen«, antwortete sie.

»Natürlich. Wie dumm von mir, du hast ja unser letztes Treffen verpasst.« Er legte ihr eine Hand unters Kinn und hob ihr Gesicht, sodass sich ihre Blicke trafen. »Wie geht es dir?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Hast du über das nachgedacht, was ich letztes Mal gesagt habe?«

»Was denn?«

»Lisbeth, stell dich nicht dümmer, als du bist. Ich will, dass wir zwei gute Freunde werden und einander helfen.«

Sie gab keine Antwort. Bjurman unterdrückte den frustrierten Impuls, ihr eine Ohrfeige zu verpassen, um sie wachzurütteln.

»Hat dir unser Erwachsenenspiel letztes Mal gefallen?«

»Nein.«

Er hob die Augenbrauen.

»Lisbeth, sei jetzt nicht dumm.«

»Ich brauche Geld, um Lebensmittel einzukaufen.«

»Genau darüber haben wir letztes Mal gesprochen. Wenn du nett zu mir bist, bin ich auch nett zu dir. Aber wenn du mir nur Ärger machst, dann …« Sein Griff um ihr Kinn wurde härter, und sie wand sich los.

»Ich will mein Geld. Was soll ich tun?«

»Du weißt genau, wie ich es mag.« Er packte ihre Schultern und zog sie zum Bett.

»Warten Sie«, sagte Lisbeth Salander schnell. Sie sah ihn resigniert an und nickte dann kurz. Sie nahm den Rucksack ab, zog die nietenbesetzte Lederjacke aus und blickte sich um. Sie legte die Lederjacke auf den Rattanstuhl und stellte den Rucksack auf den runden Tisch.

Sie machte ein paar zögerliche Schritte auf das Bett zu, blieb dann aber stehen, als hätte sie kalte Füße bekommen. Bjurman machte einen Schritt auf sie zu.

»Warten Sie«, sagte sie wieder, mit einer Stimme, als wollte sie ihn zur Vernunft bringen. »Ich will Ihnen nicht jedes Mal einen blasen müssen, wenn ich Geld brauche.«

Bjurmans Gesichtsausdruck veränderte sich. Aus heiterem Himmel versetzte er ihr mit der flachen Hand eine Ohrfeige. Lisbeth riss vor Überraschung die Augen auf, aber bevor sie reagieren konnte, hatte er ihre Schultern gepackt und zog, ja warf sie fast bäuchlings aufs Bett. Sie war von der plötzlichen Gewalttätigkeit überrumpelt. Als sie versuchte, sich umzudrehen, drückte er sie auf die Matratze und setzte sich rittlings auf sie.

Wie schon beim letzten Mal konnte sie körperlich nichts gegen ihn ausrichten. Um physischen Widerstand zu leisten, brauchte sie eine Waffe. Aber diesen Plan hatte sie bereits aufgegeben. Verflucht, dachte Lisbeth Salander, als er ihr T-Shirt nach oben riss und ihr über den Kopf zog. Sie begriff mit schrecklicher Klarheit, dass sie sich zu viel vorgenommen hatte.

Sie hörte, wie er die Kommodenschublade neben dem Bett öffnete und Metall klirrte. Erst verstand sie nicht, was geschah, dann sah sie, wie die Handschelle um ihr Gelenk zuschnappte. Er hob ihre Arme, zog die Kette der Handschelle durch eine Leiste am Kopfende des Bettes und fesselte auch ihre andere Hand. Er brauchte nur ein paar Sekunden, um ihr Schuhe und Jeans auszuziehen. Zum Schluss zog er ihr auch noch die Unterhose aus und behielt sie in der Hand.

»Du musst lernen, mir zu vertrauen, Lisbeth«, sagte er. »Ich werde dir dieses Erwachsenenspiel beibringen. Wenn du böse zu mir bist, wirst du bestraft. Wenn du nett zu mir bist, werden wir Freunde.«

Er setzte sich wieder rittlings auf sie.

»Du magst also keinen Analsex«, sagte er.

Panisch öffnete Lisbeth den Mund zu einem Schrei. Er packte sie bei den Haaren und stopfte ihr ihre Unterhose in den Mund. Sie spürte, wie er etwas an ihren Fußknöcheln befestigte, ihre Beine spreizte und sie am Bett festband, sodass sie ihm völlig ausgeliefert war. Sie konnte hören, wie er sich im Zimmer bewegte, konnte aber durch das T-Shirt über ihrem Gesicht nichts sehen. Er brauchte ein paar Minuten. Dann fühlte sie einen irrsinnigen Schmerz, als er mit Gewalt etwas in ihren Anus einführte.

Cecilia Vangers Hauptregel lautete weiterhin, dass er nicht bei ihr übernachten durfte. Kurz nach zwei Uhr nachts kleidete er sich an, während sie noch nackt im Bett lag und ihn anlächelte.

»Ich mag dich, Mikael. Ich mag es, wenn du bei mir bist.«

»Ich mag dich auch.«

Sie zog ihn zu sich ins Bett hinunter und zog ihm das Hemd wieder aus. Er blieb noch eine Stunde.

Als Mikael später an Harald Vangers Haus vorbeikam, meinte er, gesehen zu haben, wie sich eine der Gardinen im Obergeschoss bewegte. Aber es war zu dunkel, als dass er sich völlig sicher hätte sein können.

Lisbeth Salander zog sich gegen vier Uhr morgens an. Sie nahm ihre Lederjacke und den Rucksack und wankte zur Tür, wo er frisch geduscht und sauber gekleidet auf sie wartete. Er gab ihr einen Scheck über 2500 Kronen.

»Ich fahre dich nach Hause«, sagte er und öffnete die Tür.

Sie trat über die Schwelle aus der Wohnung und drehte sich zu ihm um. Ihr Körper sah zerbrechlich aus, und ihr Gesicht war vom Weinen verschwollen, aber er prallte fast zurück, als sich ihre Augen trafen. Noch nie in seinem Leben war ihm derart nackter, glühender Hass begegnet. Lisbeth Salander sah genau so geisteskrank aus, wie ihre Akte es beschrieb.

»Nein«, sagte sie so leise, dass er die Worte kaum hörte. »Ich schaffe es schon allein nach Hause.«

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Sicher?«

Sie nickte. Der Griff um ihre Schulter wurde fester.

»Denk daran, was wir vereinbart haben. Du kommst am nächsten Samstag hierher.«

Sie nickte abermals. Gedemütigt. Er ließ sie los.

14. Kapitel

Samstag, 8. März - Montag, 17. März

Lisbeth Salander verbrachte die Woche im Bett, mit Unterleibsschmerzen, Blutungen aus dem Enddarm und anderen, weniger auffälligen Verletzungen, die länger brauchen würden, bis sie verheilt waren. Was sie erlebt hatte, war etwas völlig anderes gewesen als die erste Vergewaltigung in seinem Büro. Hier ging es nicht mehr um Zwang und Erniedrigung, sondern um systematische Brutalität.

Viel zu spät ging ihr auf, dass sie Bjurman völlig falsch eingeschätzt hatte.

Sie hatte ihn als Machtmenschen gesehen, nicht als waschechten Sadisten. Er hatte sie die ganze Nacht gefesselt liegen lassen. Sie hatte mehrmals geglaubt, er wolle sie töten, und einmal hatte er ihr ein Kissen so lange aufs Gesicht gedrückt, bis sie fast das Bewusstsein verloren hatte.

Doch sie weinte nicht.

Abgesehen von den Tränen, die rein vom körperlichen Schmerz der Vergewaltigung herrührten, weinte sie nicht mehr, nachdem sie Bjurmans Wohnung verlassen hatte. Sie hinkte bis zum Taxistand am Oden-Platz, fuhr nach Hause und schleppte sich mühsam die Treppen hoch bis zu ihrer Wohnung. Sie duschte und wusch sich das Blut vom Unterleib. Danach trank sie einen halben Liter Wasser, nahm zwei Rohypnol und stolperte in ihr Bett, wo sie sich die Decke über den Kopf zog. Am Sonntag erwachte sie um die Mittagszeit, mit leerem Kopf und anhaltenden Schmerzen in allen Muskeln, im Unterleib und im Kopf. Sie stand auf, trank zwei Gläser Sauermilch und aß einen Apfel. Dann nahm sie noch mal zwei Schlaftabletten und legte sich wieder hin.

Erst am Dienstag konnte sie wieder aufstehen. Sie kaufte sich eine Großpackung »Billys Pan Pizza«, schob zwei davon in die Mikrowelle und machte sich eine Thermoskanne Kaffee. Danach surfte sie die ganze Nacht im Internet und las Artikel und Aufsätze über die Psychopathologie des Sadismus.

Sie blieb bei dem Artikel einer Frauengruppe aus den USA hängen, in dem behauptet wurde, dass der Sadist seine Opfer mit fast intuitiver Präzision aussuchte. Das ideale Opfer war eine Frau, die ihm aus freien Stücken entgegenkam, weil sie glaubte, keine andere Wahl zu haben. Der Sadist spezialisierte sich auf unselbstständige Menschen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen.

Rechtsanwalt Bjurman hatte sie zum Opfer auserkoren.

Das gab ihr zu denken.

Das verriet etwas darüber, wie die Umwelt sie wahrnahm.

Am Freitag, eine Woche nach der zweiten Vergewaltigung, ging Lisbeth Salander von ihrer Wohnung zu einem Tattoo-Laden bei Hornstull. Sie hatte angerufen und einen Termin ausgemacht; es waren keine anderen Kunden im Laden. Der Inhaber nickte ihr zu, sie kannten sich.

Sie suchte sich ein kleines Tattoo aus, eine dünne Schlinge, und zeigte ihm, wo an ihrem Fußknöchel sie es hinhaben wollte.

»Da ist die Haut dünn. Das tut fürchterlich weh an dieser Stelle«, sagte der Tätowierer.

»Das geht in Ordnung«, sagte Lisbeth Salander, zog ihre Hose aus und legte das Bein hoch.

»Okay, eine Schlinge. Du hast schon eine ganze Menge Tattoos. Bist du sicher, dass du noch eins willst?«

»Das hier ist zur Erinnerung«, antwortete sie.

Mikael Blomkvist verließ Susannes Café, als sie um zwei Uhr zumachte. Den ganzen Tag hatte er mit der Reinschrift seiner Notizen am iBook verbracht. Er ging in den Supermarkt und kaufte Lebensmittel und Zigaretten, bevor er nach Hause ging. Er hatte Bratwurst mit Kartoffeln und Roter Bete für sich entdeckt - ein Gericht, das er nie sonderlich geliebt hatte, das aber aus unerfindlichen Gründen perfekt zu einem Häuschen auf dem Land passte.

Gegen sieben Uhr abends stand er am Küchenfenster und überlegte. Cecilia hatte sich nicht gemeldet. Er hatte sie ganz kurz am Nachmittag getroffen, als sie bei Susanne ein Brot kaufte, aber sie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Es sah nicht so aus, als würde sie an diesem Samstagabend noch anrufen. Er warf einen verstohlenen Blick auf seinen kleinen Fernseher, den er fast nie benutzte. Stattdessen setzte er sich aufs Küchensofa und schlug einen Krimi von Sue Grafton auf.

Lisbeth Salander kam am Samstagabend wie verabredet wieder zu Nils Bjurmans Wohnung am Oden-Platz. Er öffnete ihr die Tür mit einem höflichen, einladenden Lächeln.

»Na, wie geht es dir heute?«, fragte er.

Sie antwortete nicht. Er legte ihr den Arm um die Schultern.

»Vielleicht habe ich dich beim letzten Mal etwas hart rangenommen«, sagte er. »Du sahst ziemlich mitgenommen aus.«

Sie bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln, und er verspürte auf einmal einen Stich von Unsicherheit.

Dieses Weib ist verrückt. Das darf ich nicht vergessen. Er fragte sich, ob sie ihm zu Willen sein würde.

»Sollen wir ins Schlafzimmer gehen?«, fragte Lisbeth Salander.

Andererseits macht sie vielleicht auch mit … Er führte sie, einen Arm um ihre Schultern gelegt, wie beim letzten Mal. Heute werde ich ganz behutsam mit ihr sein. Vertrauen aufbauen. Auf der Kommode hatte er bereits die Handschellen bereitgelegt. Erst als sie beim Bett waren, ging Bjurman auf, dass irgendetwas nicht stimmte.

Sie führte ihn zum Bett, nicht umgekehrt. Er blieb stehen und blickte sie verblüfft an, als sie etwas aus ihrer Jackentasche zog, was er zunächst für ein Handy hielt. Dann sah er ihre Augen.

»Sag schön Gute Nacht«, forderte sie ihn auf.

