»Stimmt was nicht?«, fragte Mikael.
Sie schüttelte den Kopf.
»Was wollen Sie denn?«
Sie ging zu ihm, nahm ihm das Buch aus der Hand und legte es auf den Nachttisch. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf den Mund. Deutlicher konnte sie ihre Absichten kaum mehr zeigen. Sie kroch schnell unter seine Decke und betrachtete ihn mit forschendem Blick. Sie legte eine Hand auf das Betttuch auf seinem Bauch. Als er nicht protestierte, beugte sie sich herab und biss ihn in eine Brustwarze.
Mikael war völlig perplex. Nach ein paar Sekunden nahm er sie bei den Schultern und schob sie von sich, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. Er wirkte nicht gleichgültig.
»Lisbeth … ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Wir sollen zusammenarbeiten.«
»Ich will Sex mit dir. Und ich werde deswegen kein Problem haben, mit dir zusammenzuarbeiten, aber wenn du mich hier rauswirfst, dann werd ich damit ein verdammtes Problem haben.«
»Aber wir kennen uns kaum.«
Sie lachte plötzlich, kurz, es klang fast wie ein Husten.
»Als ich über dich recherchiert habe, konnte ich feststellen, dass dich so etwas früher auch nicht abgehalten hat. Im Gegenteil, du bist einer von denen, die die Finger nicht von den Frauen lassen können. Was passt dir nicht? Bin ich nicht sexy genug für deinen Geschmack?«
Mikael schüttelte den Kopf und suchte nach irgendeiner intelligenten Bemerkung. Als er nicht antwortete, zog sie ihm das Betttuch weg und setzte sich rittlings auf ihn.
»Ich hab keine Kondome«, sagte Mikael.
»Scheiß drauf.«
Als Mikael aufwachte, war Lisbeth schon aufgestanden. Er hörte sie mit dem Kaffeekessel hantieren. Es war kurz vor sechs. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen und blieb blinzelnd liegen.
Aus Lisbeth Salander wurde er nicht schlau. Sie hatte ihm kein einziges Mal auch nur mit einem Blick angedeutet, dass sie das geringste Interesse an ihm hatte.
»Guten Morgen.« Sie stand im Türrahmen und lächelte tatsächlich ein bisschen.
»Hallo«, sagte Mikael.
»Wir haben keine Milch mehr. Ich fahr schnell zur Tanke. Die machen um sieben auf.«
Sie drehte sich so schnell um, dass Mikael nicht zum Antworten kam. Er hörte, wie sie sich Schuhe anzog, ihre Tasche und ihren Helm nahm und durch die Haustür verschwand. Er schloss die Augen. Dann hörte er, wie die Tür wieder geöffnet wurde. Wenige Sekunden später stand sie wieder in seinem Türrahmen. Diesmal lächelte sie nicht.
»Du kommst am besten mal raus und guckst dir das selbst an«, sagte sie mit seltsamer Stimme.
Mikael war sofort auf den Beinen und zog sich seine Jeans an. In der Nacht war jemand mit einem unwillkommenen Geschenk beim Haus gewesen. Auf dem Treppenabsatz lag der halb verkohlte Kadaver einer zerstückelten Katze. Die Beine und der Kopf der Katze waren abgetrennt worden, danach hatte man dem Rumpf das Fell abgezogen und Gedärme und Magen herausgenommen. Die Reste waren neben den Kadaver geworfen worden, der anscheinend auf einem Feuer gebraten worden war. Der Kopf der Katze war unversehrt und auf den Sattel von Lisbeths Motorrad gesetzt worden. Mikael erkannte das rotbraune Fell sofort wieder.
22. Kapitel
Donnerstag, 10. Juli
Sie frühstückten schweigend und tranken schwarzen Kaffee. Lisbeth hatte eine kleine Canon-Digitalkamera hervorgezogen und das makabre Arrangement fotografiert, bevor Mikael einen Müllsack geholt und alles aufgeräumt hatte. Er hatte die Katze in den Kofferraum seines geliehenen Autos gelegt, war aber nicht sicher, was er mit dem toten Tier anfangen sollte. Eigentlich hätte er bei der Polizei Anzeige wegen Tierquälerei erstatten müssen, vielleicht auch wegen Bedrohung, aber er wusste nicht, wie er die Bedrohung erklären sollte.
Gegen halb neun kam Isabella auf dem Weg über die Brücke vorbei. Sie sah sie, ließ sich aber nichts anmerken.
»Wie geht es dir?«, fragte Mikael Lisbeth schließlich.
»Gut.« Sie sah ihn verwundert an. Okay, okay. Vermutlich will er, dass ich mich empöre. »Wenn ich das Arschloch erwische, das eine unschuldige Katze zu Tode gequält hat, nur um uns eine Warnung zukommen zu lassen, dann werde ich einen Baseballschläger benutzen.«
»Du glaubst, das war eine Warnung?«
»Hast du eine bessere Erklärung?«
Mikael schüttelte den Kopf. »Was auch immer die Wahrheit hinter dieser Geschichte ist, auf jeden Fall scheint sich irgendjemand von uns gewaltig provoziert zu fühlen. Aber da gibt es noch ein anderes Problem.«
»Ich weiß. Das war ein Tieropfer im Stile von 1954 und 1960. Aber es wäre nicht sonderlich logisch, dass ein Mörder, der vor fünfzig Jahren aktiv war, hier rumschleicht und dir die Kadaver gefolterter Tiere auf die Schwelle legt.«
Mikael gab ihr recht.
»Die Einzigen, die da infrage kommen, sind Harald und Isabella Vanger. Es gibt noch ein paar ältere Verwandte von Johan Vangers Seite, aber keiner von ihnen wohnt hier in der Gegend.«
Mikael seufzte.
»Isabella ist eine böse alte Hexe, die bestimmt eine Katze umbringen kann, aber ich bezweifle, dass sie in den fünfziger Jahren serienmäßig Frauen ermordete. Harald Vanger … ich weiß nicht, der ist doch so altersschwach. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass er in der Nacht rausgeschlichen ist und das da gemacht hat.«
»Wenn es nicht zwei Personen sind. Eine ältere und eine jüngere.«
Plötzlich hörte Mikael ein Auto vorbeifahren. Er blickte auf und sah Cecilia über die Brücke verschwinden. Harald und Cecilia, dachte er. Aber bei diesem Gedanken gab es ein großes Fragezeichen - Vater und Tochter hatten keinen Kontakt und sprachen kaum miteinander. Trotz Martin Vangers Zusicherung, dass er mit ihr reden würde, hatte sie noch immer keinen von Mikaels Anrufen angenommen.
»Es muss jemand sein, der weiß, dass wir den Fall gründlich untersuchen und Fortschritte gemacht haben«, sagte Lisbeth, stand auf und ging ins Haus. Als sie wieder herauskam, hatte sie ihre Motorradlederjacke an.
»Ich fahre nach Stockholm. Heute Abend bin ich wieder da.«
»Was willst du machen?«
»Ein paar Sachen holen. Wenn jemand so verrückt ist, eine Katze auf diese Art zu massakrieren, dann kann er oder sie sich nächstes Mal auch uns vornehmen. Oder nachts ein Feuer legen, damit wir beide im Haus ersticken und verbrennen. Ich möchte, dass du gleich heute nach Hedestad reinfährst und zwei Feuerlöscher und zwei Rauchmelder kaufst. Einer von den Feuerlöschern sollte ein Halonlöscher sein.«
Ohne ein weiteres Abschiedswort setzte sie den Helm auf, kickte das Motorrad an und verschwand über die Brücke.
Mikael warf den Kadaver in einen Mülleimer bei der Tankstelle, bevor er nach Hedestad fuhr und die Feuerlöscher und die Rauchmelder kaufte. Er legte sie in den Kofferraum und fuhr zum Krankenhaus. Er hatte Frode angerufen und ein Treffen in der Cafeteria mit ihm ausgemacht, bei dem er ihm erzählte, was am Morgen passiert war. Dirch Frode erbleichte.
»Ich hatte nie damit gerechnet, dass diese Geschichte gefährlich werden könnte, Mikael.«
»Warum nicht? Der Auftrag bestand doch darin, einen Mörder aufzuspüren.«
»Aber wer sollte denn … Das ist doch Wahnsinn! Wenn Gefahr für Ihr Leben und das Leben von Frau Salander besteht, dann müssen wir das Unternehmen abbrechen. Ich kann mit Henrik sprechen.«
»Nein. Auf keinen Fall. Ich möchte nicht riskieren, dass er noch einen Herzanfall erleidet.«
»Er fragt die ganze Zeit, wie es bei Ihnen vorangeht.«
»Grüßen Sie ihn schön - ich suche weiter.«
»Was sollen wir jetzt tun?«
»Ich habe ein paar Fragen. Der erste Vorfall geschah kurz nachdem Henrik seinen Herzanfall bekommen hatte und ich tagsüber in Stockholm war. Jemand hat mein Arbeitszimmer durchsucht. Das war genau zu dem Zeitpunkt, als ich den Bibelcode geknackt und die Bilder von der Bahnhofstraße entdeckt hatte. Ich hatte Ihnen und Henrik davon erzählt. Martin wusste es auch, weil er mir Zugang zum Archiv des Hedestads-Kuriren verschafft hat. Wie viele wussten es noch?«
»Tja, ich weiß nicht genau, mit wem Martin gesprochen hat«, sagte Frode. »Aber sowohl Birger als auch Cecilia wussten darüber Bescheid. Sie haben miteinander über Ihre Bilderjagd geredet. Und Gunnar und Helena Nilsson übrigens auch. Sie waren gerade zu Besuch bei Henrik und wurden ins Gespräch einbezogen. Und Anita Vanger.«
»Anita? Die ist doch in London?«
»Sie flog gemeinsam mit ihrer Schwester Cecilia nach Hause, als Henrik seinen Herzanfall erlitten hatte, aber sie wohnte in einem Hotel, und soweit ich weiß, ist sie nicht auf der Hedeby-Insel gewesen. Wie Cecilia wollte auch sie ihren Vater nicht treffen. Vor einer Woche ist sie wieder nach Hause geflogen, als Henrik aus der Intensivstation entlassen wurde.«
»Wo wohnt Cecilia zurzeit? Ich habe sie heute Morgen über die Brücke fahren sehen, aber in ihrem Haus ist alles verriegelt und dunkel.«
»Verdächtigen Sie sie?«
»Nein, ich frage mich nur, wo sie wohnt.«
»Sie wohnt bei ihrem Bruder Birger. Von dort aus kann sie zu Fuß zu Henrik gehen.«
»Wissen Sie, wo sie jetzt gerade ist?«
»Nein. Bei Henrik ist sie jedenfalls nicht.«
»Danke«, sagte Mikael und stand auf.
Die Familie Vanger kreiste um das Krankenhaus von Hedestad. In der Eingangshalle sah er Birger auf dem Weg zu den Aufzügen. Mikael hatte keine Lust, ihm zu begegnen, und wartete, bis er verschwunden war, bevor er die Eingangshalle betrat. Dort stieß er mit Martin Vanger zusammen, an fast derselben Stelle, an der er Cecilia bei seinem letzten Besuch getroffen hatte. Sie grüßten sich und gaben sich die Hand.
»Sind Sie oben gewesen, um Henrik zu besuchen?«
»Nein, ich habe nur kurz Dirch Frode getroffen.«
Martin Vanger sah müde und hohläugig aus. Mikael fiel auf, dass er im letzten halben Jahr deutlich gealtert war. Der Kampf um die Rettung des Vangerschen Imperiums forderte seinen Tribut, und Henriks plötzlicher Herzanfall war auch nicht gerade eine Aufmunterung gewesen.
»Wie geht es bei Ihnen voran?«, fragte Martin Vanger.
»Ach, danke. Es wird mit jedem Tag interessanter. Wenn es Henrik wieder besser geht, hoffe ich, dass wir seine Neugierde befriedigen können.«
Birger Vanger wohnte in einem weiß verklinkerten Reihenhaus auf der anderen Seite der Straße, nur fünf Gehminuten vom Krankenhaus entfernt. Er hatte Aussicht aufs Meer und den Gästehafen. Als Mikael klingelte, machte niemand auf. Er rief Cecilia auf dem Handy an, aber sie ging nicht dran. Er blieb eine Weile im Auto sitzen und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Birger Vanger war ein unbeschriebenes Blatt in seiner Sammlung - 1939 geboren und damit erst zehn Jahre alt, als der Mord an Rebecka Jacobsson begangen wurde. Als Harriet verschwand, war er siebenundzwanzig gewesen.
Henrik zufolge hatten Birger und Harriet kaum Kontakt miteinander gehabt. Er war in Uppsala bei seiner Familie aufgewachsen und nach Hedestad gezogen, um im Konzern zu arbeiten, doch nach ein paar Jahren stieg er aus, um sich der Politik zu widmen. Als der Mord an Lena Andersson verübt wurde, war er in Uppsala gewesen.
Mikael konnte einfach keine Ordnung in die Geschichte bringen, aber der Vorfall mit der Katze vermittelte ihm das Gefühl, einer unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt zu sein und möglicherweise nicht mehr viel Zeit zu haben.
Der alte Pfarrer von Hedeby, Otto Falk, war sechsunddreißig Jahre alt gewesen, als Harriet verschwand. Nun war er zweiundsiebzig, jünger als Henrik, aber in erheblich schlechterer geistiger Verfassung. Mikael besuchte ihn im Pflegeheim Svalan, einem gelben Ziegelbau am anderen Ende der Stadt. Mikael stellte sich am Empfang vor und bat darum, mit Pfarrer Falk sprechen zu dürfen. Er sagte, er habe gehört, dass Falk an Alzheimer leide, und erkundigte sich, ob man sich mit ihm unterhalten könne. Eine Oberschwester gab ihm die Auskunft, dass Pfarrer Falk seine Diagnose vor drei Jahren bekommen habe und die Krankheit einen aggressiven Verlauf nehme. Falk sei ansprechbar, aber er habe ein äußerst schlechtes Kurzzeitgedächtnis, erkenne manche Verwandte nicht wieder und sei insgesamt auf dem Weg in die tiefe Nacht. Mikael wurde zudem gewarnt, dass der Alte Angstattacken erleide, wenn man mit Fragen in ihn drang, die er nicht beantworten könne.
Der alte Pfarrer saß auf einer Parkbank in einem Garten, zusammen mit drei anderen Patienten und einem Pfleger. Mikael versuchte eine Stunde lang mit Falk zu reden, verließ das Heim dann aber genauso schlau, wie er gekommen war.
Pfarrer Falk behauptete, sich sehr gut an Harriet Vanger erinnern zu können. Er strahlte und beschrieb sie als ein bezauberndes Mädchen. Mikael erkannte jedoch bald, dass es dem Pfarrer geglückt war zu verdrängen, dass sie seit knapp siebenunddreißig Jahren verschwunden war. Er sprach von ihr, als habe er sie neulich erst getroffen, und bat Mikael, sie schön von ihm zu grüßen und ihr auszurichten, sie solle ihn doch einmal besuchen kommen. Mikael versprach es ihm.
Als Mikael den Tag von Harriets Verschwinden zur Sprache brachte, war der Pfarrer völlig verblüfft. Er erinnerte sich anscheinend überhaupt nicht an den Unfall auf der Brücke. Mikael begriff bald, dass der Pfarrer nichts Wertvolles zur Ermittlung beitragen konnte. Erst am Ende ihres Gesprächs erwähnte er etwas, was Mikael zumindest kurz die Ohren spitzen ließ.
Als Mikael Harriets Interesse für die Religion ins Gespräch einfließen ließ, wurde Pfarrer Falk mit einem Mal nachdenklich. Es war, als würde eine Wolke über sein Gesicht ziehen. Er schaukelte eine Weile vor und zurück, sah plötzlich zu Mikael auf und fragte ihn, wer er sei. Mikael stellte sich ihm noch einmal vor, und der Alte überlegte noch eine Weile. Schließlich schüttelte er den Kopf und wirkte irritiert.
»Sie ist immer noch auf der Suche. Sie muss vorsichtig sein, und Sie müssen Sie warnen.«
»Wovor soll ich sie warnen?«
Auf einmal war Falk furchtbar erregt. Er runzelte die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.
»Sie muss sola scriptura lesen und die sufficientia scripturae begreifen. Nur so kann sie sola ide aufrechterhalten. Josef schließt sie ganz bestimmt aus. Sie wurden nie in den Kanon aufgenommen.«
Mikael verstand nicht eine Silbe, machte sich aber eifrig Notizen. Dann lehnte sich Pfarrer Falk zu ihm vor und wisperte ihm vertraulich zu:
»Ich glaube, sie ist Katholikin. Sie schwärmt für Magie und hat ihren Gott noch nicht gefunden. Man muss ihr den Weg weisen.«
Das Wort »Katholik« hatte offensichtlich einen schlechten Klang für Pfarrer Falk.
»Ich dachte, sie interessierte sich für die Pfingstbewegung?«
»Nein, nein, nicht die Pfingstbewegung. Sie sucht die verbotene Wahrheit. Sie ist keine gute Christin.«
Dann schien Pfarrer Falk Mikael und das Gesprächsthema zu vergessen und begann mit einem der anderen Patienten zu reden.
Mikael war kurz nach zwei Uhr nachmittags wieder auf der Hedeby-Insel. Er ging zu Cecilia hinüber und klopfte, aber ohne Erfolg. Er probierte es auf ihrem Handy, aber sie ging nicht dran.
Er brachte einen Rauchmelder in der Küche an und einen vor dem Eingang. Einen Feuerlöscher stellte er neben den Eisenofen vor der Schlafzimmertür und den anderen neben die Toilettentür. Danach machte er sich Mittagessen, bestehend aus Kaffee und Stullen, und setzte sich in den Garten, wo er die Notizen von seinem Gespräch mit Pfarrer Falk in sein iBook übertrug. Er überlegte lang und hob dann den Blick zur Kirche.
Das neue Pfarrhaus von Hedeby war ein ganz normales modernes Haus, das ein paar Gehminuten von der Kirche entfernt lag. Gegen vier klopfte Mikael bei der Pfarrerin Margareta Strandh und erklärte, er brauche Rat in einer theologischen Frage. Margareta Strandh war eine dunkelhaarige Frau in seinem Alter. Sie trug Jeans und ein Flanellhemd, war barfuß und hatte lackierte Zehennägel. Er war ihr früher schon einmal in Susannes Brücken-Café begegnet und hatte mit ihr über Pfarrer Falk gesprochen. Sie nahm Mikael freundlich auf und bat ihn in den Garten.
Mikael erzählte von seinem Gespräch mit Falk und dessen kryptischen Äußerungen. Margareta Strandh hörte ihm zu und bat ihn dann, Wort für Wort zu wiederholen, was Falk gesagt habe. Sie überlegte ein Weilchen.
»Ich habe meinen Dienst hier in Hedeby erst vor drei Jahren angetreten und Pfarrer Falk niemals getroffen. Er ist schon ein paar Jahre vorher in Pension gegangen, aber soviel ich weiß, war er ziemlich orthodox. Was er zu Ihnen gesagt hat, bedeutet ungefähr, dass man sich allein an die Schrift halten soll - sola scriptura. Sufficientia scripturae bedeutet, dass für die Buchstabengläubigen die Schrift völlig ausreicht. Sola fide heißt Glaube allein oder reiner Glaube.«
»Ich verstehe.«
»All das ist sozusagen ein grundlegendes Dogma. Es ist im Großen und Ganzen das Fundament der Kirche und überhaupt nichts Ungewöhnliches. Er hat ganz einfach gesagt: Lies die Bibel - sie lehrt dich genug und gibt dir den reinen Glauben.«
Mikael fühlte sich ein bisschen verlegen.
»Nun muss ich Sie fragen, in welchem Zusammenhang Sie dieses Gespräch geführt haben.«
»Ich habe nach einem Menschen gefragt, den er vor vielen Jahren gekannt hatte und über den ich etwas schreibe.«
»Jemand, der einen religiösen Sinn suchte?«
»So was in der Richtung.«
»Ich glaube, ich verstehe den Zusammenhang. Pfarrer Falk hat noch zwei Dinge gesagt - dass Josef sie bestimmt ausschließt und dass sie niemals in den Kanon aufgenommen wurden. Ist es wohl möglich, dass Sie sich verhört haben und er Josephus statt Josef gesagt hat? Das ist eigentlich derselbe Name.«
»Das ist nicht unmöglich«, sagte Mikael. »Ich habe das Gespräch auf Band aufgenommen. Wollen Sie es hören?«
»Nein, ich glaube, das ist nicht notwendig. Diese zwei Sätze sagen ziemlich eindeutig, worauf er hinauswollte. Josephus war ein jüdischer Geschichtsschreiber, und der Ausspruch, dass sie niemals in den Kanon aufgenommen wurden, dürfte auf den hebräischen Kanon abzielen.«
»Und das bedeutet?«
Sie lachte.
»Falks Worte legen die Vermutung nahe, dass die betreffende Person für esoterische Quellen schwärmte, genauer gesagt, für die Apokryphen. Das Wort ›apokryphos‹ bedeutet ›verborgen‹, und die Apokryphen sind die verborgenen Bücher, von denen manche finden, dass sie ins Alte Testament gehören. Das sind Tobit, Judit, Ester, Baruch, Jesus Sirach, die Makkabäer-Bücher und noch ein paar andere.«
»Entschuldigen Sie mein Unwissen. Ich habe schon von den Apokryphen gehört, sie aber nie gelesen. Was ist so besonders an ihnen?«
»Es ist eigentlich überhaupt nichts Besonderes an ihnen, sie sind nur ein bisschen später hinzugekommen als der Rest des Alten Testaments. Die Apokryphen sind daher aus der hebräischen Bibel gestrichen worden - nicht, weil die jüdischen Schriftgelehrten ihrem Inhalt nicht trauten, sondern weil sie geschrieben wurden, nachdem das Offenbarungswerk Gottes abgeschlossen worden war. In den alten griechischen Bibelübersetzungen sind die Apokryphen jedoch dabei. In der römisch-katholischen Kirche sind sie zum Beispiel nicht strittig.«
»Verstehe.«
»In der protestantischen Kirche hingegen sind sie strittig. In der Reformationszeit griffen die Theologen auf die hebräische Bibel zurück. Martin Luther entfernte die Apokryphen aus der Reformationsbibel, und später erklärte Calvin, dass die Apokryphen absolut keinen Glaubensüberzeugungen zugrunde gelegt werden dürften. Sie enthalten also Dinge, die der claritas scripturae mehr oder weniger widersprechen - also der Klarheit der Schrift.«
»Mit anderen Worten, zensierte Bücher.«
»Genau. Die Apokryphen behaupten zum Beispiel, dass Magie praktiziert werden kann und dass in gewissen Fällen auch eine Lüge zulässig ist. Solche Aussagen versetzen die dogmatischen Ausleger der Schrift natürlich in Aufruhr.«
»Wenn jemand für Religion schwärmt, ist es also nicht undenkbar, dass die Apokryphen auf seiner Lektüreliste auftauchen und jemand wie Pfarrer Falk sich darüber aufregt.«
»Genau. Es ist fast unvermeidlich, dass Sie auf die Apokryphen stoßen, wenn Sie sich für Inhalte der Bibel oder für den Katholizismus interessieren, und ebenso ist es wahrscheinlich, dass jemand, der sich mit Esoterik beschäftigt, sie auch lesen würde.«
»Sie haben nicht zufällig ein Exemplar der Apokryphen?«
Sie lachte nochmals. Ein helles, freundliches Lachen.
»Natürlich. Die Apokryphen gibt es sogar in einer Ausgabe der staatlichen Bibelkommission aus den achtziger Jahren.«
Als Lisbeth Salander Armanskij um ein Gespräch bat, fragte er sich, was wohl im Busch sein mochte. Er schloss die Tür und machte ihr eine Geste, sich in den Besuchersessel zu setzen. Sie erklärte, dass die Arbeit für Mikael Blomkvist beendet war - Dirch Frode würde bis zum Monatsende bezahlen -, sie sich aber entschlossen habe, weiter bei dieser Untersuchung mitzuarbeiten. Mikael hatte ihr einen wesentlich niedrigeren Monatslohn angeboten.
»Ich arbeite freiberuflich«, sagte Lisbeth Salander. »Trotzdem habe ich bis jetzt nie einen Job angenommen, der nicht von Ihnen kam. Ich möchte wissen, wie es unser Verhältnis beeinflusst, wenn ich in eigener Verantwortung Jobs annehme.«
Armanskij zuckte die Achseln.
»Sie sind selbstständig, Sie können Jobs annehmen, wie es Ihnen gefällt, und Rechnungen nach Ihrem eigenen Geschmack schreiben. Ich freue mich, wenn Sie Ihr eigenes Geld verdienen. Es wäre aber unloyal von Ihnen, wenn Sie sich Kunden sichern, die Sie über uns bekommen haben.«
»Das habe ich nicht vor. Ich habe den Job gemäß unserem Vertrag mit Blomkvist erfüllt. Diese Arbeit ist abgeschlossen. Es geht darum, dass ich an dem Fall dranbleiben will. Ich würde es auch umsonst machen.«
»Machen Sie niemals irgendetwas umsonst.«
»Sie verstehen, was ich meine. Ich will wissen, was letztendlich hinter dieser Geschichte steckt. Ich habe Blomkvist überredet, Frode für mich um einen Verlängerungsvertrag als Recherche-Mitarbeiterin zu bitten.«
Sie gab Armanskij den Vertrag, den er überflog.
»Bei dem Honorar könnten Sie auch gleich umsonst arbeiten. Sie sind begabt, Lisbeth. Sie brauchen nicht für ein Taschengeld zu arbeiten. Sie wissen, dass Sie bei mir bedeutend mehr verdienen können, wenn Sie sich als Vollzeitmitarbeiterin anstellen lassen.«
»Ich will nicht Vollzeit arbeiten. Aber, Dragan, meine Loyalität gehört Ihnen. Sie waren nett zu mir, seit ich hier angefangen habe. Ich möchte wissen, ob so ein Vertrag für Sie in Ordnung geht, und will nicht, dass es da Schwierigkeiten zwischen uns gibt.«
»Ich verstehe.« Er überlegte kurz. »Es ist völlig okay. Danke, dass Sie mich gefragt haben. Wenn solche Situationen in Zukunft auftreten, möchte ich, dass Sie mich wieder fragen, dann wird es auch keine Missverständnisse geben.«
Lisbeth Salander blieb ein paar Minuten schweigend sitzen und überlegte, ob es noch etwas hinzuzufügen gab. Sie nagelte Dragan Armanskij mit ihrem Blick fest, ohne etwas zu sagen. Stattdessen nickte sie nur, stand auf und ging, wie immer ohne Abschiedsgruß. Sobald sie die Auskunft bekommen hatte, die sie wollte, verlor sie völlig das Interesse an Armanskij. Er lächelte in sich hinein. Dass Sie ihn überhaupt um Rat gefragt hatte, war vermutlich einer der Höhepunkte ihres Sozialisierungsprozesses.
Er öffnete eine Mappe mit einem Bericht über die Sicherheitsmaßnahmen in einem Museum, in dem demnächst eine große Ausstellung französischer Impressionisten stattfinden würde. Dann legte er die Mappe wieder aus der Hand und starrte auf die Tür, durch die Salander gerade hinausgegangen war. Er dachte daran, wie sie in ihrem Büro mit Mikael Blomkvist gelacht hatte, und fragte sich, ob sie gerade erwachsen wurde oder ob es Blomkvist war, der sie an dieser Sache lockte. Plötzlich wurde er unruhig. Er war das Gefühl nie losgeworden, dass Lisbeth Salander ein perfektes Opfer war. Und nun jagte sie einen Wahnsinnigen in der Wildnis.
