Ich, Richard.

Malcolm Cousins entfuhr ein Ächzen. Er konnte es nicht unterdrücken, obwohl es der Situation überhaupt nicht angemessen war. Ein Seufzer der Wonne oder ein Stöhnen der Befriedigung wären angebrachter gewesen. Aber die Wahrheit war einfach, und er musste ihr ins Auge sehen: Er war nicht mehr der Tausendsassa, der er im Bett einmal gewesen war. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er es mit den Besten aufnehmen können. Aber diese Zeiten waren wie sein Haupthaar den Weg alles Vergänglichen gegangen, und heute, mit seinen neunundvierzig Jahren, konnte er sich glücklich preisen, wenn er das Gerät zweimal in der Woche hochbekam.

Er wälzte sich von Betsy Perryman herunter und ließ sich stöhnend auf den Rücken fallen. In seinen Lendenwirbeln hämmerte es wie unter den Schlägen eines ganzen Trommlerregiments, und die stets zweifelhaften Wonnen, die Betsys üppige, mit Parfüm getränkte Reize ihm bereitet hatten, waren bald nur noch blasse Erinnerung. Heiliger Himmel, dachte er, krampfhaft nach Luft schnappend. Da brauchst du keine Rechtfertigung mehr. Frag dich lieber, ob der Zweck diese gottverdammte Anstrengung überhauptwert ist.

Zum Glück nahm Betsy das Stöhnen und das heftige Atmen so auf, wie sie die meisten Dinge aufnahm. Sie hievte ihre Massen herum, so dass sie auf der Seite zu liegen kam, stützte den Kopf in die offene Hand und betrachtete ihn mit einer Miene, die kokett sein sollte. Keinesfalls wollte sie ihn merken lassen, wie verzweifelt sie hoffte, dass er sie aus ihrer derzeitigen Ehe - der vierten - retten würde, und Malcolm unterstützte ihre diesbezüglichen Fantasien nur zu gern. Manchmal wurde es ein wenig schwierig, sich zu merken, was ihm bekannt sein durfte und was nicht, aber er wusste mittlerweile, wenn sich bei Betsy argwöhnische Zweifel an seiner Aufrichtigkeit regten, gab es ein einfaches und wirksames, wenn auch für den Rücken etwas strapaziöses Mittel, diese Zweifel zum Schweigen zu bringen.

Sie griff nach der zur Seite gerutschten Bettdecke, zog sie hoch und hob ihre dralle Hand. Seinen kahlen Scheitel liebkosend, sah sie ihn mit trägem Lächeln an. »Mit einem Kahlköpfchen hab ich's noch nie getan. Hab ich dir das schon mal gesagt, Male?«

Jedes Mal sagte sie das, wenn sie es - wie sie es so ungeheuer blumig ausdrückte - miteinander getan hatten. Dann dachte er an Cora, die Spanielhündin, die er in seiner Kindheit so geliebt hatte, und bei der Erinnerung an den Hund bekam sein Gesicht einen angemessen liebevollen Ausdruck. Er zog Betsys Finger zu seinem Mund und küsste sie einen nach dem anderen.

Sie rutschte auf seine Seite des Betts hinüber, immer näher, bis ihr wogender Busen keine drei Zentimeter mehr von seinem Gesicht entfernt war. Aus dieser Nähe betrachtet, glich der Einschnitt zwischen ihren Brüsten der Cheddar-Schlucht und war etwa ebenso reizvoll. Du lieber Gott, noch eine Runde?, dachte er. Wenn das so weiterging, würde er seinen fünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Und sein Ziel nie erreichen.

Er drückte sein Gesicht in die erstickenden Tiefen ihres Busens und produzierte die Laute sehnsüchtigen Begehrens, die sie hören wollte. Dann nuckelte er noch ein wenig, bevor er mit großem Theater so tat, als fiele sein Blick zufällig auf seine Armbanduhr auf dem Nachttisch.

»Oh, verflixt!« Er packte die Uhr und hielt sie sich demonstrativ vor die Augen. »Mensch, Betsy, es ist elf Uhr. Ich hab diesen Austro-Richie-Freaks versprochen, dass ich sie um zwölf auf dem Bosworth Field erwarte. Ich muss schleunigst los.«

Und er sprang aus dem Bett, bevor sie protestieren konnte. Während er in seinen Morgenrock schlüpfte, bemühte sie sich, aus seinen Worten klug zu werden. Sie krauste die Stirn und sagte: »Astoritschifrieks? Was soll denn das sein?« Sie setzte sich auf. Ihr blondes Haar war wirr und strähnig, die Schminke in ihrem Gesicht verschmiert.

»NichtAstor, Austro«, erklärte Malcolm. »Aus Australien. Richard-Freaks aus Australien. Ich habe dir doch letzte Woche von ihnen erzählt, Betsy.«

»Ach, die!« Sie zog eine Schnute. »Ich dachte, wir machen heute Mittag ein kleines Picknick.«

»Bei dem Wetter?« Er war schon auf dem Weg ins Bad. Er konnte nicht nach Sex und Shalimar stinkend zu der Führung erscheinen. »Wo wolltest du denn mitten im Januar ein Picknick veranstalten? Hörst du nicht den Wind? Es hat bestimmt mindestens minus zehn Grad draußen.«

»Ein Picknick im Bett«, erklärte sie. »Mit Honig und Sahne. Du hast doch gesagt, das wäre dein Traum. Oder weißt du das nicht mehr?«

Er blieb an der Schlafzimmertür stehen. Ihm gefiel der Ton ihrer Frage nicht. Er hatte etwas Forderndes, das ihn an alles erinnerte, was er an Frauen hasste. Natürlich wusste er längst nicht mehr, was er als seinen Traum von Honig und Sahne ausgegeben hatte. In den vergangenen zwei Jahren ihres Verhältnisses hatte er vieles gesagt. Das meiste davon hatte er vergessen, sobald er gemerkt hatte, dass sie ihn so sah, wie er von ihr gesehen werden wollte. Aber er musste natürlich trotzdem auf sie eingehen.

»Hm, Honig und Sahne«, sagte er seufzend. »Du hast Honig und Sahne mitgebracht? Ach, Betsy ...« Ein Spurt zurück zum Bett. Eine züngelnde Inspektion ihrer Zahnfüllungen. Eine hitzig grapschende Hand zwischen ihre Beine. »Gottogott, du treibst mich noch in den Wahnsinn, Weib. Ich seh schon, ich werde heute den ganzen Tag mit stocksteifem Schwanz in Bosworth rumlaufen.«

»Geschieht dir recht«, sagte sie neckisch und wollte zupacken.

Er hielt ihre Hand fest. »Du bist ganz heiß drauf«, sagte er.

»Nicht heißer als du.«

Er nuckelte wieder an ihren Fingern. »Später«, sagte er.