Sie drückte die Elektroschockpistole in seine linke Achselhöhle und feuerte 75 000 Volt ab. Als seine Beine langsam unter ihm nachgaben, stemmte sie sich mit der Schulter gegen ihn und wandte all ihre Kraft auf, um ihn zum Bett zu bugsieren.

Cecilia Vanger fühlte sich leicht beschwipst. Sie hatte beschlossen, Mikael Blomkvist nicht anzurufen. Ihr ganzes Verhältnis hatte sich zu einer unsinnigen Schlafzimmer-Farce ausgewachsen, in der Mikael alle möglichen Umwege benutzte, um unbemerkt zu ihr zu gelangen. Und sie verhielt sich wie ein verrückter, verliebter Teenie, der seine Lust nicht im Griff hatte. Ihr Benehmen war in den letzten Wochen ziemlich eigenartig gewesen.

Das Problem ist, dass ich ihn viel zu gern mag, dachte sie. Er wird mich verletzen. Sie blieb eine Weile sitzen und wünschte sich, Mikael Blomkvist wäre nie nach Hedeby gekommen.

Stattdessen hatte sie eine Flasche Wein aufgemacht und einsam zwei Gläser getrunken. Sie schaltete die tägliche Nachrichtensendung Rapport an und versuchte, der Weltlage zu folgen, doch in Anbetracht der unsinnigen Begründungen, warum Präsident Bush den Irak in Schutt und Asche bomben musste, verging ihr sofort die Lust. Sie setzte sich aufs Wohnzimmersofa und griff zu Gellert Tamas Buch Der Lasermann. Sie konnte nur ein paar Seiten lesen, bevor sie das Buch wieder aus der Hand legen musste. Bei diesem Thema musste sie sofort an ihren Vater denken. Sie fragte sich, welchen Fantasien er in seiner Einsamkeit wohl nachhing.

Bei ihrer letzten Begegnung, 1984, hatte sie ihn und ihren Bruder Birger auf eine Hasenjagd nördlich von Hedestad begleitet. Birger wollte einen neuen Jagdhund ausprobieren - einen Hamilton-Laufhund, den er erst seit Kurzem hatte. Harald Vanger war dreiundsiebzig, und sie tat ihr Bestes, um seine Verrücktheit zu akzeptieren, die ihre Kindheit zum Alptraum gemacht und auch ihr Erwachsenenleben noch geprägt hatte.

Cecilia war noch nie in ihrem Leben so zerbrechlich wie damals gewesen. Ihre Ehe war drei Monate zuvor in die Brüche gegangen. Misshandlung der Ehefrau - der Ausdruck war so banal. Für sie war es eine relativ milde Form von Misshandlung gewesen, die jedoch ständig geschah: Er hatte sie geohrfeigt, grob herumgestoßen, launisch Drohungen ausgesprochen und sie auf dem Küchenboden niedergerungen. Seine Ausbrüche waren immer völlig unerklärlich, und die Misshandlungen fielen selten so heftig aus, dass sie körperlich verletzt wurde. Er vermied es, sie mit der geballten Faust zu schlagen. Sie hatte sich angepasst.

Bis zu dem Tag, an dem sie plötzlich zurückschlug und er völlig die Kontrolle verlor. Es endete damit, dass er in blinder Rage eine Schere nach ihr warf, die in ihrem Schulterblatt stecken blieb.

Es hatte ihm sofort leid getan, er wurde ganz panisch und fuhr sie ins Krankenhaus, wo er eine Geschichte über einen bizarren Unfall zusammenfantasierte, die das Personal in der Notaufnahme im selben Moment durchschaute. Sie schämte sich dafür. Sie wurde mit zwölf Stichen genäht und musste zwei Tage im Krankenhaus bleiben. Danach hatte Henrik Vanger sie abgeholt und mit zu sich nach Hause genommen. Seitdem hatte sie nicht mehr mit ihrem Mann gesprochen.

Es war ein sonniger Herbsttag, drei Monate nach dem Ende ihrer Ehe, und Harald Vanger war gut gelaunt, fast schon freundlich gewesen. Doch plötzlich, mitten im Wald, hatte er Cecilia auf die übelste Weise beschimpft, grobe Kommentare zu ihrem Lebenswandel und ihren Sexualgewohnheiten abgegeben und behauptet, eine Hure wie sie könne selbstverständlich keinen Mann halten.

Ihr Bruder hatte nicht bemerkt, dass jedes Wort ihres Vaters sie wie ein Peitschenschlag getroffen hatte. Vielmehr lachte Birger plötzlich, legte den Arm um seinen Vater und entschärfte die Situation auf seine Art, indem er verkündete, er wisse sehr wohl, wie die Weibsbilder so sind. Er zwinkerte Cecilia unbekümmert zu und schlug seinem Vater vor, auf einem kleinen Hügel auf Anstand zu gehen.

Eine Sekunde, einen gefrorenen Augenblick lang, hatte Cecilia ihren Vater und ihren Bruder betrachtet und war sich auf einmal bewusst gewesen, dass sie eine geladene Schrotflinte in der Hand hielt. Sie blinzelte. In diesem Moment schien es die einzig mögliche Alternative zu sein, das Gewehr zu heben und beide Läufe abzufeuern. Sie wollte sie beide töten. Stattdessen ließ sie das Gewehr auf den Boden vor ihren Füßen fallen, drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück zu der Stelle, wo sie das Auto geparkt hatten. Sie fuhr alleine nach Hause und ließ die Männer ohne Transportmittel im Wald zurück. Seit diesem Vorfall hatte sie nur bei wenigen Gelegenheiten mit ihrem Vater geredet, wenn die äußeren Umstände es unbedingt erforderten. Sie weigerte sich seitdem, ihn in ihr Haus zu lassen, und hatte ihn nie in seinem Haus besucht.

Du hast mein Leben zerstört, dachte Cecilia Vanger. Du hast mein Leben bereits zerstört, als ich ein Kind war.

Um halb neun Uhr abends griff Cecilia zum Hörer, rief Mikael an und bat ihn, zu ihr herüberzukommen.

Rechtsanwalt Nils Bjurman litt Schmerzen. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Sein Körper schien gelähmt. Er war sich nicht sicher, ob er das Bewusstsein verloren hatte, aber er war desorientiert und konnte sich nicht richtig erinnern, was geschehen war. Als er langsam wieder zu sich kam, lag er nackt auf dem Rücken auf seinem Bett, die Hände mit Handschellen gefesselt und die Beine qualvoll weit gespreizt. Wo die Elektroden mit seinem Körper in Kontakt gekommen waren, hatte er schmerzende Brandwunden.

Lisbeth Salander hatte den Rattanstuhl ans Bett gezogen und die Stiefel auf dem Bettrand abgestützt, während sie eine Zigarette rauchte. Als Bjurman zu sprechen versuchte, merkte er, dass sein Mund mit einem breiten Streifen Isolierband zugeklebt war. Er drehte den Kopf. Sie hatte seine Kommodenschubladen aufgemacht und durchwühlt.

»Ich habe deine Spielsachen gefunden«, sagte Salander. Sie hielt eine Reitpeitsche hoch und fummelte in dem Sammelsurium von Dildos, Knebeln und Gummimasken, die auf dem Boden lagen. »Wozu braucht man denn den hier?« Sie hielt einen überdimensionierten Anal Plug hoch. »Nein, gib dir keine Mühe, ich verstehe sowieso nicht, was du sagst. Hast du den hier letzte Woche bei mir benutzt? Es reicht, wenn du nickst.« Sie beugte sich erwartungsvoll zu ihm vor.

Bjurman spürte plötzlich, wie ihm die kalte Angst in der Brust tobte, und verlor vollkommen die Fassung. Er riss an seinen Handschellen. Sie hatte die Kontrolle übernommen. Unmöglich. Er konnte nichts tun, als Lisbeth Salander sich weiter vorbeugte und den Anal Plug zwischen seinen Hinterbacken platzierte. »So, so, du bist also ein Sadist«, stellte sie fest. »Stehst drauf, den Leuten was reinzuschieben, was?« Sie sah ihn an. Ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske. »Ohne Gleitmittel, stimmt’s?«

Durch sein Klebeband schrie Bjurman wie am Spieß, als Lisbeth Salander seine Backen brutal auseinanderriss und den Stöpsel am vorgesehenen Platz versenkte.

»Hör auf zu flennen«, sagte Lisbeth und imitierte seine Stimme. »Wenn du Zicken machst, muss ich dich bestrafen.«

Sie stand auf und ging ums Bett herum. Er folgte ihr hilflos mit den Augen … was zum Teufel? Lisbeth Salander hatte seinen 32-Zoll-Fernseher aus dem Wohnzimmer hereingerollt. Auf den Boden hatte sie seinen DVD-Player gestellt. Sie sah ihn an, die Peitsche immer noch in der Hand.

»Habe ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit?«, fragte sie. »Versuch nicht zu reden - es reicht, wenn du nickst. Hörst du, was ich sage?« Er nickte.

»Gut.« Sie bückte sich und hob ihren Rucksack auf. »Erkennst du den hier wieder?« Er nickte. »Das ist der Rucksack, den ich dabeihatte, als ich dich letzte Woche besucht habe. Praktische Geschichte. Ich hab ihn mir von Milton Security ausgeliehen.« Sie öffnete einen Reißverschluss am unteren Ende. »Das hier ist eine Digitalvideokamera. Guckst du dir Insider auf TV3 an? Solche Rucksäcke wie diesen hier benutzen die cleveren Reporter, wenn sie etwas mit versteckter Kamera aufnehmen wollen.« Sie zog den Reißverschluss wieder zu.

»Das Objektiv, fragst du? Das ist ja gerade das Raffinierte. Weitwinkel mit Glasfaseroptik. Die Linse sieht aus wie ein Knopf und ist unter der Schnalle des Trageriemens versteckt. Du erinnerst dich vielleicht, dass ich den Rucksack hier auf den Tisch gestellt hatte, bevor du angefangen hast, mich zu begrapschen. Ich habe drauf geachtet, dass das Objektiv aufs Bett gerichtet war.«

Sie hielt eine CD hoch und schob sie in den DVD-Player. Dann rückte sie den Rattanstuhl so zurecht, dass sie den Bildschirm sehen konnte. Sie zündete sich noch eine Zigarette an und drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. Bjurman sah sich selbst, wie er Lisbeth Salander die Tür aufmachte.

Kannst du noch nicht mal die Uhr lesen?, begrüßte er sie bissig.

Sie spielte ihm das ganze Band vor. Der Film war nach 90 Minuten zu Ende, mitten in einer Szene, in der ein nackter Rechtsanwalt Bjurman sich gegen das Fußende lehnte und ein Glas Wein trank, während er Lisbeth Salander betrachtete, die gekrümmt mit auf dem Rücken gefesselten Händen neben ihm lag.

Sie schaltete den Fernseher aus und blieb knapp zehn Minuten auf ihrem Stuhl sitzen, ohne Bjurman anzusehen. Er wagte es nicht, sich zu rühren. Dann stand sie auf und ging ins Badezimmer. Als sie zurückkam, setzte sie sich wieder auf den Rattanstuhl. Ihre Stimme war wie Sandpapier.

»Ich habe letzte Woche einen Fehler gemacht«, sagte sie. »Ich dachte, ich müsste dir wieder einen blasen, was in deinem Fall ja so eklig wie nur was ist, aber nicht so eklig, dass ich es nicht irgendwie schaffen würde. Ich dachte, ich könnte ganz leicht dokumentieren, dass du ein widerlicher, schleimiger Lustgreis bist. Aber ich habe dich falsch eingeschätzt. Ich habe nicht kapiert, wie verdammt krank du bist.

Ich werde mich deutlicher ausdrücken«, fuhr sie fort. »Dieser Film zeigt, wie du ein geistig behindertes vierundzwanzigjähriges Mädchen vergewaltigst, für die du zum rechtlichen Betreuer bestellt bist. Und du ahnst ja gar nicht, wie behindert ich sein kann, wenn es drauf ankommt. Jeder Mensch auf der Welt, der sich diesen Film ansieht, wird erkennen, dass du nicht nur ein Dreckschwein bist, sondern ein verrückter Sadist. Das war das zweite und hoffentlich letzte Mal, dass ich diesen Film angesehen habe. Er lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, oder? Ich würde drauf wetten, dass man eher dich in eine Anstalt einweisen würde als mich. Meinst du nicht auch?«

Sie wartete. Er reagierte nicht, aber sie konnte sehen, wie er zitterte. Sie griff zur Peitsche und zog sie einmal über sein Geschlecht.

»Meinst du nicht auch?«, wiederholte sie mit wesentlich lauterer Stimme. Er nickte.