Auf dem Weg gen Norden machte Lisbeth einen spontanen Abstecher zum Pflegeheim Äppelviken und besuchte ihre Mutter. Abgesehen von einem Besuch am Mittsommerabend, hatte sie ihre Mutter seit Weihnachten nicht gesehen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so selten Zeit für sie nahm. Ein zweiter Besuch innerhalb weniger Wochen war rekordverdächtig.
Ihre Mutter saß im Aufenthaltsraum. Lisbeth blieb eine knappe Stunde und nahm ihre Mutter mit auf einen Spaziergang, hinunter zum Ententeich im Park vorm Krankenhaus. Ihre Mutter verwechselte Lisbeth immer noch mit ihrer Schwester. Wie immer war sie nicht richtig anwesend, schien sich aber über den Besuch zu freuen.
Als Lisbeth Abschied von ihr nahm, wollte sie ihre Hand nicht loslassen. Lisbeth versprach, sie bald wieder zu besuchen, aber als sie ging, blickte ihr ihre Mutter ängstlich und unglücklich nach.
Als ahne sie eine drohende Katastrophe voraus.
Mikael verbrachte zwei Stunden im Garten hinterm Haus damit, in den Apokryphen zu blättern. Dann kam ihm der Verdacht, dass er seine Zeit verschwendete.
Doch plötzlich fragte er sich, wie religiös Harriet eigentlich gewesen war. Ihr Interesse an der Bibel hatte ein Jahr vor ihrem Verschwinden begonnen. Sie hatte eine ganze Reihe Bibelzitate mit einer Mordserie in Verbindung bringen können und danach nicht nur die Bibel gründlich gelesen, sondern auch die Apokryphen. Und hatte sich für den Katholizismus interessiert.
Hatte sie im Grunde nur dieselbe Untersuchung angestellt wie Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander siebenunddreißig Jahre später? War es eher die Jagd nach einem Mörder als die Religiosität, die ihr Interesse befeuerte? Pfarrer Falk hatte angedeutet, sie sei weniger eine gute Christin gewesen als eine Suchende.
Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Erika ihn auf dem Handy anrief.
»Ich wollte nur Bescheid geben, dass Greger und ich nächste Woche in Urlaub fahren. Ich bin vier Wochen weg.«
»Wohin fahrt ihr?«
»Nach New York. Greger hat eine Ausstellung, und danach wollen wir in die Karibik. Ein Bekannter von Greger hat uns sein Haus in Antigua überlassen. Wir bleiben zwei Wochen dort.«
»Das klingt phantastisch. Viel Spaß. Und grüß Greger.«
»Ich habe seit drei Jahren nicht mehr richtig freigehabt. Das neue Heft ist fertig und fast das ganze nächste Heft auch. Ich wünschte, du könntest als Redakteur einspringen, aber Christer hat versprochen, dass er sich kümmert.«
»Er kann mich anrufen, wenn er Hilfe braucht. Wie läuft’s mit Janne Dahlman?«
Sie zögerte kurz.
»Er fährt nächste Woche auch in Urlaub. Ich habe Henry Cortez vorübergehend zum Redaktionsassistenten gemacht. Christer Malm und er schmeißen den Laden.«
»Okay.«
»Ich traue Dahlman nicht. Aber er benimmt sich. Am siebten August bin ich zurück.«
Sie wünschten sich alles Gute und beendeten das Gespräch.
Gegen sieben hatte Mikael bereits zigmal versucht, Cecilia anzurufen. Er hatte ihr eine SMS geschrieben, in der er sie bat, ihn anzurufen, hatte aber keine Antwort erhalten.
Entschlossen schlug er die Apokryphen zu, zog seine Sportsachen an, schloss die Tür ab und begab sich auf seine tägliche Trainingsrunde. Er folgte dem schmalen Pfad am Strand, bevor er in den Wald abbog. So schnell wie möglich arbeitete er sich durch Gestrüpp und Wurzelwerk und erreichte erschöpft und mit viel zu hohem Puls die Befestigung. Bei einer der alten Schießschanzen stoppte er und machte ein paar Minuten Dehnübungen.
Plötzlich hörte er einen scharfen Knall, während gleichzeitig eine Kugel in die graue Betonmauer ein paar Zentimeter neben seinem Kopf einschlug. Dann fühlte er einen heftigen Schmerz am Haaransatz, wo Splitter eine tiefe Platzwunde hinterlassen hatten.
Mikael stand wie gelähmt da und war unfähig zu begreifen, was soeben geschehen war - diese Sekunden kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Dann warf er sich kopfüber in den Schützengraben und zerbrach sich fast alle Knochen, als er auf seiner Schulter landete. Der zweite Schuss fiel im selben Moment, in dem er sich niederwarf. Die Kugel traf das Betonfundament, vor dem er gerade noch gestanden hatte.
Mikael kam wieder auf die Füße und sah sich um. Er befand sich ungefähr in der Mitte der Befestigung. Nach rechts und links liefen enge, metertiefe und überwachsene Gänge, die von einer Linie von knapp zweihundertfünfzig Metern Länge abzweigten. Geduckt lief er in südlicher Richtung durch das Labyrinth.
Plötzlich hörte er Hauptmann Adolfssons unverkennbare Stimme auf einer Winterübung bei den Feldjägern in Kiruna. Verflucht noch mal, Blomkvist, runter mit dem Schädel, wenn Ihnen keiner den Arsch wegschießen soll. Noch nach zwanzig Jahren erinnerte er sich an die Spezialübungen, die Hauptmann Adolfsson befehligt hatte.
Nach ungefähr sechzig Metern blieb er mit klopfendem Herzen stehen und holte Luft. Er konnte keine anderen Geräusche als seine eigene Atmung hören. Das menschliche Auge nimmt Bewegung viel schneller wahr als Formen und Gestalten. Bewegen Sie sich langsam, wenn Sie etwas ausspähen.
Langsam hob Mikael den Blick ein paar Zentimeter über den Rand der Schanze. Die Sonne schien ihm direkt in die Augen und machte es ihm unmöglich, Details zu erkennen, aber Bewegungen konnte er auch nicht ausmachen.
Mikael zog den Kopf wieder zurück und lief weiter zum letzten Wall. Es ist gleichgültig, was für gute Waffen der Feind besitzt. Wenn er Sie nicht sehen kann, kann er Sie auch nicht treffen. Deckung, Deckung und nochmals Deckung. Achten Sie darauf, dass Sie nie Ihre Deckung aufgeben.
Mikael war nun zirca dreihundert Meter von der Grenze zum Östergårdener Hof entfernt. Vierzig Meter vor ihm begann ein schwer zugängliches Dickicht mit jeder Menge niedrigem Buschwerk. Aber um dorthin zu gelangen, musste er von der Schießschanze einen Abhang hinunterlaufen, auf dem er völlig ungeschützt sein würde. Es war der einzige Ausweg. Im Rücken hatte er das Meer.
Mikael ging in die Hocke und überlegte. Plötzlich wurde er sich des Schmerzes an der Schläfe bewusst und entdeckte, dass er stark blutete und sein T-Shirt bereits blutdurchtränkt war. Ein Fragment der Kugel oder ein Splitter aus der Betonwand hatte ihm eine tiefe Wunde an der Schläfe gerissen. Kopfwunden wollen einfach nie aufhören zu bluten, dachte er, bevor er sich wieder auf seine missliche Lage konzentrierte. Ein einzelner Schuss konnte auch aus Fahrlässigkeit abgegeben worden sein. Zwei Schüsse bedeuteten, dass jemand versucht hatte, ihn zu töten. Er wusste nicht, ob der Schütze noch irgendwo da draußen war und mit frisch geladener Waffe darauf wartete, dass er sich wieder zeigte.
Er versuchte, sich zu beruhigen und vernünftig zu denken. Er hatte die Wahl - entweder wartete er ab, oder er floh irgendwie. Aber wenn er wartete, konnte der Schütze ganz ruhig auf die Befestigung hinaufgehen, ihn suchen und aus nächster Nähe erschießen.
Er (oder sie) kann nicht wissen, ob ich nach rechts oder links gegangen bin, dachte er. Ein Gewehr, wahrscheinlich ein Elchstutzen. Vermutlich mit Zielfernrohr. Das bedeutete, dass der Schütze ein begrenztes Blickfeld hatte, wenn er Mikael durch seine Linse suchte.
Wenn Sie in der Klemme sitzen - ergreifen Sie die Initiative. Das ist besser, als abzuwarten. Er wartete und horchte zwei Minuten lang nach Geräuschen. Dann stemmte er sich aus dem Schützengraben hoch und rutschte den Abhang hinunter, so schnell er konnte.
Ein dritter Schuss wurde abgefeuert, als er schon den halben Weg zum Dickicht zurückgelegt hatte, aber die Kugel verfehlte ihn deutlich. Im nächsten Moment warf er sich mit dem ganzen Körper durch den Vorhang aus Buschwerk und rollte durch ein Meer von Brennnesseln. Dann kam er sofort wieder auf die Füße und begann sich geduckt von dem Schützen zu entfernen. Nach fünfzig Metern blieb er stehen und horchte. Plötzlich hörte er irgendwo zwischen sich und der Befestigung einen Zweig knacken. Vorsichtig legte er sich auf den Bauch.
Robben war ein anderer von Hauptmann Adolfssons Lieblingsausdrücken gewesen. Mikael legte die nächsten hundertfünfzig Meter durchs Unterholz robbend zurück. Er bewegte sich lautlos und achtete sorgfältig auf Reisig und Zweige. Zweimal hörte er ein plötzliches Knacken im Dickicht. Das erste Mal schien es aus seiner unmittelbaren Nähe zu kommen, vielleicht zwanzig Meter links von der Stelle, wo er lag. Er erstarrte und blieb regungslos liegen. Nach einer Weile hob er vorsichtig den Kopf und spähte um sich, aber er konnte niemanden sehen. Lange verharrte er so mit aufs Äußerste angespannten Nerven, bereit zu flüchten oder vielleicht einen verzweifelten Gegenangriff zu starten, wenn der Feind direkt auf ihn losging. Das nächste Knacken, das er hörte, kam aus bedeutend größerer Entfernung. Danach Stille.
Er weiß, dass ich hier bin. Aber hat er sich jetzt irgendwo postiert und wartet darauf, dass ich mich bewege? Oder hat er sich zurückgezogen?
Er kroch weiter durchs Unterholz, bis er zum Weidezaun von Östergården gelangte.
Das waren die nächsten kritischen Momente. Außen am Zaun führte ein Pfad entlang. Er lag der Länge nach auf dem Boden und hielt Ausschau. Wenn er geradeaus blickte, konnte er Gebäude erkennen, ungefähr vierhundert Meter weiter oben auf einem leichten Abhang, und rechts daneben ein Dutzend grasende Kühe. Warum hatte niemand den Schuss gehört und war gekommen, um nach dem Rechten zu sehen? - Sommer! Man kann nicht davon ausgehen, dass jemand zu Hause ist.
Die Weide zu betreten kam überhaupt nicht infrage - dort hätte er kein bisschen Deckung -, aber der gerade Weg am Zaun war andererseits genau der Platz, an dem er selbst sich postiert hätte, um ein unbehindertes Schussfeld zu haben. Er zog sich vorsichtig wieder ins Dickicht zurück und durchquerte es, bis es in einen lichten Kiefernwald überging.
Mikael nahm einen Umweg nach Hause. Als er am Östergården vorbeikam, stellte er fest, dass die Autos weg waren. Ganz oben auf dem Söderberg blieb er stehen und betrachtete Hedeby. In den alten Fischerhütten am Kleinboothafen wohnten Sommergäste; ein paar Frauen saßen im Badeanzug auf einem Steg und unterhielten sich. Er roch den Duft von gegrilltem Fisch. Ein paar Kinder plantschten bei den Stegen.
Mikael sah auf seine Armbanduhr. Kurz nach acht. Es waren fünfzig Minuten vergangen, seit die Schüsse gefallen waren. Gunnar Nilsson sprengte seinen Rasen mit nacktem Oberkörper und Shorts. Wie lange bist du schon dort? In Henriks Haus war niemand außer der Haushälterin Anna Nygren. Bei Harald Vanger wirkte alles so verlassen wie immer. Plötzlich sah er Isabella Vanger im Garten hinter seinem Haus. Sie saß am Gartentisch und unterhielt sich mit jemand. Mikael brauchte eine Sekunde, bis er erkannte, dass es die kränkliche Gerda Vanger war, geboren 1922, die mit ihrem Sohn Alexander in einem der Häuser hinter Henrik wohnte. Er hatte sie noch nie getroffen, sie aber ein paarmal auf dem Grundstück gesehen. Cecilias Haus sah unbewohnt aus, aber dann sah Mikael plötzlich, wie in der Küche das Licht anging. Sie ist zu Hause. War der Schütze eine Frau gewesen? Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass Cecilia mit einem Gewehr umgehen konnte. Ein Stück entfernt konnte er Martin Vangers Auto auf dem Hof vor dem Haus stehen sehen. Wie lange bist du schon zu Hause?
Oder war es jemand anders, an den er noch nicht einmal gedacht hatte? Frode? Alexander? Zu viele Möglichkeiten.
Er ging den Söderberg hinunter und folgte dem Weg in die Siedlung bis zu sich nach Hause, ohne jemanden zu treffen. Als Erstes sah er, dass die Haustür einen Spalt offen stand. Er duckte sich fast schon instinktiv. Dann roch er den Duft von Kaffee und erkannte Lisbeth durchs Küchenfenster.
Lisbeth hörte Mikael vor der Haustür und drehte sich zu ihm um. Sie hob die Augenbrauen. Sein Gesicht sah schrecklich aus - überall verschmiertes Blut, das schon zu verkrusten begann. Die linke Seite seines weißen T-Shirts war blutdurchtränkt. Er presste sich einen Stofffetzen an den Kopf.
»Das ist eine Kopfwunde, die heftig blutet, aber es ist nichts Gefährliches«, sagte Mikael, bevor sie zu Wort kam.
Sie drehte sich um und holte den Verbandskasten aus der Speisekammer, der nichts enthielt als zwei Schachteln Pflaster, einen Mückenstift und eine kleine Rolle Leukoplast. Er zog seine Sachen aus, ließ sie auf den Boden fallen, ging ins Badezimmer und besah sich im Spiegel.
Die Wunde an der Stirn war ungefähr drei Zentimeter lang und so tief, dass Mikael ein großes Stück Gewebe anheben konnte.
Sie blutete immer noch und hätte genäht werden müssen, aber er glaubte, dass sie auch von allein heilen würde, wenn er sie verpflasterte. Er feuchtete ein Handtuch an und säuberte sich das Gesicht.
Er hielt das Handtuch an die Stirn, während er sich duschte, und blinzelte. Dann schlug er mit der Faust so heftig gegen die Kacheln, dass er sich die Knöchel aufschürfte. Fuck you! Dich krieg ich schon noch.
Als Lisbeth ihn am Arm berührte, zuckte er zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Er starrte sie so hasserfüllt an, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Sie gab ihm ein Stück Seife und ging wortlos zurück in die Küche.
Nachdem Mikael geduscht hatte, verpflasterte er seine Wunde. Er ging ins Schlafzimmer, zog sich saubere Jeans und ein frisches T-Shirt an und nahm die Mappe mit den ausgedruckten Bildern mit. Er war so wütend, dass er beinahe zitterte.
»Du bleibst hier«, brüllte er Lisbeth zu.
Er ging zu Cecilia hinüber, drückte anderthalb Minuten immer wieder auf die Türklingel, bis sie öffnete.
»Ich will dich nicht sehen«, sagte sie. Dann sah sie sein Gesicht und den blutgetränkten Verband. »Was hast du denn gemacht?«, entfuhr es ihr unwillkürlich.
»Lass mich rein. Wir müssen reden.«
Sie zögerte.
»Wir haben nichts zu bereden.«
»Jetzt haben wir etwas zu bereden, und du kannst es entweder hier auf der Treppe oder in der Küche mit mir diskutieren.«
Mikaels Stimme klang so aggressiv, dass Cecilia Vanger zur Seite trat und ihn hereinließ. Er marschierte zu ihrem Küchentisch.
»Was hast du gemacht?«, fragte sie noch einmal.
»Du behauptest, dass meine Suche nach der Wahrheit über Harriet nur eine fixe Idee von Henrik ist. Das mag sein, aber vor einer Stunde hat irgendjemand versucht, mir den Kopf wegzupusten, und heute Nacht hat jemand eine zerstückelte Katze vor meiner Haustür hinterlassen.«
Cecilia öffnete den Mund, aber Mikael ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Cecilia, es ist mir egal, was mit dir los ist und warum du plötzlich meinen bloßen Anblick nicht mehr ertragen kannst. Ich werde nie wieder in deine Nähe kommen, und du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich weiter behelligen werde. In diesem Augenblick wünsche ich mir, ich hätte weder von dir noch von irgendeinem anderen Mitglied der Familie Vanger jemals etwas gehört. Aber ich will Antworten auf meine Fragen haben. Je schneller du antwortest, desto eher bist du mich los.«
»Was willst du wissen?«
»Erstens: Wo zum Teufel warst du vor einer Stunde?«
Cecilias Gesicht verfinsterte sich.
»Vor einer Stunde war ich in Hedestad. Ich bin vor einer halben Stunde zurückgekommen.«
»Kann jemand bezeugen, dich irgendwo gesehen zu haben?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich brauche mich vor dir nicht zu rechtfertigen.«
»Zweitens: Warum hast du das Fenster in Harriets Zimmer geöffnet, an dem Tag, als sie verschwunden ist?«
»Was?«
»Du hast die Frage gehört. In all den Jahren hat Henrik versucht herauszufinden, wer das Fenster in Harriets Zimmer geöffnet hat, genau in den kritischen Momenten, als sie verschwunden sein muss. Alle haben es abgestritten. Einer lügt.«
»Und was in Dreiteufelsnamen bringt dich zu der Annahme, dass ich es war?«
»Dieses Bild«, erwiderte Mikael und pfefferte das unscharfe Foto auf ihren Küchentisch.
Cecilia kam an den Tisch und betrachtete das Bild. Mikael glaubte Staunen und Angst an ihr zu bemerken. Plötzlich bemerkte er, wie ein dünnes Blutrinnsal seine Wange herablief und auf sein T-Shirt tropfte.
»An diesem Tag waren ungefähr sechzig Personen auf der Insel«, erklärte er. »Achtundzwanzig von ihnen waren Frauen. Fünf oder sechs hatten schulterlanges blondes Haar. Eine Einzige von ihnen hatte ein helles Kleid an.«
Sie starrte intensiv auf das Bild.
»Und du glaubst, das da bin ich?«
»Wenn du es nicht bist, dann würde ich wahnsinnig gerne wissen, wer das deiner Meinung nach sein soll. Dieses Bild war bis dato unbekannt. Ich habe es jetzt seit ein paar Wochen und versuche, mit dir zu reden. Wahrscheinlich bin ich ein Idiot, aber ich habe es weder Henrik noch irgendjemand sonst gezeigt, weil ich furchtbare Angst hatte, dich falschen Anschuldigungen auszusetzen. Aber ich muss eine Antwort haben.«
»Du sollst deine Antwort haben.« Sie nahm das Bild und hielt es ihm hin. »Ich war an diesem Tag nicht in Harriets Zimmer. Das auf dem Bild bin nicht ich. Ich habe nicht das Geringste mit ihrem Verschwinden zu tun.«
Sie ging zur Tür.
»Du hast deine Antwort bekommen. Jetzt will ich, dass du gehst. Ich glaube, mit dieser Wunde da solltest du zu einem Arzt gehen.«
Lisbeth fuhr ihn ins Krankenhaus von Hedestad. Zwei Stiche und ein ordentliches Pflaster reichten, um die Wunde zu verschließen. Gegen den Brennnesselausschlag an Hals und Händen bekam er eine Kortisonsalbe.
Als sie das Krankenhaus verließen, überlegte Mikael lange, ob er zur Polizei gehen sollte. Plötzlich sah er die Überschrift vor seinem inneren Auge: Verurteilter Journalist in dramatische Schießerei verwickelt. Er schüttelte den Kopf. »Fahr nach Hause«, sagte er zu Lisbeth.
Als sie auf die Insel zurückkamen, war es dunkel, was Lisbeth sehr gelegen kam. Sie stellte eine Sporttasche auf den Küchentisch.
»Ich habe mir Ausrüstung von Milton Security ausgeliehen, und die muss jetzt zum Einsatz kommen, wo es dunkel wird. Setz inzwischen schon mal Kaffee auf.«
Sie stellte vier batteriebetriebene Bewegungsmelder rund ums Haus auf und erklärte, dass jeder, der sich dem Haus mehr als sechs bis sieben Meter näherte, ein Radiosignal auslöste, das wiederum einen Piepser in Gang setzte, den sie in Mikaels Schlafzimmer installiert hatte. Gleichzeitig würden zwei lichtempfindliche Videokameras, die sie in den Bäumen vor und hinter dem Haus montiert hatte, Signale an einen Laptop senden, den sie in das Schränkchen im Flur stellte. Sie tarnte die Kameras mit dunklem Stoff, sodass nur das Objektiv zu sehen war.
Eine dritte Kamera brachte sie in einem Nistkasten über der Tür an. Um das Kabel verlegen zu können, bohrte sie ein Loch in die Wand. Das Objektiv war auf den Weg und das Stück zwischen Zaun und Haustür gerichtet. Es sendete jede Sekunde ein Bild mit geringer Auflösung, das auf einem weiteren Laptop bei der Garderobe gespeichert wurde.
Anschließend legte sie noch eine druckempfindliche Matte vor die Tür. Sollte es jemandem gelingen, den Bewegungsmeldern zu entgehen und ins Haus einzudringen, würde eine Sirene mit 115 Dezibel losheulen. Lisbeth zeigte ihm, wie er die Detektoren mit einem Schlüssel ausschalten konnte, den sie im Kleiderschrank versteckt hatte. Sie hatte sich auch noch ein Nachtsichtgerät ausgeliehen, das sie auf den Tisch im Arbeitszimmer legte.
»Du überlässt nicht gerade viel dem Zufall«, sagte Mikael und goss ihr einen Kaffee ein.
»Noch was: Keine Joggingausflüge mehr, bevor wir das hier nicht gelöst haben.«
»Mein Bedarf an Joggingausflügen ist vorerst gedeckt - das kannst du mir glauben.«
»Das ist kein Witz. Das hier hat als historisches Rätsel angefangen, aber heute Morgen lag eine tote Katze auf der Treppe, und heute Abend hat jemand versucht, dir den Schädel wegzupusten. Wir sind jemandem auf der Spur.«
Sie aßen ein spätes Abendessen mit Aufschnitt und Kartoffelsalat. Mikael war plötzlich todmüde und hatte rasende Kopfschmerzen. Er konnte sich nicht mehr unterhalten und ging schlafen.
Lisbeth blieb noch auf und las bis zwei Uhr weiter im Untersuchungsbericht. Der Auftrag in Hedeby hatte komplizierte und bedrohliche Formen angenommen.
23. Kapitel
Freitag, 11. Juli
Mikael wurde um sechs Uhr morgens davon wach, dass ihm die Sonne durch einen Spalt in der Gardine direkt ins Gesicht schien. Er hatte vages Kopfweh, und es schmerzte, als er sein Pflaster betastete. Lisbeth lag auf dem Bauch und hatte einen Arm um ihn gelegt. Er blickte auf den Drachen, der sich vom rechten Schulterblatt bis zum Hintern erstreckte.
Er zählte ihre Tattoos. Neben dem Drachen auf dem Rücken und der Wespe auf dem Hals hatte sie eine Schlinge rund um einen Knöchel, eine andere Schlinge rund um den Bizeps ihres linken Armes, ein chinesisches Schriftzeichen auf der Hüfte und eine Rose auf der Wade. Abgesehen vom Drachen waren die Tattoos klein und diskret.
Mikael stieg vorsichtig aus dem Bett und zog die Gardinen vor. Er ging zur Toilette, schlich zurück zum Bett und kroch dann so leise wie möglich wieder unter die Decke, um sie nicht zu wecken.
Ein paar Stunden später frühstückten sie im Garten. Lisbeth sah Mikael an.
»Wir müssen ein Rätsel lösen. Wie fangen wir’s an?«
»Wir stellen die Fakten zusammen.«
»Ein Fakt ist, dass es jemand in unserer Nähe auf dich abgesehen hat.«
»Die Frage ist nur, warum? Weil wir dabei sind, das Rätsel um Harriet lösen, oder weil wir einen unbekannten Serienmörder gefunden haben?«
»Das muss miteinander zusammenhängen.«
Mikael nickte.
»Wenn es Harriet gelungen ist herauszufinden, dass es einen Serienmörder gab, dann muss es jemand in ihrer direkten Umgebung gewesen sein. Wenn wir die Personengalerie aus den sechziger Jahren anschauen, gibt es da mindestens zwei Dutzend mögliche Kandidaten. Heute ist kaum noch einer davon übrig, außer Harald Vanger, und ich glaube einfach nicht, dass er mit seinen bald fünfundneunzig Jahren mit einem Gewehr im Wald herumläuft. Der könnte so einen Elchstutzen wahrscheinlich kaum noch heben. Die Personen sind entweder zu alt, um heute noch gefährlich zu sein, oder zu jung, als dass sie in den fünfziger Jahren schon hätten aktiv sein können. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären.«
»Vielleicht arbeiten ja zwei Personen zusammen. Eine ältere und eine jüngere.«
»Harald und Cecilia. Das glaube ich nicht. Ich glaube, sie hat die Wahrheit gesagt, als sie behauptete, dass sie nicht die Person an Harriets Fenster war.«
»Aber wer war es dann?«
Sie öffneten Mikaels iBook und verbrachten die nächste Stunde damit, alle Menschen, die auf den Bildern des Unfalls auf der Brücke zu sehen waren, noch einmal detailliert durchzugehen.
»Ich kann es mir nicht anders vorstellen, es müssen nahezu alle Menschen aus der Stadt hier unten gewesen sein und zugesehen haben. Es war September. Die meisten tragen Jacken oder Pullover. Es gibt nur eine Person mit langen blonden Haaren und einem hellen Kleid.«
»Cecilia taucht auf sehr vielen Fotos auf. Sie scheint hin und her zu gehen zwischen den Gebäuden und den Leuten, die sich den Unfall ansehen. Hier spricht sie mit Isabella. Hier steht sie mit Pfarrer Falk zusammen. Hier ist sie mit Greger Vanger, ihrem mittleren Bruder.«
»Warte«, sagte Mikael plötzlich. »Was hat Greger denn da in der Hand?«
»Irgendwas Viereckiges. Sieht aus wie irgendein Kästchen.«
»Das ist eine Hasselblad. Er hatte auch eine Kamera.«
Sie ließen die Bilder noch einmal durchlaufen. Greger war auf mehreren Fotos zu sehen, doch oft nur verdeckt. Auf einem Bild sah man deutlich, dass er was Viereckiges in der Hand hatte.