»Erst muss ich diese blöden Australier auf dem Schlachtfeld herumführen, und wenn du danach noch hier bist ... Du weißt, was dir dann blüht.«

»Nein, das ist zu spät. Bernie glaubt, ich wäre nur zum Metzger gegangen.«

Er warf ihr einen gequälten Blick zu, um sie wissen zu lassen, wie sehr ihn der Gedanke an ihren ahnungslosen Mann, diesen Unglücksraben - seinen alten Busenfreund Bernie -, schmerzte.

»Dann eben ein andermal. Wir haben noch endlos viele Tage vor uns. Mit Honig und Sahne. Mit Kaviar. Mit Austern. Habe ich dir schon einmal gesagt, was ich mit den Austern tun werde?«

»Was denn?«, fragte sie.

Er lächelte. »Wart's ab!«

Dann floh er ins Badezimmer und drehte die Dusche auf. Wie gewöhnlich tröpfelte nur ein dünnes Rinnsal lauwarmen Wassers aus der Brause. Malcolm legte fröstelnd seinen Morgenrock ab und verwünschte die Umstände, in denen er lebte. Seit fünfundzwanzig Jahren stand er im Klassenzimmer und versuchte, pickeligen Halbstarken, die sich für nichts anderes interessierten als die Erfüllung ihrer feuchten Träume, die Geschichte der Zivilisation nahe zu bringen, und was hatte er davon? Ein schäbiges kleines Reihenhaus in der Nähe der Schule, einen alten Vauxhall ohne Ersatzreifen, eine Geliebte mit Heiratsplänen und einer Vorliebe für abartigen Sex. Und eine Leidenschaft für einen lang verstorbenen König, die ihm, wenn es nach ihm ginge, zum sprudelnden Quell einer weit reicheren Zukunft werden sollte. Die Möglichkeiten lagen so nahe, nur wenige herausfordernde Zentimeter außer Reichweite. Und wenn er sich erst einmal einen Namen gemacht hatte, würden die Buchverträge, die Vortragsreisen und die Angebote zu lukrativer Erwerbstätigkeit von selbst folgen.

»Scheiße!«, brüllte er, als das Wasser aus der Dusche ohne Übergang plötzlich kochend heiß herabschoss.

»Gott verdammt.« Er griff nach den Hähnen.

»Geschieht dir recht«, sagte Betsy von der Tür her.

»Du bist ein böser Junge, und böse Jungen brauchen eine Strafe.«

Er wischte das Wasser aus seinen Augen und blinzelte, um sie erkennen zu können. Sie hatte sein bestes Flanellhemd an - ausgerechnet das, welches er sich für die Führung zurecht gelegt hatte, verdammte Person! - und stand in bemüht verführerischer Pose lässig an den Türpfosten gelehnt. Er ignorierte sie und fuhr fort, sich zu waschen. Er konnte ihr ansehen, dass sie entschlossen war, ihren Kopf durchzusetzen und ihn noch einmal ins Bett zu lotsen, bevor er ging. Vergiss es, Bets, sagte er sich. Treib's nicht zu weit, meine Liebe.

»Ich versteh dich nicht, Malc Cousins«, sagte sie. »Du bist der einzige Mann auf Erden, der lieber mit einem Haufen Touristen im Morast herumrennt, als es sich mit der Frau, die er angeblich liebt, im Bett gemütlich zu machen.«

»Nicht angeblich«, korrigierte Malcolm automatisch. Diese postkoitalen Dialoge waren von einer Eintönigkeit, die ihn zu deprimieren begann.

»Ach was? Tatsächlich? Ich hätte gesagt, dieser komische König, wie heißt er gleich wieder, ist dir viel wichtiger als ich.«

Nun, er ist auf jeden Fall weit interessanter, dachte Malcolm, sagte aber: »Na, hör mal! Das bedeutet für uns, Geld auf der hohen Kante zu haben.«

»Wir brauchen kein Geld auf der hohen Kante«, entgegnete sie. »Das hab ich dir bestimmt schon hundert Mal gesagt. Wir haben das -«

»Außerdem«, fiel er ihr hastig ins Wort, denn je weniger zwischen ihnen zum Thema von Betsys Erwartungen gesagt wurde, desto klüger. »Außerdem ist es eine nützliche Erfahrung. Wenn das Buch erst mal fertig ist, werden Interviews, öffentliche Auftritte und Vorträge auf mich zukommen. Ich brauche die Übung. Ich brauche« - ein entwaffnendes Lächeln in ihre Richtung - »mehr als ein Eine-Frau-Publikum, mein Schatz. Stell dir nur mal vor, wie das sein wird, Bets. Cambridge, Oxford, Harvard, die Sorbonne. Meinst du, Massachusetts wird dir gefallen? Und Frankreich?«

»Bernie hat wieder Probleme mit dem Herzen, Male«, sagte Betsy und strich mit dem Finger den Türpfosten hinauf.

»Wirklich?«, sagte Malcolm erfreut. »Der arme alte Bernie. Er ist schon ein armer Teufel, Bets.«

Das Problem Bernie musste natürlich geregelt werden. Aber Malcolm vertraute darauf, dass Betsy Perryman der Aufgabe gewachsen war. Beschwingt von Sex und billigem Champagner, hatte sie ihm einmal erklärt, jede ihrer vier Ehen sei nach der jeweils vorausgegangenen ein Schritt nach oben gewesen, und man brauchte wahrhaftig kein Genie zu sein, um zu wissen, dass ein Schritt aus einer Ehe mit einem unverbesserlichen Alkoholiker - mochte er noch so gutmütig sein - in eine Beziehung mit einem Oberschullehrer, der auf dem besten Weg war, mit seiner Korrektur der mittelalterlichen Geschichte das ganze Land aufhorchen zu lassen, zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung war. Folglich konnte man sich darauf verlassen, dass Betsy die Sache mit Bernie regeln würde. Es war nur eine Frage der Zeit.

Scheidung kam selbstverständlich nicht in Frage. Malcolm hatte Betsy von Anfang an klar gemacht, dass er ihr bei allem heißen, leidenschaftlichen, wahnsinnigen Verlangen und so weiter, mit ihr zusammenzuleben, niemals zumuten würde, in die bescheidenen Verhältnisse abzusteigen, die das Einzige waren, was er ihr derzeit bieten konnte. Er würde es ihr nicht nur nicht zumuten, er würde es ihr strikt verbieten. Betsy - seine geliebte Betsy - verdiene so viel mehr, als er ihr, so wie es im Augenblick um ihn bestellt war, bieten könne. Aber wenn erst der Erfolg sich einstellt, liebster Schatz ... oder wenn, was Gott verhüten möge, Bernie etwas zustoßen sollte ... Dies, hoffte er, würde ausreichen, um in der schwammigen grauen Masse ihres Gehirns ein Licht aufgehen zu lassen.