»Gut. Dann sind wir uns ja einig.«

Sie zog den Stuhl näher heran und setzte sich so hin, dass sie seine Augen sehen konnte.

»Also, was sollen wir tun?« Er konnte nicht antworten. »Hast du eine Idee?« Als er nicht reagierte, streckte sie die Hand aus, griff sich seinen Hodensack und zog, bis sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte. »Hast du eine Idee?«, wiederholte sie. Er schüttelte den Kopf.

»Gut. Ich werde nämlich furchtbar wütend auf dich werden, wenn du irgendwann in Zukunft mal wieder eine Idee haben solltest.«

Sie lehnte sich zurück und zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich erzähl dir jetzt, wie es weitergehen wird. Nächste Woche, sobald es dir gelungen ist, diesen fetten Gummipfropfen wieder aus deinem Arsch rauszupressen, wirst du meine Bank anweisen, dass ich - und nur ich - Zugriff auf mein Konto habe. Verstehst du, was ich sage?« Bjurman nickte.

»Brav. Du wirst nie wieder Kontakt zu mir aufnehmen. In Zukunft treffen wir uns nur noch, wenn ich das zufällig wünschen sollte. Du hast ab jetzt quasi Besuchsverbot.« Er nickte mehrmals und atmete plötzlich auf. Sie hat nicht vor, mich zu töten.

»Solltest du jemals wieder Kontakt zu mir aufnehmen, dann landen Kopien dieser CD bei jeder Zeitungsredaktion in Stockholm. Kapiert?«

Er nickte mehrmals. Ich muss mir den Film beschaffen.

»Einmal pro Jahr reichst du deinen Bericht über mein Wohlbefinden beim Vormundschaftsgericht ein. Du wirst ihnen berichten, dass ich ein völlig normales Leben führe, dass ich eine feste Arbeit habe, dass ich selbst für mich sorge und dass du überhaupt nichts Unnormales in meinem Benehmen entdecken kannst. Okay?«

Er nickte.

»Jeden Monat schreibst du einen fiktiven Bericht über deine Treffen mit mir. Du wirst ausführlich berichten, wie positiv ich bin und wie gut es mit mir läuft. Eine Kopie schickst du an mich. Klar?« Er nickte wieder. Abwesend nahm Lisbeth Salander die Schweißperlen zur Kenntnis, die sich auf seiner Stirn sammelten.

»In … sagen wir mal … zwei Jahren wirst du eine Verhandlung beim Gericht beantragen, um meine Betreuung aufzuheben. Du wirst deine gefälschten Berichte über unsere monatlichen Treffen als Unterlagen benutzen. Du besorgst einen Hirndoktor, der jeden Eid schwört, dass ich völlig normal bin. Du wirst dich anstrengen. Du wirst alles, aber auch alles tun, was in deiner Macht steht, damit meine Betreuung aufgehoben wird.« Er nickte.

»Weißt du, warum du dein Bestes geben wirst? Weil du einen verdammt guten Anreiz hast. Und wenn es dir nicht gelingt, werde ich mit diesem Film an die Öffentlichkeit gehen.«

Er hörte jeder Silbe zu, die Lisbeth Salander aussprach. Plötzlich brannten seine Augen vor Hass. Das werde ich dir heimzahlen, verdammte Fotze. Früher oder später. Ich werde dich zerquetschen.

Aber er nickte weiterhin demütig als Antwort auf jede Frage.

»Dasselbe gilt, wenn du versuchen solltest, Kontakt mit mir aufzunehmen.« Sie zog die Hand quer über seinen Hals. »Dann kannst du dich von dieser Wohnung verabschieden, von deinen tollen Titeln und deinen Millionen auf dem Auslandskonto.«

Seine Augen weiteten sich, als sie das Geld erwähnte. Woher zur Hölle wusste sie …

Sie lächelte und nahm noch einen halben Zug. Dann ließ sie die Zigarette auf den Teppich fallen und trat sie mit dem Absatz aus.

»Außerdem will ich deine Reserveschlüssel, sowohl für diese Wohnung als auch für deine Kanzlei.« Er runzelte die Augenbrauen. Sie lehnte sich vor und lächelte selig.

»Ich werde dein Leben in Zukunft restlos kontrollieren. Wenn du es am wenigsten ahnst, vielleicht wenn du gerade im Bett liegst und schläfst, werde ich plötzlich mit diesem Ding hier in deinem Schlafzimmer stehen.« Sie hielt die Elektroschockwaffe hoch. »Ich werde dich im Auge behalten. Sollte ich dich jemals wieder mit einem Mädchen zusammen sehen - egal, ob sie freiwillig hier ist oder nicht -, sollte ich dich jemals überhaupt wieder mit einer Frau zusammen sehen …«

Lisbeth Salander zog abermals den Finger quer über seine Kehle.

»Sollte ich sterben … wenn ich in einen Unfall gerate oder von einem Auto überfahren werde oder irgendetwas anderes … dann werden Kopien des Films an alle Zeitungen geschickt. Dazu eine ausführliche Geschichte, in der ich erzähle, wie es ist, dich zum Betreuer zu haben.

Und noch etwas.« Sie lehnte sich vor, sodass ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. »Wenn du mich noch ein einziges Mal anfassen solltest, dann werde ich dich töten. Glaub mir.«

Bjurman glaubte ihr. Ihre Augen ließen keinen Zweifel.

»Denk immer dran, ich bin verrückt.«

Er nickte.

Sie musterte ihn nachdenklich.

»Ich glaube nicht, dass wir zwei gute Freunde werden«, sagte Lisbeth Salander ernst. »Jetzt liegst du da und gratulierst dir, dass ich so verrückt bin, dich leben zu lassen. Du denkst, dass du die Kontrolle hast, obwohl du mein Gefangener bist, denn du glaubst, wenn ich dich jetzt nicht töte, dann kann ich dich nur freilassen. Oder?«

Er schüttelte den Kopf. Auf einmal beschlichen ihn böse Vorahnungen.

»Du bekommst ein Geschenk von mir, damit du dich immer an unsere Vereinbarung erinnerst.«

Sie lächelte schief, kletterte plötzlich aufs Bett und kniete sich zwischen seine Beine. Bjurman begriff nicht, was sie meinte, aber er hatte auf einmal Angst.

Dann sah er die Nadel in ihrer Hand.

Er warf den Kopf hin und her und versuchte sich loszuwinden, bis sie ihm warnend ein Knie gegen den Schritt drückte.

»Still liegen bleiben. Ich benutze diese Geräte zum ersten Mal.«

Sie arbeitete zwei Stunden konzentriert. Als sie fertig war, hatte er aufgehört zu wimmern. Er schien sich in einem fast schon apathischen Zustand zu befinden.

Nachdem sie vom Bett gestiegen war, legte sie den Kopf schräg und betrachtete ihr Werk mit kritischem Blick. Ihr künstlerisches Talent war begrenzt. Die Buchstaben waren verwackelt, das Ganze wirkte irgendwie impressionistisch. Sie hatte rote und blaue Farbe für die Botschaft verwendet, die sie in fünf Reihen Großbuchstaben über seinen ganzen Bauch tätowiert hatte, von den Brustwarzen bis kurz über sein Geschlechtsorgan:

ICH BIN EIN SADISTISCHES SCHWEIN,

EIN WIDERLING

UND EIN VERGEWALTIGER

Sie sammelte die Nadeln wieder ein und steckte die Farbpatronen in ihren Rucksack. Danach ging sie ins Badezimmer und wusch sich die Hände. Sie bemerkte, dass es ihr wesentlich besser ging, als sie wieder ins Schlafzimmer kam.

»Gute Nacht«, sagte sie.

Sie schloss die eine Handfessel auf und legte den Schlüssel in Reichweite auf seinen Bauch, bevor sie ging. Ihren Film und seinen Schlüsselbund nahm sie mit.

Als sie sich kurz nach Mitternacht eine Zigarette teilten, sagte Mikael plötzlich, dass sie sich eine Weile nicht mehr sehen konnten. Cecilia wandte ihm erstaunt das Gesicht zu.

»Was willst du damit sagen?«, fragte sie.

Er sah beschämt drein.

»Am Montag gehe ich für drei Monate ins Gefängnis.«

Weitere Erklärungen waren nicht nötig. Cecilia blieb lange ganz still liegen. Plötzlich war ihr zum Heulen zumute.

Dragan Armanskij war schon am Verzweifeln, als Lisbeth Salander am Montagnachmittag plötzlich an seine Tür klopfte. Er hatte sie nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, seit er Anfang Januar die Untersuchung in der Wennerström-Affäre abgeblasen hatte, und jedes Mal, wenn er versucht hatte, sie anzurufen, hatte sie entweder nicht abgenommen oder mit der Erklärung aufgelegt, sie sei beschäftigt.

»Haben Sie Arbeit für mich?«, fragte sie, ohne sich mit unnötigen Begrüßungsfloskeln aufzuhalten.

»Ach, hallo! Wie schön, Sie mal wieder zu sehen. Ich dachte schon, Sie wären gestorben oder so.«

»Ich hatte da ein paar Dinge zu klären.«

»Sie haben ganz schön oft Dinge zu klären.«

»Es war ein Notfall. Aber jetzt bin ich ja wieder da. Haben Sie Arbeit für mich?«

Armanskij schüttelte den Kopf.

»Sorry. Im Moment nicht.«

Lisbeth Salander betrachtete ihn ruhig. Nach einem Weilchen nahm er innerlich Anlauf und sprach weiter.

»Lisbeth, Sie wissen, dass ich Sie mag und Ihnen gerne Aufträge gebe. Aber Sie waren zwei Monate fort, und ich hatte jede Menge Jobs. Sie sind ganz einfach nicht zuverlässig. Ich musste die Aufträge rausgeben, um Ihre Abwesenheit abzufedern, und im Moment habe ich gar nichts.«

»Können Sie bitte mal lauter machen?«

»Was?«

»Das Radio.«

»… das Millennium-Magazin. Die Nachricht, dass der Großindustrielle Henrik Vanger Teilhaber wird und einen Platz im Vorstand von Millennium einnehmen wird, wurde am selben Tag bekannt gegeben, an dem der ehemalige verantwortliche Herausgeber Mikael Blomkvist seine dreimonatige Gefängnisstrafe wegen böswilliger Verleumdung des Geschäftsmannes Hans-Erik Wennerström antritt. Die Millennium-Chefredakteurin Erika Berger erklärte auf der Pressekonferenz, dass Mikael Blomkvist seine Arbeit als Herausgeber wieder aufnehmen wird, sobald die Gefängnisstrafe vorbei ist.«

»Verdammt«, sagte Lisbeth Salander so leise, dass Armanskij kaum sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Plötzlich stand sie auf und ging zur Tür.

»Warten Sie. Wo wollen Sie hin?«

»Nach Hause. Ich will ein paar Dinge überprüfen. Rufen Sie an, wenn Sie Arbeit haben.«

Die Neuigkeit, dass Millennium Verstärkung durch Henrik Vanger erfahren hatte, erregte bedeutend mehr Aufsehen, als Lisbeth Salander erwartet hätte. Das Aftonbladet hatte bereits einen längeren Artikel ins Netz gestellt, der Vangers Karriere darstellte und betonte, dies sei das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass der ehemalige Großindustrielle öffentlich aktiv geworden sei. Die Nachricht, er sei Teilhaber bei Millennium geworden, schien ungefähr so abwegig, als würden die Großunternehmer Peter Wallenberg oder Erik Penser plötzlich als Sponsoren des radikal-alternativen Ordfront Magasin aktiv werden.

Es war so ein Riesenereignis, dass die 19-Uhr-30-Ausgabe von Rapport die Nachricht an dritter Stelle brachte und ihr drei Minuten widmete. Erika Berger wurde an einem Konferenztisch in der Millennium-Redaktion interviewt. Auf einen Schlag war auch Wennerström wieder zum Nachrichtenthema geworden.

»Wir haben letztes Jahr einen schwerwiegenden Fehler begangen, der dazu geführt hat, dass das Magazin wegen Verleumdung verurteilt wurde. Das bedauern wir natürlich … und wir werden die Geschichte zum gegebenen Zeitpunkt weiterverfolgen.«

»Wie meinen Sie das - die Geschichte weiterverfolgen?«, fragte der Reporter.