»Ich glaube, du hast recht. Das ist eine Kamera.«
»Was bedeutet, dass wir noch mal auf Bilderjagd gehen müssen.«
»Okay, lassen wir das erst mal beiseite«, sagte Lisbeth. »Lass mich eine Hypothese formulieren.«
»Bitte sehr.«
»Was hältst du hiervon: Jemand aus der jüngeren Generation weiß, dass jemand aus der älteren Generation ein Serienmörder war, will aber nicht, dass es herauskommt. Die Familienehre und so weiter und so fort. Das würde bedeuten, dass es zwei Personen sind, die aber nicht unbedingt zusammenarbeiten. Der Mörder kann schon lange tot sein, aber unser Verfolger will einfach, dass wir alles stehen und liegen lassen und nach Hause fahren.«
»Daran hab ich auch schon gedacht«, sagte Mikael. »Aber wenn es so ist, warum legt er dann eine zerstückelte Katze auf den Treppenabsatz? Damit nimmt er ja direkt Bezug auf die Morde.« Mikael klopfte auf Harriets Bibel. »Wieder eine Parodie auf das Brandopfer-Gesetz.«
Lisbeth lehnte sich zurück und sah zur Kirche empor, während sie nachdenklich die Bibel zitierte. Es klang, als würde sie mit sich selbst sprechen.
»Dann soll er das Rind schlachten vor dem Herrn, und die Priester, Aarons Söhne, sollen das Blut herzu bringen und ringsum an den Altar sprengen, der vor der Tür der Stiftshütte ist. Und er soll dem Brandopfer das Fell abziehen und es in seine Stücke zerlegen.«
Sie verstummte und merkte plötzlich, dass Mikael sie gespannt ansah. Er schlug die Einleitung des Buches Levitikus auf.
»Kannst du auch Vers 12?«
Lisbeth schwieg.
»Und er zerlege …«, begann Mikael und nickte ihr zu.
»Und er zerlege es in seine Stücke, und der Priester soll sie samt dem Kopf und dem Fett auf das Holz über dem Feuer legen, das auf dem Altar ist.« Ihre Stimme war eiskalt.
»Und den nächsten Vers?«
Sie stand plötzlich auf.
»Lisbeth, du hast ein fotografisches Gedächtnis«, rief Mikael verblüfft aus. »Deswegen liest du die Seiten des Untersuchungsberichts also in zehn Sekunden.«
Ihre Reaktion war explosiv. Ihr Blick bohrte sich mit solchem Zorn in Mikaels, dass er ganz überrascht war. Dann füllten sich ihre Augen mit Verzweiflung, und sie lief zum Gartentor.
»Lisbeth!«, rief Mikael ihr bestürzt hinterher.
Sie lief die Straße entlang und verschwand.
Mikael trug ihren Computer hinein, schaltete den Alarm ein und schloss die Haustür, bevor er wegging, um sie zu suchen. Er fand sie zwanzig Minuten später im Kleinboothafen, wo sie auf einem Steg saß, die Füße ins Wasser baumeln ließ und eine Zigarette rauchte.
Sie hörte, wie er über den Steg ging, und er sah, wie sich ihre Schultern leicht versteiften. Zwei Meter vor ihr blieb er stehen.
»Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen.«
Sie antwortete nicht.
Er ging zu ihr, setzte sich neben sie und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter.
»Bitte, Lisbeth, sprich doch mit mir.«
Sie wandte den Kopf und sah ihn an.
»Da gibt es nichts zu reden«, sagte sie. »Ich bin ganz einfach ein Freak.«
»Ich wäre glücklich, wenn mein Gedächtnis nur halb so gut wäre wie deins.«
Sie warf die Zigarettenkippe ins Wasser.
Mikael schwieg eine ganze Weile. Was soll ich sagen? Du bist ein ganz normales Mädchen. Es macht doch nichts, wenn du manchmal ein bisschen eigen bist. Was hat sie eigentlich für ein Selbstbild?
»Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mir sofort gedacht, dass du anders bist«, sagte er. »Und soll ich dir noch was sagen? Es ist mir lange nicht mehr passiert, dass ich jemand vom ersten Augenblick an spontan so gemocht habe.«
Ein paar Kinder kamen aus einem Haus auf der anderen Seite des Hafenbeckens gelaufen und warfen sich ins Wasser. Eugen Norman, der Maler, mit dem Mikael noch immer kein einziges Wort gewechselt hatte, saß auf einem Stuhl vor seinem Häuschen und betrachtete Mikael und Lisbeth.
»Ich will so gerne dein Freund sein, wenn du mich auch als Freund haben willst«, fuhr Mikael fort. »Aber das musst du entscheiden. Ich gehe zurück zum Haus und setze noch mal Kaffee auf. Komm nach Hause, wenn dir danach ist.«
Er stand auf und ließ sie zurück. Er war erst zur Hälfte den Hügel hinaufgegangen, als er ihre Schritte hörte. Sie gingen zusammen zurück, ohne ein Wort zu sagen.
Als sie zu Hause ankamen, hielt sie ihn fest.
»Ich war gerade dabei, einen Gedanken zu formulieren … Wir hatten gesagt, dass alles eine Parodie auf die Bibel ist. Er hat zwar eine Katze zerstückelt, vielleicht war es einfach zu schwierig, sich einen Ochsen zu besorgen. Aber er folgt dem Grundmuster. Ich frage mich …«
Sie blickte zur Kirche hoch.
»… sollen das Blut herzu bringen und ringsum an den Altar sprengen, der vor der Tür der Stiftshütte ist …«
Sie gingen über die Brücke und hinauf zur Kirche, wo sie sich umsahen. Die Kirchentür war verschlossen. Sie gingen ein bisschen herum, sahen sich aufs Geratewohl ein paar Grabsteine an und kamen schließlich zu der Kapelle, die ein bisschen näher am Wasser stand. Es war keine Kapelle, sondern ein Mausoleum. Über der Tür sah er den Namen Vanger eingemeißelt und einen lateinischen Vers, von dem er nicht wusste, was er bedeutete.
»Ruhe bis zu der Zeiten Ende«, sagte Lisbeth.
Mikael sah sie an. Sie zuckte die Schultern.
»Ich hab die Strophe mal irgendwo gesehen«, erklärte sie.
Plötzlich lachte Mikael laut los. Sie erstarrte und sah zuerst wütend aus, dann begriff sie aber, dass er nicht über sie lachte, sondern über die Situation, und entspannte sich wieder.
Mikael drückte gegen die Tür. Sie war verschlossen. Er überlegte kurz, dann sagte er zu Lisbeth, sie solle sich hinsetzen und auf ihn warten. Er ging zu Anna Nygren hinüber und klopfte. Er erklärte, dass er sich die Grabkapelle der Familie Vanger genauer ansehen wolle, und fragte, wo Henrik den Schlüssel verwahre. Anna zögerte, gab aber nach, als Mikael sie daran erinnerte, dass er direkt für Henrik arbeitete. Sie holte den Schlüssel aus seinem Schreibtisch.
Sowie Mikael und Lisbeth die Tür öffneten, wussten sie, dass sie richtig vermutet hatten. Ein penetranter Gestank nach verbranntem Kadaver und verkohlten Resten lag in der Luft. Aber der Katzenquäler hatte kein Feuer gemacht. In einer Ecke stand eine Art Lötlampe, wie sie Skifahrer benutzen, wenn sie ihre Skier wachsen. Lisbeth zog ihre Digitalkamera aus der Tasche ihrer Jeansjacke und machte ein paar Bilder. Die Lötlampe nahm sie mit.
»Das kann Beweismaterial werden. Vielleicht hat er Fingerabdrücke hinterlassen«, meinte sie.
»Na klar, wir könnten alle in der Familie Vanger bitten, ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen«, gab Mikael sarkastisch zurück. »Es wäre sicher ein Riesenspaß, dir dabei zuzusehen, wie du versuchst, Isabellas Fingerabdruck abzunehmen.«
»Da gibt es gewisse Möglichkeiten«, antwortete Lisbeth.
Auf dem Boden war jede Menge Blut und auch eine große Kneifzange, die wohl verwendet worden war, um der Katze den Kopf abzutrennen.
Mikael sah sich um. Ein erhöhtes Hauptgrab gehörte Alexandre Vangeersad, vier Gräber im Boden gehörten zu den frühesten Familienmitgliedern. Danach war die Familie Vanger anscheinend zur Feuerbestattung übergegangen. Ungefähr dreißig Nischen an der Wand trugen die Namen verschiedener Mitglieder des Clans. Mikael folgte der Familienchronik weiter in die Gegenwart und fragte sich, wo sie wohl die Familienmitglieder begruben, die keinen Platz in der Kapelle mehr fanden - vielleicht diejenigen, die man nicht als bedeutend genug betrachtete.
»So, jetzt wissen wir Bescheid«, sagte Mikael, als sie über die Brücke gingen. »Wir jagen einen wahrhaftigen Wahnsinnigen.«
»Wie meinst du das?«
Mikael blieb mitten auf der Brücke stehen und lehnte sich ans Geländer.
»Wenn es ein ganz gewöhnlicher Verrückter gewesen wäre, der versucht hat, uns Angst einzujagen, dann hätte er die Katze in die Garage oder in den Wald mitgenommen. Aber er hat sich für die Familienkapelle entschieden. Stell dir bloß mal vor, was für ein Risiko er da eingegangen ist. Es ist Sommer, die Leute gehen hier nachts tatsächlich spazieren. Der Weg über den Friedhof ist eine Verbindung zwischen Nord- und Süd-Hedeby. Selbst bei geschlossener Tür müssten die Geräusche der gequälten Katze und der Brandgeruch doch auffallen.«
»Er?«
»Ich glaube nicht, dass Cecilia Vanger hier nachts mit einer Lötlampe unterwegs ist.«
Lisbeth zuckte die Achseln.
»Ich traue keiner dieser Figuren in der Familie Vanger, inklusive Frode und deinem Henrik. Das ist ein Clan, der dich bei der erstbesten Gelegenheit über den Tisch zieht. Also, was machen wir jetzt?«
Sie schwiegen beide einen Moment. Dann musste Mikael fragen:
»Ich habe viele deiner Geheimnisse rausgekriegt. Wie viele wissen, dass du eine Hackerin bist?«
»Niemand.«
»Niemand außer mir, meinst du?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich will wissen, ob du mit mir klarkommst. Ob du mir vertraust.«
Sie sah ihn lange an. Schließlich zuckte sie wieder mit den Schultern.
»Dagegen kann ich nichts tun.«
»Vertraust du mir?«, wiederholte er.
»Bis auf Weiteres«, antwortete sie.
»Gut. Gehen wir zu Dirch Frode.«
Rechtsanwalt Frodes Frau, die Lisbeth zum ersten Mal zu Gesicht bekam, sah sie mit großen Augen an, während sie gleichzeitig höflich lächelte und sie in den Garten führte. Frodes Gesicht hellte sich auf, als er Lisbeth sah. Er stand auf und begrüßte sie freundlich.
»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte er. »Ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich meine Dankbarkeit für die außerordentliche Arbeit, die Sie für uns geleistet haben, gar nicht so richtig zum Ausdruck gebracht habe. Sowohl letzten Winter als auch diesen Sommer.«
Lisbeth beäugte ihn misstrauisch.
»Ich bin dafür bezahlt worden«, sagte sie.
»Darum geht es gar nicht. Ich hatte vorgefasste Meinungen, als ich Sie zum ersten Mal sah. Dafür wollte ich Sie um Entschuldigung bitten.«
Mikael war überrascht. Dirch Frode war imstande, ein fünfundzwanzigjähriges gepierctes und tätowiertes Mädchen für etwas um Entschuldigung zu bitten, wofür er sich eigentlich gar nicht entschuldigen musste. Der Anwalt stieg in Mikaels Bewertungsskala auf einen Schlag ein paar Stufen nach oben. Lisbeth zuckte die Achseln.
Frode sah Mikael an.
»Was haben Sie da mit Ihrer Stirn gemacht?«
Sie setzten sich. Mikael fasste die Entwicklungen der letzten vierundzwanzig Stunden zusammen. Als er erzählte, dass man dreimal auf ihn geschossen hatte, sprang Frode erregt auf.
»Das ist doch vollkommener Irrsinn.« Er machte eine Pause und sah Mikael durchdringend an. »Es tut mir leid, aber das muss ein Ende haben. Ich kann nicht Ihr Leben aufs Spiel setzen. Ich muss mit Henrik sprechen, damit wir den Vertrag sofort auflösen.«
»Setzen Sie sich«, sagte Mikael.
»Sie begreifen nicht …«
»Ich begreife sehr wohl, dass Lisbeth und ich der Lösung so nahe gekommen sind, dass sich jemand massiv bedroht fühlt und panisch reagiert. Wir haben ein paar Fragen. Erstens: Wie viele Schlüssel gibt es zur Kapelle der Familie Vanger, und welche Personen haben sie?«
Frode überlegte kurz.
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich glaube, mehrere Familienmitglieder haben Zugang zur Kapelle. Ich weiß, dass Henrik einen Schlüssel hat und Isabella ab und zu dort sitzt, aber ich weiß nicht, ob sie einen eigenen Schlüssel hat oder ihn sich von Henrik leiht.«
»Okay. Sie sind immer noch im Vorstand des Vanger-Konzerns. Gibt es ein Unternehmensarchiv? Eine Bibliothek oder so etwas, in der über Jahre hinweg Zeitungsausschnitte und Informationen über die Firma gesammelt werden?«
»Ja, so etwas gibt es. In der Hauptverwaltung in Hedestad.«
»Wir brauchen Zugang zu diesem Archiv. Gibt es dort auch alte Personalzeitungen und Ähnliches?«
»Ich muss Ihnen nochmals sagen, ich weiß es nicht. Ich selbst bin seit dreißig Jahren nicht mehr im Archiv gewesen. Aber Sie können mit einer Dame namens Bodil Lindgren sprechen, die für die Aufbewahrung aller möglichen Papiere im Konzern verantwortlich ist.«
»Können Sie sie anrufen und dafür sorgen, dass Lisbeth schon heute Nachmittag das Archiv sichten kann? Sie will alle alten Zeitungsartikel über den Vanger-Konzern sehen. Es ist außerordentlich wichtig, dass sie in alles Einblick nehmen kann, was von Interesse sein könnte.«
»Das kann ich in die Wege leiten. Sonst noch etwas?«
»Ja, Greger Vanger hatte eine Hasselblad in der Hand, als er beim Unfall auf der Brücke unter den Zuschauern war. Das bedeutet, dass er auch Fotos gemacht haben könnte. Wo sind die Bilder nach seinem Tod gelandet?«
»Schwer zu sagen, aber seine Witwe oder sein Sohn wären wohl der nahe liegendste Tipp.«
»Können Sie...«
»Ich rufe Alexander an und frage ihn.«
»Wonach soll ich suchen?«, fragte Lisbeth, als sie auf dem Rückweg die Brücke überquerten.
»Nach Zeitungsausschnitten und Personalzeitungen. Ich möchte, dass du alles durchliest, was du direkt nach dem jeweiligen Datum der Morde in den fünfziger und sechziger Jahren findest. Notier dir alles, was dir nur im Geringsten merkwürdig vorkommt. Ich glaube, es ist das Beste, wenn du diesen Teil der Arbeit übernimmst. Wie ich mittlerweile weiß, hast du das bessere Gedächtnis.«
Er boxte sie in die Seite. Fünf Minuten später knatterte ihr Motorrad über die Brücke.
Mikael schüttelte Alexander Vanger die Hand. Die meiste Zeit, die Mikael in Hedeby verbracht hatte, war Alexander verreist gewesen, und Mikael hatte ihn zuvor nur ganz kurz kennengelernt. Er war zwanzig Jahre alt, als Harriet verschwand.
»Dirch Frode hat mir gesagt, dass Sie alte Fotos angucken wollen.«
»Ihr Vater hatte eine Hasselblad.«
»Das stimmt. Die gibt es auch immer noch, aber keiner benutzt sie.«
»Sie wissen, dass ich in Henriks Auftrag nachforsche, was mit Harriet passiert ist.«
»Ich weiß. Und es gibt viele, die nicht besonders glücklich darüber sind.«
»Das kann schon sein. Sie brauchen mir selbstverständlich nichts zu zeigen.«
»Ach was. Was wollen Sie denn sehen?«
»Ob Ihr Vater an dem Tag, an dem Harriet verschwand, Bilder geschossen hat.«
Sie gingen zum Dachboden hinauf. Es dauerte ein paar Minuten, bis es Alexander gelang, einen Karton mit Unmengen unsortierter Bilder ausfindig zu machen.
»Sie können sich die ganze Kiste ausleihen«, sagte er. »Wenn es noch Bilder gibt, dann müssen sie da drin sein.«
Mikael verbrachte eine Stunde damit, den Inhalt von Greger Vangers Karton zu sortieren. Darin fanden sich echte Leckerbissen für den Bildteil der Familienchronik, darunter eine Menge Fotos von Greger Vanger zusammen mit dem großen schwedischen Nazi-Führer der vierziger Jahre, Sven Olof Lindholm. Mikael legte sie beiseite.
Er fand mehrere Kuverts mit Bildern, die Greger offensichtlich selbst aufgenommen hatte. Sie zeigten verschiedene Personen und Familientreffen sowie eine ganze Menge typischer Urlaubsfotos vom Fischen oder von einer Italienreise mit der Familie. Sie hatten unter anderem den schiefen Turm von Pisa besucht.
Nach und nach fand er vier Aufnahmen vom Unfall mit dem Tanklaster. Trotz seiner ausgesprochen professionellen Kamera war Greger Vanger ein miserabler Fotograf. Die Bilder zoomten entweder den Tanklaster heran oder zeigten Leute von hinten. Er fand ein einziges Bild, auf dem Cecilia im Halbprofil zu sehen war.
Mikael scannte die Fotos ein, wusste aber schon, dass sie zu nichts führen würden. Er packte alles wieder in den Karton und aß ein belegtes Brot, während er überlegte. Gegen drei ging er zu Anna Nygren.
»Ich frage mich, ob Henrik wohl noch mehr Fotoalben hat als die, die sozusagen zu seinen Nachforschungen in Harriets Fall gehören.«
»Ja, Henrik hat sich schon immer für Fotografie interessiert, soviel ich weiß. Er hat viele Alben im Arbeitszimmer.«
»Können Sie sie mir zeigen?«
Anna Nygren zögerte. Es war eine Sache, den Schlüssel für die Grabkapelle herauszugeben - dort waltete jedenfalls Gott -, aber es war eine ganz andere, Mikael Zugang zu Henriks Arbeitszimmer zu gewähren. Dort waltete nämlich Gottes Vorgesetzter. Mikael schlug Anna vor, Dirch Frode anzurufen, wenn sie Zweifel hätte. Schließlich erklärte sie sich widerwillig bereit, Mikael hineinzulassen. Im untersten Regalfach nahmen die Fotoalben einen ganzen Meter ein. Mikael setzte sich an Henriks Schreibtisch und schlug das erste Album auf.
Henrik hatte alle möglichen Familienfotos aufgehoben. Viele waren offensichtlich lange vor seiner Zeit aufgenommen worden. Ein paar von den ältesten Fotos stammten aus der Zeit um 1870 und zeigten barsche Männer und reservierte Frauen. Da waren Bilder von Henriks Eltern und anderen Verwandten. Eine Aufnahme zeigte Henriks Vater, wie er 1906 in Sandhamn mit guten Freunden Mittsommer feierte. Ein anderes Foto aus Sandhamn zeigte Fredrik und seine Frau Ulrika zusammen mit Anders Zorn und Albert Engström an einem Tisch, auf dem geöffnete Flaschen standen. Er fand einen Henrik Vanger im Teenageralter, der im Anzug auf seinem Fahrrad saß. Auf anderen Bildern waren Menschen in Fabriken und Direktorenzimmern zu sehen. Er entdeckte den Kapitän Oskar Granath, der Henrik und seine geliebte Edith Lobach mitten im Krieg nach Karlskrona in Sicherheit gebracht hatte.
Anna brachte ihm eine Tasse Kaffee. Er bedankte sich. Er hatte sich bis in modernere Zeiten vorgearbeitet und blätterte mehrere Seiten mit Fotos um, die Henrik Vanger auf dem Höhepunkt seines Lebens zeigten, als er Fabriken einweihte und Tage Erlander die Hand schüttelte. Ein Bild aus den frühen sechziger Jahren zeigte ihn mit Marcus Wallenberg. Die zwei starrten sich grimmig an und schienen nicht gerade große Sympathie füreinander zu empfinden.
Er blätterte weiter und blieb plötzlich bei einer Doppelseite hängen, auf die Henrik mit Bleistift »Familienrat 1966« geschrieben hatte. Zwei Farbfotos zeigten Herren, die sich unterhielten und Zigarren rauchten. Mikael erkannte Henrik, Harald und Greger wieder sowie die meisten der eingeheirateten Männer aus Johan Vangers Familienzweig. Auf zwei Aufnahmen waren ungefähr vierzig Männer und Frauen zu sehen, die sich zum Abendessen an den Tisch gesetzt hatten und in die Kamera blickten. Mikael wurde auf einmal klar, dass diese Fotos nach dem dramatischen Ereignis auf der Brücke aufgenommen worden waren. Offenbar hatte noch niemand bemerkt, dass Harriet verschwunden war. Er studierte ihre Gesichter genau. Das war das Abendessen, bei dem sie hätte dabei sein sollen. Wusste einer der Herren schon, dass sie weg war? Die Bilder gaben keine Antwort.
Da verschluckte sich Mikael plötzlich an seinem Kaffee. Er hustete und setzte sich ruckartig auf.
An der hinteren Schmalseite des Tisches saß Cecilia und lächelte in die Kamera. Neben ihr saß eine andere blonde Frau mit langen Haaren und dem gleichen hellen Kleid. Sie sahen sich so ähnlich, sie hätten Zwillinge sein können. Und mit einem Schlag fiel das Puzzlestückchen auf seinen Platz. Nicht Cecilia hatte an Harriets Fenster gestanden - ihre zwei Jahre jüngere Schwester Anita Vanger war es gewesen, die nun in London wohnte.
Was hatte Lisbeth gesagt? Cecilia Vanger ist auf vielen Bildern zu sehen. Sie scheint zwischen verschiedenen Gruppen hin und her zu wechseln. Nicht im Geringsten. Es waren zwei Personen, und zufälligerweise waren sie nie auf demselben Foto zu sehen. Auf den Schwarz-Weiß-Fotos hatten sie gleich ausgesehen. Henrik hatte den Unterschied zwischen den Schwestern wahrscheinlich die ganze Zeit erkannt, aber für Mikaels und Lisbeths Augen war die Ähnlichkeit so groß gewesen, dass sie davon ausgegangen waren, es müsse sich um ein und dieselbe Person handeln. Und keiner hatte den Irrtum korrigiert, weil es den beiden nie eingefallen war, die entsprechende Frage zu stellen.
Mikael blätterte um und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Ihm war, als wäre ein kalter Luftzug durch den Raum gegangen.
Diese Bilder waren am nächsten Tag gemacht worden, als die Suche nach Harriet schon angefangen hatte. Ein junger Kommissar Morell erteilte einer Gruppe mit zwei uniformierten Polizisten und zirca zehn Männern mit Stiefeln Anweisungen, bevor sie sich auf ihre Suche begaben. Henrik Vanger trug eine knielange Regenjacke und einen englischen Hut mit schmaler Krempe.
Ganz links am Bildrand stand ein junger, leicht pummeliger Mann mit hellem halblangem Haar. Er trug einen dunklen Steppanorak mit einem roten Einsatz an den Schultern. Das Bild war scharf. Mikael erkannte ihn sofort wieder, nahm das Bild aber zur Sicherheit heraus, ging damit zu Anna Nygren und fragte sie, ob sie ihn wiedererkannte.
»Ja natürlich, das ist Martin Vanger. Er ist wohl so um die achtzehn auf diesem Bild.«
Lisbeth Salander ackerte sich in chronologischer Reihenfolge durch die nach Jahrgängen geordneten Zeitungsausschnitte, die vom Vanger-Konzern handelten. Sie begann mit dem Jahr 1949. Das Problem war allerdings, dass der Vanger-Konzern in diesem Zeitraum fast jeden Tag in den Medien auftauchte - nicht nur in den landesweiten Medien, sondern vor allem in der lokalen Presse. Da gab es Wirtschaftsanalysen, Gewerkschaften, Verhandlungen und Kündigungsdrohungen, Fabrikeröffnungen und Fabrikschließungen, Jahresabschlüsse, Direktorenwechsel, neue Produkte, die eingeführt wurden … ein Strom von Nachrichten. Klick. Klick. Klick. Ihr Gehirn lief auf Hochtouren.
Nach ein paar Stunden kam ihr eine Idee. Sie wandte sich an die Archiv-Chefin Bodil Lindgren und fragte, ob es irgendwo eine Liste aller Vanger-Fabriken und Dependancen in den fünfziger und sechziger Jahren gäbe.
Bodil Lindgren sah Lisbeth Salander mit offensichtlichem Misstrauen und Kühle an. Sie war überhaupt nicht begeistert, dass ein wildfremder Mensch sich plötzlich in das Allerheiligste des Vanger-Archivs drängeln und nach Belieben alle Papiere einsehen konnte. Noch dazu ein Mädchen, das wie eine verrückte fünfzehnjährige Anarchistin aussah. Aber Dirch Frode hatte ihr unmissverständliche Anweisungen gegeben. Und sie hatte es eilig. Bodil brachte die gedruckten Jahresberichte, nach denen Lisbeth sich erkundigt hatte. Jeder Jahresbericht enthielt eine Karte der Außenposten des Konzerns in ganz Schweden.
Lisbeth warf einen Blick auf die Karte und bemerkte, dass der Konzern viele Fabriken, Büros und Verkaufsstellen besaß. Sie stellte fest, dass sich überall dort, wo ein Mord geschehen war, auch ein roter Punkt befand - manchmal auch mehrere -, der eine Niederlassung des Vanger-Konzerns bezeichnete.
Den ersten Treffer hatte sie 1957. Rakel Lunde, Landskrona, wurde tot aufgefunden, einen Tag nachdem das Unternehmen V&C Bau einen Großauftrag über mehrere Millionen für den Bau eines neuen Einkaufszentrums vor Ort ergattert hatte. V&C stand für Vanger & Carlén Bau und gehörte zum Vanger-Konzern. Die Lokalzeitung hatte Gottfried Vanger interviewt, der angereist war, um den Vertrag zu unterzeichnen.
Lisbeth zog die Verbindung zu etwas, was sie in dem vergilbten Untersuchungsbericht im Archiv in Landskrona gelesen hatte. Rakel Lund, die Freizeit-Wahrsagerin, war Putzfrau gewesen. Sie hatte bei V&C Bau gearbeitet.
Um sieben Uhr abends hatte Mikael ein Dutzend Mal Lisbeths Nummer gewählt und ebenso oft festgestellt, dass ihr Handy ausgeschaltet war. Sie wollte nicht unterbrochen werden, während sie sich durchs Archiv ackerte.
Er wanderte rastlos im Gästehäuschen auf und ab. Er hatte Henriks Notizen hervorgeholt und nachgesehen, was Martin Vanger bei Harriets Verschwinden getan hatte.
Martin Vanger war 1966 in seinem letzten Jahr auf dem Gymnasium in Uppsala.
Uppsala. Lena, siebzehnjährige Gymnasiastin. Den Kopf vom Fett getrennt.
Henrik hatte es ein paarmal erwähnt, aber Mikael musste seine Notizen zurate ziehen, um die Passage zu finden. Martin war ein verschlossener Junge gewesen. Sie hatten sich Sorgen um ihn gemacht. Als sein Vater ertrank, hatte Isabella beschlossen, ihn nach Uppsala zu schicken - ein Tapetenwechsel, für den er bei Harald untergebracht wurde. Harald und Martin? Das konnte er sich nicht vorstellen.