Malcolm verspürte keinerlei Schuldgefühle bei dem Gedanken an Bernie Perrymans Hinscheiden. Gewiss, sie kannten einander seit ihrer Kindheit, da ihre Mütter Jugendfreundinnen gewesen waren. Aber am Ende der Pubertät hatten ihre Wege sich getrennt, da sein völliges Versagen bei der Schulabschlussprüfung den armen Bernie zu einem Leben auf dem Hof der Familie verbannt hatte, während Malcolm ein Universitätsstudium aufge­nommen hatte. Und danach - nun ja, Unterschiede im Bildungsniveau machten es in der Tat schwierig, mit Leuten zu kommunizieren, denen es an gewissen Grundlagen fehlte, auch wenn man einmal mit ihnen befreundet gewesen war. Im Übrigen hatte Malcolm bei der Heimkehr von der Universität sehr schnell erkannt, dass sein alter Freund seine Seele an den Black-Bush­Teufel verkauft hatte. Und was hätte er davon gehabt, eine Freundschaft mit dem berüchtigtsten Säufer der Umgebung zu erneuern? Trotzdem, sagte sich Malcolm gern, hatte er Bernie ein gewisses Mitgefühl nicht verweigert. Jahrelang war er einmal im Monat auf den Hof gekommen - natürlich immer nur im Schutz der Dunkelheit -, um mit seinem früheren Freund Schach zu spielen und sich seine whiskyseligen Betrachtungen über ihre Kindheit und das, was hätte sein können, anzuhören.

Auf diese Weise hatte er zum ersten Mal vom »Erbe« gehört, wie Bernie es bezeichnet hatte. Und nur um an das »Erbe« heranzukommen, bumste er seit zwei Jahren unermüdlich Bernies Ehefrau. Betsy und Bernie hatten keine Kinder. Bernie war der Letzte seiner Familie, also würde das Erbe Betsy zufallen. Und Betsy würde es Malcolm überlassen.

Das allerdings wusste sie noch nicht. Aber sie würde es bald genug erfahren.

Malcolm lächelte, als er daran dachte, wie gut Bernies Erbe seiner Karriere tun würde. Seit nahezu zehn Jahren schrieb er mit fanatischem Eifer an dem Werk, dem er den SpitznamenRichies Reinwaschung gegeben hatte - seine Ehrenrettung Richards III. -, und wenn sich das Erbe erst mal in seinen Händen befand, brauchte er sich um seine Zukunft keine Sorgen mehr zu machen. Auf der Fahrt zum Bosworth Field, wo die australische Gruppe ihn erwartete, deklamierte er laut den ersten Satz des vorletzten Kapitels seinesopus magnum: »Bei dem angeblichen Verschwin­den Eduards, des Lord Bastard, Grafen von Pembroke und March, und Richards, des Herzogs von York, beginnen die Historiker traditionell, aus Quellen zu schöpfen, die von ihrem Eigeninteresse verunreinigt sind.«

Wunderbar, diese Formulierung, dachte er. Und das Beste daran war, dass es auch noch die Wahrheit war.


Der Reisebus war schon da, als Malcolm auf den Parkplatz bei Bosworth Field brauste. Die Fahrgäste waren törichterweise ausgestiegen, anscheinend alles Frauen und niederschmetternd betagt. Wie eine Herde Schafe standen sie fröstelnd zusammengedrängt im Wind, der mit Sturmstärke tobte. Als Malcolm aus seinem Wagen stieg, löste sich eine der Frauen aus der Herde und ging mit großen Schritten auf ihn zu. Sie war kräftig gebaut und wesentlich jünger als die anderen, was Malcolm zu der Hoffnung veranlasste, es werde ihm gelingen, sich mit einer gehörigen Portion Charme aus der Affäre zu ziehen. Aber dann bemerkte er ihr kurz gestutztes Haar, die plumpen Fesseln und die strammen Waden . ganz zu schweigen von dem Klemmbrett, das sie im Gehen gegen ihre offene Hand schlug. Eine lesbische Fremdenführerin, die eine Stinkwut im Bauch hat, dachte er. Das kann ja heiter werden.

Aber er erwartete sie mit einem strahlenden Lächeln.

»Es tut mir wirklich Leid«, flötete er. »Ich hatte Ärger mit dem Wagen.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Kumpel«, begann sie im breitesten australischen Slang, »wenn wir von >Der roman­tische Zauber Großbritanniens< für eine Führung um zwölf Uhr mittags bezahlen, dann erwarten wir, dass die beschissene Führung auch Punkt zwölf Uhr beginnt. Wieso kommen Sie zu spät? Verdammt noch mal, hier draußen ist es ja wie in Sibirien. Man kommt fast um vor Kälte. Los, fangen wir endlich an.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und winkte ihre Schützlinge zum Rand des Parkplatzes, wo der Fußweg rund um das Schlachtfeld begann.

Malcolm rannte der Truppe hinterher. Es ging um sein Trinkgeld, da musste er sich bemühen, seine Säumigkeit durch eine glanzvolle Zurschaustellung seines Wissens wettzumachen.

»Ja, ja«, sagte er mit geheuchelter Jovialität, als er die Reiseleiterin eingeholt hatte. »Es ist wirklich ein unglaub­licher Zufall, dass Sie Sibirien erwähnen, Miss -?«

»Sludgecur«, sagte sie kurz.

»Ah. Ja. Miss Sludgecur. Natürlich. Wie ich eben sagte, es ist ein unglaublicher Zufall, dass Sie Sibirien erwähnen. Auf diesem Stück englischen Bodens haben wir nämlich die höchste Erhebung westlich des Ural. Darum leiden wir hier unter diesen Moskauer Witterungsverhältnissen. Sie können sich vorstellen, wie es im fünfzehnten Jahrhundert gewesen sein muss, als -«

»Wir wollen keinen Kurs in Meteorologie«, blaffte sie. »Fangen Sie endlich an, ehe meine Damen hier sich den Arsch abfrieren.«

Ihre Damen kicherten und stemmten sich, aneinander geklammert, gegen den Wind. Sie hatten die runzligen Apfelbäckchen Achtzigjähriger und betrachteten Miss Sludgecur mit der ehrfürchtigen Bewunderung von Kindern, die erlebt haben, dass ihre Eltern es mit jedem aufnehmen und ihn ohne viel Federlesens niederstrecken.