»Damit will ich sagen, dass wir irgendwann unsere Version der Geschichte erzählen werden, was wir bis jetzt noch nicht getan haben.«

»Aber das hätten Sie doch beim Prozess tun können.«

»Wir haben uns dagegen entschieden. Aber wir werden selbstverständlich unsere Politik des kritischen Journalismus fortsetzen.«

»Heißt das, Sie halten immer noch an der Geschichte fest, für die Sie verurteilt worden sind?«

»Das kann ich heute nicht kommentieren.«

»Aber Sie haben Mikael Blomkvist nach seinem Urteil doch entlassen.«

»Das ist völlig falsch. Lesen Sie die Pressemitteilung, die wir herausgegeben haben. Er wollte eine Auszeit, er hatte eine Pause dringend nötig. Im Laufe des Jahres wird er als verantwortlicher Herausgeber zu uns zurückkehren.«

Die Kamera machte einen Schwenk durch die Redaktion, während der Reporter schnell die Hintergrundinformationen zu Millenniums turbulenter Geschichte lieferte. Mikael Blomkvist stand für einen Kommentar nicht zur Verfügung. Er saß in der Rullåker-Vollzugsanstalt hinter Gittern, an einem kleinen See mitten im Wald, ein paar Meilen von Östersund entfernt.

Lisbeth Salander bemerkte jedoch, dass Dirch Frode am Rande des Bildschirms zu sehen war, wie er an einer Türöffnung in der Redaktion vorbeieilte. Sie hob die Augenbrauen und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

Für die Nachrichtensendungen war es ein ereignisloser Montag gewesen, daher bekam Henrik Vanger ganze vier Minuten in der Neun-Uhr-Sendung. Er wurde im Studio eines Lokalsenders in Hedestad interviewt. Der Reporter begann mit der Feststellung, dass die Industrielegende Henrik Vanger nach zwei Jahrzehnten wieder ins Rampenlicht zurückgekehrt sei. Es folgte ein Abriss von Vangers Leben. Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigten, wie er mit Tage Erlander in den sechziger Jahren Fabriken einweihte. Danach konzentrierte sich die Kamera auf ein Studiosofa, auf dem Henrik Vanger saß, ruhig zurückgelehnt mit überkreuzten Beinen. Er trug ein gelbes Hemd, eine schmale grüne Krawatte und eine saloppe dunkelbraune Strickjacke. Dass er eine magere, alte Vogelscheuche war, konnte niemand übersehen, aber er sprach mit klarer und fester Stimme. Außerdem nahm er kein Blatt vor den Mund. Der Reporter begann mit der Frage, was ihn dazu bewogen habe, Teilhaber bei Millennium zu werden.

»Millennium ist eine gute Zeitschrift, die ich mehrere Jahre mit großem Interesse verfolgt habe. Heute steht das Magazin unter Beschuss. Es hat mächtige Feinde, die einen Anzeigen-Boykott organisieren, um es in die Knie zu zwingen.«

Der Reporter war offenbar nicht auf eine derartige Antwort vorbereitet, witterte jedoch sofort, dass die bereits ziemlich sonderbare Story ganz unerwartete Dimensionen annahm.

»Wer steckt hinter diesem Boykott?«

»Das ist eines der Dinge, die es herauszufinden gilt. Aber lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit erklären, dass Millennium den anderen nicht kampflos das Feld überlassen wird.«

»Sind Sie deswegen als Teilhaber bei Millennium eingestiegen?«

»Es wäre ziemlich ungut für die Meinungsfreiheit, wenn Einzelne die Macht hätten, unbequeme Stimmen in der Medienlandschaft zum Schweigen zu bringen.«

Vanger klang, als wäre er sein ganzes Leben ein engagierter Kämpfer für die Meinungsfreiheit gewesen. Mikael Blomkvist lachte plötzlich lauthals auf, als er seinen ersten Abend im Fernsehzimmer der Anstalt verbrachte. Seine Mitgefangenen warfen ihm verstohlene Blicke zu.

Später am Abend, als er auf dem Bett in seiner Zelle lag, die an ein enges Motelzimmer erinnerte, musste er Henrik und Erika recht geben, die von Anfang an die Vermarktung der Nachricht im Auge gehabt hatten. Ohne mit einem einzigen Menschen über die ganze Sache gesprochen zu haben, wusste er, dass sich die allgemeine Einstellung zu Millennium bereits verändert hatte.

Vangers Auftritt war nichts anderes als eine Kriegserklärung an Hans-Erik Wennerström. Die Botschaft war kristallklar - in Zukunft legst du dich nicht mehr mit einer Zeitschrift an, die sechs Mitarbeiter beschäftigt und deren Jahresbudget dem eines größeren Business-Lunchs für die Wennerstroem Group entspricht. Jetzt musst du dich auch mit dem Vanger-Konzern auseinandersetzen, der zwar nur noch ein Schatten seiner früheren Größe, aber dennoch ein ganz anderes Kaliber ist.

Henrik Vanger hatte im Fernsehen verkündet, dass er bereit war zu kämpfen. Vielleicht hatte er keine Chance gegen Wennerström, aber die Auseinandersetzung würde eine kostspielige Angelegenheit werden.

Erika hatte ihre wenigen Worte mit Bedacht gewählt. Ihre Feststellung, das Magazin habe »seine Version noch nicht erläutert«, rief den Eindruck hervor, dass es durchaus etwas zu erläutern gab. Obwohl Mikael angeklagt und verurteilt worden war und mittlerweile sogar im Gefängnis saß, implizierten ihre Worte, dass eine andere Wahrheit existierte.

Gerade, weil sie das Wort »unschuldig« nicht verwendete, schien seine Unschuld noch sicherer. Die Selbstverständlichkeit, mit der er wieder als verantwortlicher Herausgeber eingesetzt werden sollte, unterstrich, dass Millennium sich für nichts zu schämen brauchte. In den Augen der Allgemeinheit war die Glaubwürdigkeit kein Problem - jeder liebt Verschwörungstheorien -, und da man die Wahl zwischen einem steinreichen Geschäftsmann und einem aufmüpfigen, gut aussehenden Chefredakteur hatte, fiel die Entscheidung, wem man seine Sympathien schenken sollte, nicht schwer. Die Medien würden die Geschichte nicht ganz so leicht schlucken; hingegen hatte Erika wahrscheinlich ein paar Kritiker entwaffnet, die sich jetzt nicht mehr ganz so weit aus dem Fenster lehnen würden.

Im Grunde hatte keines der Ereignisse an diesem Tag die Situation verändert, aber sie hatten Zeit gewonnen und das Kräftegleichgewicht ein wenig verschoben. Mikael stellte sich vor, dass Wennerström einen unangenehmen Abend verbracht haben musste. Er konnte nicht wissen, wie viel - oder wie wenig - sie wussten, aber das musste er herausfinden, bevor er den nächsten Schachzug tat.

Mit grimmigem Gesicht schaltete Erika Fernseher und Videorecorder aus, nachdem sie zuerst ihren eigenen Auftritt und danach den von Henrik Vanger angesehen hatte. Sie sah auf die Uhr, Viertel vor drei, und unterdrückte den Impuls, Mikael anzurufen. Er saß im Gefängnis, und höchstwahrscheinlich hatte er kein Handy in der Zelle. Sie war so spät in ihr Haus in Saltsjöbaden zurückgekommen, dass ihr Mann schon schlief. Sie stand auf, ging zur Hausbar und goss sich ein ordentliches Glas Aberlour ein - sie trank ungefähr einmal im Jahr Alkohol -, setzte sich ans Fenster und blickte hinaus auf den Saltsjö und die Blinkfeuer an der Einfahrt zum Skuru-Sund.

Mikael und sie hatten einen heftigen Wortwechsel gehabt, als sie nach ihrer Abmachung mit Henrik Vanger allein gewesen waren. Über Jahre hinweg hatten sie immer freimütig darüber gestritten, aus welchem Blickwinkel sie berichten wollten, wie das Layout gestaltet und die Glaubwürdigkeit der Quellen eingeschätzt werden sollte, und über viele andere Fragen, die sich eben stellten, wenn man eine Zeitschrift macht. Aber beim Streit in Vangers Gästehaus war es um ihre journalistische Unabhängigkeit gegangen.

»Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll«, hatte Mikael gesagt. »Vanger hat mich angestellt, damit ich seine Autobiografie schreibe. Bisher konnte ich jederzeit aufstehen und weggehen, sobald er versucht hätte, mich zu zwingen, etwas Unwahres zu schreiben, oder mich zu verleiten, einen bestimmten Blickwinkel einzunehmen. Jetzt wird er einer der Teilhaber unserer Zeitschrift und ist zudem der Einzige, der genug Geld hat, sie zu retten. Diese Situation ist mit unserem Berufsethos eigentlich nicht zu vereinbaren.«

»Hast du irgendeine bessere Idee?«, hatte Erika gefragt. »Dann solltest du jetzt damit rausrücken, bevor wir den Vertrag aufsetzen und unterzeichnen.«

»Ricky, Vanger nutzt uns doch nur aus für seinen privaten Rachefeldzug gegen Wennerström.«

»Na und? Wenn überhaupt jemand einen privaten Rachefeldzug gegen Wennerström betreibt, dann ja wohl wir.«

Mikael hatte sich von ihr abgewandt und gereizt eine Zigarette angezündet. Der Wortwechsel war noch eine gute Weile so weitergegangen, bis Erika schließlich ins Schlafzimmer ging, sich auszog und ins Bett kroch. Sie tat so, als würde sie schlafen, als Mikael zwei Stunden später neben sie schlüpfte. Am Abend hatte ein Reporter von Dagens Nyheter ihr genau dieselbe Frage gestellt:

»Wie will sich Millennium jetzt noch glaubwürdig als unabhängige Zeitschrift bezeichnen?«

»Wie meinen Sie das?«

Der Reporter hob die Augenbrauen. Er fand, dass seine Frage deutlich genug gewesen war, aber er verdeutlichte sie trotzdem noch einmal.

»Millennium beschäftigt sich unter anderem damit, Unternehmen auf den Zahn zu fühlen. Wie soll das Magazin jetzt glaubwürdig behaupten können, dass es den Vanger-Konzern kritisch unter die Lupe nimmt?«

Erika hatte ihn so verblüfft angesehen, als käme diese Frage völlig unerwartet.

»Wollen Sie damit sagen, dass Millennium an Glaubwürdigkeit einbüßt, weil ein bekannter Finanzier mit beträchtlichen Mitteln auf den Plan getreten ist?«

»Tja, es ist ja wohl ziemlich offensichtlich, dass Sie dem Vanger-Konzern nicht mehr unvoreingenommen gegenüberstehen.«

»Meinen Sie, dass für Millennium besondere Maßstäbe gelten sollten?«

»Verzeihung?«

»Sie arbeiten doch auch für eine Zeitung, die in höchstem Grad finanziellen Interessen gehorcht. Bedeutet das, dass keine der Zeitungen, die Bonnier herausgibt, glaubwürdig ist? Das Aftonbladet gehört einem norwegischen Großunternehmen, das wiederum eine gewaltige Rolle in der Datenverarbeitungs- und Kommunikationsbranche spielt - bedeutet das, dass das Aftonbladet die Elektronikindustrie nicht mehr glaubwürdig beschreiben kann? Der Zeitungskonzern Metro gehört dem Stenbeck-Unternehmen. Meinen Sie, dass sämtliche Zeitungen in Schweden, hinter denen finanzielle Interessen stecken, nicht glaubwürdig sind?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Warum deuten Sie dann an, dass Millenniums Glaubwürdigkeit abnimmt, nur weil wir auch Finanziers haben?«

Der Reporter hatte die Hand gehoben.

»Okay, ich nehme die Frage zurück.«

»Nein. Tun Sie das nicht. Ich will, dass Sie exakt das wiedergeben, was ich sage. Und Sie können dazuschreiben, wenn Dagens Nyheter ein wachsameres Auge auf den Vanger-Konzern hat, dann konzentrieren wir uns ein bisschen mehr auf Bonnier

Aber es war ein ethisches Dilemma.

Mikael arbeitete für Henrik Vanger, der theoretisch in der Lage war, Millennium mit einem Federstrich zu vernichten. Was würde passieren, wenn Mikael und Henrik Vanger sich wegen irgendetwas entzweiten?

Und vor allem - wie viel kostete ihre eigene Glaubwürdigkeit, und wann wurde aus einem unabhängigen Redakteur ein korrumpierter? Sie mochte weder die Fragen noch die Antworten.

Lisbeth Salander ging wieder aus dem Netz und schaltete ihr PowerBook ab. Sie war arbeitslos und hungrig. Ersteres bekümmerte sie nicht sonderlich, seit sie wieder freien Zugriff auf ihr Konto hatte und Rechtsanwalt Bjurman zu einer vagen Unannehmlichkeit aus ihrer Vergangenheit geworden war. Sie ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Dann machte sie sich drei große belegte Brote mit Käse, Kaviar und Ei - das Erste, was sie seit Stunden aß. Sie mampfte ihre nächtlichen Stullen auf dem Wohnzimmersofa, während sie die eingeholte Information verarbeitete.