Auf dem Weg zum Treffen in Hedestad war im Auto kein Platz mehr für Martin gewesen. Er hatte den Zug verpasst, als er nach Hause fahren wollte. Er war spätnachmittags angekommen und damit unter denjenigen, die auf der anderen Seite der Brücke festsaßen. Er kam erst nach sechs Uhr abends mit dem Boot auf die Insel und wurde unter anderem von Henrik in Empfang genommen. Aus diesem Grund hatte er Martin zunächst ziemlich weit unten auf die Liste der Personen gesetzt, die etwas mit Harriets Verschwinden zu tun haben konnten.
Martin behauptete, Harriet den ganzen Tag über nicht getroffen zu haben. Er log. Er war früher nach Hedestad gekommen und stand auf der Bahnhofstraße, Auge in Auge mit seiner Schwester. Mikael konnte die Lüge mit Bildern dokumentieren, die fast vierzig Jahre verschwunden gewesen waren.
Harriet hatte ihren Bruder gesehen und schockiert reagiert. Sie war auf die Insel gefahren und hatte versucht, mit Henrik zu reden, doch zu diesem Gespräch kam es nicht mehr. Wovon wolltest du erzählen? Von Uppsala? Aber Lena Andersson, Uppsala, stand nicht auf deiner Liste. Du wusstest nichts davon.
Die Story ging für Mikael immer noch nicht auf. Harriet war gegen drei Uhr verschwunden. Martin war zu dieser Zeit erwiesenermaßen auf der anderen Seite des Sundes gewesen. Er war auf Fotos zu sehen, die vom Kirchhügel aus aufgenommen worden waren. Er konnte Harriet auf der Insel unmöglich etwas angetan haben. Es fehlte immer noch ein Puzzleteil. Ein Komplize? Anita Vanger?
Aus den Unterlagen im Archiv konnte Lisbeth entnehmen, wie sich Gottfried Vangers Position im Konzern im Laufe der Jahre verändert hatte. 1927 geboren, hatte er als Zwanzigjähriger Isabella kennengelernt und sie im Handumdrehen geschwängert. Martin kam 1948 zur Welt, und damit konnte es keinen Zweifel mehr daran geben, dass die jungen Leute heiraten mussten.
Mit zweiundzwanzig war Gottfried von Henrik in die Hauptverwaltung geholt worden. Anscheinend war er begabt und wurde als der Mann der Zukunft gehandelt. Er sicherte sich mit fünfundzwanzig einen Platz in der Führungsriege, als stellvertretender Chef der Abteilung für Unternehmensentwicklung. Sein Stern war im Steigen.
Irgendwann Mitte der fünfziger Jahre kam seine Karriere ins Stocken. Er soff. Die Ehe mit Isabella ging langsam in die Brüche. Die Kinder, Harriet und Martin, litten. Henrik sprach ein Machtwort. Gottfrieds Karriere war an ihrem Höhepunkt angekommen. 1956 wurde ihm ein zweiter stellvertretender Chef an die Seite gestellt. Der machte die Arbeit, während Gottfried soff und über längere Zeiträume hinweg fehlte.
Aber Gottfried war immer noch ein Vanger, noch dazu charmant und redegewandt. Ab 1957 schien seine Aufgabe darin zu bestehen, durchs ganze Land zu reisen und Fabriken einzuweihen, lokale Konflikte zu lösen und den Eindruck zu vermitteln, dass die Konzernführung sich auch für die kleineren Belange interessierte. Wir schicken einen unserer Söhne, der sich um Ihre Probleme kümmert. Wir nehmen Sie ernst.
Die zweite Verbindung entdeckte sie gegen halb sieben Uhr abends. Gottfried hatte an einer Verhandlung in Karlstad teilgenommen, wo der Vanger-Konzern ein örtliches Holzwarenunternehmen gekauft hatte. Tags darauf war die Bäuerin Magda Lovisa Sjöberg ermordet aufgefunden worden.
Die dritte Verbindung entdeckte sie nur fünfzehn Minuten später. Uddevalla 1962. Am selben Tag, an dem Lea Persson verschwand, hatte die Lokalzeitung Gottfried Vanger zu einem möglichen Ausbau des Hafens interviewt.
Drei Stunden später hatte Lisbeth Salander festgestellt, dass Gottfried Vanger an mindestens fünf der acht Mordschauplätze gewesen war, unmittelbar vor oder nach dem Mord. Sie hatte keine Informationen zu den Morden von 1949 und 1954. Sie sah sich sein Bild auf einem Zeitungsausschnitt genau an. Ein gut aussehender, schlanker Mann mit dunkelblondem Haar, der Ähnlichkeit mit Clark Gable in Vom Winde verweht hatte.
1949 war Gottfried zweiundzwanzig Jahre alt. Der erste Mord geschah auf heimischem Boden. Hedestad. Rebecka Jacobsson, Büroangestellte im Vanger-Konzern. Wo habt ihr euch getroffen? Was hast du ihr versprochen?
Als Bodil Lindgren um fünf Uhr abschließen und nach Hause gehen wollte, fauchte Lisbeth Salander sie an, dass sie noch nicht fertig sei. Bodil könne gerne nach Hause gehen, wenn sie nur einen Schlüssel daließe, damit Lisbeth absperren konnte. Die Archiv-Chefin war so irritiert darüber, von einem jungen Mädchen derart angeherrscht zu werden, dass sie Dirch Frode zu Hause anrief und ihn um Anweisungen bat. Frode entschied sofort, dass Lisbeth über Nacht bleiben könne, wenn sie wolle. Frau Lindgren solle dem Nachtwächter in der Zentrale Bescheid geben, damit der sie später hinauslassen konnte.
Lisbeth Salander biss sich auf die Unterlippe. Das Problem war freilich, dass Gottfried Vanger 1965 ertrunken war, während der letzte Mord im Februar 1966 in Uppsala begangen wurde. Sie fragte sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte, als sie die siebzehnjährige Gymnasiastin Lena Andersson in die Liste mit aufgenommen hatte. Nein. Das war nicht wirklich dieselbe Handschrift, aber es war derselbe Bezug auf die Bibel. Die Fälle müssen zusammenhängen.
Um neun Uhr hatte es zu dämmern begonnen. Die Luft war abgekühlt, und es nieselte. Mikael saß am Küchentisch und trommelte mit den Fingern, als Martins Volvo über die Brücke fuhr und in Richtung Landzunge verschwand. Das trieb die ganze Sache irgendwie auf die Spitze.
Mikael wusste nicht, was er anfangen sollte. Er brannte mit jeder Faser seines Körpers darauf, Fragen zu stellen - auf Konfrontation zu setzen. Aber es war sicherlich keine gute Idee, wenn er Martin offiziell verdächtigte, ein verrückter Mörder zu sein, der seine Schwester sowie ein Mädchen in Uppsala getötet und obendrein versucht hatte, Mikael zu erschießen. Aber Martin Vanger wusste schließlich nicht, dass Mikael wusste … und er konnte ja unter dem Vorwand zu ihm hinübergehen, dass er … tja, dass er den Schlüssel von Gottfried Vangers Häuschen zurückbringen wollte? Mikael schloss die Tür und ging langsam in Richtung Landzunge.
Harald Vangers Haus lag wie üblich in völliger Dunkelheit. In Henriks Haus brannte auch kein Licht - nur in einem Zimmer, das auf den Garten hinausging. Anna war schlafen gegangen. Isabellas Haus war dunkel. Cecilia war nicht zu Hause. Im Obergeschoss von Alexander Vangers Haus war Licht, aber in den zwei Häusern, in denen Leute wohnten, die nicht zur Familie Vanger gehörten, war es ebenfalls dunkel. Er sah keine Menschenseele.
Vor Martins Haus blieb er unentschlossen stehen, schaltete sein Handy ein und wählte Lisbeths Nummer. Immer noch keine Antwort. Er stellte das Handy ab, damit es nicht überraschend zu klingeln begann.
Im Erdgeschoss brannte Licht. Mikael ging über den Rasen und blieb ein paar Meter vor dem Küchenfenster stehen, aber er konnte keine Bewegung ausmachen. Dann drehte er eine Runde ums Haus und blieb an jedem Fenster stehen, doch Martin Vanger konnte er nirgends sehen. Er entdeckte jedoch, dass die Hintertür der Garage nur angelehnt war. Sei kein Idiot, verdammt noch mal. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen kurzen Blick zu riskieren.
Das Erste, was er sah, war ein offener Karton auf einer Hobelbank, der Munition für einen Elchstutzen enthielt. Danach die zwei Benzinkanister auf dem Boden unter der Bank.
Vorbereitungen für den nächsten nächtlichen Besuch, Martin?
»Kommen Sie rein, Mikael. Ich hab Sie schon auf der Straße gesehen.«
Mikaels Herz setzte einen Schlag aus. Er wandte langsam den Kopf und sah Martin Vanger im Dunkeln an einer Tür der Garage stehen, die ins Haus führte.
»Sie konnten einfach nicht wegbleiben, was?«
Die Stimme war ruhig, fast schon freundlich.
»Hallo, Martin«, antwortete Mikael.
»Kommen Sie rein«, wiederholte Martin Vanger. »Hier entlang.«
Er ging einen Schritt nach vorne und zur Seite und streckte seine linke Hand in einer einladenden Geste aus. Er hob seine Rechte, und Mikael konnte einen Reflex auf mattem Metall ausmachen.
»Ich habe eine Glock in der Hand. Tun Sie jetzt nichts Unkluges. Auf diese Entfernung kann ich nicht vorbeischießen.«
Mikael kam langsam näher. Als er bei Martin Vanger angekommen war, blieb er stehen und sah ihm in die Augen.
»Ich musste einfach herkommen. Es gibt so viele Fragen.«
»Das verstehe ich. Bitte, durch die Tür.«
Mikael ging langsam ins Haus. Der Durchgang führte zum Flur und weiter in die Küche, doch bevor er dort war, hielt Martin Vanger ihn mit einer leichten Berührung an der Schulter zurück.
»Nein, nicht so weit. Hier rechts. Öffnen Sie die Tür hier auf der Seite.«
Der Keller. Als Mikael die Kellertreppe zur Hälfte hinuntergegangen war, drückte Martin Vanger auf einen Lichtschalter, worauf ein paar Lampen angingen. Rechts war der Heizungskeller. Von vorne kam Mikael der Geruch von Waschmittel entgegen. Martin lenkte ihn nach links, in einen Lagerraum mit alten Möbeln und Kartons. Weiter hinten war noch eine Tür. Eine Stahltür mit Sicherheitsschloss.
»Hier«, sagte Martin Vanger und warf Mikael einen Schlüsselbund zu. »Machen Sie auf.«
»Rechts ist ein Lichtschalter.«
Mikael hatte die Tür zur Hölle geöffnet.
Gegen neun Uhr ging Lisbeth Salander kurz hinaus, um sich an einem Automaten im Korridor vor dem Archiv einen Kaffee und ein in Plastik verpacktes belegtes Brötchen zu kaufen. Dann blätterte sie weiter in alten Papieren und konzentrierte sich darauf, 1954 in Kalmar eine Spur von Gottfried Vanger zu finden. Es gelang ihr nicht.
Sie überlegte, ob sie Mikael Blomkvist anrufen sollte, entschied sich aber, die Personalzeitungen auch noch durchzugehen, bevor sie Feierabend machte.
Der Raum war ungefähr fünf mal zehn Meter groß. Mikael vermutete, dass er an der nördlichen Schmalseite des Hauses liegen musste.
Martin Vanger hatte seine private Folterkammer sorgfältig eingerichtet. Links Ketten, Metallringe an der Decke und im Boden, ein Tisch mit Lederriemen, auf dem er seine Opfer festschnallen konnte, und eine Videoausrüstung. Ein Aufnahmestudio. Ganz hinten im Raum stand ein Stahlkäfig, in dem er seine Gäste längerfristig einsperren konnte. Rechts von der Tür ein Bett und eine Fernsehecke. Auf einem Regal konnte Mikael jede Menge Videofilme entdecken.
Sobald sie den Raum betreten hatten, richtete Martin Vanger die Pistole auf Mikael und befahl ihm, sich bäuchlings auf den Boden zu legen. Mikael weigerte sich.
»Okay«, sagte Martin Vanger, »dann schieße ich Ihnen in die Kniescheiben.«
Er entsicherte. Mikael kapitulierte. Er hatte keine Wahl.
Er hatte gehofft, dass Martins Aufmerksamkeit einmal für eine Zehntelsekunde nachlassen würde - er wusste, dass er einen Kampf gegen ihn gewinnen würde. Als Martin ihm oben an der Treppe die Hand auf die Schulter legte, hatte er eine kleine Chance gehabt, aber zu lange gezögert. Danach war Martin nicht mehr in seine Nähe gekommen. Und mit verletzten Knien hatte er gar keine Chance mehr. Er legte sich auf den Boden.
Martin näherte sich ihm von hinten und befahl Mikael, die Hände auf den Rücken zu legen. Er legte ihm Handschellen an. Dann versetzte er Mikael einen Tritt zwischen die Beine und begann, auf ihn einzuprügeln.
Was danach geschah, erschien Mikael wie ein Alptraum. Martin Vangers geistiger Zustand wechselte zwischen Vernunft und Wahnsinn. Phasenweise war er anscheinend ruhig. Im nächsten Moment lief er im Keller auf und ab wie ein Tier im Käfig. Mehrfach versetzte er Mikael Tritte. Mikael konnte weiter nichts tun, als zu versuchen, seinen Kopf zu schützen und die Schläge bestmöglich abzufangen. Nach wenigen Minuten schmerzte sein Körper von einem Dutzend Verletzungen.
Während der ersten halben Stunde sagte Martin kein Wort und war nicht ansprechbar. Danach schien er sich zu beruhigen. Er holte eine Kette, legte sie Mikael um den Hals und befestigte sie mit einem Vorhängeschloss an einem Metallring am Boden. Dann ließ er ihn eine knappe Viertelstunde allein. Als er wiederkam, hatte er eine Literflasche Tafelwasser dabei. Er setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete Mikael, während er trank.
»Kann ich ein bisschen Wasser haben?«, fragte Mikael.
Martin Vanger beugte sich herab und ließ ihn großzügig aus der Flasche trinken. Mikael schluckte gierig.
»Danke.«
»Immer so höflich, Kalle Blomkvist.«
»Warum diese Tritte?«, fragte Mikael.
»Weil Sie mich so böse gemacht haben. Sie verdienen Strafe. Warum sind Sie nicht einfach nach Hause gefahren? Sie wurden bei Millennium gebraucht. Ich hatte es ernst gemeint - wir hätten ein großes Magazin daraus machen können. Wir hätten viele Jahre zusammenarbeiten können.«
Mikael zog eine Grimasse und versuchte, seinen Körper in eine bequemere Stellung zu bringen. Er war hilflos. Alles, was er hatte, war seine Stimme.
»Ich schätze, damit wollen Sie sagen, dass diese Chance endgültig verpasst ist«, sagte Mikael.
Martin Vanger lachte.
»Tut mir leid, Mikael. Aber Ihnen muss doch klar sein, dass Sie hier unten sterben werden.«
Mikael nickte.
»Wie zum Teufel seid Ihr nur auf mich gekommen, Sie und diese anorektische Hexe, die Sie hier mit reingezogen haben?«
»Sie haben gelogen, als man Sie fragte, was Sie gemacht haben, als Harriet verschwand. Ich kann beweisen, dass Sie beim Festzug am ›Tag des Kindes‹ in Hedestad waren. Sie wurden fotografiert, als Sie Harriet ansahen.«
»Sind Sie deswegen nach Norsjö gefahren?«
»Ja, um das Foto zu holen. Es war von einem Paar aufgenommen worden, das sich zufällig in Hedestad aufgehalten hatte.«
Martin Vanger schüttelte den Kopf.
»Der Teufel soll mich holen, wenn das wahr ist.«
Mikael versuchte, die Achseln zu zucken. Er überlegte angestrengt, was er sagen konnte, um seine Hinrichtung zu verhindern oder aufzuschieben.
»Wo ist das Foto jetzt?«
»Das Negativ? Das liegt in meinem Fach in der Handelsbank hier in Hedestad … wussten Sie nicht, dass ich mir ein Bankschließfach gemietet habe?« Die Lügen gingen ihm ganz leicht über die Lippen. »Kopien gibt es mehrere. In meinem und in Lisbeths Computer, auf dem Bildserver bei Millennium und auf dem Server von Milton Security, wo Lisbeth arbeitet.«
Martin Vanger wartete und versuchte einzuschätzen, ob Mikael bluffte oder nicht.
»Wie viel weiß Salander?«
Mikael zögerte. Lisbeth Salander war jetzt seine einzige Hoffnung auf Rettung. Was würde sie tun, wenn sie nach Hause kam und bemerkte, dass er verschwunden war? Er hatte das Foto von Martin Vanger im Anorak auf den Küchentisch gelegt. Würde sie die Verbindung herstellen können? Würde sie Alarm schlagen? Sie war nicht der Typ, der die Polizei anruft. Der Alptraum schlechthin wäre es, wenn sie bei Martin Vanger an der Tür klingeln würde, um sich nach ihm zu erkundigen.
»Antworten Sie!«, sagte Martin Vanger mit gefährlicher Stimme.
»Ich denke, Lisbeth weiß ungefähr genauso viel wie ich, vielleicht sogar mehr. Ich würde mal tippen, dass sie mehr weiß. Sie ist schlau. Sie hat auch die Verbindung zu Lena Andersson gesehen.«
»Die Verbindung zu Lena Andersson?« Martin Vanger wirkte völlig verblüfft.
»Das siebzehnjährige Mädchen, das Sie im Februar 1966 in Uppsala zu Tode gefoltert haben. Sagen Sie nicht, dass Sie das vergessen haben.«
Martin Vangers Blick wurde wieder klarer. Zum ersten Mal sah er fast ein wenig bestürzt aus. Er wusste nicht, dass jemand auch hier die Querverbindung gefunden hatte - Lena Andersson hatte nicht in Harriets Adressbuch gestanden.
»Martin«, sagte Mikael, wobei er versuchte, seine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen. »Martin, es ist vorbei. Sie können mich vielleicht töten, aber es ist vorbei. Es gibt zu viele, die Bescheid wissen, und diesmal werden Sie ins Kittchen wandern.«
Martin Vanger sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu laufen. Plötzlich schlug er mit der Faust gegen die Wand. Ich darf nicht vergessen, dass er irrational denkt und handelt. Die Katze. Er hätte die Katze mit hierher nehmen können, aber er ist gegen jeden gesunden Menschenverstand zur Familienkapelle gegangen. Er handelt nicht rational. Martin Vanger blieb stehen.
»Ich glaube, dass Sie lügen. Nur Sie und Salander wissen Bescheid. Sie haben mit niemandem darüber gesprochen, sonst wäre die Polizei schon hier gewesen. Ein ordentliches Feuer im Gästehaus, und alle Beweise sind vernichtet.«
»Und wenn Sie sich täuschen?«
Auf einmal lächelte er.
»Wenn ich mich täusche, dann ist es wirklich vorbei. Aber das glaube ich nicht. Ich setze darauf, dass Sie bluffen. Was habe ich für eine Wahl?« Er überlegte. »Diese verdammte Fotze ist das schwache Glied. Ich muss sie finden.«
»Sie ist gegen Mittag nach Stockholm gefahren.«
Martin Vanger lachte.
»Aha. Warum sitzt sie dann den ganzen Abend im Archiv des Vanger-Konzerns?«
Mikaels Herz schlug schneller. Er wusste es. Er hatte es die ganze Zeit gewusst.
»Stimmt. Sie sollte zuerst beim Archiv vorbeifahren und dann weiter nach Stockholm«, antwortete Mikael so ruhig er konnte. »Ich wusste nicht, dass sie so lange geblieben ist.«
»Hören Sie auf jetzt. Die Archiv-Chefin hat mir mitgeteilt, dass Dirch Frode ihr Anweisung gegeben hat, Salander so lange bleiben zu lassen, wie sie will. Das heißt, dass sie irgendwann heute Nacht zurückkommt. Der Nachtwächter ruft mich an, sobald sie das Verwaltungsgebäude verlässt.«
Teil IV
Feindliche Übernahme
11. Juli bis 30. Dezember
92 % aller schwedischen Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, haben ihre jüngste Erfahrung nicht bei der Polizei angezeigt.
24. Kapitel
Freitag, 11. Juli - Samstag, 12. Juli
Martin Vanger beugte sich herab und durchsuchte Mikaels Taschen. Er fand den Schlüssel.
»Schlau von Ihnen, die Schlösser auszutauschen«, kommentierte er. »Ich werde mich um Ihre Freundin kümmern, wenn sie nach Hause kommt.«
Mikael antwortete nicht. Er erinnerte sich, dass Martin Vanger nach vielen erbitterten Kämpfen in der Industrie Erfahrung mit Verhandlungen hatte. Er hatte schon den vorherigen Bluff durchschaut.
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum all das?« Mikael nickte unbestimmt mit dem Kopf in den Raum.
Martin bückte sich zu ihm, legte ihm eine Hand unters Kinn und hob seinen Kopf an, sodass sich ihre Blicke trafen.
»Weil es so einfach ist«, sagte er. »Die ganze Zeit verschwinden Frauen. Es gibt keinen, der sie vermisst. Einwanderer. Huren aus Russland. Tausende von Menschen fahren jedes Jahr durch Schweden.«
Er ließ Mikaels Kopf los und stand auf, beinahe schon stolz auf seine Demonstration.
Martin Vangers Worte trafen Mikael wie ein Faustschlag.
O mein Gott. Das ist gar kein historisches Rätsel. Martin Vanger bringt heute noch Frauen um. Und ich bin völlig ahnungslos reingerannt …
»Ich habe gerade keinen Gast. Aber es wird Sie vielleicht amüsieren zu erfahren, dass im Winter und im Frühjahr, während Sie und Henrik beieinandersaßen und schwatzten, ein Mädchen hier unten war. Sie hieß Irina und kam aus Weißrussland. Als Sie bei mir zu Abend aßen, saß sie hier in diesem Käfig eingesperrt. Das war doch ein netter Abend, nicht wahr?«
Martin Vanger setzte sich auf den Tisch und ließ die Beine baumeln. Mikeal blinzelte. Er musste plötzlich sauer aufstoßen und schluckte kräftig.
»Was machen Sie mit den Leichen?«
»Ich habe das Boot genau hier unten am Anlegesteg. Ich nehme sie weit mit hinaus aufs Meer. Im Unterschied zu meinem Vater hinterlasse ich keine Spuren. Aber auch er war geschickt. Er hat seine Opfer über ganz Schweden verstreut.«
In Mikaels Kopf fielen die Puzzleteilchen langsam, aber sicher an ihren Platz.
Gottfried Vanger. Von 1949 bis 1965. Danach übernahm Martin Vanger, 1966 in Uppsala.
»Sie bewundern Ihren Vater.«
»Er hat mir alles beigebracht. Er hat mich initiiert, als ich vierzehn Jahre alt war.«
»Uddevalla. Lea Persson.«
»Genau. Ich war dabei. Ich habe nur zugeguckt, aber ich war dabei.«
»1964, Sara Witt in Ronneby.«
»Ich war sechzehn. Da habe ich zum ersten Mal eine Frau gehabt. Gottfried hat es mir beigebracht. Ich habe sie erwürgt.«
Er gibt damit an. Großer Gott, was für eine durch und durch kranke Familie.
»Sie begreifen doch wohl selbst, dass das hier völlig krank ist?«
Martin Vanger zuckte leicht mit den Schultern.
»Ich glaube nicht, dass Sie verstehen können, wie göttlich es ist, volle Kontrolle über Leben und Tod eines Menschen zu haben.«
»Sie genießen es, Frauen zu foltern und zu ermorden, Martin.«
Der Konzernchef überlegte kurz, den Blick auf einen leeren Fleck an der Wand hinter Mikael gerichtet. Dann lächelte er sein charmantes, blendendes Lächeln.
»Das glaube ich eigentlich nicht. Wenn ich meinen Zustand intellektuell analysiere, stelle ich fest, dass ich eher ein Serienvergewaltiger als Serienmörder bin. Eigentlich bin ich ein Serienkidnapper. Dass ich die Frauen töte, ist nur die natürliche Konsequenz - ich muss meine Verbrechen schließlich verbergen. Das verstehen Sie doch?«
Mikael wusste nicht, was er antworten sollte, und nickte nur. »Natürlich sind meine Taten sozial nicht akzeptabel, aber mein Verbrechen ist in erster Linie ein Verbrechen gegen die Konventionen der Gesellschaft. Der Tod kommt erst am Ende des Aufenthalts meiner Gäste, wenn ich ihrer überdrüssig geworden bin. Es ist immer wieder faszinierend, ihre Enttäuschung zu sehen.«
»Enttäuschung?«, fragte Mikael verblüfft.
»Genau. Enttäuschung. Sie glauben, wenn sie mir zu Willen sind, dann werden sie überleben. Sie unterwerfen sich meinen Regeln. Sie fangen an, mir zu vertrauen, beginnen einen Kameraden in mir zu sehen, und bis zum Schluss hoffen sie, dass diese Kameradschaft etwas bedeutet. Die Enttäuschung kommt dann, wenn sie merken, dass ich sie an der Nase herumgeführt habe.«
Martin Vanger ging um den Tisch herum und lehnte sich gegen den Stahlkäfig.
»Sie mit Ihren kleinbürgerlichen Konventionen werden das nie verstehen, aber die Spannung liegt darin, die Entführung zu planen. Solche Dinge darf man nicht spontan machen - solche Kidnapper werden immer geschnappt. Es ist die reinste Wissenschaft, ich muss dabei tausend Details berücksichtigen. Ich muss eine Beute finden und ihr Leben erforschen. Wer ist sie? Woher kommt sie? Wie kann ich an sie rankommen? Wie stelle ich es an, dass ich mit meiner Beute einmal allein sein kann, ohne dass mein Name ins Spiel kommt oder irgendwann in einer zukünftigen polizeilichen Ermittlung auftaucht?«
Hör auf, dachte Mikael. Martin Vanger redete über Kidnapping und Mord in einem fast schon akademischen Ton, als hätte er in irgendeiner esoterischen oder theologischen Frage eine abweichende Meinung.
»Interessiert Sie das wirklich, Mikael?«
Er beugte sich herab und strich Mikael über die Wange. Seine Berührung war behutsam, beinahe zärtlich.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Mikael schüttelte den Kopf. »Sie können mir gerne eine Zigarette anbieten«, erwiderte er.
Martin Vanger erfüllte ihm den Wunsch und zündete zwei Zigaretten an. Eine davon steckte er Mikael zwischen die Lippen und ließ ihn einmal ziehen.
»Danke«, sagte Mikael automatisch.
Martin Vanger lachte abermals.
»Da sehen Sie’s. Sie haben sich das Prinzip der Unterwerfung schon zu Eigen gemacht. Ihr Leben liegt in meinen Händen, Mikael. Sie wissen, dass ich Sie jeden Moment töten kann. Sie haben mich gebeten, Ihre Lebensqualität zu verbessern, und das haben Sie getan, indem Sie ein rationales Argument und ein bisschen Schmeichelei einsetzten. Sie haben eine Belohnung bekommen.«
Mikael nickte. Er hatte fast unerträgliches Herzklopfen.