»Ja, natürlich«, sagte Malcolm. »Das Wetter ist der Hauptgrund dafür, dass das Schlachtfeld im Winter geschlossen ist. Wir haben für Ihre Gruppe eine Aus­nahme gemacht, weil die Damen Richardianerinnen sind, und wenn Richardianer Bosworth aufsuchen, kommen wir ihnen gern entgegen. Das ist die beste Art, dafür zu sorgen, dass die Verbreitung der Wahrheit gefördert wird, da sind Sie doch sicher meiner Ansicht.«

»Was, zum Teufel, labern Sie da?«, fragte Miss Sludgecur. »Richa-was?«

Woran Malcolm hätte merken müssen, dass der Rundgang nicht so glatt verlaufen würde, wie er gehofft hatte. »Ri char dianer«, erklärte er und strahlte die alten Frauen an, die um Miss Sludgecur herumstanden. »Die Menschen, die an die Unschuld Richards III. glauben.«

Miss Sludgecur starrte ihn an, als wäre er von einem anderen Stern. »Was? Wir schauen uns hier den roman­tischen Zauber Großbritanniens an, Kumpel. Ich sage nur, Jane Eyre, Mr. Rochester, Heathcliff und Cathy, Maxim de Winter. Liebe auf dem Schlachtfeld heißt das Motto von heute, und wir wollen was sehen für unser Geld. Ist das klar?«

Einzig um ihr Geld ging es. Nur weil sie bezahlten, war Malcolm hier. Aber, Herrgott noch mal, wussten diese Frauenzimmer auf der Suche nach dem romantischen Zauber überhaupt, wo sie sich hier befanden? Wussten sie - interessierte es sie? -, dass der letzte König, der in einer kriegerischen Schlacht fiel, nur einen Kilometer von ihrem jetzigen Standort entfernt von seinem Schicksal ereilt worden war? Und dass dieses Schicksal ihn infolge von Aufstand, Verrat und Treulosigkeit ereilt hatte? Offensichtlich nicht. Sie waren nicht zu Richards Unterstützung hergekommen. Sie waren hierher gekommen, weil es Teil ihrer Pauschalreise war. Die grüblerische Liebe, die hoffnungslose Liebe und die treue Liebe waren bereits abgehakt. Nun sollte er ihnen eine Version der tödlichen Liebe aus dem Ärmel schütteln, die sie hinreichend begeistern würde, um am Ende des Nachmittags ein paar Pfund locker zu machen. Na schön. Das würde er gerade noch schaffen.


Betsy kam Malcolm erst wieder in den Sinn, als er an der ersten Markierungsmarke des Rundgangs Halt machte, dort, wo Richards Heer zu Beginn der Schlacht gestanden hatte. Während seine Schäfchen das Banner mit dem weißen Eber fotografierten, das an der Fahnenstange vom Wind gepeitscht wurde, blickte Malcolm über sie hinweg zu den heruntergekommenen Gebäuden der Windsong Farm, die auf der Höhe des nächsten Hügels zu erkennen waren. Er konnte das Haus sehen und auch Betsys Wagen im Hof. Den Rest konnte er sich vorstellen - und seinen diesbezüglichen Fantasien nachhängen.

Bernie hatte bestimmt nicht gemerkt, dass seine Frau dreieinhalb Stunden gebraucht hatte, um in Market Bosworth ein Päckchen Hackfleisch zu besorgen. Es war schließlich fast halb eins, da hockte er zweifellos wie gewöhnlich am Küchentisch und versuchte, eines seiner Formel-I-Modellrennautos zusammenzubasteln. Die ein­zelnen Teile würden ausgebreitet vor ihm liegen, und er hatte es vielleicht geschafft, eines an ein anderes zu kleben, bevor er den Tatterich bekommen hatte und ihn mit einer Dosis Black Bush beruhigen müsste. Ein Glas Whisky hatte garantiert zum nächsten geführt, und wie immer würde es damit geendet haben, dass er nicht einmal mehr die Tube mit dem Kleber halten konnte.

Es sprach alles dafür, dass er bereits volltrunken über seinem Modellauto zusammengesunken war. Es war Samstag, da müsste er eigentlich seiner Arbeit in der St.- James-Kirche nachgehen, um diese für den Sonntags­gottesdienst zu schmücken. Aber dem armen alten Bernie würde erst einfallen, was für einen Tag man schrieb, wenn Betsy nach Hause kam und neben ihm das Hackfleisch mit solcher Wucht auf den Tisch knallte, dass es ihn aus seinem Rausch riss.

Wenn er dann mit einem Ruck den Kopf hob, würde Betsy den Abdruck des Autonamens auf seiner Haut sehen und zu Recht angewidert sein. Malcolms Umarmungen noch frisch im Gedächtnis, würde sie die Ungerechtigkeit ihrer Situation um so bitterer empfinden.

»Warst du schon in der Kirche?«, würde sie Bernie fragen. Es war die einzige Arbeit, die er hatte, da seit acht Generationen kein Perryman mehr Hof und Land be­wirtschaftet hatte. »Bei Pater Naughton kommst du mit solchen Mätzchen nicht durch, Bernie. Der lässt sich das nicht gefallen, nur weil du ein Perryman bist. Du musst dich heute um die Kircheund den Friedhof kümmern. Und es wird langsam Zeit, dass du's anpackst.«

Bernie wurde nie aggressiv, wenn er betrunken war, und er würde es auch jetzt nicht werden. Er würde sagen:

»Ich geh ja schon, mein kleines Mamilein. Aber Durst hab ich zum Gotterbarmen. Meine Kehle ist so trocken wie ein Sandhaufen, Mami-Mädel.«

Er würde sie mit dem gleichen gutmütigen Lächeln anschauen, mit dem er in Blackpool, wo sie einander das erste Mal begegnet waren, ihr Herz gewonnen hatte. Und das Lächeln würde sie trotz Malcolms vorangegangener Minnedienste an ihre Pflicht als treu sorgende Ehefrau erinnern. Aber das war völlig in Ordnung. Es lag überhaupt nicht in Malcolm Cousins' Interesse, dass Betsy Perryman ihre Pflicht versäumte.

Sie würde ihren Mann also fragen, ob er seine Tabletten genommen habe, und da Bernie Perryman außer Trinken nichts tat, wenn man ihn nicht mindestens zehnmal daran erinnerte, würde er sie natürlich nicht genommen haben. Daraufhin würde Betsy sie holen und die vorgeschriebene Dosis in ihre offene Hand schütten. Und Bernie würde gehorsam seine Tabletten nehmen und dann aus dem Haus torkeln - wie immer ohne Jackett -, um sich zur St.- James-Kirche und seiner Arbeit zu begeben.

Betsy würde ihm nachrufen, er solle seine Jacke mitnehmen, aber er würde abwinken. Sie würde schreien:

»Bernie! Du holst dir noch den Tod -«, und bei dem Gedanken, der ihr bei diesen Worten durch den Kopf schoss, abrupt innehalten. Denn eben Bernies Tod war nötig, damit sie für immer an der Seite ihres Geliebten sein konnte.