Dirch Frode aus Hedestad hatte ihr den Auftrag gegeben, Mikael Blomkvist unter die Lupe zu nehmen, der wegen Verleumdung des Geschäftsmannes Hans-Erik Wennerström zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Dann plötzlich war Vanger, ebenfalls aus Hedestad, in die Führungsspitze von Millennium eingestiegen und behauptete, es gebe eine Verschwörung, die das Magazin in die Knie zwingen wolle. All das am selben Tag, an dem Mikael Blomkvist ins Gefängnis ging. Am faszinierendsten von alldem: ein zwei Jahre alter Hintergrundartikel - Mit leeren Händen - über Hans-Erik Wennerström, den sie auf der Website des Wirtschaftsmagazins Monopol gefunden hatte, in dem erwähnt wurde, dass er seinen finanziellen Aufstieg ausgerechnet im Vanger-Konzern begonnen hatte.

Man brauchte kein Genie zu sein, um zu dem Schluss zu gelangen, dass diese Ereignisse irgendwie miteinander in Verbindung stehen mussten. Irgendwo lag hier der Hund begraben, und Lisbeth Salander liebte es, begrabene Hunde wieder auszubuddeln. Außerdem hatte sie ja gerade nichts Besseres zu tun.

Teil III

Fusionen

16. Mai bis 14. Juli

13% aller schwedischen Frauen sind schon einmal Opfer schwerer sexueller Gewalt außerhalb einer sexuellen Beziehung geworden.

15. Kapitel

Freitag, 16. Mai - Samstag, 31. Mai

Mikael Blomkvist wurde am 16. Mai aus der Rullåker-Vollzugsanstalt entlassen, zwei Monate nachdem er seine Strafe angetreten hatte. Am Tag seines Haftantritts hatte er ohne allzu große Hoffnung einen Antrag auf Verkürzung seiner Freiheitsstrafe gestellt. Die wahren Ursachen für seine Entlassung wurden ihm nie ganz klar, aber er vermutete, es könnte damit zu tun haben, dass er seine freien Wochenenden nie genommen hatte und dass die Anstalt mit zweiundvierzig Insassen belegt war, obwohl sie eigentlich nur einunddreißig Platz bot. Auf jeden Fall schrieb der Direktor der Vollzugsanstalt - ein vierzigjähriger Exilpole namens Peter Sarowsky, mit dem sich Mikael bestens verstand - eine Empfehlung für eine Verkürzung der Strafe.

Die Zeit in Rullåker war ruhig und angenehm verlaufen. Die Anstalt war, wie Sarowsky sich ausdrückte, für Kleinkriminelle und Alkoholsünder, nicht aber für richtige Verbrecher gedacht. Die täglichen Routineabläufe erinnerten an die Gepflogenheiten in einer Jugendherberge. Seine einundvierzig Mithäftlinge, von denen die Hälfte Einwanderer der zweiten Generation waren, betrachteten Mikael als eine Art exotischen Vogel in ihrer Gemeinschaft - was er ja auch war. Er war der einzige Häftling, über den im Fernsehen berichtet wurde, und das verlieh ihm einen gewissen Status, aber keiner der anderen sah ihn als echten Verbrecher an.

Das tat der Direktor der Anstalt auch nicht. Schon am ersten Tag wurde Mikael zu einem Gespräch gebeten, in dem man ihm mehrere Angebote machte: Therapie, Besuch der Abendschule, andere Studienmöglichkeiten oder eine allgemeine Berufsberatung. Mikael lehnte dankend ab, weitere Studienpläne seien schon vor Jahrzehnten begraben worden, und eine Arbeit habe er bereits. Er bat jedoch darum, sein iBook benutzen zu dürfen, um an seinem Buch weiterarbeiten zu können. Sein Wunsch wurde ihm ohne Weiteres bewilligt, und Sarowsky stellte sogar noch einen abschließbaren Schrank zur Verfügung, sodass Mikael den Computer auch unbewacht in der Zelle lassen konnte, ohne dass er gestohlen oder demoliert werden konnte. Nicht dass einer der Mithäftlinge tatsächlich so etwas gemacht hätte - sie hielten eher ihre schützende Hand über Mikael.

So verbrachte Mikael zwei relativ angenehme Monate, in denen er ungefähr sechs Stunden am Tag an der Vangerschen Familienchronik arbeitete. Die Arbeit wurde jeden Tag nur von ein paar Stunden Putzarbeit oder einer angeordneten Erholungspause unterbrochen. Mikael und zwei Mithäftlinge, von denen einer aus Skövde, der andere aus Chile kam, hatten die Aufgabe, jeden Tag den Fitnessraum zu putzen. Das Freizeitprogramm bestand aus Fernsehen, Kartenspielen oder Krafttraining. Mikael entdeckte, dass er ganz anständig Poker spielte, aber er verlor jeden Tag ein paar 50-Öre-Münzen. Die Anstaltsregeln verboten, um mehr Geld als einen totalen Jackpot von fünf Kronen zu spielen.

Er erhielt den Bescheid über seine vorzeitige Entlassung einen Tag bevor er gehen durfte. Swarowsky nahm ihn mit in seinen Dienstraum und bot ihm einen Schnaps an. Danach verbrachte Mikael den Abend damit, seine Kleider und Notizbücher zusammenzupacken.

Nach seiner Entlassung fuhr Mikael direkt zurück nach Hedeby. Als er die Brücke betrat, hörte er ein Miauen: Die rotbraune Katze gesellte sich zu ihm und hieß ihn willkommen, indem sie ihm um die Beine strich.

»Okay, komm schon rein«, sagte er. »Aber ich hab keine Milch mehr besorgen können.«

Er packte seine Sachen aus. Es fühlte sich an, als wäre er im Urlaub gewesen, und tatsächlich fehlten ihm Sarowsky und seine Mithäftlinge. So verrückt es war - er hatte sich in Rullåker wohlgefühlt. Die Entlassung war so überraschend gekommen, dass er niemanden hatte vorwarnen können.

Es war kurz nach sechs Uhr abends. Er ging schnell zum Supermarkt und kaufte die wichtigsten Dinge, bevor sie schließen würden. Als er nach Hause kam, schaltete er sein Handy ein und rief Erika an, erreichte sie jedoch nicht. Er hinterließ ihr die Nachricht, dass sie sich am nächsten Tag sprechen könnten.

Danach ging er zu seinem Auftraggeber, der gerade im Erdgeschoss war und bei Mikaels Anblick erstaunt die Augenbrauen hochzog.

»Sind Sie ausgebrochen?«, waren die ersten Worte des alten Mannes.

»Ganz legal vorzeitig entlassen.«

»Das ist ja eine Überraschung.«

»Für mich auch. Ich habe es erst gestern Abend erfahren.«

Sie sahen sich ein paar Sekunden an. Dann überraschte der alte Mann Mikael, indem er ihn in die Arme nahm und fest an sich drückte.

»Ich wollte gerade essen. Leisten Sie mir doch Gesellschaft.«

Anna trug Speckpfannkuchen mit Preiselbeeren auf. Sie blieben fast zwei Stunden im Esszimmer sitzen und unterhielten sich. Mikael erklärte, wie weit er mit der Familienchronik gekommen war und wo es noch Lücken gab. Sie sprachen nicht über Harriet Vanger, führten aber ein ausführliches Gespräch über Millennium.

»Wir haben drei Vorstandssitzungen abgehalten. Frau Berger und Ihr Partner Christer Malm waren so freundlich, zwei der Treffen hierher zu verlegen, während Dirch mich bei einem Treffen in Stockholm vertreten hat. Ich wünschte wirklich, ich wäre ein paar Jahre jünger. Es ist leider ziemlich anstrengend für mich, so weit zu fahren. Aber im Sommer werde ich versuchen, auch mal nach Stockholm zu kommen.«

»Ich glaube durchaus, dass sie die Treffen hier oben abhalten können«, antwortete Mikael. »Aber wie fühlt es sich denn nun an, Teilhaber der Zeitung zu sein?«

Henrik Vanger lächelte schief.

»Es ist tatsächlich das Lustigste, was ich seit vielen Jahren gemacht habe. Ich habe mir die finanziellen Verhältnisse mal angesehen, und es sieht ganz anständig aus. Ich brauche gar nicht so viel Geld zuzuschießen, wie ich gedacht hatte - die Kluft zwischen Einkommen und Ausgaben verringert sich bereits wieder.«

»Ich habe diese Woche mit Erika gesprochen. Sie sagte, der Annoncenteil ist auf dem Weg, sich wieder ein bisschen zu erholen.«

Henrik Vanger nickte. »Das Blatt wendet sich langsam wieder, aber es wird ein bisschen dauern. Am Anfang haben Unternehmen des Vanger-Konzerns zur Unterstützung Annoncenseiten gekauft. Aber es sind schon zwei alte Anzeigenkunden - ein Handyanbieter und ein Reisebüro - zurückgekommen.« Er lächelte breit.

»Bei Wennerströms alten Feinden ziehen wir die Kampagne ein bisschen persönlicher auf. Und glauben Sie mir eins, diese Liste ist lang.«

»Haben Sie was von Wennerström gehört?«

»Na ja, nicht wirklich. Aber wir haben durchsickern lassen, dass Wennerström einen Boykott gegen Millennium organisiert. Das lässt ihn ziemlich kleinkariert dastehen. Ein Journalist von Dagens Nyheter soll ihn danach gefragt und sich eine abweisende Antwort eingefangen haben.«

»Sie genießen das.«

»Genießen ist das falsche Wort. Ich hätte mich schon vor ein paar Jahren mit dieser Sache beschäftigen sollen.«

»Was ist da eigentlich gewesen zwischen Ihnen und Wennerström?«

»Versuchen Sie es erst gar nicht. Sie werden es zu Beginn des neuen Jahres erfahren.«

Es lag ein angenehmer Frühlingshauch in der Luft. Als Mikael gegen neun Henriks Haus verließ, war es draußen schon dunkel. Er zögerte kurz. Dann ging er zu Cecilia und klopfte.

Er war nicht sicher, was er sich eigentlich erwartete. Cecilia riss die Augen auf, ließ ihn zwar in den Flur treten, wirkte aber so, als sei ihr sein Besuch nicht recht. Sie fragte ihn, ob er ausgebrochen sei, und er erläuterte, wie sich die Dinge verhielten.

»Ich bin nur gekommen, um kurz Hallo zu sagen. Störe ich?«

Sie wich seinem Blick aus. Mikael merkte sofort, dass sie nicht besonders froh war, ihn zu sehen.

»Nein … nein, komm rein. Möchtest du einen Kaffee?«

»Gerne.«

Er folgte ihr in die Küche. Sie drehte ihm den Rücken zu, während sie Wasser in die Kaffeemaschine goss. Mikael ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie erstarrte.

»Cecilia, du wirkst nicht so, als wolltest du mich zum Kaffee einladen.«

»Ich habe dich erst in einem Monat erwartet«, sagte sie. »Du hast mich überrascht.«

Er konnte ihr Unbehagen spüren und drehte sie zu sich um, damit er ihr Gesicht sehen konnte. Sie wollte ihm immer noch nicht in die Augen blicken.

»Cecilia. Vergiss den Kaffee. Was ist los?«

Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft.

»Mikael, ich möchte, dass du gehst. Frag nicht. Geh einfach.«

Mikael ging zu seinem Haus zurück, blieb aber unschlüssig am Gittertor stehen. Statt hineinzugehen, lief er hinunter ans Wasser, neben die Brücke, und setzte sich auf einen Stein. Er zündete sich eine Zigarette an, während er seine Gedanken sortierte und sich fragte, was Cecilias Einstellung zu ihm so dramatisch geändert haben könnte.

Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch und sah ein großes weißes Boot langsam unter der Brücke hindurch in den Sund gleiten. Als es vorbeifuhr, konnte Mikael sehen, dass Martin Vanger am Steuer stand, der den Blick konzentriert aufs Wasser gerichtet hielt, um eventuellen Untiefen auszuweichen. Das Boot war eine zwölf Meter lange Motoryacht - ein imposantes Kraftpaket. Er stand auf und ging die Strandpromenade entlang. Plötzlich sah er, dass an verschiedenen Landestegen mehrere Boote im Wasser lagen, sowohl Motor- als auch Segelboote. Darunter befanden sich mehrere Pettersson-Boote, aber auch eine Hallberg-Rassy-Segelyacht. Der Sommer war gekommen. Damit war ihm auch die Klassenaufteilung in Hedebys marinem Leben klar - Martin Vanger hatte ohne Zweifel das größte und teuerste Boot in der Gegend.