Um viertel nach elf trank Lisbeth Salander gerade Wasser aus ihrer PET-Flasche, während sie weiterblätterte. Im Gegensatz zu Mikael verschluckte sie sich nicht an ihrem Getränk. Sie zog jedoch die Augenbrauen hoch, als sie die Verbindung entdeckte.
Klick!
Innerhalb von zwei Stunden hatte sie die Personalzeitungen aller möglichen Niederlassungen des Vanger-Konzerns durchgearbeitet. Die Hauptzeitung hieß schlicht und einfach Unternehmensinformation und trug das Logo des Vanger-Konzerns - eine schwedische Flagge, die im Wind flatterte und deren Spitze einen Pfeil bildete. Die Zeitung wurde anscheinend von der Werbeabteilung des Konzerns gemacht und enthielt Propaganda, die dazu beitragen sollte, dass sich die Angestellten wie die Mitglieder einer einzigen großen Familie fühlten.
In den Skiferien im Februar 1967 hatte Henrik mit einer großzügigen Geste fünfzig Angestellte der Hauptverwaltung mit ihren Familien zu einem einwöchigen Skiurlaub in Härjedalen eingeladen. Die Einladung war dem Rekordergebnis zu verdanken, das der Konzern im Jahr zuvor erzielt hatte - es war der Dank für viele Arbeitsstunden. Die PR-Abteilung fuhr mit und machte eine Fotoreportage von dem Skidorf, in das man sich zu diesem Zwecke eingemietet hatte.
Viele der Fotos mit den lustigen Unterschriften waren auf dem Skihügel aufgenommen worden. Ein paar beim geselligen Beisammensein in der Bar, mit lachenden, durchgefrorenen Mitarbeitern, die das eine oder andere Bierglas hochhielten. Zwei Fotos waren bei einem kleinen Unternehmens-Event geschossen worden, auf dem Henrik Vanger die einundvierzigjährige Büroangestellte Ulla-Britt Mogren zur »Besten Büroangestellten des Jahres« kürte. Sie bekam einen Bonus von 500 Kronen und eine Glasschale.
Die Preisverteilung war auf der Terrasse des Skihotels vorgenommen worden, anscheinend kurz bevor die Leute wieder auf die Pisten zurückgekehrt waren. Ungefähr zwanzig Personen waren auf dem Bild zu sehen.
Ganz rechts, hinter Henrik Vanger, stand ein Mann mit langem, hellem Haar. Er trug einen dunklen Steppanorak mit einem abgesetzten Feld an der Schulterpartie. Da die Zeitung schwarz-weiß war, konnte man die Farbe nicht erkennen, aber Lisbeth hätte jederzeit ihren Kopf gewettet, dass die Schulterpartie rot war.
Die Bildunterschrift erläuterte den Zusammenhang: Ganz rechts der neunzehnjährige Martin Vanger, der in Uppsala studiert. Er wird bereits als vielversprechender Nachwuchs für die Konzernführung gehandelt.
»Got you«, sagte Lisbeth leise.
Sie schaltete die Schreibtischlampe aus und ließ die Personalzeitungen in einem einzigen Durcheinander auf dem Schreibtisch liegen - damit diese Schlampe Bodil Lindgren morgen früh gleich was hat, worum sie sich kümmern kann.
Durch eine Seitentür ging sie auf den Parkplatz. Auf halbem Weg zum Auto erinnerte sie sich, dass sie versprochen hatte, der Wache Bescheid zu geben, wenn sie das Gebäude verließ. Sie blieb stehen und warf einen Blick auf den Parkplatz. Der Nachtwächter saß auf der anderen Seite des Gebäudes. Das bedeutete, sie hätte zurückgehen und ums ganze Haus laufen müssen. Scheiß drauf, sagte sie sich.
Als sie zum Motorrad kam, schaltete sie das Handy ein und wählte Mikaels Nummer, doch es meldete sich nur seine Mobilbox. Sie sah jedoch, dass Mikael zwischen halb vier und neun nicht weniger als dreizehn Mal versucht hatte, sie anzurufen. In den letzten zwei Stunden hatte er es nicht mehr probiert.
Lisbeth wählte die Festnetznummer des Gästehäuschens, bekam aber immer noch keine Antwort. Sie runzelte die Stirn, befestigte ihre Computertasche auf dem Gepäckträger, setzte den Helm auf und ließ ihre Maschine an. Die Fahrt von der Hauptverwaltung bis zur Einfahrt ins Gewerbegebiet von Hedestad und hinüber zur Hedeby-Insel dauerte zehn Minuten. In der Küche brannte Licht, aber das Häuschen war leer.
Lisbeth stieg ab und sah sich um. Ihr erster Gedanke war, dass Mikael zu Frode hinübergegangen sein musste, aber sie konnte schon vom Treppenabsatz aus feststellen, dass bei Frode auf der anderen Seite des Sundes alle Lichter erloschen waren. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, die zehn Minuten nach Mitternacht anzeigte.
Sie ging wieder ins Haus, öffnete den Schrank und holte den PC heraus, der die Bilder der Überwachungskameras speicherte, die sie draußen montiert hatte. Sie brauchte ein Weilchen, bis sie den Handlungsverlauf nachvollziehen konnte.
Um 15.32 Uhr war Mikael nach Hause gekommen.
Um 16.03 Uhr war er in den Garten gegangen und hatte Kaffee getrunken. Er hatte eine Mappe dabei, in der er konzentriert las. In der Stunde, die er im Garten verbrachte, hatte er drei kurze Anrufe getätigt. Alle drei Anrufe entsprachen auf die Minute genau den Anrufen, die sie nicht beantwortet hatte.
Um 17.21 Uhr war Mikael spazieren gegangen. Weniger als fünfzehn Minuten später war er wieder zurück.
Um 18.20 Uhr war er an den Zaun getreten und hatte Richtung Brücke geguckt.
Um 21.03 Uhr war er hinausgegangen und nie zurückgekommen.
Lisbeth sah sich im Schnelldurchlauf die Bilder auf dem anderen PC an, die den Zaun und die Straße vor der Haustür zeigten. Sie konnte sehen, welche Personen tagsüber vorbeigelaufen waren.
Um 19.12 Uhr war Gunnar Nilsson nach Hause gekommen.
Um 19.42 Uhr war jemand in dem Saab vom Östergården in Richtung Hedestad gefahren.
Um 20.02 Uhr war das Auto zurückgekommen - eine kurze Fahrt zum Tankstellenkiosk?
Danach passierte nichts bis genau 21 Uhr, als Martin Vangers Auto vorbeifuhr. Drei Minuten später hatte Mikael das Haus verlassen.
Eine knappe Stunde später, um 21.50 Uhr war Martin Vanger plötzlich ins Sichtfeld des Objektivs getreten. Er stand über eine Minute am Zaun, betrachtete das Gästehäuschen und guckte durchs Küchenfenster. Er ging auf den Treppenabsatz und versuchte, die Tür aufzuschließen. Dann musste er entdeckt haben, dass ein neues Türschloss eingebaut worden war. Er blieb kurz stehen, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und das Häuschen verließ.
Mit einem Mal spürte Lisbeth Salander, wie sich Eiseskälte in ihrer Magengegend ausbreitete.
Martin Vanger hatte Mikael plötzlich allein gelassen. Er lag in unbequemer Haltung mit auf dem Rücken gefesselten Händen, den Hals mit einer dünnen Kette an einen Metallring am Boden gefesselt. Er fummelte an den Handschellen herum, wusste jedoch, dass er sie nicht öffnen konnte. Sie saßen so eng, dass ihm die Hände schon taub wurden.
Er hatte keine Chance. Er blinzelte.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er Martin Vangers Schritte wieder hörte.
Der Unternehmensführer trat in sein Blickfeld. Er sah bekümmert aus.
»Unbequem?«, fragte er.
»Ja«, erwiderte Mikael.
»Ihre eigene Schuld. Sie hätten nach Hause fahren sollen.«
»Warum morden Sie?«
»Ich habe damit eine Wahl getroffen. Ich könnte die ganze Nacht moralische und intellektuelle Aspekte meines Tuns mit Ihnen diskutieren, aber das ändert nichts an dieser Tatsache. Versuchen Sie es mal so zu sehen - ein Mensch ist eine Hülle aus Haut, die Zellen, Blut und chemische Komponenten an ihrem Platz hält. Ein paar wenige schaffen es bis in die Geschichtsbücher. Die meisten verschwinden spurlos.«
»Sie ermorden Frauen.«
»Wir, die morden, weil wir den Genuss bejahen - ich bin ja nicht alleine mit diesem Hobby -, wir leben das vollständige Leben.«
»Aber warum Harriet? Ihre eigene Schwester?«
Martin Vangers Gesicht veränderte sich plötzlich. Er war mit einem einzigen Schritt bei Mikael und packte ihn grob bei den Haaren.
»Was ist mit ihr passiert?«
»Was meinen Sie?«, keuchte Mikael.
Er versuchte, den Kopf zu drehen, um den Schmerz auf der Kopfhaut zu mildern. Sofort zog sich die Kette um seinen Hals fester zusammen.
»Salander und Sie. Was haben Sie herausgefunden?«
»Lassen Sie mich los. Wir reden doch miteinander.«
Martin Vanger ließ seine Haare los und setzte sich im Schneidersitz vor Mikael hin. Plötzlich hielt er ein Messer in der Hand. Er setzte die Messerspitze auf die Haut genau unter Mikaels Auge. Mikael zwang sich, ihm in die Augen zu sehen.
»Was zum Teufel ist mit ihr passiert?«
»Ich verstehe Sie nicht. Ich dachte, dass Sie sie umgebracht haben.«
Martin Vanger starrte Mikael noch eine ganze Weile an. Dann entspannte er sich. Er stand auf und überlegte, während er durch den Raum lief. Er ließ das Messer nachlässig auf den Boden fallen und wandte sich Mikael zu.
»Harriet, Harriet, immer diese Harriet. Wir haben versucht … mit ihr zu reden. Gottfried hat versucht, es ihr beizubringen. Wir dachten, sie wäre eine von uns und würde ihre Pflichten akzeptieren, aber sie war nur eine ganz gewöhnliche … Fotze. Ich dachte, ich hätte sie unter Kontrolle, aber sie wollte Henrik alles erzählen, und ich begriff, dass ich ihr nicht trauen konnte. Früher oder später hätte sie ihm von mir erzählt.«
»Sie haben sie getötet.«
»Ich wollte sie töten. Ich hatte es vor, aber ich kam zu spät. Ich konnte nicht zur Insel hinüberfahren.«
Mikaels Gehirn versuchte, die Information aufzunehmen, aber ihm war, als würde ein Schild mit der Aufschrift information overload erscheinen. Martin Vanger wusste nicht, was mit seiner Schwester passiert war.
Plötzlich zog er sein Handy aus der Jacke, sah aufs Display und legte es auf den Stuhl neben die Pistole.
»Es wird Zeit, dass wir das hier zum Abschluss bringen. Ich muss ja heute Nacht auch noch mit Ihrem anorektischen Drachen zurande kommen.«
Er öffnete einen Schrank, entnahm ihm einen schmalen Lederriemen und legte ihn wie eine Schlinge um Mikaels Hals. Er löste die Kette, die Mikael an den Boden gefesselt hatte, zog ihn auf die Füße hoch und stieß ihn gegen die Wand. Den Lederriemen führte er durch einen Metallring über Mikaels Kopf und zog an, sodass Mikael sich auf die Zehenspitzen stellen musste.
»Ist es zu fest? Können Sie nicht mehr atmen?« Er ließ ein paar Zentimeter nach und machte das Ende des Riemens weiter unten an der Wand fest. »Ich will ja nicht, dass Sie sofort ersticken.«
Die Schlinge schnitt so fest in Mikaels Hals, dass er unmöglich etwas sagen konnte. Martin Vanger betrachtete ihn aufmerksam.
Plötzlich knöpfte er Mikaels Hose auf und zog sie zusammen mit seiner Unterhose nach unten. Als er ihm die Hose von den Beinen zerrte, verloren Mikaels Füße den Halt, und er baumelte ein paar Sekunden an der Schlinge, bevor er wieder in Kontakt mit dem Boden kam. Martin Vanger ging zu einem Schrank und holte eine Schere. Er schnitt Mikaels T-Shirt auf und warf die Reste auf einen Haufen. Dann trat er einen Schritt von Mikael zurück und betrachtete sein Opfer.
»Ich habe noch nie einen Jungen hier gehabt«, sagte Martin Vanger ernst. »Ich habe niemals einen anderen Mann angefasst … außer meinen Vater. Das war meine Pflicht.«
Mikaels Schläfen pochten. Er konnte sein Körpergewicht nicht auf die Füße verlagern, ohne erwürgt zu werden. Er versuchte vergeblich, mit den Fingern Halt an der Betonwand hinter ihm zu finden.
»Es ist Zeit«, sagte Martin Vanger.
Er legte die Hand auf den Riemen und drückte ihn nach unten. Mikael spürte, wie die Schlinge sofort tiefer in seinen Hals schnitt.
»Ich habe mich immer gefragt, wie ein Mann schmeckt.«
Er erhöhte den Druck auf die Schlinge, beugte sich plötzlich vor und küsste Mikael auf den Mund - als im selben Augenblick eine kühle Stimme durch den Raum schnitt.
»Du alter Kotzbrocken, darauf habe ich das Monopol in diesem verdammten Dreckskaff.«
Mikael hörte Lisbeths Stimme wie durch rote Nebel. Es gelang ihm, seinen Blick zu fokussieren, und er sah sie am Türpfosten lehnen.
»Nein …«, krächzte Mikael.
Mikael sah Martins Gesichtsausdruck nicht, aber seinen Schock, als er herumfuhr, konnte er fast körperlich spüren. Für eine Sekunde stand die Zeit still. Dann streckte Martin Vanger seinen Arm nach der Pistole aus, die er auf dem Hocker hatte liegen lassen.
Lisbeth Salander machte drei schnelle Schritte nach vorne und schwang einen Golfschläger, den sie seitlich versteckt in der Hand gehabt hatte. Das Eisen beschrieb einen weiten Bogen und traf Martin Vanger über dem Schlüsselbein an der Schulter. Der Schlag hatte eine unerhörte Wucht, und Mikael konnte hören, wie etwas brach. Martin Vanger brüllte.
»Mögen Sie Schmerz?«, fragte Lisbeth Salander.
Ihre Stimme klang rau wie Sandpapier. Mikael würde sein Leben lang nicht vergessen, wie ihr Gesicht aussah, als sie zum Angriff überging. Sie fletschte die Zähne wie ein Raubtier. Ihre Augen glänzten pechschwarz. Sie bewegte sich blitzschnell wie eine Spinne und schien sich nur noch auf ihre Beute zu konzentrieren, als sie den Golfschläger erneut schwang und Vangers Rippen traf.
Er stolperte über den Stuhl und stürzte. Die Pistole fiel auf den Boden vor Lisbeths Füße. Sie kickte sie zur Seite, von ihm weg.
Dann schlug sie ein drittes Mal zu, gerade als Martin Vanger versuchte, sich wieder hochzurappeln. Sie traf ihn mit einem schnalzenden Geräusch an der Hüfte. Ein grauenvoller Laut entfuhr Martin Vangers Kehle. Der vierte Schlag traf ihn von hinten aufs Schulterblatt.
»Lis … errth …«, krächzte Mikael.
Er stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und der Schmerz in seinen Schläfen war fast unerträglich.
Sie drehte sich zu Mikael um und sah, dass sein Gesicht tomatenrot angelaufen war, ihm die Zunge aus dem Mund quoll und er die Augen wild aufgerissen hatte.
Sie sah sich rasch um und entdeckte das Messer auf dem Boden. Dann warf sie einen Blick auf Martin Vanger, der sich auf die Knie gestemmt hatte und mit einem schlaff herabhängenden Arm versuchte, auf sie zuzukriechen. Der würde in den nächsten Sekunden keine Probleme machen können. Sie ließ den Golfschläger fallen und holte sich das Messer. Es hatte zwar eine scharfe Spitze, die Schneide war jedoch stumpf. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und bewegte die Klinge fieberhaft hin und her, um den Lederriemen durchzuschneiden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Mikael endlich auf den Boden fiel. Aber die Schlinge um seinen Hals hatte sich fest zusammengezogen.
Lisbeth Salander warf noch einen Blick auf Martin Vanger. Er war wieder auf die Füße gekommen, krümmte sich aber vor Schmerzen. Sie ignorierte ihn und versuchte, ihre Finger unter die Würgeschlinge zu bekommen. Sie traute sich nicht zu schneiden, aber schließlich benutzte sie doch die Messerspitze und ritzte Mikael am Hals, als sie vorsichtig versuchte, die Schlinge aufzuziehen. Schließlich löste sich der Riemen und Mikael schnappte rasselnd nach Luft.
Für einen Augenblick erlebte Mikael das phantastische Gefühl, wie Körper und Seele sich wieder vereinten. Er konnte wieder perfekt sehen und jedes Staubkorn im Raum erkennen. Er vernahm jeden Atemzug und jedes Rascheln von Kleidern, als ob die Geräusche durch ein Hörrohr an sein Ohr gelangten. Er nahm den Duft von Lisbeths Schweiß wahr und den Geruch ihrer Lederjacke. Dann verschwand diese Illusion, als ihm das Blut in den Kopf zurückströmte und sein Gesicht seine normale Farbe wiedererlangte.
Lisbeth wandte den Kopf im selben Moment, in dem Martin Vanger durch die Tür nach draußen verschwand. Sie richtete sich auf und griff sich die Pistole - prüfte das Magazin und entsicherte. Mikael dachte, dass sie schon früher mit Waffen umgegangen sein musste. Sie sah sich um, und ihr Blick blieb an den Schlüsseln der Handschellen hängen, die deutlich sichtbar auf dem Boden lagen.
»Den schnapp ich mir«, sagte sie und rannte zur Tür. Die Schlüssel nahm sie im Laufen auf und warf sie nach hinten zu Mikael auf den Boden.
Mikael versuchte ihr zuzurufen, dass sie auf ihn warten solle, aber er brachte nur ein Krächzen heraus, und da war sie auch schon durch die Tür verschwunden.
Lisbeth hatte nicht vergessen, dass Martin Vanger irgendwo noch ein Gewehr hatte, also blieb sie mit der Pistole in der Hand schussbereit stehen, als sie den Durchgang zwischen Garage und Küche betrat. Sie horchte, konnte aber kein Geräusch hören, das ihr verraten hätte, wo sich ihre Beute befand. Instinktiv ging sie in Richtung Küche und war fast schon dort, als sie hörte, wie auf dem Hof das Auto angelassen wurde.
Sie rannte zurück und durch die Seitentür in die Garage. Von der Ausfahrt aus konnte sie die Rücklichter seines Wagens sehen, wie sie gerade Henriks Haus passierten und die Kurve hinunter zur Brücke beschrieben. Sie rannte ihm nach, so schnell ihre Beine sie trugen. Die Pistole stopfte sie in ihre Jackentasche und verlor keine Zeit mit dem Helm, als sie ihre Maschine startete. Wenige Sekunden später war sie auf dem Weg über die Brücke.
Er hatte vielleicht einen Vorsprung von neunzig Sekunden, als sie den Kreisverkehr an der Auffahrt zur E4 erreichte. Sie konnte ihn nicht sehen. Sie bremste, stellte den Motor aus und lauschte.
Am Himmel türmten sich dicke Wolken. Am Horizont sah sie die ersten Anzeichen der Dämmerung. Dann hörte sie ein Motorengeräusch und konnte ganz kurz Martin Vangers Auto auf der E4 Richtung Süden erkennen. Lisbeth ließ ihr Motorrad wieder an, legte den Gang ein und fuhr unter der Unterführung hindurch. Sie fuhr achtzig, als sie die Kurve der Autobahnauffahrt nahm. Vor ihr lag eine gerade Strecke. Da sie keinen Verkehr sah, gab sie Gas bis zum Anschlag und flog geradezu über die Fahrbahn. Ihre Geschwindigkeit lag bei hundertsiebzig, als sich der Weg an einer lang gestreckten Hügelkette entlang zu krümmen begann - das war so ungefähr die Höchstgeschwindigkeit, die ihre eigenhändig frisierte Maschine bergab fahren konnte. Nach zwei Minuten sah sie Martin Vangers Auto zirka vierhundert Meter vor sich.
Konsequenzanalyse. Was mache ich jetzt?
Sie drosselte ihr Tempo auf vernünftigere hundertzwanzig und fuhr ihm mit gleich bleibendem Abstand hinterher. Für ein paar Sekunden verlor sie ihn aus den Augen, als sie ein paar scharfe Kurven nahmen. Dann kamen sie wieder auf eine lange, gerade Strecke. Sie lag ungefähr zweihundert Meter hinter ihm.
Er sah den Scheinwerfer ihres Motorrads und erhöhte die Geschwindigkeit, als sie durch eine lang gezogene Kurve fuhren. Sie gab Vollgas, verlor in der Kurve aber an Boden. Dann lag wieder ein gerades Stück vor ihnen.
Sie sah die Lichter des Lastwagens schon aus weiter Entfernung. Martin Vanger auch. Plötzlich erhöhte er das Tempo noch mehr und wechselte auf die Gegenfahrbahn, als der LKW noch hundertfünfzig Meter entfernt war. Lisbeth sah, wie der Fahrer bremste und frenetisch die Lichthupe betätigte, aber der Abstand schrumpfte innerhalb weniger Sekunden zusammen, und der Zusammenstoß war unausweichlich. Martin Vanger fuhr mit einem schrecklichen Krachen frontal in den Lastwagen.
Instinktiv bremste Lisbeth. Dann sah sie, wie sich der Anhänger quer über ihre Fahrbahn zu schieben begann. Bei ihrer Geschwindigkeit würde es nur noch zwei Sekunden dauern, bis sie die Unfallstelle erreichte. Sie gab noch mehr Gas, lenkte nach rechts auf die Standspur und konnte dem Anhänger um ein paar Meter ausweichen, als sie vorbeifuhr. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie unter dem Vorderteil des Lasters Flammen hochschlugen.
Sie fuhr noch hundertfünfzig Meter weiter, bevor sie stehen blieb und sich umdrehte. Sie sah, wie der Lastwagenfahrer auf der Beifahrerseite aus der Kabine sprang. Da gab sie wieder Gas. Bei Åkerby, zwei Kilometer weiter südlich, bog sie links ab und folgte der alten Landstraße Richtung Norden, parallel zur E4. Als sie auf gleicher Höhe mit der Unfallstelle war, sah sie, dass zwei Autos angehalten hatten. Das platt gedrückte Wrack, das sich hoffnungslos unter dem LKW verkeilt hatte, brannte lichterloh. Ein Mann versuchte, den Flammen mit einem kleinen Feuerlöscher beizukommen.
Sie gab Gas, war flugs in Hedeby und fuhr langsam über die Brücke zurück. Sie parkte vor dem Gästehäuschen und ging wieder in Martin Vangers Haus.
Mikael kämpfte immer noch mit den Handschellen. Seine Hände waren so abgestorben, dass er den Schlüssel nicht greifen konnte. Lisbeth schloss die Handschellen auf und hielt ihn fest, während das Blut wieder zu zirkulieren begann und das Gefühl in seine Hände zurückkehrte.
»Martin?«, fragte Mikael heiser.
»Tot. Er hat sein Auto mit hundertfünfzig frontal in einen Lastwagen gelenkt, ein paar Kilometer Richtung Süden auf der E4.«
Mikael starrte sie an. Sie war nur ein paar Minuten fort gewesen.
»Wir müssen … die Polizei anrufen«, krächzte Mikael. Er musste plötzlich stark husten.
»Warum das denn?«, erkundigte sich Lisbeth Salander.
Weitere zehn Minuten war Mikael nicht imstande aufzustehen. An die Wand gelehnt, blieb er nackt auf dem Boden sitzen. Er massierte sich den Hals und griff mit ungeschickten Fingern nach der Wasserflasche. Lisbeth wartete geduldig, bis er wieder Gefühl in den Händen hatte. In der Zwischenzeit dachte sie nach.
»Zieh dich an.«
Sie holte Mikaels zerschnittenes T-Shirt und wischte die Fingerabdrücke von den Handschellen, dem Messer und dem Golfschläger. Die PET-Flasche nahm sie mit.
»Was machst du?«
»Zieh dich an. Draußen wird es schon hell. Beeil dich.«
Mikael stellte sich auf seine wackeligen Füße und schaffte es, sich Unterhose und Jeans anzuziehen. Er schlüpfte in seine Sneakers. Lisbeth stopfte ihm seine Strümpfe in die Jackentasche und fasste ihn am Arm.
»Was genau hast du hier unten alles angefasst?«
Mikael sah sich um. Er versuchte sich zu erinnern. Schließlich erklärte er, dass er außer der Türklinke und den Schlüsseln nichts angefasst hatte. Lisbeth fand die Schlüssel in Martin Vangers Jacke, die er über den Stuhl gehängt hatte. Sie wischte die Klinke und den Lichtschalter sorgfältig ab und machte die Lampe aus. Dann führte sie Mikael die Kellertreppe hinauf und bat ihn, im Durchgang zu warten, während sie den Golfschläger wieder an seinen Platz stellte. Als sie wiederkam, hatte sie ein dunkles T-Shirt in der Hand, das Martin Vanger gehört hatte.
»Zieh das an. Ich will nicht, dass irgendjemand dich hier nachts mit nacktem Oberkörper rumlaufen sieht.«
Mikael begriff, dass er unter Schock stand. Sie hatte das Kommando übernommen, und er gehorchte willenlos ihren Befehlen. Sie führte ihn von Martin Vangers Haus fort. Die ganze Zeit hielt sie ihn fest. Als sie vor der Tür zu Mikaels Häuschen angekommen waren, hielt sie inne.
»Wenn uns jemand gesehen hat und fragt, was wir nachts draußen gemacht haben, dann haben wir zwei auf der Landzunge einen Nachtspaziergang gemacht und Sex gehabt.«
»Lisbeth, ich kann nicht …«
»Stell dich unter die Dusche. Jetzt.«
Sie half ihm aus seinen Kleidern. Dann setzte sie den Kaffeekessel auf und schmierte schnell ein halbes Dutzend Brote mit Käse, Leberwurst und Salzgurken. Als Mikael wieder ins Zimmer gehinkt kam, saß sie am Küchentisch und dachte intensiv nach. Sie musterte die Blutergüsse und Schürfwunden an seinem Körper. Die Würgeschlinge hatte so tief eingeschnitten, dass er ein dunkelrotes Mal um den ganzen Hals zurückbehalten hatte, und das Messer hatte einen blutigen Riss in der Haut an seiner linken Halsseite hinterlassen.
»Komm«, sagte sie. »Leg dich ins Bett.«
Sie holte Pflaster und deckte die Wunde mit einer Kompresse ab. Danach goss sie Kaffee ein und stellte die belegten Brote auf den Tisch.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte Mikael.
»Iss!«, kommandierte Lisbeth und nahm einen großen Bissen.
Mikael blinzelte ein Weilchen. Schließlich setzte er sich auf und aß. Sein Hals war so wund, dass er nur mit Mühe schlucken konnte.
Lisbeth zog ihre Lederjacke aus und holte ein Döschen Tigerbalsam aus ihrem Kulturbeutel.
»Lass den Kaffee noch ein bisschen abkühlen. Leg dich auf den Bauch.«
Sie massierte ihm fünf Minuten mit der Salbe den Rücken. Dann drehte sie ihn um und ließ seiner Vorderseite die gleiche Behandlung angedeihen.