Sie würde also den Blick zu dem Fläschchen mit den Tabletten in ihrer Hand senken und das Etikett lesen: >Digitoxin. Nehmen Sie ohne Absprache mit Ihrem Hausarzt nicht mehr als eine Tablette täglich ein.<

An diesem Punkt würde sie sich vielleicht auch der Erklärung des Arztes erinnern: »Es ist wie Digitalis. Davon haben Sie schon gehört, nicht? Eine Überdosis würde seinen Tod bedeuten, Mrs. Perryman, darum müssen Sie immer Acht geben und dafür sorgen, dass er niemals mehr als eine Tablette einnimmt.«

Mehr als eine Tablette, würde es ihr in den Ohren dröhnen. Sie würde sich des morgendlichen Beischlafs mit Malcolm erinnern. Sie würde eine Tablette aus dem Fläschchen schütteln und sie nachdenklich betrachten. Endlich würde ihr eine Möglichkeit einfallen, die Zukunft zurechtzubiegen.

Vergnügt wandte Malcolm den Blick vom Haus der Perrymans ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Richardianerinnenin spe. Alles ging nach Plan.

»Von hier aus«, verkündete er der Gruppe von Frauen, die trotz ihrer Betagtheit mit begierigem Eifer die Liebe auf dem Schlachtfeld suchten, »können wir im Nordosten das Dorf Sutton Cheney erkennen.«

Aller Köpfe wandten sich in die besagte Richtung. Möglich, dass sie sich, wie die Reiseleiterin so drastisch erklärt hatte, die alten Ärsche abgefroren hatten, aber sie waren konzentriert bei der Sache, das musste man ihnen lassen. Außer dieser Sludgecur, deren Arsch bestimmt in einem wollenen Schlüpfer steckte. Sie sah ihn so herausfordernd an, als wollte sie sagen, na, nun versuch mal, aus der Schlacht von Bosworth eine Romanze zu machen. Das wäre ja gelacht, dachte er und nahm den Fehdehandschuh auf. Er würde ihnen von romantischer Liebe erzählen. Und er würde ihnen eine Lektion in Geschichte geben, die sie so schnell nicht vergessen würden. Diese australischen Omas waren vielleicht keine Richardianerinnen gewesen, als sie am Bosworth Field angekommen waren, aber sie würden überzeugte Jünge­rinnen sein, wenn sie wieder abfuhren. Und sie würden in den australischen Busch heimkehren und ihren Enkeln berichten, dass Malcolm Cousins -der Malcolm Cousins - ihnen zum ersten Mal die Augen dafür geöffnet hatte, welch großes Unrecht die Welt am Andenken eines redlichen Königs begangen hatte.

»Dort drüben, in der St.-James-Kirche des Dorfes Sutton Cheney, sprach König Richard am Vorabend der Schlacht ein inbrünstiges Gebet«, sagte Malcolm. »Versuchen Sie sich vorzustellen, was für ein Abend das gewesen sein muss.«

Von da an lief es von selbst. In den vielen Jahren seiner Tätigkeit als Führer von Reisegruppen in Bosworth Field hatte er die Geschichte schon tausendmal erzählt. Jetzt brauchte er nur noch den Schwerpunkt auf die roman­tischen Aspekte zu legen und diese entsprechend auszuschmücken. Das war kein Problem.

Die Truppen des Königs - zwölftausend Mann - hatten auf der Höhe des Albion Hill gelagert, wo jetzt Malcolm Cousins und seine Schar fröstelnder Nicht-Richardianerin- nen standen. Der König wusste, dass der kommende Tag über sein Schicksal entscheiden würde: Ob er weiterhin als Richard III. regieren würde oder ob ihm die Krone mit Gewalt entrissen und ein Emporkömmling sie sich aufs Haupt setzen würde, der den größten Teil seines Lebens auf dem Kontinent verbracht hatte, sicher versteckt und gehätschelt von jenen, deren Ehrgeiz es schon seit langem war, das Haus York zu vernichten. Der König wusste zweifellos auch, dass sein Schicksal in der Hand der Brüder Stanley lag - Sir William und Lord Thomas Stanley. Sie waren mit einer großen Streitmacht in Bosworth eingetroffen und hatten ihr Lager im Norden aufgeschlagen, nicht weit entfernt von dem des Königs, aber auch - und das verhieß nichts Gutes - in der Nähe von Richards heimtückischem Feind Heinrich Tudor, Graf von Richmond, der zugleich Lord Stanleys Stiefsohn war. Um die Loyalität des Vaters zu erzwingen, hatte Richard einen der leiblichen Söhne Lord Stanleys als Geisel genommen und gedroht, das Leben des jungen Mannes wäre verwirkt, wenn sein Vater Englands gesalbten König verriete und sich in der bevorstehenden Schlacht auf Tudors Seite schlüge. Die Stanleys jedoch waren eine falsche Sippschaft und hatten unzählige Male bewiesen, dass sie nur ihren eigenen Interessen treu waren; der König muss sich also im Klaren darüber gewesen sein, welch ein ungeheures Risiko er einging - ob er nun George Stanley in seiner Gewalt hatte oder nicht -, wenn er die Sicherheit seines Throns der Unberechenbarkeit von Männern anvertraute, die sich vor allem durch ihre Eigennützigkeit auszeichneten. Am Abend vor der Schlacht hatte Richard gesehen, dass die Stanleys im Norden lagerten, in Richtung von Market Bosworth. Er hatte einen Boten ausgesandt, um sie daran zu erinnern, dass sie angesichts der Tatsache, dass George Stanley sich noch immer in des Königs Gewalt befand und hier, im Lager des Königs, gefangen gehalten wurde, klug daran täten, am folgenden Tag dem König die Treue zu halten.

Richard war unruhig gewesen, hin und her gerissen. Kann es einen Zweifel daran geben, dass er, der während seiner kurzen Regierungszeit zuerst seinen Sohn und Erben und dann seine Frau verloren hatte, der von Freunden, die ihm einst nahe standen, verraten worden war, sich Gedanken darüber machte - wenn auch vielleicht nur flüchtig -, wie viel Zeit ihm noch bestimmt war? Kann es einen Zweifel daran geben, dass er, der in der Religion seiner Zeit verwurzelt war, wusste, wie schwer die Sünde der Verzweiflung wog? Und kann es unter diesen Voraussetzungen einen Zweifel daran geben, was der König am Vorabend der Schlacht zu tun beschlossen hatte?

Malcolm ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen. Ja, hier und dort war ein befriedigend umflorter Blick zu sehen. Sie erkannten das Potenzial für Liebe und Roman­tik in der Geschichte eines verwitweten Königs, der nicht nur seine Frau und seinen Erben verloren hatte, sondern obendrein nur noch Stunden von seinem eigenen Tod entfernt war.