Er blieb unterhalb von Cecilias Haus stehen und guckte zu den erleuchteten Fenstern im Obergeschoss hinauf. Dann ging er nach Hause und setzte Kaffee auf. Er blickte in sein Arbeitszimmer, während er darauf wartete, dass das Wasser kochte.

Bevor er ins Gefängnis gegangen war, hatte er den Großteil von Henrik Vangers Dokumentation zu Harriet wieder hinübergetragen. Es schien klüger zu sein, die Ordner nicht über längere Zeit in einem leeren Haus zu lassen. Jetzt gähnten ihn die leeren Regale an. Alles, was er von der Untersuchung noch bei sich hatte, waren fünf von Henrik Vangers eigenen Notizbüchern, die er nach Rullåker mitgenommen hatte und mittlerweile auswendig kannte. Und, wie er feststellen konnte, auch noch ein Fotoalbum, das er ganz oben auf dem Bücherregal vergessen hatte.

Er holte das Album herunter und nahm es mit an den Küchentisch. Dann goss er sich Kaffee ein, setzte sich und begann zu blättern.

Es enthielt die Bilder, die an dem Tag aufgenommen worden waren, an dem Harriet verschwand. Erst kam das letzte Bild von Harriet, auf dem Umzug des Kindertages in Hedestad. Dann folgten gut hundertachtzig gestochen scharfe Fotos vom Tanklasterunfall auf der Brücke. Er hatte das Album schon früher mehrmals Bild für Bild sorgfältig mit dem Vergrößerungsglas durchgesehen. Jetzt blätterte er zerstreut darin herum. Er wusste, dass er nichts Neues mehr finden würde. Plötzlich fühlte er sich des Rätsels um Harriet Vanger überdrüssig und schlug das Album mit einem Knall zu.

Ruhelos ging er ans Küchenfenster und starrte in die Dunkelheit.

Dann sah er wieder das Fotoalbum an. Er konnte das Gefühl nicht recht erklären, aber plötzlich hatte er einen flüchtigen Gedanken, ganz so, als würde er auf etwas reagieren, was er gerade gesehen hatte. Es war, als hätte ihm ein unsichtbares Wesen vorsichtig ins Ohr gepustet, und seine Nackenhaare stellten sich ganz leicht auf.

Er ging es Seite für Seite noch einmal durch, jedes Bild von der Brücke. Er sah sich die jüngere, ölverschmierte Ausgabe von Henrik Vanger an und einen jüngeren Harald Vanger, den er bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Das kaputte Brückengeländer, die Gebäude, Fenster und Fahrzeuge. Unter den Zuschauern konnte er problemlos eine zwanzigjährige Cecilia Vanger identifizieren. Sie trug ein helles Kleid und eine dunkle Jacke und war auf ungefähr zwanzig Bildern im Album zu sehen.

Plötzlich wurde ihm heiß. Über die Jahre hatte Mikael gelernt, sich auf seinen Instinkt zu verlassen. Er hatte auf irgendetwas in diesem Album reagiert, aber er konnte nicht genau sagen, worauf.

Er saß immer noch am Küchentisch und starrte auf die Bilder, als er gegen elf die Haustür aufgehen hörte.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Cecilia. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich ihm gegenüber an den Küchentisch. Mikael hatte ein seltsames Déjà-vu-Gefühl. Sie trug ein weites, dünnes, helles Kleid und eine graublaue Jacke, fast identisch mit der Kleidung, die sie auf den Bildern von 1966 anhatte.

»Entschuldige, aber du hast mich überrascht, als du heute Abend geklopft hast. Jetzt bin ich so unglücklich, dass ich nicht schlafen kann.«

»Warum bist du unglücklich?«

»Begreifst du das denn nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Kann ich es dir erzählen, ohne dass du mich auslachst?«

»Ich verspreche dir, ich werde nicht lachen.«

»Es war eine spontane Idee von mir, als ich dich im Frühjahr verführte. Ich wollte einfach nur Spaß haben. Nichts weiter. An diesem ersten Abend war ich einfach nur ziemlich angetrunken, und ich hatte nicht vor, irgendetwas Längerfristiges mit dir anzufangen. Dann wurde es aber zu etwas anderem. Ich möchte, dass du weißt, dass die Wochen, in denen du mein occasional lover warst, zu den schönsten Wochen meines Lebens gehören.«

»Ich fand sie auch sehr schön.«

»Mikael, ich habe dich und mich die ganze Zeit angelogen. Ich war niemals besonders freizügig in sexueller Hinsicht. Ich habe in meinem ganzen Leben fünf Sexpartner gehabt. Einmal mit einundzwanzig Jahren, bei meinem ersten Mal. Dann mit meinem Mann, den ich mit fünfundzwanzig kennenlernte und der sich als Ekel herausstellte. Und seitdem einige Male mit drei Typen, die ich im Abstand von ein paar Jahren traf. Aber du hast irgendetwas in mir geweckt. Ich konnte einfach nicht genug kriegen. Das hatte damit zu tun, dass mit dir alles so zwanglos war.«

»Cecilia, du brauchst nicht …«

»Schhhh, unterbrich mich nicht. Sonst kann ich es nicht erzählen.«

Mikael verstummte.

»Der Tag, an dem du ins Gefängnis gingst, war der unglücklichste Tag meines Lebens. Mit einem Mal warst du weg, als ob du nie hier gewesen wärst. Es war dunkel im Gästehäuschen. Es war kalt und leer in meinem Bett. Ganz plötzlich war ich wieder nur eine sechsundfünfzigjährige ältere Frau.«

Sie schwieg einen Moment und blickte Mikael in die Augen.

»Ich habe mich im Winter in dich verliebt. Das hatte ich nicht vor, aber es ist passiert. Und plötzlich wurde mir klar, dass du nur zufällig hier bist und eines Tages für immer fort sein wirst, während ich den Rest meines Lebens hierbleiben werde. Das tat so verflucht weh, dass ich beschloss, dich nicht mehr in mein Haus zu lassen, wenn du aus dem Gefängnis zurückkämst.«

»Das tut mir leid.«

»Es ist nicht dein Fehler.«

Eine Weile blieben sie schweigend sitzen.

»Als du heute Abend wieder gegangen warst, saß ich zu Hause und heulte. Ich wünschte, ich hätte eine Chance, mein Leben noch mal ganz anders zu leben. Dann habe ich etwas beschlossen.«

»Und zwar?«

Sie sah auf die Tischplatte.

»Dass ich völlig verrückt sein müsste, um dich nicht mehr zu treffen, weil du eines Tages wieder von hier wegfährst. Können wir noch mal von vorne anfangen, Mikael? Kannst du vergessen, was heute Abend passiert ist?«

»Schon vergessen«, sagte Mikael. »Aber danke, dass du es mir erzählt hast.«

Sie blickte noch immer auf die Tischplatte.

»Wenn du mich haben willst - ich will furchtbar gerne.«

Plötzlich sah sie ihn wieder richtig an. Dann stand sie auf und ging zur Schlafzimmertür. Im Gehen ließ sie ihre Jacke auf den Boden fallen und zog sich das Kleid über den Kopf.

Mikael und Cecilia wurden gleichzeitig davon wach, dass die Haustür geöffnet wurde und jemand durch die Küche ging. Man hörte ein dumpfes Geräusch, als beim Ofen ein Koffer auf den Boden gestellt wurde. Dann stand plötzlich Erika in der Schlafzimmertür, mit einem Lächeln, das sich sehr schnell in einen erschrockenen Gesichtsausdruck verwandelte.

»Du lieber Himmel.« Sie trat einen Schritt zurück.

»Hallo, Erika«, sagte Mikael.

»Hallo. Entschuldige. Entschuldige bitte, dass ich hier einfach reinplatze. Ich hätte anklopfen sollen.«

»Wir hätten die Tür abschließen sollen. Erika - das hier ist Cecilia Vanger. Cecilia - Erika Berger, Chefredakteurin von Millennium

»Hallo«, sagte Cecilia.

»Hallo«, sagte Erika. Sie sah aus, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ins Zimmer kommen und wohlerzogen Hände schütteln oder einfach nur wieder gehen sollte. »Äh, ich … ich kann ja kurz spazieren gehen …«

»Was haltet ihr davon, wenn wir stattdessen einen Kaffee aufsetzen?« Mikael warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttischchen. Kurz nach zwölf Uhr mittags.

Erika nickte und zog die Schlafzimmertür wieder zu. Mikael und Cecilia sahen sich an. Cecilia wirkte verlegen. Sie hatten sich bis vier Uhr morgens geliebt und unterhalten. Dann hatte Cecilia verkündet, dass sie bei ihm übernachten wolle und in Zukunft drauf pfeife, wer Bescheid wusste, dass sie mit Mikael fickte. Sie hatte mit dem Rücken zu ihm geschlafen, während er sie in seinen Armen hielt.

»Hey, das ist schon okay«, sagte Mikael. »Erika ist verheiratet, und sie ist nicht meine Freundin. Wir treffen uns ab und zu, aber es ist ihr herzlich egal, ob wir beide was miteinander haben. Es ist ihr wahrscheinlich nur wahnsinnig peinlich.«

Als sie wenig später in die Küche kamen, hatte Erika den Tisch mit Kaffee, Saft, getoastetem Brot und Apfelsinenmarmelade gedeckt. Es duftete gut. Cecilia ging direkt auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»War ein bisschen hastig da drinnen. Hallo.«

»Cecilia, entschuldigen Sie bitte, dass ich wie ein Elefant da reingeplatzt bin«, sagte Erika zutiefst unglücklich.

»Ach, schon vergessen. Sie konnten doch nichts dafür. Und jetzt trinken wir Kaffee.«

»Hallo«, sagte Mikael und umarmte Erika, bevor er sich hinsetzte. »Wie bist du gekommen?«

»Bin heute Morgen losgefahren. Ich habe um zwei Uhr nachts deine Mitteilung bekommen und hab versucht, dich anzurufen.«

»Ich hatte das Handy ausgeschaltet«, erklärte Mikael und lächelte Cecilia zu.

Nach dem Frühstück ließ Erika Mikael und Cecilia allein, unter dem Vorwand, Henrik Vanger begrüßen zu müssen. Cecilia drehte Mikael den Rücken zu, während sie den Tisch abräumte. Er ging zu ihr und umschlang sie mit den Armen.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Cecilia.

»Nichts. So ist es eben, Erika ist meine beste Freundin. Sie und ich sind seit fast zwanzig Jahren befreundet und werden es hoffentlich auch noch die nächsten zwanzig Jahre sein. Aber wir sind niemals ein Paar gewesen, und wir stehen uns bei unseren jeweiligen Romanzen nicht im Weg.«

»Haben wir das? Eine Romanze?«

»Ich weiß nicht, was wir haben, aber offenbar fühlen wir uns gut miteinander.«

»Wo schläft sie heute Nacht?«

»Wir organisieren ihr irgendwo ein Zimmer. Ein Gästezimmer bei Henrik. Sie wird nicht in meinem Bett schlafen.«

Cecilia überlegte kurz.

»Ich weiß nicht, ob ich mit dieser Sache hier klarkomme. Du und sie, ihr könnt das vielleicht, aber ich weiß nicht … Ich habe nie …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich geh jetzt zu mir nach Hause. Ich muss ein bisschen drüber nachdenken.«

»Du hast mich früher schon mal danach gefragt, Cecilia, und ich habe dir von Erikas und meinem Verhältnis erzählt. Ihre Existenz kann nicht wirklich eine Überraschung für dich sein.«

»Das stimmt. Aber solange sie in Stockholm war, konnte ich sie ignorieren.«

Cecilia zog ihre Jacke an.

»Die Situation ist ganz schön komisch«, lächelte sie. »Komm heute Abend zu mir zum Abendessen rüber. Und bring Erika mit. Ich glaube, ich werde sie mögen.«

Erika Berger hatte die Frage des Nachtquartiers schon geklärt. Wenn sie früher in Hedeby gewesen war, um sich mit Henrik Vanger zu treffen, hatte sie in einem seiner Gästezimmer geschlafen, und jetzt bat sie ihn rundheraus, ob sie noch einmal dort übernachten könnte. Henrik Vanger konnte seine Begeisterung kaum verhehlen und versicherte ihr, dass sie ihm mehr als willkommen sei.

Als diese Formalitäten erledigt waren, gingen Mikael und Erika spazieren, überquerten die Brücke und setzten sich auf die Terrasse von Susannes Café, kurz bevor es zumachte.

»Ich bin so richtig mies gelaunt«, sagte Erika. »Ich fahre hier hoch, um dich wieder in der Freiheit willkommen zu heißen, und finde dich im Bett mit der Femme fatale dieser Stadt.«

»Tut mir leid.«

»Also, wie lange hast du schon mit Miss Big Tits …« Erika wackelte mit dem Zeigefinger.