»Du wirst noch eine Weile ganz schöne blaue Flecken haben.«
»Lisbeth, wir müssen die Polizei anrufen.«
»Nein!«, gab sie so entschieden zurück, dass Mikael sie erstaunt ansah. »Wenn du die Polizei rufst, dann hau ich ab. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Martin Vanger ist tot. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er war allein im Auto. Es gab Zeugen. Lass die Polizei oder irgendjemand sonst diese verdammte Folterhöhle entdecken. Du und ich wissen genauso wenig von ihrer Existenz wie alle anderen hier in der Stadt.«
»Warum?«
Sie ignorierte ihn und massierte seine schmerzenden Oberschenkel.
»Lisbeth, wir können nicht einfach …«
»Wenn du mich weiter nervst, dann schleif ich dich zurück in Martins Höhle und kette dich wieder an.«
Während sie redete, schlief Mikael so plötzlich ein, als wäre er ohnmächtig geworden.
25. Kapitel
Samstag, 12. Juli - Montag, 14. Juli
Mikael wurde gegen fünf Uhr morgens schlagartig wach und fuhrwerkte hektisch an seinem Hals herum, um die Schlinge zu entfernen. Lisbeth kam in sein Zimmer, nahm seine Hände und hielt ihn fest. Er schlug die Augen auf und sah sie mit vernebeltem Blick an.
»Ich wusste gar nicht, dass du Golf spielst«, murmelte er und schloss die Augen wieder. Sie blieb noch ein paar Minuten bei ihm sitzen, bis sie sicher war, dass er wieder schlief. Zwischenzeitlich war Lisbeth in Martin Vangers Keller zurückgegangen, um den Tatort zu untersuchen. Neben den Folterwerkzeugen hatte sie eine große Sammlung von Heften mit Gewaltpornographie gefunden und jede Menge Polaroidbilder, die in ein Album eingeklebt worden waren.
Ein Tagebuch hatte es nicht gegeben. Allerdings hatte sie zwei A4-Ordner mit Passfotos und handschriftlichen Notizen zu verschiedenen Frauen gefunden. Sie hatte die Ordner in einer Nylontasche mitgenommen, ebenso Martin Vangers Laptop, den sie auf dem Flurtisch im Obergeschoss entdeckt hatte. Als Mikael wieder eingeschlafen war, fuhr Lisbeth damit fort, Martin Vangers Computer und seine Ordner durchzugehen. Es war sechs Uhr morgens, als sie den Laptop ausschaltete. Sie steckte sich eine Zigarette an und biss nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, während sie überlegte.
Gemeinsam mit Mikael hatte sie die Jagd auf einen vermeintlich in der Vergangenheit aktiven Serienmörder aufgenommen. Sie hatten etwas völlig anderes gefunden. Sie konnte sich kaum ausmalen, was für grauenhafte Szenen sich in Martin Vangers Keller abgespielt haben mussten, mitten in dieser trauten Idylle.
Sie versuchte zu begreifen.
Martin Vanger hatte seit den sechziger Jahren Frauen getötet, in den letzten fünfzehn Jahren mit einer Frequenz von ungefähr einem oder zwei Opfern pro Jahr. Die Tötung war so diskret und wohldurchdacht, dass niemand bemerkt hatte, dass ein Serienmörder am Werk war. Wie war so etwas möglich?
Die Ordner beantworteten diese Frage zumindest teilweise.
Seine Opfer waren anonyme Frauen, oft gerade erst in Schweden angekommene Einwanderinnen, die weder Freunde noch andere Sozialkontakte in Schweden hatten. Daneben fanden sich auch noch Prostituierte und Außenseiterinnen der Gesellschaft, die Drogenprobleme oder anderweitige soziale Schwierigkeiten hatten.
Aus ihren eigenen Studien über die Psychologie des sexuellen Sadismus hatte Lisbeth Salander gelernt, dass diese Art Mörder gerne Souvenirs von ihren Opfern sammelten. Solche Souvenirs dienten als Erinnerung, mit deren Hilfe der Mörder sein erlebtes Vergnügen nach Bedarf wieder aufleben lassen konnte. Martin Vanger hatte diese Gewohnheit gepflegt, indem er ein Todesbuch führte. Er hatte seine Opfer sorgfältig katalogisiert und benotet. Er hatte die Leiden seiner Opfer kommentiert und beschrieben. Er hatte sein mörderisches Tun mit Videofilmen und Fotografien dokumentiert.
Gewalt und Töten, das war seine Zielsetzung, aber Lisbeth kam zu dem Schluss, dass es in Wirklichkeit die Jagd war, die ihn hauptsächlich interessiert hatte. In seinem Laptop hatte er eine Datenbank angelegt, in der Hunderte von Frauen gespeichert waren: Angestellte des Vanger-Konzerns, Bedienungen in Restaurants, die er häufig besuchte, Empfangsdamen in Hotels, Personal der Kranken- und Sozialversicherung, Sekretärinnen von Geschäftsfreunden. Anscheinend nahm Martin Vanger so gut wie jede Frau in sein Verzeichnis auf, mit der er jemals in Kontakt gekommen war, und erforschte ihr Leben so umfassend wie möglich.
Nur einen Bruchteil von ihnen hatte er tatsächlich ermordet, aber alle Frauen in seiner Umgebung waren potenzielle Opfer, über die er Buch führte und die er genau beobachtete. Diese systematischen Untersuchungen hatten geradezu den Charakter eines Hobbys, dem er Tausende von Stunden gewidmet haben musste.
Ist sie verheiratet oder ledig? Hat sie Kinder und Familie? Wo arbeitet sie? Wo wohnt sie? Was für eine Ausbildung hat sie? Haarfarbe? Hautfarbe? Figur?
Lisbeth kam zu dem Schluss, dass dieses Sammeln persönlicher Informationen über seine potenziellen Opfer ein wichtiger Bestandteil von Martin Vangers sexuellen Phantasien gewesen sein musste. Er war in erster Linie ein Stalker und erst in zweiter Linie ein Mörder.
Als Lisbeth fertig gelesen hatte, entdeckte sie ein kleines Kuvert in einem der Umschläge. Sie fummelte zwei abgegriffene, verblichene Polaroidaufnahmen heraus. Auf dem ersten Bild saß ein dunkelhaariges Mädchen an einem Tisch. Sie trug eine schwarze Hose, ihr Oberkörper mit den kleinen spitzen Brüsten war nackt. Sie drehte das Gesicht von der Kamera weg und wollte gerade einen Arm heben, um sich zu schützen, so als ob der Fotograf sie plötzlich überrascht hatte, als er die Kamera hob. Auf dem anderen Bild war sie auch unten herum nackt. Sie lag bäuchlings auf einem Bett mit einem blauen Überwurf. Das Gesicht hielt sie immer noch von der Kamera abgewandt.
Lisbeth stopfte das Kuvert mit den Bildern in ihre Jackentasche. Danach trug sie die Ordner zum Ofen und riss ein Streichholz an. Als sie fertig war, stocherte sie noch einmal in der Asche. Es goss immer noch in Strömen, als sie einen kurzen Spaziergang unternahm und Martin Vangers Laptop ins Wasser unter der Brücke warf.
Als Dirch Frode um halb acht Uhr morgens die Tür aufmachte, saß Lisbeth rauchend am Küchentisch und trank Kaffee. Frode war aschgrau im Gesicht und sah aus, als wäre er brutal geweckt worden.
»Wo ist Mikael?«, fragte er.
»Der schläft noch.«
Frode setzte sich auf einen Küchenstuhl. Lisbeth goss Kaffee ein und schob ihm die Tasse hinüber.
»Martin … Ich habe gerade erfahren, dass Martin heute Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.«
»Traurig«, sagte Lisbeth und nahm einen Schluck Kaffee.
Frode hob den Blick und starrte sie verständnislos an. Dann weiteten sich seine Augen.
»Was …?«
»Er hatte einen Crash. Zu dumm.«
»Wissen Sie, was passiert ist?«
»Er hat das Auto frontal in einen Lastwagen gelenkt. Er hat Selbstmord begangen. Die Presse, der Stress und sein wankendes Finanzimperium, das alles ist zu viel für ihn geworden. Zumindest habe ich den Verdacht, dass es so in den Schlagzeilen zu lesen sein wird.«
Frode sah aus, als würde er gleich einen Schlag erleiden. Hastig stand er auf, ging zum Schlafzimmer und öffnete die Tür.
»Lassen Sie ihn schlafen!«, sagte Lisbeth scharf.
Frode betrachtete den Schlafenden. Er sah die Blessuren in seinem Gesicht und die Blutergüsse auf dem Oberkörper. Dann entdeckte er den flammend roten Strich, wo die Würgeschlinge gesessen hatte. Frode wich zurück und ließ sich langsam aufs Küchensofa sinken.
Lisbeth erzählte in Kurzfassung, was in der Nacht zuvor passiert war. Ausführlich beschrieb sie ihm Martin Vangers Kammer des Schreckens. Erzählte, wie sie Mikael mit einer Würgeschlinge um den Hals gefunden hatte, vor sich den geschäftsführenden Direktor des Vanger-Konzerns. Wie sie tags zuvor im Firmenarchiv entdeckt hatte, dass sie Martins Vater mit mindestens sieben Frauenmorden in Verbindung bringen konnte.
Frode unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Als sie zu Ende gesprochen hatte, blieb er ein paar Minuten still sitzen, bis er schließlich heftig ausatmete und den Kopf schüttelte.
»Was sollen wir unternehmen?«
»Das ist nicht mein Problem«, erwiderte Lisbeth mit ausdrucksloser Stimme.
»Aber …«
»Ich habe niemals auch nur einen Fuß nach Hedestad gesetzt.«
»Bitte?«
»Ich will auf keinen Fall in irgendeinem Polizeibericht auftauchen. In diesem Zusammenhang existiere ich nicht. Wenn mein Name mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht werden sollte, dann werde ich leugnen, jemals hier gewesen zu sein, und ich werde keine einzige Frage beantworten.«
Frode sah sie forschend an.
»Das verstehe ich nicht.«
»Das brauchen Sie auch nicht zu verstehen.«
»Was soll ich denn tun?«
»Das entscheiden Sie selbst, solange Sie nur Mikael und mich aus dem Spiel lassen.«
Frode war leichenblass.
»Sehen Sie’s doch mal so: Das Einzige, was Sie wissen, ist, dass Martin Vanger bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie haben keine Ahnung, dass er obendrein ein wahnsinniger Mörder ist, und Sie haben noch nie von diesem Raum gehört, den er in seinem Keller hat.«
Sie legte den Schlüssel auf den Tisch zwischen ihnen.
»Sie haben Zeit, bis jemand Martins Keller aufräumt und den Raum entdeckt. Das dauert vielleicht noch ein Weilchen.«
»Wir müssen mit dieser Geschichte zur Polizei gehen.«
»Nicht wir. Sie können zur Polizei gehen, wenn Sie wollen. Das ist Ihre Entscheidung.«
»Das darf nicht einfach vertuscht werden.«
»Ich schlage ja auch gar nicht vor, dass es vertuscht wird, sondern nur, dass Mikael und ich aus dem Spiel bleiben. Wenn Sie den Raum entdecken, dann ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse und entscheiden selbst, wem Sie davon erzählen wollen.«
»Wenn das alles stimmt, was Sie mir erzählt haben, dann hat Martin Frauen gekidnappt und ermordet … und irgendwo muss es auch verzweifelte Familien geben, die nicht wissen, wo ihre Kinder sind. Wir können nicht nur …«
»Das stimmt. Aber da gibt es Probleme. Die Leichen sind verschwunden. Vielleicht finden Sie einen Pass oder einen Personalausweis in irgendeiner Kiste. Vielleicht kann eines der Opfer auch mit Hilfe der Videofilme identifiziert werden. Aber Sie brauchen heute keinen Entschluss mehr zu fassen. Denken Sie über die Sache nach.«
Frode wirkte völlig panisch.
»O mein Gott. Das wird dem Konzern den Todesstoß versetzen. Wie viele Familien werden arbeitslos, wenn herauskommt, dass Martin …«
Frode wiegte sich vor und zurück. Er stand vor einem moralischen Dilemma.
»Das ist ein Aspekt. Ich nehme mal an, dass Isabella Vanger ihren Sohn beerbt. Ich glaube nicht, dass es so gut wäre, wenn sie als Erste von Martins Hobby erfährt.«
»Ich muss nachsehen …«
»Ich denke, Sie sollten sich heute von diesem Raum fernhalten«, sagte Lisbeth scharf. »Sie haben jede Menge zu tun. Sie müssen zu Henrik fahren und ihn informieren, eine außerordentliche Vorstandssitzung einberufen und all das tun, was Sie auch hätten tun müssen, wenn Ihr geschäftsführender Direktor unter völlig normalen Umständen ums Leben gekommen wäre.«
Frode dachte über ihre Worte nach. Er hatte Herzklopfen. Er war der alte Anwalt, der Problemlöser, von dem man erwartete, dass er für jede Widrigkeit einen Plan parat hatte - aber er fühlte sich handlungsunfähig. Ein junges Mädchen mit seltsamem Aussehen hatte die Kontrolle übernommen, dachte er.
»Und Harriet …?«
»Mikael und ich sind noch nicht sicher. Aber Sie können Henrik Vanger ausrichten, dass wir glauben, dieses Rätsel lösen zu können.«
Martin Vangers unerwartetes Hinscheiden war die Topmeldung in den Neun-Uhr-Nachrichten, als Mikael aufwachte. Von den Ereignissen der Nacht wurde nur erwähnt, dass der Großindustrielle aus unerklärlichen Gründen mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn geraten war.
Er hatte allein im Auto gesessen. Das Lokalradio brachte einen längeren Beitrag, in dem die Sorge um die Zukunft des Konzerns zum Ausdruck kam sowie die Ungewissheit, welche wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Todesfall für das Unternehmen haben könnte.
Ein eilig zusammengestelltes »Mittags-Telegramm« von TT trug den Titel Ein Landkreis unter Schock und fasste die derzeitigen Probleme des Vanger-Konzerns zusammen. Jeder wusste, dass allein in Hedestad über 3000 der 21 000 Einwohner bei Vanger angestellt waren oder anderweitig vom Wohl und Wehe des Unternehmens abhingen. Der Geschäftsführer des Vanger-Konzerns war tot, und sein Vorgänger war ein alter Mann, der nach einem Herzanfall im Krankenhaus lag. Einen natürlichen Erben gab es nicht. Und all das in Zeiten, die als die schwierigsten der ganzen Firmengeschichte galten.
Mikael hätte die Chance gehabt, zur Polizei nach Hedestad zu fahren und zu erklären, was sich über Nacht abgespielt hatte, doch Lisbeth hatte einige Dinge bereits ins Rollen gebracht. Dadurch, dass er die Polizei nicht sofort angerufen hatte, wurde es mit jeder weiteren Stunde, die verstrich, schwieriger. Er verbrachte den Vormittag in düsterem Schweigen auf dem Küchensofa und beobachtete den Regen und die Wolken. Um zehn Uhr kam noch ein kräftiger Gewitterschauer, aber gegen Mittag hörte es auf zu regnen, und der Wind legte sich ein bisschen. Er ging hinaus, trocknete die Gartenmöbel ab und setzte sich mit einer Tasse Kaffee hin. Er trug ein Hemd mit Stehkragen.
Martins Tod überschattete das alltägliche Leben in Hedeby. Vor Isabellas Haus hielten immer mehr Autos, während sich der Clan versammelte und kondolierte. Lisbeth betrachtete die Prozession völlig gefühllos. Mikael saß ganz still da.
»Wie geht es dir?«, fragte sie schließlich.
Mikael überlegte einen Moment, bevor er antwortete.
»Ich glaube, ich stehe noch immer unter Schock«, sagte er. »Ich war so hilflos. Ich war mehrere Stunden lang überzeugt, dass ich sterben würde. Ich hatte Todesangst und konnte überhaupt nichts tun.«
Er streckte eine Hand aus und legte sie ihr aufs Knie.
»Danke«, sagte er. »Wenn du nicht aufgetaucht wärst, hätte er mich getötet.«
Lisbeth lächelte ihn unbeholfen an.
»Obwohl … ich immer noch nicht begreife, wie du so bescheuert sein konntest, alleine auf ihn loszugehen. Ich lag da unten auf dem Boden und schickte Stoßgebete zum Himmel, dass du das Bild sehen, zwei und zwei zusammenzählen und die Polizei rufen würdest.«
»Wenn ich auf die Polizei gewartet hätte, hättest du wohl nicht überlebt. Ich konnte nicht zulassen, dass dieses Dreckschwein dich umbringt.«
»Warum willst du nicht mit der Polizei sprechen?«, fragte Mikael.
»Ich spreche nicht mit Behörden.«
»Warum nicht?«
»Meine Sache. Aber was dich betrifft, glaube ich nicht, dass es deiner Karriere besonders förderlich ist, wenn du als der Journalist Berühmtheit erlangst, der vom berüchtigten Serienmörder Martin Vanger ausgezogen wurde. Wenn du Kalle Blomkvist nicht mochtest - hier kannst du dir ganz neue Beinamen ausdenken.«
Mikael sah sie forschend an und ließ das Thema fallen.
»Wir haben ein Problem«, sagte Lisbeth.
Mikael nickte. »Was geschah mit Harriet?«
Lisbeth legte die zwei Polaroidbilder auf den Tisch. Sie erklärte, wo sie sie gefunden hatte. Mikael sah sich die Fotos eine Weile genau an, bevor er den Blick hob.
»Das kann sie sein«, sagte er schließlich. »Ich könnte es nicht beschwören, aber ihre Figur und die Haare erinnern mich an all die Bilder, die ich von ihr gesehen habe.«
Mikael und Lisbeth saßen eine Stunde im Garten und versuchten, die Details zu einem sinnvollen Ganzen zu ordnen. Sie entdeckten, dass sie aus unterschiedlicher Perspektive zu der Erkenntnis gelangt waren, dass Martin Vanger das fehlende Glied in ihrer Kette war.
Lisbeth hatte das Foto, das Mikael auf den Tisch gelegt hatte, gar nicht gesehen. Doch die Bilder der Überwachungskameras machten sie stutzig. Sie war über die Uferpromenade zu Martins Haus gegangen und hatte in alle Fenster geguckt, ohne eine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig hatte sie alle Türen und Fenster im Erdgeschoss zu öffnen versucht. Schließlich war sie zu einer offenen Balkontür im ersten Stock hochgeklettert, was eine Weile gedauert hatte. Mit äußerst vorsichtigen Bewegungen hatte sie dann ein Zimmer nach dem anderen durchsucht und irgendwann die Kellertreppe gefunden. Martin war so nachlässig gewesen, die Tür zu seiner Folterkammer einen Spalt offen zu lassen, und so hatte sie sich ein gutes Bild von der Situation machen können.
Mikael fragte, wie viel sie von Martins Worten gehört hatte.
»Nicht besonders viel. Ich kam gerade, als er dich fragte, was mit Harriet geschehen sei, kurz bevor er dich an der Schlinge aufhängte. Ich habe euch ein paar Minuten allein gelassen, während ich nach oben ging und eine Waffe suchte. In einem Schrank habe ich dann die Golfschläger gefunden.«
»Martin Vanger hatte keine Ahnung, was mit Harriet geschehen ist«, sagte Mikael.
»Glaubst du ihm das?«
»Ja«, antwortete Mikael, ohne zu zögern. »Er war verrückter als ein durchgedrehter Iltis - wo hab ich nur immer diese Vergleiche her? -, aber er hat alle Verbrechen zugegeben, die er begangen hat. Völlig ungehemmt hat er davon erzählt. Ich glaube, er wollte mir tatsächlich imponieren. Aber in puncto Harriet war er genauso erpicht darauf wie Henrik, zu erfahren, was eigentlich passiert ist.«
»Also … wohin führt uns das?«
»Wir wissen, dass Gottfried Vanger für die erste Mordserie zwischen 1949 und 1965verantwortlich war.«
»Stimmt. Und er hat Martin angelernt.«
»Apropos dysfunktionale Familien«, sagte Mikael. »Martin hatte eigentlich gar keine Chance.«
Lisbeth warf Mikael einen sonderbaren Blick zu.
»Nach dem, was Martin mir erzählt hat - wenn auch in rhapsodischer Form -, nahm ihn sein Vater in der Pubertät in die Lehre. Er war beim Mord an Lea 1962 in Uddevalla mit dabei. Da war er vierzehn Jahre alt. Er hat den Mord an Sara 1964 erlebt. Da war er schon selbst aktiv. Er war sechzehn.«
»Und?«
»Er hat gesagt, er sei nicht homosexuell und habe niemals einen Mann angefasst - außer seinen Vater. Deswegen nehme ich an, dass … tja, die einzige Schlussfolgerung ist, dass sein Vater ihn vergewaltigt hat. Die sexuellen Übergriffe müssen sich über einen längeren Zeitraum erstreckt haben. Er wurde von seinem Vater sozusagen ›gemacht‹.«
»Blödsinn!«, sagte Lisbeth Salander.
Ihre Stimme war plötzlich hart wie Stein. Mikael sah sie verblüfft an. Ihr Blick war fest. Nicht eine Spur Mitleid lag darin.
»Martin hatte, wie alle anderen auch, eine Chance, sich zu wehren. Er hat seine Wahl getroffen. Er hat gemordet und vergewaltigt, weil es ihm gefiel.«
»Okay, ich will dir nicht widersprechen. Aber Martin war ein eingeschüchterter Junge und wurde von seinem Vater geprägt, so wie Gottfried wiederum von seinem Nazi-Vater unterdrückt worden war.«
»Aha, dann setzt du aber voraus, dass Martin keinen eigenen Willen besaß und dass alle Menschen das Ergebnis ihrer Erziehung sind.«
Mikael lächelte vorsichtig. »Ist das ein wunder Punkt?«
Lisbeth Augen blitzten plötzlich vor mühsam gezügelter Wut. Mikael sprach rasch weiter.
»Ich behaupte nicht, dass Menschen nur durch ihre Erziehung geprägt werden, aber ich bin sicher, dass die Erziehung eine große Rolle spielt. Gottfried wurde von seinem Vater jahrelang grün und blau geschlagen. So etwas hinterlässt seine Spuren.«
»Blödsinn«, wiederholte Lisbeth. »Gottfried ist nicht das einzige Kind, das jemals misshandelt wurde. Das gibt ihm keinen Freibrief, Frauen zu ermorden. Diese Wahl hat er selbst getroffen. Und für Martin gilt genau dasselbe.«
Mikael hob eine Hand.
»Lass uns nicht streiten.«
»Ich streite nicht. Ich finde es nur so übel, dass Dreckschweine immer jemand haben sollen, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben können.«
»Einverstanden. Sie haben eine persönliche Verantwortung. Das können wir später noch klären. Der Punkt ist nur der, dass Gottfried starb, als Martin siebzehn war und keinen Menschen hatte, der ihm den Weg gewiesen hätte. Er versuchte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Im Februar 1966 in Uppsala.«
Mikael streckte sich, um sich eine von Lisbeths Zigaretten zu nehmen.
»Ich will nicht mal ansatzweise spekulieren, welche Impulse Gottfried da befriedigen wollte und wie er selbst seine Taten interpretierte«, sagte er. »Da gab es dieses biblische Kauderwelsch, das irgendwie mit Bestrafung und Reinigung zu tun hat, vielleicht könnte das ein Psychiater entwirren. Jedenfalls war er ein Serienmörder.«
Er überlegte kurz, bevor er fortfuhr: »Gottfried wollte Frauen ermorden und kleidete seine Handlungen in ein pseudoreligiöses Gewand. Aber Martin tat nicht einmal so, als habe er einen Vorwand. Er war perfekt organisiert und mordete systematisch. Außerdem konnte er genug Geld für sein Hobby ausgeben. Und er war schlauer als sein Vater. Jedes Mal, wenn Gottfried eine Leiche hinterließ, bedeutete das eine polizeiliche Ermittlung sowie ein gewisses Risiko, dass ihm jemand auf die Spur kommen oder zumindest die Morde miteinander in Verbindung bringen könnte.«
»Martin Vanger hat sein Haus in den siebziger Jahren gebaut.«
»Ich glaube, Henrik erwähnte, dass es 1978 war. Er ließ sich einen fensterlosen schallisolierten Raum mit einer Stahltür einbauen.«
Sie schwiegen eine Weile, während Mikael überlegte, was für Gräuel sich ein Vierteljahrhundert lang mitten in der Idylle der Hedeby-Insel abgespielt haben mussten. Lisbeth brauchte darüber nicht nachzudenken, sie hatte die Videosammlung gesehen. Sie bemerkte, dass Mikael unbewusst seinen Hals berührte.
»Gottfried hasste Frauen und brachte seinem Sohn bei, Frauen zu hassen, während er ihn gleichzeitig vergewaltigte. Aber es gab da auch noch einen gewissen Unterton … Ich glaube, dass Gottfried davon träumte, sein gelinde gesagt perverses Weltbild mit seinen Kindern zu teilen. Als ich nach Harriet fragte, seiner eigenen Schwester, sagte Martin: ›Wir haben versucht, mit ihr zu reden. Aber sie war nur eine gewöhnliche Fotze. Sie wollte Henrik alles erzählen.‹«
Lisbeth nickte. »Ich habe ihn gehört. Ungefähr in dem Moment bin ich in den Keller gekommen. Und das bedeutet, wir wissen, wovon ihr geheimnisvolles Gespräch mit Henrik hätte handeln sollen.«
Mikael runzelte die Stirn.
»Nicht ganz.« Er überlegte kurz. »Denk an die chronologische Abfolge. Wir wissen nicht, wann Gottfried seinen Sohn zum ersten Mal vergewaltigt hat, aber er hat Martin mitgenommen, als er 1962 in Uddevalla Lea Persson ermordete. Ertrunken ist er 1965. Davor hatten er und Martin versucht, mit Harriet zu reden. Was sagt uns das?«
»Gottfried hatte es nicht nur auf Martin abgesehen, sondern auch auf Harriet.«
Mikael nickte. »Gottfried war der Lehrmeister. Martin war der Lehrling. Harriet war ihr … ja, was, ihr Spielzeug?«
»Gottfried hat Martin beigebracht, seine Schwester zu ficken.« Lisbeth tippte auf die Polaroidaufnahmen. »Man kann anhand dieser beiden Bilder schwerlich beurteilen, wie sie diese Spiele fand, weil man ihr Gesicht nicht sieht. Aber sie versucht, sich vor der Kamera zu verstecken.«
»Sagen wir mal, es fing an, als sie vierzehn war, 1964. Sie wehrte sich - konnte es nicht akzeptieren, wie Martin sich ausdrückte. Das drohte sie also auszuplaudern. Martin hatte in diesem Zusammenhang sicher nicht viel zu sagen, sondern ordnete sich einfach seinem Vater unter, aber Gottfried und er hatten eine Art … Pakt, in den sie Harriet einzuweihen versuchten.«
Lisbeth nickte. »In deinen Notizen steht, dass Henrik im Winter 1964 Harriet in sein Haus ziehen ließ.«
»Henrik merkte, dass in ihrer Familie etwas schieflief. Er hielt die Streitereien und Reibereien zwischen Gottfried und Isabella für die Ursache und nahm Harriet zu sich, damit sie ihren Frieden hatte und sich aufs Lernen konzentrieren konnte.«
»Womit er Gottfried und Martin einen Strich durch die Rechnung machte. Sie konnten ihrer nicht so leicht habhaft werden und ihr Leben kontrollieren. Aber hie und da … wo geschah der Übergriff?«
»Es muss in Gottfrieds Häuschen gewesen sein. Ich bin ziemlich sicher, dass diese Bilder dort aufgenommen wurden - das lässt sich leicht nachprüfen. Die Hütte ist perfekt gelegen, isoliert und weit weg von der Stadt. Dann besoff Gottfried sich ein letztes Mal und ertrank ganz undramatisch.«
Lisbeth nickte nachdenklich. »Harriets Vater hatte Sex mit ihr oder versuchte es zumindest, aber vermutlich hat er sie nicht in das Geheimnis seiner Morde eingeweiht.«
Mikael musste den Schwachpunkt in seiner Theorie zugeben. Harriet hatte die Namen von Gottfrieds Opfern niedergeschrieben und mit den Bibelzitaten in Verbindung gebracht, aber ihr Interesse an Bibelkunde war erst im letzten Jahr ihres Lebens aufgekommen, also bereits nach dem Tod ihres Vaters. Er überlegte kurz und versuchte, eine logische Erklärung zu finden.