Malcolm richtete einen triumphierenden Blick auf Miss Sludgecur. Ihre Miene besagte: Verlass du dich nur nicht zu sehr auf dein Glück.

Er hätte ihr gern erklärt, dass es mit Glück überhaupt nichts zu tun hatte, sondern einzig mit der unwider­stehlichen Faszination der Wahrheit. Der Wind blies stärker, und es war noch um einige Grad kälter geworden, aber seine kleine Schar stand ganz im Bann jenes Augustabends des Jahres 1485.

Am Vorabend der Schlacht, erklärte Malcolm seinen Zuhörerinnen, habe Richard - sicher, dass er sterben würde, wenn der Feind ihn besiegte - vermutlich das Bedürfnis gehabt, die Beichte abzulegen. Die Geschichte berichtet uns, sagte er, dass es in Richards Heer keine Priester oder Militärgeistlichen gab, und so wird er die St.- James-Kirche aufgesucht haben, um einen Beichtvater zu finden. In der Kirche war es still gewesen bei Richards Eintritt. Im Schiff brannte vielleicht eine Votivkerze oder ein Binsenlicht, sonst war es dunkel. Hörbar waren einzig die Geräusche, die Richard selbst verursachte, als er vom Portal zum Altar ging und dort niederkniete: das Rascheln seines Barchentwamses (satingefüttert, führte Malcolm aus, der wusste, welchen Wert Romantiker aufs Detail legten), das Knarren des Leders, aus dem seine dick- sohligen Kampfstiefel und die Scheide seines Degens gefertigt waren, das Klirren des Schwerts und des Degens, als er - »Aber um Gottes willen«, rief eine der roman­tischen Neo-Richardianerinnen, »was war das für ein Mann, der Schwert und Degen in eine Kirche mitnahm?«

Malcolm lächelte gewinnend. Er dachte: Ein Mann, der die Waffen verdammt gut gebrauchen konnte, weil sie bestens dafür geeignet waren, eine lose Steinplatte anzu­heben. Aber er sagte: »Ja, ungewöhnlich, gewiss. Man kann sich nicht vorstellen, dass jemand bewaffnet eine Kirche betritt, nicht wahr? Aber es war der Abend vor der Schlacht. Überall wimmelte es von Richards Feinden. Er wäre niemals ungeschützt in die Dunkelheit hinaus­gegangen.«

Ob der König bei dem Kirchgang an diesem Abend seine Krone getragen habe, wisse niemand, fuhr Malcolm fort. Wenn aber ein Priester in der Kirche gewesen sei, um ihm die Beichte abzunehmen, dann habe dieser Priester Richard seinen Gebeten überlassen, nachdem er ihm die Absolution erteilt hatte. Und dort in der Dunkelheit, die nur von dem kleinen Binsenlicht im Schiff der Kirche erhellt wurde, habe Richard mit seinem Gott Frieden geschlossen und sich auf das Schicksal vorbereitet, das der nächste Tag verhieß.

Malcolm musterte seine Zuhörerinnen, um ihre Reaktionen und ihre Aufmerksamkeit einzuschätzen. Sie waren gefesselt. Er hoffte, sie überlegten, wie viel Trinkgeld sie ihm dafür geben sollten, dass er ihnen bei diesem mörderischen Wind eine derartig bravouröse Vorstellung geboten hatte.

Nach dem Gebet, fuhr Malcolm fort, habe der König Schwert und Degen gezogen und auf die roh gezimmerte Holzbank gelegt, auf der er sich niedersetzte. Dort in der Kirche habe König Richard seine Pläne zur Vernichtung Heinrich Tudors geschmiedet, sollte dieser Emporkömm­ling aus der bevorstehenden Schlacht als Sieger hervorgehen. Denn Richard habe gewusst, dass er Heinrich Tudor überlegen sei - es immer schon gewesen war. Im Leben war er ihm als erfahrener und siegreicher Feldherr überlegen. Im Tod würde er ihm insofern über­legen sein, als er die einzige Kraft war, die den Thron­räuber vernichten konnte.

»Du meine Güte«, murmelte jemand beifällig. Ja, Malcolms Zuhörerinnen standen im Bann der tragischen Romantik des Moments. Gott sei Dank.

Richard, erklärte er ihnen weiter, sei sich der Intrigen bewusst gewesen, die zwischen Heinrich Tudor und Elisabeth Woodville gesponnen wurden - Witwe seines Bruders Eduard IV. und Mutter der beiden jungen Prinzen, die er früher im Tower in sicherem Gewahrsam hatte.

»Die Prinzen im Tower«, ließ eine andere Stimme sich vernehmen. »Das sind doch die zwei kleinen Jungs, die -«

»Genau die«, bestätigte Malcolm feierlich. »Richards leibliche Neffen.«

Der König habe zweifellos gewusst, dass Elisabeth Woodville, getreu ihrer Gewohnheit, sich die Butter nicht vom Brot nehmen zu lassen, Heinrich Tudor die Hand ihrer ältesten Tochter versprochen hatte für den Fall, dass er die englische Krone für sich erobern sollte. Ebenso habe Richard gewusst, dass alle Männer, Frauen und Kinder, in deren Adern nur ein Tropfen York'schen Blutes floss, Gefahr liefen - als mögliche Anwärter auf den Thron -, beseitigt zu werden, falls Heinrich Tudor die Krone Englands erobern sollte. Und zu diesen Bedrohten gehörten auch Elisabeth Woodvilles Kinder.

Er selbst war dem Erbfolgegesetz gemäß der rechtmäßige Herrscher über das Land. Als direkter - und legitimer - Abkömmling Eduards III. hatte er nach dem Tod seines Bruders Eduard IV. den Thorn bestiegen, nachdem bekannt geworden war, dass der sittenlose Eduard lange vor seiner Heirat mit Elisabeth Woodville heimlich einer anderen Frau ein Heiratsversprechen gegeben hatte. Dieses Versprechen, das vor einem Bischof der Kirche abgelegt worden war, besaß die gleiche Rechtsgültigkeit wie eine mit Pracht vor tausend Zuschauern vollzogene Eheschließung. Dies machte Eduards spätere Heirat mit Elisabeth Woodville ungültig und ihre gemeinsamen Kinder zu Bastarden.

Henry Tudor hatte natürlich gewusst, dass die Kinder durch das Gesetz für illegitim erklärt worden waren und dass im Fall seines Sieges über Richard die Ehe mit der illegitimen Tochter eines toten Königs nicht dazu bei­tragen würde, seinen wackeligen Anspruch auf Englands Thron abzusichern. Er hätte sich also gezwungen gesehen, etwas zu unternehmen.