»Ungefähr seit Henrik Teilhaber geworden ist.«

»Aha.«

»Was aha?«

»Reine Neugier.«

»Cecilia ist eine gute Frau. Ich mag sie gern.«

»Ich kritisiere dich doch gar nicht. Ich bin bloß mies gelaunt. Die Süßigkeiten vor der Nase, und dann werde ich auf Diät gesetzt. Wie war’s im Gefängnis?«

»Wie ein anständiger Arbeitsurlaub. Wie läuft’s mit der Zeitschrift?«

»Besser. Wir haben noch nicht wieder alles im Griff und sind immer noch in den roten Zahlen, aber zum ersten Mal seit einem Jahr ist das Anzeigenvolumen gestiegen. Wir liegen immer noch weit unter dem, was wir vor einem Jahr hatten, aber es geht auf jeden Fall wieder bergauf. Das ist Henriks Verdienst. Aber weißt du, was richtig seltsam ist? Die Zahl der Abonnenten steigt ebenfalls.«

»Die geht doch immer rauf und runter.«

»Aber wir haben in den letzten drei Monaten 3000 Abonnenten hinzugewonnen. Die Steigerung war ganz gleichmäßig, 250 pro Woche. Zuerst dachte ich, das ist nur ein Zufall, aber es kommen immer neue dazu. Das ist die größte Auflagensteigerung, die wir jemals gehabt haben. Das bedeutet mehr als die Einkünfte aus den Anzeigen. Gleichzeitig springen uns kaum alte Abonnenten ab.«

»Was meinst du, woran das liegt?«, fragte Mikael.

»Ich weiß nicht. Keiner von uns wird schlau daraus. Wir haben keine Anzeigenkampagne lanciert; Christer hat eine Woche lang stichprobenweise untersucht, was für Abonnenten jetzt neu bei uns auftauchen. 70 Prozent von ihnen sind Frauen. Normalerweise abonnieren uns zu 70 Prozent Männer. Alles in allem Vorortbewohner mit mittlerem Einkommen in qualifizierten Jobs: Lehrer, Angestellte mit bescheidener Leitungsfunktion, Beamte.«

»Die Revolte der Mittelklasse gegen das Großkapital?«

»Ich weiß es nicht. Aber wenn das so weitergeht, dann wird sich der Abonnentenstamm ganz schön verändern. Wir hatten vor zwei Wochen eine Redaktionskonferenz und haben beschlossen, unseren Themenkreis zu erweitern. Ich will mehr Artikel über Fachfragen, die mit der Angestelltengewerkschaft zusammenhängen, und andere Artikel in der Richtung, aber auch mehr kritische Reportagen über Frauenfragen zum Beispiel.«

»Sei nur vorsichtig, dass du nicht zu viel auf einmal veränderst«, meinte Mikael. »Den neuen Abonnenten scheint die bisherige Linie doch zu gefallen.«

Cecilia hatte auch Henrik zum Abendessen eingeladen, vielleicht, um das Risiko unangenehmer Gesprächsthemen zu mindern. Sie hatte Wildragout gekocht, dazu servierte sie Rotwein. Erika und Henrik diskutierten viel über Millenniums Entwicklung und die neuen Abonnenten, aber dann verlagerte sich das Gespräch auf angenehmere Themen. Erika wandte sich plötzlich an Mikael und fragte ihn, wie seine Arbeit für Henrik voranginge.

»Ich rechne damit, dass der Entwurf für die Familienchronik nächsten Monat steht, dann kann Henrik ihn sich anschauen.«

»Eine Chronik im Geiste der Addams Family«, lächelte Cecilia.

»Sie hat gewisse historische Aspekte«, gab Mikael zu.

Cecilia warf Henrik Vanger einen verstohlenen Blick zu.

»Henrik interessiert sich eigentlich gar nicht für die Familienchronik, Mikael. Er will, dass du das Rätsel von Harriets Verschwinden löst.«

Mikael sagte nichts. Er hatte mit Cecilia ziemlich offen über Harriet geredet. Cecilia hatte bereits herausgefunden, dass dies sein eigentlicher Auftrag war, obwohl er es nie zugegeben hatte. Henrik gegenüber hatte er allerdings niemals erwähnt, dass er mit Cecilia über dieses Thema sprach. Henriks buschige Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen. Erika schwieg.

»Ach, komm schon«, sagte Cecilia zu Henrik. »Ich bin doch nicht blöd. Ich weiß zwar nicht genau, wie die Absprache zwischen dir und Mikael aussieht, aber bei seinem Aufenthalt hier in Hedeby geht es doch um Harriet. Oder etwa nicht?«

Henrik nickte und schielte zu Mikael.

»Ich hab Ihnen ja gesagt, sie ist klüger als die meisten.« Er wandte sich an Erika. »Ich nehme an, Mikael hat Ihnen erklärt, womit er sich hier in Hedeby beschäftigt.«

Sie nickte.

»Und ich nehme an, dass Sie das für eine sinnlose Beschäftigung halten. Nein, Sie brauchen mir nicht zu antworten. Es ist eine verrückte und sinnlose Beschäftigung. Aber ich muss es einfach wissen.«

»Ich habe keine Meinung dazu«, sagte Erika diplomatisch.

»Natürlich haben Sie eine Meinung dazu.« Er wandte sich an Mikael. »Ein halbes Jahr ist bald um. Erzählen Sie. Haben Sie überhaupt irgendetwas gefunden, was wir noch nicht untersucht hatten?«

Mikael vermied es, Henrik direkt anzusehen. Er musste sofort an das seltsame Gefühl denken, das ihn beim Durchblättern des Fotoalbums beschlichen hatte. Das Gefühl ließ ihn den ganzen Tag nicht mehr los, aber er hatte noch keine Zeit gefunden, sich noch einmal mit dem Album hinzusetzen. Er war sich nicht sicher, ob er etwas zusammenfantasierte oder nicht, aber er wusste, dass er haarscharf davor gewesen war, einen ganz entscheidenden Gedanken zu fassen. Schließlich blickte er zu Henrik Vanger auf und schüttelte den Kopf.

»Ich habe nicht das kleinste bisschen gefunden.«

Henrik Vanger musterte ihn plötzlich mit aufmerksamem Gesichtsausdruck. Er kommentierte Mikaels Antwort nicht und nickte schließlich.

»Ich weiß ja nicht, wie es der Jugend geht, aber für mich wird es Zeit, mich zurückzuziehen. Danke fürs Abendessen, Cecilia. Gute Nacht, Erika. Schauen Sie morgen früh noch mal bei mir rein, bevor Sie fahren.«

Nachdem Henrik Vanger die Tür hinter sich geschlossen hatte, senkte sich Stille über den Raum. Cecilia brach das Schweigen.

»Was war das denn jetzt, Mikael?«

»Na ja, Henrik ist eben so empfindlich wie ein Seismograf, wenn es um die Reaktionen seiner Umwelt geht. Gestern, als du zu mir rübergekommen bist, saß ich gerade am Tisch und sah ein Fotoalbum an.«

»Ja, und?«

»Ich habe etwas gesehen. Ich weiß nicht, was, und ich kann es einfach nicht festmachen. Es hat sich fast zu einem Gedanken verdichtet, aber ich bekam ihn nicht zu fassen.«

»Aber woran hast du denn gedacht?«

»Ich weiß es einfach nicht. Und dann bist du gekommen, und wir … hmm … hatten erfreulichere Dinge, über die wir nachdenken konnten.«

Cecilia Vanger errötete. Sie wich Erikas Blick aus und ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen.

Es war ein warmer, sonniger Maitag. Mittlerweile war wirklich fast alles grün geworden, und Mikael ertappte sich dabei, wie er ein Frühlingsliedchen summte.

Erika übernachtete zweimal in Henriks Gästezimmer. Nach dem Abendessen hatte Mikael Cecilia gefragt, ob sie noch Gesellschaft wolle. Sie hatte geantwortet, sie sei mit den Zeugniskonferenzen beschäftigt, außerdem sei sie müde und wolle schlafen. Erika küsste Mikael aufs Kinn und verließ die Hedeby-Insel früh am Montagmorgen.

Als er Mitte März ins Gefängnis ging, war die Landschaft noch unter Schnee begraben gewesen. Jetzt grünten die Birken, und der Rasen rund um sein Häuschen gedieh prächtig. Er konnte sich zum ersten Mal auf der ganzen Insel umsehen. Gegen acht ging er zu Anna und bat sie, ihm eine Thermoskanne zu borgen. Er redete kurz mit Henrik, der gerade aufgestanden war, und durfte sich seine Karte von der Hedeby-Insel ausleihen. Er wollte sich Gottfrieds Häuschen näher ansehen, das mehrere Male im polizeilichen Untersuchungsbericht aufgetaucht war, da Harriet dort eine gewisse Zeit zugebracht hatte. Henrik erklärte, das Häuschen gehöre Martin Vanger, habe aber die Jahre über meistens leer gestanden. Ab und zu wurde es von irgendeinem Verwandten benutzt.

Mikael konnte Martin Vanger auf dem Weg zur Arbeit in Hedestad abfangen. Er erklärte ihm sein Anliegen und bat ihn um den Schlüssel.

Martin musterte ihn amüsiert. »Ich nehme mal an, die Familienchronik ist jetzt beim Kapitel Harriet angekommen.«

»Ich möchte mich nur mal umsehen …«

Martin Vanger bat ihn, kurz zu warten, und kam sofort mit dem Schlüssel zurück.

»Ist es in Ordnung für Sie?«

»Meinetwegen können Sie dort einziehen, wenn Sie Lust haben. Abgesehen von dem Umstand, dass es am anderen Ende der Insel liegt, ist es wohl hübscher als das Haus, das Sie jetzt bewohnen.«

Mikael machte sich Kaffee und ein paar belegte Brote. Er füllte eine Flasche mit Wasser, bevor er losging, und verstaute den Proviant in einem Rucksack, den er sich über eine Schulter hängte. Er folgte einem schmalen und halb überwucherten Weg, der an der nördlichen Bucht der Insel entlangführte. Gottfrieds Häuschen lag auf einer Landzunge, ungefähr zwei Kilometer von der Stadt entfernt. Er brauchte nur eine halbe Stunde, um die Strecke in gemächlichem Tempo zurückzulegen.

Martin Vanger hatte recht gehabt. Als Mikael um die letzte Wegbiegung kam, breitete sich vor ihm ein schattiger Platz am Wasser aus. Man hatte eine phantastische Aussicht auf die Mündung des Hede-Flusses, den Gästehafen auf der linken und den Industriehafen auf der rechten Seite.

Es erstaunte ihn, dass niemand Gottfrieds Häuschen in Besitz genommen hatte. Es war rustikal gehalten, blockhüttenartig gebaut, aus dunkel gebeiztem Holz, mit Ziegeldach und grünen Fensterrahmen und einer kleinen sonnigen Veranda vor der Haustür. Es war jedoch deutlich zu erkennen, dass man die Pflege von Haus und Grundstück schon länger vernachlässigte. Die Farbe an Türen und Fenstern war abgesplittert, und wo ein Rasen sein sollte, befand sich meterhohes Gebüsch. Hier zu roden und auszulichten würde einen guten Tag Arbeit erfordern.

Mikael schloss die Tür auf und öffnete die Fensterläden von innen. Der Grundstock des Hauses schien eine alte Scheune von ungefähr 35 Quadratmetern gewesen zu sein. Das Innere war ganz mit Holz ausgekleidet, und es gab nur einen einzigen großen Raum mit breiten Fenstern, die zum Wasser hinausgingen. Ganz hinten führte eine Treppe zu einem offenen Zwischengeschoss mit Schlafgelegenheit, das sich über die Hälfte der Hütte erstreckte. Unter der Treppe befand sich eine kleine Nische, die mit einem Gaskocher, einer Spüle und einem Schrank ausgestattet war. Die Möbel waren schlicht: An der Längsseite links neben der Tür befanden sich eine an der Wand befestigte Bank, ein ramponierter Schreibtisch und ein Hängeregal aus Teak. An derselben Wand standen noch drei Kleiderschränke. Rechts von der Tür stand ein runder Esstisch mit fünf Holzstühlen, und an der Schmalseite befand sich ein Kamin.

Es gab keinen Strom im Haus, dafür mehrere Petroleumlampen. Auf einem Fensterbrett stand ein altes Transistorradio der Marke Grundig. Die Antenne war abgebrochen. Mikael drückte den On-Knopf, aber die Batterien waren leer.

Er ging die schmale Treppe hoch und sah sich im Obergeschoss um. Dort fand er ein Doppelbett, eine Matratze ohne Laken, einen Nachttisch und eine Kommode vor.