»Irgendwann ging Harriet auf, dass Gottfrieds Verbrechen nicht nur im Inzest bestanden, sondern dass er auch noch ein verrückter Serienmörder war«, sagte er.
»Wir wissen nicht, wann sie hinter die Morde kam. Das kann auch unmittelbar vor Gottfrieds Tod gewesen sein. Vielleicht sogar später, falls er Tagebuch geführt oder Zeitungsartikel über die Morde gesammelt hatte. Irgendwas hat sie auf die richtige Fährte gebracht.«
»Das war aber nicht das, was sie Henrik zu erzählen drohte«, ergänzte Mikael.
»Es war Martin«, sagte Lisbeth. »Ihr Vater war tot, doch Martin hörte nicht auf, sie zu belästigen.«
»Genau.« Mikael nickte.
»Aber sie brauchte ein Jahr, bis sie endlich handelte.«
»Was würdest du denn machen, wenn du plötzlich entdecken würdest, dass dein Vater ein wahnsinniger Serienmörder ist, der deinen Bruder gefickt hat?«
»Den ganzen Scheiß kurz und klein hauen«, erwiderte Lisbeth mit derart nüchterner Stimme, dass Mikael vermuten musste, dass sie es ernst meinte. Plötzlich hatte er ihr Gesicht wieder vor Augen, wie es ausgesehen hatte, als sie auf Martin Vanger losging. Er lächelte freudlos.
»Ihr Vater starb 1965, bevor sie loslegte. Das ist auch logisch. Nach Gottfrieds Tod schickte Isabella Martin nach Uppsala. Er war vielleicht über Weihnachten und in den Ferien mal zu Hause, aber im Laufe des folgenden Jahres traf er Harriet nicht besonders oft. Sie bekam Abstand zu ihm.«
»Und sie begann die Bibel gründlich zu lesen«, ergänzte sie.
»Im Lichte der Umstände, die uns heute bekannt sind, hat sie das wohl nicht aus religiösen Gründen getan. Sie wollte vielleicht einfach verstehen, was ihren Vater getrieben hatte. Sie grübelte bis zum Tag des Kindes 1966. Da sieht sie plötzlich ihren Bruder auf der Bahnhofstraße und weiß, dass er wieder zurück ist. Wir wissen nicht, ob sie miteinander gesprochen haben und ob er irgendwas gesagt hat. Aber was auch immer geschehen sein mag, Harriet sah sich veranlasst, direkt nach Hause zu fahren, um mit Henrik zu reden.«
»Und dann verschwand sie.«
Nachdem sie die Kette der Ereignisse durchgesprochen hatten, konnte man sich unschwer vorstellen, wie der Rest des Puzzles aussehen musste. Mikael und Lisbeth packten ihre Koffer. Bevor sie losfuhren, rief Mikael Dirch Frode an und gab ihm Bescheid, dass Lisbeth und er verreisen müssten. Vor seiner Abfahrt wolle er aber unbedingt noch Henrik Vanger treffen.
Mikael wollte wissen, was Frode Henrik erzählt hatte. Die Stimme des Rechtsanwalts klang so gepresst, dass Mikael sich Sorgen um ihn machte. Schließlich erklärte er, ihm nur von Martins Unfalltod berichtet zu haben.
Als Mikael vor dem Krankenhaus von Hedestad parkte, grollte schon wieder der Donner, und am Himmel hatten sich erneut dicke Regenwolken zusammengezogen. Als er eilig den Parkplatz überquerte, fielen die ersten Tropfen.
Henrik Vanger saß im Morgenrock an einem Tisch vor dem Fenster. Die Krankheit war zweifellos nicht spurlos an ihm vorübergegangen, aber der alte Mann hatte wieder etwas Farbe im Gesicht und sah zumindest so aus, als sei er auf dem Wege der Besserung. Sie gaben sich die Hand. Mikael bat die Privatpflegerin, sie ein paar Minuten allein zu lassen.
»Sie haben sich eine Weile ferngehalten«, sagte Henrik Vanger.
Mikael nickte. »Ganz bewusst. Ihre Familie will nicht, dass ich mich hier sehen lasse, aber heute sind alle bei Isabella.«
»Armer Martin«, sagte Henrik.
»Henrik, Sie haben mich beauftragt, die Wahrheit ans Licht zu bringen und herauszufinden, was mit Harriet passiert ist. Hatten Sie erwartet, dass diese Wahrheit schmerzfrei für Sie sein würde?«
Der Alte sah ihn an. Dann weiteten sich seine Augen.
»Martin?«
»Er ist ein Teil dieser Geschichte.«
Henrik Vanger blinzelte.
»Ich muss Sie jetzt etwas fragen.«
»Was?«
»Wollen Sie immer noch wissen, was geschehen ist? Auch, wenn es wehtut und die Wahrheit schrecklicher ist, als Sie es sich vorgestellt haben?«
Henrik sah Mikael lange an. Dann nickte er.
»Ich will es wissen. Das war Sinn und Zweck dieses Auftrags.«
»Gut. Ich glaube, ich weiß, was mit Harriet passiert ist. Aber ich bin noch nicht ganz fertig, ein Puzzleteil fehlt noch.«
»Erzählen Sie.«
»Nein. Nicht heute. Ich will, dass Sie sich jetzt weiter erholen. Der Arzt sagt, dass die Krise überstanden ist und Sie langsam wieder zu Kräften kommen.«
»Behandeln Sie mich nicht wie ein Kind.«
»Ich bin noch nicht am Ziel. Momentan habe ich nur eine Theorie. Ich werde jetzt losziehen und versuchen, das letzte Puzzleteil zu finden. Nächstes Mal werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Das kann ein wenig dauern. Aber Sie sollen wissen, dass ich auf jeden Fall zurückkomme, und dann erfahren Sie die Wahrheit.«
Lisbeth zog eine Plane über ihr Motorrad und stellte es an der windgeschützten Seite der Hütte ab. Als Mikael und sie mit dem geliehenen Auto losfuhren, brach das Gewitter mit neuer Kraft wieder los. Südlich von Gävle wurden sie von einem so heftigen Schauer überrascht, dass Mikael kaum noch die Straße erkennen konnte. Sicherheitshalber steuerten sie eine Tankstelle an, wo sie einen Kaffee tranken und warteten, bis sich der Regen wieder legte. Erst um sieben Uhr abends waren sie in Stockholm. Mikael gab Lisbeth den Nummerncode für seine Wohnung und ließ sie an der U-Bahn-Haltestelle Centralen aussteigen. Seine eigene Wohnung kam ihm fremd vor, als er durch die Tür trat.
Er staubsaugte und trocknete ab, während Lisbeth bei Plague in Sundbyberg etwas zu erledigen hatte. Gegen Mitternacht klopfte sie an Mikaels Tür. Zehn Minuten lang nahm sie gründlich jeden Winkel und jede Ecke seiner Wohnung in Augenschein. Danach blieb sie lange am Fenster stehen und blickte hinaus.
Der Schlafbereich war mit einer Reihe frei stehender Kleiderschränke und Bücherregale abgetrennt. Sie zogen sich aus und schliefen ein paar Stunden.
Tags darauf gegen zwölf landeten sie am Londoner Flughafen Gatwick. Regenwetter empfing sie. Mikael hatte ein Zimmer im Hotel James am Hyde Park gebucht, ein hervorragendes, modernes Hotel im Vergleich zu all den Bruchbuden in Bayswater, in denen er bei früheren Besuchen in London immer logiert hatte. Die Rechnung wurde von Frodes Konto für die laufenden Ausgaben gedeckt.
Um fünf Uhr nachmittags standen sie an der Bar, als sich ihnen ein Mann um die dreißig näherte. Er war fast kahlköpfig, trug einen blonden Bart und eine zu große Jacke, Jeans und Segelschuhe.
»Wasp?«, fragte er.
»Trinity?«, fragte sie zurück. Sie nickten sich zu. Nach Mikaels Namen erkundigte er sich gar nicht.
Trinitys Partner wurde ihnen als »Bob the Dog« vorgestellt. Er wartete um die Ecke in einem alten Lieferwagen auf sie. Sie kletterten durch die Schiebetüren hinein und setzten sich auf die an der Wand befestigten Klappsitze. Während Bob sich durch den Londoner Verkehr navigierte, unterhielten sich Wasp und Trinity.
»Plague hat gesagt, es geht um einen crash-bang job.«
»Telefon abhören und E-Mails in einem Computer kontrollieren. Es kann superschnell gehen oder ein paar Tage dauern, je nachdem, wie viel Druck er macht.« Lisbeth deutete mit dem Daumen auf Mikael. »Kriegt ihr das hin?«
»Peanuts«, gab Trinity zur Antwort.
Anita Vanger wohnte in einem kleinen Reihenhaus im hübschen Städtchen St. Albans, eine knappe Autostunde in nördlicher Richtung. Aus dem Lieferwagen heraus beobachteten sie, wie sie gegen sieben Uhr abends nach Hause kam und die Tür aufschloss. Sie warteten, bis sie geduscht, eine Kleinigkeit gegessen und sich dann vor den Fernseher gesetzt hatte, bevor Mikael bei ihr klingelte.
Eine fast identische Ausgabe von Cecilia Vanger öffnete ihm, auf dem Gesicht ein höfliches Fragezeichen.
»Hallo, Anita. Ich heiße Mikael Blomkvist. Henrik Vanger lässt Sie schön grüßen. Ich nehme an, Sie kennen die Neuigkeiten von Martin schon.«
Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Erstaunen zu Wachsamkeit. Als sie den Namen hörte, wusste sie genau, wer Mikael Blomkvist war. Sie hatte Kontakt mit Cecilia gehabt, die höchstwahrscheinlich eine gewisse Verärgerung über Mikael zum Ausdruck gebracht hatte. Aber da er Henriks Namen nannte, musste sie ihn hereinbitten. Sie bat Mikael, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Er sah sich um. Anita Vangers Zuhause war geschmackvoll eingerichtet - von einer Person, die Geld und ein erfülltes Berufsleben hatte, aber kein großes Aufheben von sich machte. Er bemerkte eine signierte Grafik von Anders Zorn über einem offenen Kamin.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie so aus heiterem Himmel behellige, aber ich war sowieso in London und habe tagsüber versucht, Sie anzurufen.«
»Verstehe. Worum geht es denn?« Ihre Stimme klang defensiv.
»Haben Sie vor, zur Beerdigung zu fahren?«
»Nein, Martin und ich standen uns nicht sehr nahe, und ich kann mir auch nicht freinehmen.«
Mikael nickte. Anita Vanger hatte sich dreißig Jahre lang tunlichst von Hedestad ferngehalten. Seit ihr Vater auf die Hedeby-Insel zurück gezogen war, hatte sie kaum einen Fuß dorthin gesetzt.
»Ich will wissen, was mit Harriet Vanger passiert ist. Es wird Zeit für die Wahrheit.«
»Harriet? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
Mikael lächelte über ihre gespielte Verwunderung.
»Sie waren Harriets engste Freundin in der Familie. Sie hat sich mit ihrem schrecklichen Wissen an Sie gewandt.«
»Sie spinnen wohl!«, sagte Anita Vanger.
»Damit haben Sie wahrscheinlich sogar recht«, meinte Mikael leichthin. »Sie waren in Harriets Zimmer, Anita. Das kann ich mit einem Foto beweisen. In ein paar Tagen werde ich Henrik Bericht erstatten, und dann erfährt er es auf diese Art. Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was geschehen ist?«
Anita Vanger stand auf.
»Verlassen Sie sofort mein Haus!«
Mikael stand auf.
»Früher oder später werden Sie mit mir reden müssen.«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Martin ist tot«, sagte Mikael eindringlich. »Sie haben Martin nie gemocht. Ich glaube, Sie sind nicht nur nach London gezogen, um Ihren Vater nicht mehr sehen zu müssen, sondern auch, um Martin nicht mehr zu begegnen. Das bedeutet aber, dass Sie auch Bescheid wussten, und die Einzige, die es Ihnen erzählt haben kann, ist Harriet. Die Frage ist nur - was haben Sie mit diesem Wissen angefangen?«
Anita Vanger knallte Mikael die Tür vor der Nase zu.
Lisbeth lächelte Mikael zufrieden an, als sie ihn von dem Mikrofon befreite, das er unter seinem Hemd getragen hatte.
»Dreißig Sekunden, nachdem wir draußen waren, hat sie den Hörer abgenommen«, sagte sie.
»Die Vorwahl ist die von Australien«, verkündete Trinity und legte die Kopfhörer auf den kleinen Arbeitstisch im Lieferwagen. »Ich muss nur mal kurz den area code prüfen.« Er drückte ein paar Tasten auf seinem Laptop.
»Okay, sie hat diese Nummer hier gewählt. Das ist ein Anschluss in einem Ort namens Tennant Creek, nördlich von Alice Springs in Australien, Northern Territory. Wollen Sie das Gespräch hören?«
Mikael nickte. »Wie spät ist es jetzt in Australien?«
»Ungefähr fünf Uhr morgens.« Trinity schaltete den Digitalspieler ein und schloss ein paar Lautsprecher an. Mikael hörte acht Mal das Freizeichen, bevor jemand den Hörer abnahm. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.
»Hallo. Ich bin’s.«
»Puuh, ich bin ja bestimmt kein Morgenmuffel, aber …«
»Ich wollte gestern schon anrufen … Martin ist tot. Er hatte vorgestern einen Autounfall.«
Schweigen. Danach etwas, das wie ein Räuspern klang, aber auch als »Gut« interpretiert werden konnte.
»Aber wir haben ein Problem. Ein widerlicher Journalist, der von Henrik engagiert worden ist, hat gerade eben an meine Tür geklopft. Er will wissen, was 1966 geschehen ist. Irgendwas weiß er.«
Schweigen. Dann eine resolute Stimme: »Anita. Leg jetzt auf. Wir dürfen eine Weile keinen Kontakt mehr haben.«
»Aber …«
»Schreib mir einen Brief. Erzähl mir, was passiert ist.« Danach brach das Gespräch ab.
»Cleveres Mädchen«, sagte Lisbeth mit bewunderndem Unterton.
Sie kamen kurz vor elf Uhr abends ins Hotel zurück. An der Rezeption war man ihnen dabei behilflich, Plätze für den nächstmöglichen Flug nach Australien zu buchen. Nach einer Weile hatten sie Plätze in einem Flugzeug, das erst am nächsten Abend um 19.05 Uhr nach Canberra, New South Wales, abfliegen würde.
Als alle Details abgeklärt waren, zogen sie sich aus und fielen ins Bett.
Lisbeth Salander war zum ersten Mal in London. Sie verbrachten den Vormittag damit, die Tottenham Court Road entlangzulaufen und durch Soho zu bummeln. In der Old Compton Street legten sie eine Pause ein und tranken einen Milchkaffee. Gegen drei gingen sie zum Hotel zurück, um ihr Gepäck zu holen. Als Mikael die Rechnung bezahlte, schaltete Lisbeth ihr Handy ein und bemerkte, dass sie eine SMS bekommen hatte.
»Ich soll Armanskij zurückrufen.«
Sie benutzte das Telefon an der Rezeption, um ihren Chef anzurufen. Mikael stand ein Stück von ihr entfernt und sah nur, wie Lisbeth ihn mit versteinertem Gesicht anblickte. Er war sofort bei ihr.
»Was ist?«
»Meine Mutter ist tot. Ich muss sofort nach Schweden zurück.«
Lisbeth sah so verzweifelt aus, dass Mikael sie in den Arm nahm. Sie schob ihn von sich.
In der Hotelbar tranken sie noch einen Kaffee. Als Mikael erklärte, er wolle die Tickets nach Australien stornieren und mit ihr nach Stockholm fliegen, schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, widersprach sie. »Wir können den Job jetzt nicht in den Sand setzen. Du musst allein nach Australien fliegen.«
Sie trennten sich vor dem Hotel.
26. Kapitel
Dienstag, 15. Juli - Donnerstag, 17. Juli
Mikael nahm einen Inlandsflug von Canberra nach Alice Springs. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig, als er am späten Nachmittag ankam. Danach hatte er die Wahl, für die vierhundert Kilometer lange Fahrt Richtung Norden entweder ein Flugzeug zu chartern oder ein Auto zu mieten. Er entschied sich für Letzteres.
Ein Unbekannter mit dem biblischen Decknamen Joshua, der zu Plagues oder vielleicht auch Trinitys geheimnisvollem internationalem Netzwerk gehörte, hatte am Informationsschalter des Flughafens ein Kuvert hinterlassen, das auf Mikael wartete, als er in Canberra landete.
Der Telefonanschluss gehörte zu einer gewissen Cochran Farm. Ein kurzer Bericht klärte Mikael darüber auf, dass es sich um eine Schaffarm handelte. Eine Zusammenfassung aus dem Internet lieferte ihm Details über die australische Viehwirtschaft. Australien hat 18 Millionen Einwohner. 53 000 von ihnen sind Schafzüchter, die ungefähr 120 Millionen Schafe besitzen. Allein der Export der Wolle macht einen Umsatz von 3,5 Milliarden Dollar jährlich aus. Dazu kommen der Export von 700 Millionen Tonnen Hammelfleisch sowie das Leder für die Bekleidungsindustrie. Die Fleisch- und Wollproduktion sind die wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes.
Die Cochran Farm, 1891 von einem Jeremy Cochran gegründet, war Australiens fünftgrößter Agrarbetrieb mit ungefähr 60 000 Merinoschafen, deren Wolle als besonders fein gilt. Neben den Schafen hielt man auch noch Kühe, Schweine und Hühner.
Mikael stellte fest, dass die Cochran Farm ein Großunternehmen mit einem imposanten Jahresumsatz war, der durch regen Export - unter anderem in die USA, Japan, China und Europa - zustande kam.
1972 war die Farm von einem Raymond Cochran an Spencer Cochran vererbt worden, der in Oxford studiert hatte. Spencer starb 1994. Seitdem wurde die Farm von seiner Witwe geführt. Auf der Homepage der Cochran Farm war sie auf einem verschwommenen, körnigen Bild zu sehen: eine kurzhaarige blonde Frau mit halb verdecktem Gesicht, die ein Schaf streichelte. Nach Joshuas Angaben hatte das Paar 1971 in Italien geheiratet.
Ihr Name war Anita Cochran.
Mikael übernachtete in einem ausgetrockneten Kaff mit dem hoffnungsvollen Namen Wannado. Im Pub aß er Hammelbraten und hob drei Pints mit ortsansässigen Leuten, die ihn »mate« nannten und einen lustigen Akzent hatten. Er fühlte sich, als wäre er am Film-Set von Crocodile Dundee.
Bevor er spätnachts einschlief, rief er Erika in New York an.
»Tut mir leid, Ricky, aber ich war so beschäftigt, dass ich keine Zeit hatte, dich anzurufen.«
»Was zum Teufel ist da eigentlich los in Hedestad?«, explodierte sie. »Christer hat angerufen und mir erzählt, dass Martin Vanger bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Und warum gehst du nicht ans Telefon? Ich hab in den letzten Tagen wie verrückt probiert, dich anzurufen.«
»Ich hab hier kein Netz.«
»Wo bist du denn?«
»Ungefähr zweihundert Kilometer nördlich von Alice Springs. Also in Australien.«
Mikael hatte Erika nur selten überraschen können. Diesmal schwieg sie fast zehn Sekunden.
»Und was machst du in Australien, wenn ich fragen darf.«
»Ich bin dabei, meinen Job zu Ende zu bringen. In ein paar Tagen bin ich zurück in Schweden. Ich hab nur angerufen, um dir zu erzählen, dass der Auftrag für Henrik Vanger bald erledigt ist.«
»Du willst doch nicht etwa sagen, dass du herausgefunden hast, was mit Harriet passiert ist?«
»Scheint fast so.«
Als er am nächsten Tag gegen zwölf Uhr bei der Cochran Farm ankam, erfuhr er, dass Anita Cochran sich derzeit an einer ihrer Produktionsstätten an einem Ort namens Makawaka aufhielt, der weitere hundertzwanzig Kilometer westlich gelegen war.
Es wurde vier Uhr nachmittags, bevor Mikael sich seinen Weg über unzählige backroads gesucht hatte. Er blieb an einem Zaun stehen, wo sich eine Gruppe von Schafzüchtern zum Kaffeetrinken um den Kühler eines Jeeps versammelt hatte. Mikael stieg aus, stellte sich vor und erklärte, er suche Anita Cochran. Die Männer schauten auf einen muskulösen Mann um die dreißig, der anscheinend derjenige in der Gruppe war, der die Entscheidungen traf. Sein nackter Oberkörper war braun gebrannt, abgesehen von dem hellen Umriss, den sein T-Shirt hinterlassen hatte. Auf dem Kopf trug er einen Cowboyhut.
»Die Chefin ist noch ein paar Meilen weiter da runter«, sagte er und deutete die Richtung mit dem Daumen an.
Skeptisch musterte er Mikaels Auto und fügte dann hinzu, es sei wohl keine sonderlich gute Idee, mit einem japanischen Spielzeugauto weiterzufahren. Schließlich verkündete der braun gebrannte Athlet, dass er Mikael dann wohl mit seinem Jeep dorthin bringen würde - dem einzig sinnvollen Fahrzeug für dieses Gelände. Mikael bedankte sich und nahm seine Computertasche mit.
Der Mann stellte sich als Jeff vor und sagte, er sei der Studs Manager at the Station. Mikael bat ihn um eine Übersetzung. Jeff schielte zu Mikael hinüber und stellte fest, dass er wohl nicht aus der Gegend sei. Der Studs Manager, so erklärte er, sei ungefähr das, was der Filialleiter einer Bank ist, nur dass er eben Schafe verwaltete, und Station sei das australische Wort für Ranch.
Sie unterhielten sich, während Jeff seinen Jeep gemächlich durch eine Schlucht mit einem seitlichen Gefälle von zwanzig Grad lenkte. Mikael dankte seinem guten Stern, dass er nicht versucht hatte, diese Strecke mit seinem Leihauto zurückzulegen. Er erkundigte sich, was unten in der Schlucht sei, und erfuhr, dass dort siebenhundert Schafe weideten.
»Ich habe gehört, dass die Cochran Farm zu den größeren Farmen gehört.«
»Wir sind eine der größten in ganz Australien«, entgegnete Jeff mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Wir haben ungefähr 9000 Schafe hier im Makawaka-Distrikt, aber Stations haben wir sowohl in New South Wales als auch in Western Australia. Insgesamt besitzen wir knapp 63 000 Schafe.«
Sie fuhren aus der Schlucht heraus und durch eine hügelige, weniger unwirtliche Landschaft. Plötzlich hörte Mikael Schüsse. Er sah Schafskadaver, große Feuer und ein Dutzend Farmarbeiter. Es sah so aus, als würden alle Gewehre in der Hand halten. Anscheinend wurden gerade Schafe geschlachtet.
Unwillkürlich kam Mikael die Assoziation biblischer Opferlämmer in den Sinn.
Dann erblickte er eine Frau mit Jeans, einem rot-weiß karierten Hemd und kurzen blonden Haaren. Jeff parkte ein paar Meter neben ihr.
»Hi boss. We got a tourist«, sagte er.
Mikael stieg aus dem Jeep und sah sie an. Sie erwiderte den Blick mit fragenden Augen.
»Hej, Harriet. Lange nicht gesehen«, sagte Mikael auf Schwedisch.
Keiner der Männer, die für Anita Cochran arbeiteten, verstand, was er sagte, aber ihre Reaktion konnten sie deutlich erkennen. Sie trat einen Schritt zurück und sah zu Tode erschrocken aus. Anita Cochrans Männer fühlten sich ganz als Beschützer ihrer Chefin - als sie ihre Reaktion bemerkten, hörten sie auf zu grinsen, richteten sich auf und signalisierten ihre Bereitschaft, gegen den seltsamen Fremden vorzugehen, der ihrem Boss so sichtliches Unbehagen bereitete. Jeffs Freundlichkeit war plötzlich wie weggeblasen, als er einen Schritt auf Mikael zutrat.
Mikael wurde plötzlich klar, dass er sich in einer entlegenen Gegend auf der anderen Seite der Erdkugel befand, umringt von einem Trupp verschwitzter Schafzüchter mit Schrotflinten. Ein Wort von Anita Cochran, und sie konnten ihn in Stücke reißen.
Dann war der Augenblick vorüber. Harriet Vanger winkte beschwichtigend ab, und die Männer traten ein paar Schritte zurück. Sie ging auf Mikael zu und blickte ihm in die Augen. Sie war schweißgebadet, ihr Gesicht schmutzig von der Arbeit. Mikael konnte erkennen, dass ihr blondes Haar am Ansatz dunkler nachwuchs. Sie war älter und im Gesicht magerer geworden, hatte sich aber genau zu der schönen Frau entwickelt, die das Konfirmationsfoto prophezeit hatte.
»Sind wir uns schon einmal irgendwo begegnet?«, fragte Harriet Vanger.
»Oh ja. Ich heiße Mikael Blomkvist. Sie waren mein Babysitter in dem Sommer, als ich drei Jahre alt war. Sie waren zwölf, dreizehn Jahre alt.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich ihr Blick aufhellte, und Mikael sah, dass sie sich plötzlich an ihn erinnern konnte. Sie sah verblüfft aus.
»Was wollen Sie?«
»Ich bin nicht Ihr Feind, Harriet. Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas Böses zu tun. Aber wir müssen uns unterhalten.«
Sie bat Jeff, die Aufsicht zu übernehmen, und bedeutete Mikael, ihr zu folgen. Gemeinsam gingen sie ungefähr zweihundert Meter weiter, bis sie eine Gruppe weißer Segeltuchzelte an einem Hain erreichten. Sie wies auf einen Klappstuhl neben einem klapprigen Tisch, goss Wasser in ein Waschbecken und wusch sich das Gesicht. Dann trocknete sie sich ab, ging ins Zelt und wechselte das Hemd.
»Okay. Sprechen Sie.«
»Warum erschießen Sie die Schafe?«
»Wir haben eine ansteckende Epidemie. Die meisten dieser Schafe sind wahrscheinlich völlig gesund, aber wir können nicht riskieren, dass sich die Krankheit ausbreitet. Wir müssen nächste Woche sechshundert Schafe notschlachten. Deswegen bin ich nicht unbedingt bester Laune.«
Mikael nickte.