König Richard seinerseits wäre das klar gewesen, sobald er erfahren hätte, dass Tudor dem Mädchen die Ehe versprochen hatte. Und er hätte gewusst, dass die Legitimierung Elisabeths von York zugleich die Legiti­mierung aller ihrer Schwestern - und Brüder - bedeuten würde. Man konnte nicht das älteste Kind eines toten Königs für legitim erklären und gleichzeitig behaupten, seine Geschwister wären Bastarde.

Malcolm legte eine bedeutungsschwangere Pause ein. Er wartete, ob die begierigen alten Damen, die um ihn versammelt waren, reagieren würden. Sie lächelten und nickten und schenkten ihm freundliche Blicke, aber keine sagte ein Wort. Also half Malcolm ihnen auf die Sprünge.

»Ihre Brüder«, fuhr er geduldig und langsam fort, um sicher zu sein, dass sie jedes romantische Detail aufnahmen. »Wenn Heinrich Tudor Elisabeth von York vor seiner Heirat mit ihr für legitim erklären ließ, würden auch ihre Brüder für legitim erklärt werden. Und dann würde der ältere der beiden Jungen -«

»Ach, du lieber Gott!«, rief eine Frau. »Dann wäreer nach Richards Tod der rechtmäßige König gewesen.«

Gott segne dich, mein Kind, dachte Malcolm. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen!«, rief er.

»Jetzt hören Sie mal her, Kumpel«, fuhr Miss Sludgecur dazwischen, als es in ihrem spinnwebverhangenen Hirn plötzlich licht zu werden schien. »Die Geschichte kenne ich. Richard hat die armen kleinen Kerle umbringen lassen, während sie unschuldig im Tower saßen.«

Wieder ein Fisch an Tudors Angel, dachte Malcolm. Fünfhundert Jahre waren vergangen, und dieser intrigante walisische Emporkömmling führte sie immer noch alle mit Erfolg an der Nase herum.

Die Geduld in Person, fuhr er mit seiner Erklärung fort. In der Tat behaupte man, der Tradition folgend, seit langem, Richard III. habe die Prinzen im Tower - die beiden Söhne Edwards IV., seine Neffen - ermorden lassen, um seine Position als König zu sichern. Aber niemand habe den Mord bezeugen können, und im Übrigen habe Richard, der nach Recht und Gesetz herrschte, keinen Anlass gehabt, die Knaben zu töten. Im Gegenteil, da er keinen direkten Erben hatte - sein leiblicher Sohn war ja gestorben, wie die Damen eben gehört hatten -, hätte er doch das Recht des Hauses York auf den englischen Thron nicht besser absichern können, als wenn er dafür gesorgt hätte, dass die beiden Prinzen für legitim erklärt würden - natürlich erst nach seinem eigenen Tod. Eine solche Entscheidung konnte damals nur durch päpstlichen Erlass erfolgen, aber Richard hatte zwei Beauftragte nach Rom entsandt, und warum hätte er das tun sollen, wenn nicht, um für die Legitimierung der beiden Knaben Sorge zu tragen, denen durch das sittenlose Verhalten ihres Vaters alle angestammten Rechte geraubt worden waren?

»Es gab tatsächlich Gerüchte, die Knaben seien tot.«

Malcolm bemühte sich um einen liebenswürdigen Ton.

»Aber diese Gerüchte kamen interessanterweise erst unmittelbar vor Heinrich Tudors Invasion in England in Umlauf. Er wollte König werden, aber er hatte keinerlei rechtlichen Anspruch auf den Thron. Deshalb musste er den regierenden Monarchen in Verruf bringen. Was hätte wirkungsvoller sein können, als das Gerücht auszustreuen, dass die Prinzen - die aus dem Tower verschwunden waren - tot seien? Und nun stelle ich Ihnen eine Frage, meine Damen: Was, wenn sie nicht tot waren?«

Anerkennendes Gemurmel erhob sich in der Gruppe. Malcolm hörte eine der Alten sagen: »Hübsche Augen hat er«, und folgte mit dem Blick dem Klang der Stimme. Sie sah aus wie seine Großmutter. Und schien gut betucht zu sein. Er versprühte noch ein paar mehr Spritzer seines Charmes.

»Angenommen, Richard selbst hatte die beiden Knaben aus dem Tower holen lassen, um sie zum Schutz vor einem Aufruhr in Sicherheit zu bringen? Er wusste, dass die beiden in große Gefahr geraten würden, wenn Heinrich Tudor in Bosworth Field siegte. Tudor hatte sich mit ihrer Schwester verlobt. Um sie heiraten zu können, würde er sie für legitim erklären lassen müssen. Damit aber wären für die beiden Prinzen erneut ihre Rechte wieder gültig geworden, und Eduard, der Ältere, wäre der rechtmäßige Thronfolger gewesen. Das konnte Tudor nur verhindern, indem er die beiden ausschaltete. Für immer.«

Malcolm machte eine Pause, um das wirken zu lassen. Er beobachtete, wie die Schar grauer Köpfe sich in Richtung Sutton Cheney drehte. Dann zum Tal im Norden, wo an der Fahnenstange das Banner der treulosen Stanleys flatterte. Dann hinüber zur Höhe des Ambion Hill, wo der gnadenlose Wind Richards Weißen Eber peitschte. Dann den Hang abwärts in Richtung der Eisenbahngleise, wo einst Tudors Söldner sich zu einer dürftigen Front aufgereiht hatten. Richards Truppen an Zahl und Waffen weit unterlegen, hatten sie auf die Entscheidung der Stanleys gewartet: für Richard oder gegen ihn. Und wenn die Stanleys sich nicht auf Tudors Seite schlügen, wäre die Schlacht verloren.

Die Grauköpfe, stellte Malcolm fest, fraßen ihm aus der Hand. Aber Miss Sludgecur war nicht so leicht einzu­wickeln. »Wie hätte Tudor die beiden umbringen sollen, wenn sie nicht mehr im Tower waren?« Sie hatte ange­fangen, sich mit den Händen auf die Arme zu klopfen, und wünschte dabei zweifellos, sie könnte sein Gesicht bearbeiten.

»Er hat sie nicht umgebracht«, erwiderte Malcolm freundlich, » wenn auch das Verbrechen allenthalben seine machiavellistischen Spuren trägt. Nein, Tudor hatte nicht unmittelbar damit zu tun. Die Situation ist leider um einiges hässlicher. Wollen wir weitergehen, meine Damen, und dabei unser Gespräch fortsetzen?«

»Der Hintern ist auch ganz knackig«, murmelte eine aus der Gruppe. »Ein richtiger Wonneproppen, der Junge.«

Ah ja, er hatte sie in der Tasche. Malcolm war begeistert von seinen Verführungstalenten.