Mikael durchsuchte Gottfrieds Häuschen eine Weile. Die Kommode war leer bis auf Bettwäsche und ein paar Handtücher, die schwach nach Moder rochen. In den Kleiderschränken waren alte Arbeitskleidung, ein Overall, ein Paar Gummistiefel, ein paar abgetragene Sportschuhe und ein Radiator. In den Schreibtischschubladen fanden sich Schreibpapier, Bleistifte, ein leerer Skizzenblock, ein Kartenspiel und ein paar Lesezeichen. Der Küchenschrank enthielt Essgeschirr, Kaffeetassen, Gläser, Kerzen und ein paar alte Pakete mit Salz, Teebeuteln und Ähnlichem. In einem Schubfach im Küchentisch lag Besteck.

Die einzigen Hinterlassenschaften intellektueller Art fand er im Hängeregal über dem Schreibtisch. Mikael zog sich einen Küchenstuhl heran und stellte sich darauf, um das Regal durchsuchen zu können. Auf dem untersten Brett lagen alte Ausgaben von Zeitschriften aus den späten fünfziger und den frühen sechziger Jahren. Daneben gab es noch Klatschmagazine von 1965 und 1966, Groschenromane, Militärcomics und Fantomas. Er schlug ein Herrenmagazin von 1964 auf und stellte fest, dass die Pin-ups ziemlich unschuldig aussahen.

Außerdem fanden sich noch ungefähr fünfzehn Bücher. Zirka die Hälfte waren Taschenbuch-Krimis. Er fand auch ein halbes Dutzend Kitty-Bücher, Detektivgeschichten für Mädchen, ein paar Fünf-Freunde-Bücher von Enid Blyton und einen Krimi von Sivar Ahlrud - Das Eisenbahnrätsel. Mikael lächelte, als er die Bücher wiedererkannte. Drei Romane von Astrid Lindgren: Wir Kinder von Bullerbü, Kalle Blomkvist und Rasmus und Pippi Langstrumpf. Das oberste Fach enthielt ein Buch über Kurzwellenradio, zwei Bände über Astronomie, ein Vogelbuch, ein Buch mit dem Titel Das Reich des Bösen, das von der Sowjetunion handelte; je eines über den finnischen Winterkrieg und Luthers Katechismus, ein Gesangbuch und eine Bibel.

Mikael schlug die Bibel auf und las auf der Innenseite des Buchdeckels: Harriet Vanger, 12. 5. 1963. Harriets Konfirmationsbibel. Bedrückt stellte er das Buch zurück.

Direkt hinter der Hütte befand sich ein kombinierter Holzund Geräteschuppen mit Sense, Harke, Hammer und einem Karton mit unsortierten Nägeln, Hobel, Säge und anderem Werkzeug. Das Plumpsklo lag zwanzig Meter tief im Wald. Mikael stöberte eine Weile herum und ging danach wieder zum Häuschen zurück. Er holte sich einen Stuhl, setzte sich auf die Veranda und goss sich Kaffee aus der Thermoskanne ein. Er zündete sich eine Zigarette an und blickte durch einen Vorhang aus Buschwerk auf die Hedestads-Bucht hinaus.

Gottfrieds Häuschen war wesentlich anspruchsloser, als er erwartet hätte. Hierher hatte sich Harriets und Martins Vater also zurückgezogen, als die Ehe mit Isabella Ende der fünfziger Jahre allmählich in die Brüche ging. Hier hatte er gewohnt und gesoffen. Und da unten, irgendwo beim Bootssteg, war er ertrunken.

Das Leben in der Hütte war im Sommer vermutlich recht angenehm gewesen, aber sobald die Temperatur auf null Grad sank, musste es hier eiskalt und erbärmlich sein. Wie er von Henrik wusste, hatte Gottfried seinen Job im Vanger-Konzern bis 1964 weiter ausgeübt - abgesehen von den Phasen, in denen er ohne Hemmungen soff. Dass er es geschafft hatte, mehr oder weniger dauerhaft in diesem Häuschen zu leben und gleichzeitig frisch rasiert, gewaschen und mit Schlips und Jackett in der Arbeit aufzutauchen, zeugte trotz allem von einer gewissen persönlichen Disziplin.

Aber an diesem Ort hatte sich auch Harriet Vanger so oft aufgehalten, dass man, als sie verschwand, hier nach ihr suchte. Henrik hatte berichtet, dass Harriet während des letzten Jahres oft zum Häuschen gegangen war, wahrscheinlich um am Wochenende oder an schulfreien Tagen ihre Ruhe zu haben. In ihrem letzten Sommer hatte sie hier drei Monate lang gewohnt, obwohl sie jeden Tag in die Stadt kam. Hier hatte sie auch ihre Freundin Anita Vanger, Cecilias Schwester, sechs Wochen zu Besuch gehabt.

Was hatte sie hier draußen in der Einsamkeit gemacht? Die Groschenromane und die Kitty-Bücher sprachen eine deutliche Sprache. Vielleicht hatte der Skizzenblock ihr gehört. Aber auch ihre Bibel war hier.

Wollte sie in der Nähe ihres ertrunkenen Vaters sein - eine Trauerphase, die sie durchstehen musste? War die Erklärung so einfach? Oder hatte es mit ihren religiösen Grübeleien zu tun? Das Häuschen war karg und asketisch - hatte sie sich vorgestellt, in einem Kloster zu leben?

Mikael ging das Ufer entlang Richtung Südosten, aber das Gebiet war so voller Felsspalten und Wacholdergestrüpp, dass er kaum vorankam. Er ging wieder zur Hütte und noch ein Stück zurück auf dem Weg Richtung Hedeby. Laut Karte sollte ein Pfad durch den Wald zur sogenannten Befestigung führen; er brauchte zwanzig Minuten, bevor er den überwucherten Weg fand. Die Befestigung war eine Hinterlassenschaft der Truppen, die hier im Zweiten Weltkrieg die Küste verteidigt hatten: mehrere Betonbunker mit einem Schützenwall, und in der Mitte ein Kommandogebäude. Alles war von Dickicht überwuchert.

Mikael ging den Pfad bis zu einem Bootshaus hinunter, das auf einer Lichtung am Meer stand. Dort fand er die Überreste eines Pettersson-Bootes. Er ging zur Befestigung zurück und wählte einen anderen Pfad, bis er an einen Zaun stieß: Er war von hinten an den Östergården gelangt.

Er folgte dem verschlungenen Pfad durch den Wald, teilweise parallel zu einem Acker des Östergården. Es gab ein paar sumpfige Stellen, an denen er sich vorbeischlängeln musste. Schließlich kam er an ein Moor mit einer Scheune. Soweit er sehen konnte, endete der Pfad hier, aber er war nur hundert Meter vom Weg zum Östergården entfernt.

Auf der anderen Seite des Weges lag der Söderberg, der in einer fast senkrechten Klippe am Wasser endete. Mikael folgte dem Hügel zurück Richtung Hedestad. Oberhalb der Siedlung blieb er stehen und genoss den Ausblick vom alten Fischerhafen über die Kirche hinunter bis zu seinem Gästehäuschen. Er setzte sich auf einen flachen Felsen und goss sich einen letzten Schluck lauwarmen Kaffee ein.

Er hatte keine Ahnung, was er in Hedeby eigentlich machte, aber die Aussicht gefiel ihm.

Cecilia Vanger hielt sich von ihm fern, und Mikael wollte nicht aufdringlich sein. Nach einer Woche ging er jedoch zu ihr und klopfte. Sie ließ ihn herein und setzte Kaffee auf.

»Du musst mich für völlig albern halten; eine sechsundfünfzigjährige gestandene Lehrerin, die sich wie ein Teenager aufführt.«

»Du bist ein erwachsener Mensch und kannst tun, was immer du willst, Cecilia.«

»Ich weiß. Und deswegen habe ich beschlossen, dich nicht mehr zu treffen. Ich komme nicht damit zurecht, dass …«

»Du bist mir keine Erklärung schuldig. Ich hoffe, wir bleiben trotzdem noch Freunde.«

»Das möchte ich gerne. Aber ein Verhältnis mit dir, das schaffe ich nicht. Affären waren noch nie meine Sache. Ich will wohl einfach eine Weile meine Ruhe haben.«

16. Kapitel

Sonntag, 1. Juni - Dienstag, 10. Juni

Nach einem halben Jahr erfolgloser Grübeleien gab es einen ersten Hoffnungsschimmer im Fall Harriet Vanger. Mikael entdeckte innerhalb weniger Tage in der ersten Juniwoche drei neue Puzzleteile. Zwei von ihnen fand er allein, beim dritten hatte er Hilfe.

Nach Erikas Besuch hatte er das Fotoalbum aufgeschlagen, stundenlang ein Bild nach dem anderen angeschaut und sich zu erinnern versucht, worauf er beim letzten Mal unbewusst reagiert hatte. Schließlich legte er alles beiseite und arbeitete stattdessen an der Familienchronik weiter.

Ein paar Tage später saß Mikael gerade im Bus und dachte an etwas völlig anderes, als der Fahrer in die Bahnhofstraße einbog. Ihm wurde mit einem Schlag klar, was ihm die ganze Zeit im Hinterkopf herumgespukt hatte. Er war so perplex, dass er bis zur Endhaltestelle am Bahnhofsplatz sitzen blieb, und dann sofort nach Hedeby zurückfuhr, um zu prüfen, ob er sich richtig erinnert hatte.

Es war das allererste Bild im Album und zugleich das letzte Bild von Harriet Vanger. Es war auf der Bahnhofstraße in Hedestad aufgenommen worden, wo sie dem Umzug anlässlich des »Tages des Kindes« zugesehen hatte.

Das Bild unterschied sich von den übrigen Fotos. Es war am selben Tag aufgenommen worden, aber es zeigte als einziges von knapp hundertachtzig Bildern nicht den Unfall.

Das Bild war von der anderen Straßenseite aus aufgenommen worden, wahrscheinlich aus einem Fenster im ersten Stock. Das Weitwinkelobjektiv hatte die Front eines Lastwagens im Festzug eingefangen. Auf der Ladefläche standen Frauen in glitzernden Badeanzügen und Haremshosen und warfen Bonbons ins Publikum. Vor dem Lastwagen hüpften drei Clowns herum.

Harriet stand in der ersten Reihe auf dem Bürgersteig. Neben ihr standen drei Klassenkameraden und um sie herum mindestens hundert andere Einwohner von Hedestad.

Das Publikum verhielt sich, wie sich ein Publikum verhalten soll. Diejenigen, die am weitesten links standen, konzentrierten sich auf die Ladefläche mit den leicht bekleideten Mädchen. Sie sahen vergnügt aus. Kinder zeigten mit dem Finger. Ein paar lachten. Alle wirkten fröhlich.

Alle bis auf eine.

Harriet blickte zur Seite. Ihre drei Schulkameraden und alle in ihrer Nähe schauten auf die Clowns. Harriets Gesicht war fast 30 oder 35 Grad weiter nach rechts gerichtet. Ihr Blick schien an irgendetwas auf der anderen Straßenseite hängen geblieben zu sein, was außerhalb des Bildausschnitts lag.

Mikael holte ein Vergrößerungsglas und versuchte, die Details auszumachen. Das Bild war aus zu großem Abstand aufgenommen worden, als dass er ganz sicher hätte sein können, aber im Gegensatz zu den Umstehenden schien in Harriets Gesicht kein Leben zu sein. Ihr Mund war ein schmaler Strich. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre Hände hingen schlaff an ihr herab.

Sie sah verängstigt aus. Verängstigt oder zornig.

Mikael löste das Bild aus dem Album heraus, steckte es in eine Plastikhülle und nahm den nächsten Bus zurück nach Hedestad. Er stieg in der Bahnhofstraße aus und stellte sich auf den Platz, von dem aus das Foto geschossen worden sein musste. Es war genau am Rande des Zentrums von Hedestad. Dort stand ein zweistöckiges Holzgebäude, in dem eine Videothek und Sundströms Herrenmode untergebracht war - seit 1932, wie eine Plakette an der Eingangstür verkündete. Er betrat das Geschäft und bemerkte sofort, dass es sich über zwei Etagen erstreckte; eine Wendeltreppe führte ins Obergeschoss.

Am Ende der Wendeltreppe hatte man durch zwei Fenster Ausblick auf die Straße. Hier hatte der Fotograf gestanden.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein älterer Verkäufer, als Mikael die Plastikhülle mit dem Foto herausholte. Es waren nur wenige Kunden im Laden.

»Ich würde gern wissen, von wo aus dieses Bild aufgenommen wurde. Ist es in Ordnung, wenn ich das Fenster mal ganz kurz aufmache?«

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