»Ihr Bruder ist vor ein paar Tagen bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Ich hab’s gehört.«
»Von Anita Vanger, als sie Sie angerufen hat.«
Sie sah ihn eine Weile forschend an. Dann nickte sie. Sie begriff, dass es sinnlos war, solch einfache Wahrheiten abzustreiten.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Wir haben Anitas Telefon abgehört.« Auch Mikael fand, dass es keinen Grund zum Lügen gab. »Ich habe Ihren Bruder ein paar Minuten vor seinem Tod getroffen.«
Harriet Vanger runzelte die Brauen. Sie sahen sich in die Augen. Dann nahm er seinen albernen Schal ab, zog den Hemdkragen nach unten und zeigte ihr den Streifen, den die Würgeschlinge hinterlassen hatte. Er war von der Entzündung gerötet; wahrscheinlich würde er dort zur Erinnerung an Martin Vanger eine Narbe zurückbehalten.
»Ihr Bruder hatte mich an einer Schlinge aufgehängt, als in letzter Minute meine Partnerin auftauchte und ihn vermöbelt hat.«
In Harriets Augen blitzte etwas auf.
»Ich glaube, am besten erzählen Sie mir die Geschichte von Anfang an.«
Es dauerte über eine Stunde. Mikael begann, indem er ihr erzählte, wer er war und welchen Job er ausübte. Er erzählte, wie Henrik ihn beauftragt hatte und warum es ihm nicht ungelegen gekommen war, sich in Hedeby niederzulassen. Er fasste zusammen, wie die polizeilichen Ermittlungen sich festgefahren und Henrik jahrelang auf eigene Faust ermittelt hatte, in der Überzeugung, irgendjemand aus der Familie habe Harriet ermordet. Er fuhr seinen Laptop hoch und erklärte, wie er an die Bilder von der Bahnhofstraße herangekommen war und wie Lisbeth und er einen Serienmörder aufgespürt hatten, der sich schließlich als zwei Personen entpuppte.
Während er redete, fing es an zu dämmern. Die Männer machten Feierabend, zündeten Lagerfeuer an, und bald köchelte in allen Töpfen der Eintopf vor sich hin. Mikael bemerkte, dass Jeff in der Nähe seiner Chefin blieb und ihn misstrauisch im Auge behielt. Der Koch brachte Harriet und Mikael ein Abendessen. Sie machten sich jeder eine Flasche Bier auf. Als er mit seiner Erzählung fertig war, schwieg Harriet eine Weile.
»Mein Gott«, sagte sie.
»Der Mord in Uppsala ist Ihnen entgangen.«
»Dem habe ich keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Ich war so froh, dass mein Vater tot war und die Gewalt ein Ende genommen hatte. Nie wäre mir eingefallen, dass Martin …« Sie brach ab. »Ich bin froh, dass er tot ist.«
»Ich kann Sie verstehen.«
»Aber Ihre Erzählung erklärt nicht, wie Sie darauf gekommen sind, dass ich noch am Leben bin.«
»Als wir herausgefunden hatten, was geschehen war, war der Rest nicht mehr schwer. Um verschwinden zu können, brauchten Sie Hilfe. Anita Vanger war Ihre Vertraute und die Einzige, die infrage kam. Sie waren Freundinnen geworden und hatten den Sommer miteinander verbracht. Sie wohnten draußen in Gottfrieds Häuschen. Wenn es jemand gab, dem Sie sich anvertrauen konnten, dann war sie es - außerdem hatte sie ja gerade den Führerschein gemacht.«
Harriet Vanger sah ihn mit neutralem Gesichtsausdruck an.
»Und jetzt, wo Sie wissen, dass ich lebe - was werden Sie tun?«
»Ich werde es Henrik erzählen. Er verdient es, die Wahrheit zu erfahren.«
»Und dann? Sie sind Journalist.«
»Ich habe nicht vor, Sie öffentlich vorzuführen, Harriet. Ich habe in diesem ganzen Schlamassel schon so viele Unkorrektheiten begangen, dass der Journalistenverband mich wahrscheinlich ausschließen würde, wenn er davon erführe.« Er versuchte zu scherzen. »Eine mehr oder weniger spielt da auch keine Rolle mehr, und ich will doch mein altes Kindermädchen nicht gegen mich aufbringen.«
Sie lächelte nicht einmal.
»Wie viele kennen die Wahrheit?«
»Dass Sie am Leben sind? Derzeit nur ich und Sie und Anita und meine Partnerin Lisbeth. Dirch Frode kennt ungefähr zwei Drittel der Geschichte, aber er glaubt immer noch, dass Sie in den sechziger Jahren gestorben sind.«
Harriet Vanger schien nachzudenken. Sie blickte ins Dunkel hinaus. Erneut beschlich Mikael das unangenehme Gefühl, sich ganz alleine in einer heiklen Lage zu befinden. Harriet Vangers Gewehr lehnte immer noch einen halben Meter von ihr entfernt an der Zeltwand. Schließlich besann er sich und wechselte das Thema.
»Aber wie haben Sie es geschafft, Schafzüchterin in Australien zu werden? Ich weiß bereits, dass Anita Vanger Sie von der Hedeby-Insel fortgeschmuggelt hat, vermutlich im Kofferraum, als die Brücke einen Tag nach dem Unfall wieder freigegeben worden war.«
»Ich lag tatsächlich nur auf dem Boden vor den Rücksitzen und war mit einer Wolldecke zugedeckt. Ich ging zu Anita, als sie auf die Insel kam und sagte ihr, dass ich fliehen musste. Sie haben richtig geraten, ich habe mich ihr anvertraut. Sie hat mir geholfen und war mir über all die Jahre eine loyale Freundin.«
»Wie sind Sie nach Australien gekommen?«
»Zuerst habe ich ein paar Wochen in Anitas Studentenzimmer in Stockholm gewohnt, bis ich Schweden verließ. Anita hatte eigenes Geld und lieh mir eine größere Summe. Ich bekam auch ihren Pass. Wir sahen uns sehr ähnlich, ich musste mir nur die Haare blond färben. Vier Jahre lang wohnte ich in einem Kloster in Italien - ich war zwar keine Nonne, aber es gibt Klöster, in denen man billig Zimmer mieten kann, um in Ruhe und Frieden nachdenken zu können. Dann begegnete ich zufällig Spencer Cochran. Er war ein paar Jahre älter als ich, hatte gerade sein Examen in England gemacht und reiste noch ein bisschen kreuz und quer durch Europa. Ich verliebte mich. Und er sich auch. So einfach war das. Ich heiratete ihn 1971 als Anita Vanger. Ich habe es nie bereut. Er war ein wunderbarer Mann. Leider ist er vor acht Jahren gestorben, und mir fiel mit einem Mal die Farm zu.«
»Aber der Pass - es musste doch jemand auffallen, dass es zwei Anita Vangers gab?«
»Nein, wieso? Eine Schwedin namens Anita Vanger ist verheiratet mit Spencer Cochran. Ob sie jetzt in London oder Australien wohnt, spielt keine Rolle. In London ist sie Spencer Cochrans Frau, die eben getrennt von ihm lebt. In Australien lebt sie mit ihm zusammen. Niemand gleicht die Melderegister zwischen London und Canberra ab. Außerdem bekam ich ja bald einen australischen Pass auf den Namen Cochran. Dieses Arrangement funktioniert prächtig. Die Sache hätte nur gefährdet werden können, wenn es Anita in den Sinn gekommen wäre, zu heiraten. Meine Ehe ist in den schwedischen Melderegistern eingetragen.«
»Sie hat es also bleiben lassen.«
»Sie behauptet, dass sie keinen gefunden hat. Aber ich weiß, dass sie für mich verzichtet hat. Sie war eine echte Freundin.«
»Was hat sie damals in Ihrem Zimmer gemacht?«
»Ich war an jenem Tag nicht bei klarstem Verstand. Ich hatte Angst vor Martin, aber solange er in Uppsala war, konnte ich das Problem verdrängen. Dann stand er da einfach auf der Straße in Hedestad, und ich begriff, dass ich niemals in meinem ganzen Leben sicher sein würde. Ich schwankte zwischen zwei Möglichkeiten - entweder Henrik alles zu erzählen oder zu fliehen. Als Henrik keine Zeit hatte, lief ich rastlos durch die Stadt. Ich verstehe natürlich, dass dieser Unfall auf der Brücke für meine Familienmitglieder alles überschattet hat, aber eben nicht für mich. Ich hatte meine eigenen Probleme und war mir des Unfalls kaum bewusst. Alles kam mir so unwirklich vor. Dann lief mir zufällig Anita über den Weg, die in einem kleinen Gästehäuschen auf Gerdas und Alexanders Grundstück wohnte. Da entschloss ich mich, sie um Hilfe zu bitten. Ich blieb die ganze Zeit bei ihr und traute mich kein einziges Mal, den Fuß vor die Tür zu setzen. Aber eins musste ich auf meiner Flucht unbedingt mitnehmen - ich hatte alles, was geschehen war, in ein Tagebuch geschrieben, außerdem brauchte ich ja ein paar Sachen zum Anziehen. Anita holte alles für mich.«
»Ich nehme an, sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Fenster zu öffnen und einen Blick auf den Unfallort zu werfen.« Mikael überlegte kurz. »Nur eines begreife ich nicht: Warum sind Sie nicht zu Henrik gegangen, wie Sie es ursprünglich vorgehabt hatten?«
»Was glauben Sie?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin überzeugt, dass Henrik Ihnen geholfen hätte. Martin wäre sofort unschädlich gemacht worden, und Henrik hätte Sie natürlich nicht bloßgestellt. Er hätte das Ganze irgendwo diskret mit einer Art Therapie geregelt.«
»Sie haben nicht kapiert, was passiert ist.«
Bis zu diesem Moment hatte Mikael zwar Gottfrieds sexuelle Übergriffe auf Martin erwähnt, Harriets Rolle aber offen gelassen.
»Gottfried hat sich an Martin vergangen«, sagte er vorsichtig. »Und ich befürchte, er hat sich auch an Ihnen vergriffen.«
Harriet Vanger bewegte keinen Muskel. Dann holte sie tief Luft und vergrub das Gesicht in den Händen. Es dauerte ungefähr drei Sekunden, dann war Jeff bei ihr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Harriet Vanger sah ihn an und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Dann überraschte sie Mikael, indem sie aufstand, ihren Studs Manager umarmte und auf die Wange küsste. Den Arm um seine Schulter gelegt, wandte sie sich an Mikael.
»Jeff, das hier ist Mikael, ein alter … Freund aus längst vergangenen Tagen. Er bringt Probleme und schlechte Nachrichten, aber wir wollen ja nicht den Überbringer der schlechten Nachricht erschießen. Mikael, das hier ist Jeff Cochran. Mein ältester Sohn. Ich habe noch einen Sohn und eine Tochter.«
Mikael nickte. Jeff war um die dreißig. Harriet hatte also nicht lange mit dem Kinderkriegen gewartet, nachdem sie Spencer Cochran geheiratet hatte. Er stand auf, streckte Jeff die Hand entgegen und erklärte, wie leid es ihm tat, seine Mutter traurig gemacht zu haben, es sei aber leider notwendig gewesen. Harriet wechselte ein paar Worte mit Jeff und schickte ihn dann fort. Sie setzte sich wieder zu Mikael und schien einen Entschluss gefasst zu haben.
»Keine Lügen mehr. Ich denke, es ist alles vorbei. Irgendwie habe ich seit 1966 auf diesen Tag gewartet. Jahrelang war es meine größte Angst, dass jemand wie Sie kommen und meinen wahren Namen aussprechen würde. Und wissen Sie was - auf einmal ist es mir egal. Mein Verbrechen ist verjährt. Und ich pfeife drauf, was die Leute von mir denken.«
»Verbrechen?«, hakte Mikael nach.
Sie sah ihn herausfordernd an, aber er verstand nicht, wovon sie sprach.
»Ich war sechzehn. Ich hatte Angst. Ich schämte mich. Ich war verzweifelt. Ich war allein. Die Einzigen, die die Wahrheit kannten, waren Anita und Martin. Anita hatte ich von den sexuellen Übergriffen erzählt, aber ich hatte es nicht über mich gebracht, ihr zu erzählen, dass mein Vater obendrein ein verrückter Frauenmörder war. Davon hat Anita nie erfahren. Ich habe ihr jedoch von dem Verbrechen erzählt, das ich selbst begangen habe. Es war so furchtbar, dass ich es Henrik im entscheidenden Moment nicht zu sagen wagte. Ich betete, dass Gott mir verzeihen mochte. Und ich versteckte mich mehrere Jahre in einem Kloster.«
»Harriet, Ihr Vater war ein Vergewaltiger und Mörder. Sie traf keine Schuld.«
»Ich weiß. Mein Vater hat mich ein Jahr lang missbraucht. Ich habe alles getan, um zu vermeiden, dass … aber er war mein Vater, und ich konnte mich nicht plötzlich weigern, ihn zu sehen, ohne den Grund zu erklären. Also lächelte ich und spielte ein Spiel und versuchte so zu tun, als wäre alles okay. Ich sorgte nach Möglichkeit dafür, dass andere in der Nähe waren, wenn wir uns trafen. Meine Mutter wusste natürlich, was er machte, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum.«
»Isabella wusste es?«, rief Mikael bestürzt aus.
Harriets Stimme wurde wieder hart.
»Natürlich wusste sie davon. In unserer Familie gab es nichts, was sie nicht gewusst hätte. Aber Dinge, die ihr unangenehm waren oder die sie in ein schlechtes Licht rückten, ignorierte sie einfach. Mein Vater hätte mich mitten im Wohnzimmer vor ihren Augen vergewaltigen können, ohne dass sie es gesehen hätte. Sie war unfähig, sich einzugestehen, dass in meinem oder ihrem Leben etwas nicht stimmte.«
»Ich habe sie kennengelernt. Sie ist eine alte Hexe.«
»Das ist sie ihr Lebtag gewesen. Ich habe oft über das Verhalten meiner Eltern nachgedacht. Ich weiß, dass sie selten oder nie Sex miteinander hatten, seitdem ich zur Welt gekommen war. Auf eine ganz seltsame Art hatte er Angst vor Isabella. Er ging ihr aus dem Weg, konnte sich aber nicht scheiden lassen.«
»In der Familie Vanger lässt man sich nicht scheiden.«
Zum ersten Mal lachte sie.
»Nein, das tut man nicht. Aber ich brachte es eben nicht über mich, alles zu erzählen. Die ganze Welt hätte es erfahren. Meine Klassenkameraden, die gesamte Familie …«
Mikael legte eine Hand auf die ihre. »Harriet, es tut mir so entsetzlich leid.«
»Ich war vierzehn, als er mich zum ersten Mal vergewaltigte. Und im Jahr danach nahm er mich immer in sein Häuschen mit. Mehrmals war auch Martin dabei. Unser Vater zwang uns beide, gewisse Sachen mit ihm zu machen. Und er hielt mir die Arme fest, während Martin sich an mir … befriedigen durfte. Als mein Vater starb, stand Martin schon bereit, seine Rolle zu übernehmen. Er erwartete, dass ich seine Geliebte würde, und fand es ganz natürlich, dass ich mich ihm unterwerfe. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich keine Wahl mehr. Ich musste Martin zu Willen zu sein. Den einen Peiniger war ich losgeworden, nur um dem nächsten in die Hände zu fallen. Ich musste also aufpassen, dass sich möglichst keine Gelegenheit ergab, bei der ich mit ihm allein war.«
»Henrik hätte …«
»Sie verstehen mich immer noch nicht.«
Sie wurde lauter. Mikael sah, wie ein paar Männer im Zelt nebenan zu ihm hinüberschielten. Sie dämpfte ihre Stimme wieder und beugte sich ihm entgegen.
»Alles liegt ganz offen vor Ihnen. Sie müssen sich den Rest nur an den Fingern abzählen.«
Sie stand auf und holte noch zwei Flaschen Bier. Als sie zurückkam, sagte Mikael nur ein Wort zu ihr.
»Gottfried?«
Sie nickte.
»Am 7. August 1965 hatte mein Vater mich gezwungen, mit ihm in seine Hütte zu kommen. Henrik war verreist. Mein Vater war heillos betrunken und versuchte, mich zu vergewaltigen. Dabei kriegte er ihn nicht mal hoch, er war ja schon kurz vorm Delirium. Er war immer … grob und gewalttätig, wenn wir allein waren, aber diesmal überschritt er die Grenze. Er urinierte auf mich. Dann erzählte er mir wieder, was er mit mir machen würde. Am Abend sprach er von den Frauen, die er ermordet hatte. Er prahlte damit. Er zitierte die Bibel. Stundenlang ging das so. Ich verstand nicht mal die Hälfte von dem, was er sagte, aber ich begriff, dass er vollkommen krank im Kopf war.«
Sie nahm einen Schluck Bier.
»Irgendwann gegen Mitternacht bekam er einen richtigen Anfall. Er wurde total wahnsinnig. Wir waren oben in seinem Schlafgeschoss. Er legte mir ein T-Shirt um den Hals und zog so fest zu, wie er nur konnte. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er mich wirklich umbringen wollte, und zum ersten Mal in der Nacht gelang es ihm auch, mich vollständig zu vergewaltigen.«
Harriet Vanger richtete ihre Augen flehentlich auf Mikael.
»Aber er war so besoffen, dass ich mich irgendwie befreien konnte. Ich lief panisch aus der Hütte. Ich war nackt und rannte, ohne groß nachzudenken, bis ich plötzlich unten am Bootssteg ankam. Er kam mir torkelnd hinterher.«
Mikael wünschte sich plötzlich, sie würde nicht weitererzählen.
»Meine Kräfte reichten aus, um einen Besoffenen ins Wasser zu stoßen. Ich benutzte ein Ruder, um ihn unter Wasser zu drücken, bis er aufhörte zu zappeln. Es dauerte nur ein paar Sekunden.«
Sie hielt inne. Die Stille war plötzlich ohrenbetäubend.
»Und als ich wieder aufblickte, stand Martin da. Er sah erschrocken aus, grinste aber dann. Ich weiß nicht, wie lange er sich schon vor dem Häuschen herumgetrieben und uns nachspioniert hatte. Von diesem Moment an war ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er packte mich bei den Haaren, führte mich in die Hütte zurück und wieder in Gottfrieds Bett. Er fesselte und vergewaltigte mich, während unser Vater immer noch im Wasser unten am Landesteg trieb, und ich konnte mich nicht einmal widersetzen.«
Mikael blinzelte. Er schämte sich plötzlich und wünschte, er hätte Harriet Vanger in Frieden gelassen. Aber ihre Stimme war jetzt wieder fest.
»Von jenem Tag an war ich ganz in seiner Gewalt. Ich tat, was er mir sagte. Ich war wie gelähmt. Was mir den Verstand rettete, war, dass Isabella darauf verfiel, sie könnte Martin nach Uppsala schicken, weil er nach dem Tod seines Vaters eine andere Umgebung brauchte. Sie schickte ihn natürlich fort, weil sie wusste, was er mit mir machte. Das war eben ihre Art, dieses Problem zu lösen. Sie können sich vorstellen, wie enttäuscht Martin war.«
Mikael nickte.
»Im Laufe des folgenden Jahres war er nur in den Weihnachtsferien zu Hause, und es gelang mir, ihm aus dem Weg zu gehen. Zwischen den Jahren begleitete ich Henrik auf eine Reise nach Kopenhagen. Und in den Sommerferien war ja Anita da, der ich mich anvertraute. Sie blieb die ganze Zeit bei mir und sorgte dafür, dass er nicht in meine Nähe kommen konnte.«
»Sie haben ihn auf der Bahnhofstraße wiedergesehen.«
Sie warf Mikael einen fast schon amüsierten Blick zu.
»Es ist tatsächlich schön, endlich die Wahrheit zu erzählen. Jetzt wissen Sie Bescheid. Was gedenken Sie mit diesem Wissen anzufangen?«
27. Kapitel
Samstag, 26. Juli - Montag, 28. Juli
Mikael holte Lisbeth um zehn Uhr morgens vor ihrer Haustür in der Lundagata ab und fuhr sie zum Krematorium des Nordfriedhofs. Während des Gedenkgottesdienstes blieb er bei ihr. Lisbeth und Mikael waren lange Zeit die einzigen Anwesenden außer dem Pfarrer, aber als die Beerdigungszeremonie begann, kam plötzlich Dragan Armanskij ganz leise zur Tür herein. Er nickte Mikael kurz zu, stellte sich hinter Lisbeth und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie nickte, ohne ihn anzusehen, als wüsste sie, wer hinter ihr stand. Dann ignorierte sie sowohl ihn als auch Mikael.
Lisbeth hatte nichts von ihrer Mutter erzählt, aber der Pfarrer hatte offensichtlich mit jemand aus dem Pflegeheim gesprochen, in dem sie gestorben war. Mikael wusste, dass eine Hirnblutung die Todesursache gewesen war. Lisbeth sprach während der gesamten Zeremonie kein Wort. Zweimal verlor der Pfarrer den Faden, als er sich direkt an Lisbeth wandte, die ihm in die Augen blickte, ohne zu antworten. Als alles vorüber war, drehte sie sich auf dem Absatz um und ging, ohne Danke oder Auf Wiedersehen zu sagen. Mikael und Dragan atmeten tief durch und warfen sich einen verstohlenen Blick zu. Sie hatten keine Ahnung, was in Lisbeths Kopf vorging.
»Es geht ihr furchtbar schlecht«, sagte Dragan.
»Ich weiß«, antwortete Mikael. »Es war gut, dass Sie gekommen sind.«
»Da bin ich mir überhaupt nicht so sicher.«
Armanskij sah Mikael durchdringend an.
»Fahren Sie wieder in den Norden zurück? Passen Sie gut auf sie auf.«
Mikael versprach es ihm. Sie trennten sich vor der Kirchentür. Lisbeth wartete schon im Auto.
Sie musste nach Hedestad mitfahren, um ihr Motorrad und die von Milton Security geliehene Ausrüstung abzuholen. Erst hinter Uppsala brach sie das Schweigen und fragte, wie die Reise nach Australien verlaufen war. Mikael war am Abend zuvor sehr spät in Arlanda gelandet und hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Während der Fahrt gab er Harriet Vangers Erzählung wieder. Lisbeth schwieg eine halbe Stunde, bis sie den Mund aufmachte.
»Verdammtes Miststück«, sagte sie.
»Wer?«
»Diese verfluchte Harriet Vanger. Wenn sie 1966 etwas unternommen hätte, dann hätte Martin nicht siebenunddreißig Jahre lang weiter morden und vergewaltigen können.«
»Harriet wusste von den Morden, die ihr Vater begangen hatte, aber sie hatte keinen Schimmer, dass Martin dabei gewesen war. Sie lief vor einem Bruder davon, der sie vergewaltigte. Falls sie ihm nicht zu Willen war, wollte er verraten, dass sie ihren Vater ertränkt hatte.«
»Bullshit.«
Danach schwiegen sie bis Hedestad. Lisbeth war ausgesprochen düsterer Laune. Mikael, der ein Treffen mit Henrik ausgemacht hatte, war schon spät dran und ließ sie an der Abzweigung nach Hedeby aussteigen. Er fragte, ob sie noch da sein würde, wenn er zurückkam.
»Hast du vor, über Nacht hierzubleiben?«
»Denke schon.«
»Willst du, dass ich noch da bin, wenn du zurückkommst?«
Er stieg aus dem Auto, ging auf die Beifahrerseite und nahm sie in die Arme. Sie schob ihn mit Gewalt fort. Mikael trat einen Schritt zurück.
»Lisbeth, wir sind Freunde.«
Sie sah ihn ausdruckslos an.
»Willst du, dass ich hierbleibe, damit du heute Nacht jemand zum Ficken hast?«
Mikael bedachte sie mit einem langen Blick. Dann drehte er sich um, setzte sich ins Auto und ließ den Motor an. Er ließ das Fenster herunter. Ihre Feindseligkeit war spürbar.
»Ich will, dass wir Freunde sind«, sagte er. »Wenn du irgendetwas anderes glaubst, dann will ich nicht, dass du noch da bist, wenn ich zurückkomme.«
Henrik Vanger saß aufrecht und voll bekleidet in seinem Bett, als Dirch Frode Mikael ins Krankenzimmer begleitete. Als Erstes fragte er den alten Mann nach seinem Gesundheitszustand.
»Sie wollen mich morgen zu Martins Begräbnis rauslassen.«
»Wie viel hat Dirch Ihnen erzählt?«
Henrik Vanger blickte auf den Boden.
»Er hat mir erzählt, was Martin und Gottfried getan haben. Das hier war alles viel schlimmer, als ich mir jemals hätte ausmalen können.«
»Ich weiß, was mit Harriet passiert ist.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Harriet ist nicht gestorben. Sie lebt noch. Wenn Sie wollen, würde sie sich sehr gerne mit Ihnen treffen.«
Henrik Vanger und Dirch Frode starrten Mikael an, als wäre ihre Welt gerade aus den Angeln gehoben worden.
»Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich sie überzeugen konnte, nach Schweden zu kommen. Aber sie lebt, es geht ihr gut, und sie ist hier in Hedestad. Sie ist heute Morgen angekommen und kann in einer Stunde hier sein. Wenn Sie sie sehen wollten, heißt das natürlich.«
Und wieder musste Mikael die Geschichte von Anfang bis Ende erzählen. Henrik Vanger hörte so konzentriert zu, als lausche er der Bergpredigt eines modernen Jesus. An ein paar Stellen unterbrach er ihn mit einer Frage oder bat Mikael, etwas zu wiederholen. Dirch Frode sagte kein Wort.
Als Mikael fertig war, schwieg der Alte. Obwohl die Ärzte versichert hatten, Henrik habe sich von seinem Herzanfall erholt, fürchtete Mikael sich vor dem Augenblick, da er ihm die ganze Geschichte erzählen würde - er hatte Angst, es würde einfach zu viel für seinen Auftraggeber sein. Aber Henrik zeigte keine äußerlichen Anzeichen von Bewegtheit. Nur seine Stimme war vielleicht ein klein wenig belegt, als er das Schweigen brach.
»Arme Harriet. Wäre sie doch nur zu mir gekommen.«
Mikael sah auf die Uhr. Es war fünf vor vier.
»Wollen Sie sie sehen? Sie hat immer noch Angst, dass Sie sie verstoßen könnten, sobald Sie wissen, was sie getan hat.«
»Und die Blumen?«, fragte Henrik.
»Danach habe ich sie auf dem Rückflug gefragt. In der Familie gab es einen Menschen, den sie liebte, und das waren Sie. Die Blumen hat Harriet natürlich selbst geschickt. Sie hoffte, dass Ihnen damit klar würde, dass sie lebte und es ihr gut ginge. Aber sie bekam ihre Informationen ja nur über Anita, und die war ins Ausland gezogen, sobald sie ihr Studium abgeschlossen hatte. Also wusste Harriet nie so richtig, wie sich die Dinge weiterentwickelt hatten. Ihr wurde nie klar, wie schrecklich Sie litten oder dass Sie glaubten, es sei ihr Mörder, der Sie mit diesen Blumen verhöhnte.«
»Ich nehme an, Anita hat die Blumen für sie geschickt.«
»Sie arbeitete bei einer Fluggesellschaft und flog durch die ganze Welt. Sie gab die Pakete dort auf, wo sie sich gerade befand.«
»Aber woher wussten Sie, dass ausgerechnet Anita ihr geholfen hatte?«
»Das Foto, auf dem sie in Harriets Zimmer zu sehen ist.«
»Aber sie hätte ja auch verwickelt sein … sie hätte ja auch die Mörderin sein können. Woher wussten Sie, dass Harriet noch am Leben war?«