Er wusste, dass Betsy ihn vom Haus aus beobachtete, aus dem Schlafzimmer im ersten Stock, von dessen Fenster aus sie das Schlachtfeld sehen konnte. Ausgeschlossen, dass sie sich das nach ihrem gemein­samen Morgen versagte. Sie würde beobachten, wie Malcolm seine kleine Schar von Schauplatz zu Schauplatz lotste; sie würde wahrnehmen, dass die Frauen förmlich an seinen Lippen hingen; und sie würde daran denken, wie sie selbst keine zwei Stunden zuvor an ihm gehangen hatte. Und der Kontrast zwischen ihrem versoffenen Trottel von Ehemann und ihrem von männlicher Kraft strotzenden Geliebten würde sie intensiv und schmerzlich beschäftigen.

Sie würde erkennen, welch eine Verschwendung es war, ihr Leben mit Bernie Perryman zuzubringen. Sie war, würde sie sich sagen, vierzig Jahre alt und stand in der Blüte ihres Lebens. Sie verdiente etwas Besseres als Bernie. Sie verdiente einen Mann, der Gottes Plan, als er Mann und Frau erschuf, zu würdigen wusste. Gott hatte die Frau aus der Rippe des Mannes geschaffen und damit anschaulich gemacht, dass Frauen und Männer untrennbar miteinander verbunden waren: Die Frauen gewannen Form und Substanz durch ihre Männer, lebten ihr Leben im Dienst ihrer Männer und wurden zum Lohn dafür von ihren Männern mit ihrer überlegenen Körperkraft beschützt und behütet. Aber Bernie Perryman sah immer nur eine Hälfte der Gleichung. Sie - Betsy - hatte für ihn zu schuften und für sein seelisches und leibliches Wohl zu sorgen. Er - Bernie - brauchte nichts zu tun. Gut, ab und zu unternahm er einen schwachen Versuch, mit ihr zu schlafen, wenn er gerade mal in Stimmung war und ihn lange genug hochkriegte. Aber der Whisky hatte ihn längst aller Fähigkeit beraubt, eine Frau zu befriedigen. Und was das Verständnis für ihre feineren Bedürfnisse und seine Pflicht, sie zu stillen, betraf - das konnte man völlig vergessen.

Malcolm stellte sich Betsy gern so vor: oben im sexlosen Schlafzimmer ihres Hauses, voll des gerechten Zorns gegen ihren Ehemann. Aus diesem Zorn würde die Erkenntnis erwachsen, dass er, Malcolm Cousins, der Mann war, dem sie bestimmt war, und sie würde erkennen, dass alle anderen Beziehungen in ihrem Leben nur das Vorspiel zu der innigen Verbindung mit ihm gewesen waren. Sie und Malcolm, würde sie folgern, waren in jeder Hinsicht füreinander geschaffen.

Während sie ihn draußen auf dem Schlachtfeld beobachtete, würde sie sich ihrer ersten Begegnung erinnern und des Feuers, das vom ersten Tag an, als Betsy im Sekretariat der Schule zu arbeiten angefangen hatte, zwischen ihnen loderte. Sie würde den heißen Funken spüren wie damals, als Malcolm: »Bernie Perrymans Frau?« gesagt und sie mit unverhohlen bewunderndem Blick angestarrt hatte. »Da hat der gute Bernie mir aber einiges verheimlicht! Und ich dachte immer, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.« Sie würde sich erinnern, wie sie, noch selig in ihrem jungen Glück und ohne eine Ahnung davon, wie sehr Bernies Trunksucht es beein­trächtigen würde, gefragt hatte: »Sie kennen Bernie?«

Und sie würde sich auch an Malcolms Antwort erinnern. »Seit Ewigkeiten. Wir sind zusammen aufgewachsen, haben zusammen die Schulbank gedrückt und in den Ferien die Nachbarschaft unsicher gemacht. Wir haben uns sogar die erste Frau geteilt.« Und sie würde sich seines Lächelns entsinnen. »Wir sind also praktisch Blutsbrüder. Aber ich sehe schon, unsere Beziehung könnte in Zukunft gewisse Einschränkungen erfahren, Betsy.« Und er hatte ihr gerade lang genug in die Augen gesehen, um ihr bewusst zu machen, dass ihr junges Glück nicht halb so heiß war wie der Blick, mit dem er sie ansah.

Von diesem oberen Schlafzimmer aus würde sie sehen, dass die Gruppe, die Malcolm rund um das Schlachtfeld führte, aus Frauen bestand, und würde unruhig werden. Bei der Entfernung zwischen Haus und Schlachtfeld würde es ihr nicht möglich sein, zu erkennen, dass Malcolms Schar kollektiv mit einem Bein bereits im Grab stand, und sie würde unweigerlich beginnen, sich Gedanken zu machen. Was sollte eine dieser Frauen daran hindern, in seinen unwiderstehlichen Bann zu geraten?

Diese Überlegungen würden sie zum Äußersten treiben, und genau darauf hatte Malcolm seit Monaten hin­gearbeitet, wenn er in den zärtlichsten Momenten geflüstert hatte: »O Gott, wenn ich gewusst hätte, wie es sein würde, dich endlich für mich zu haben. Betsy, ich will dich ganz ...«, und dann die heißen Tränen in ihr Haar geweint hatte, die Geständnisse furchtbarer Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit, die ihn angeblich quälten, wenn er in den Armen der Frau seines alten Freundes lag. »Ich kann es nicht ertragen, ihm wehzutun, Betsy, Liebstes. Wenn du dich von ihm scheiden ließest . Ich könnte nie mehr in den Spiegel sehen, wenn er je erführe, wie ich unsere Freundschaft verraten habe.«

Daran würde sie sich erinnern, während sie oben in ihrem Schlafzimmer stand und die heiße Stirn an die kalte Fensterscheibe presste. Sie waren an diesem Morgen drei Stunden zusammen gewesen, aber ihr würde bewusst werden, dass das nicht genügte. Es würde niemals genügen, sich ständig heimlich treffen zu müssen, Gleich­gültigkeit gegenüber dem anderen vorzutäuschen, wenn sie sich in der Schule begegneten. Solange sie nicht vor dem Gesetz ein Paar waren - so wie sie es bereits geistig, seelisch und körperlich waren -, solange würde sie keinen Frieden finden.

Aber Bernie stand ihrem Glück im Weg, würde sie denken. Bernie Perryman, in die Alkoholsucht getrieben von der Angst, dass das Erbleiden, das seinen Großvater, seinen Vater und seine beiden Brüder vor ihrem fünfund­vierzigsten Geburtstag dahingerafft hatte, auch ihn vorzeitig ins Grab bringen würde. »Schwaches Herz«, hatte Bernie ihr zweifellos erklärt, die Ausrede, die er seit dreißig Jahren für alles gebrauchte, was er getan oder nicht getan hatte. »Es arbeitet nicht richtig. Es flattert nur, wo es eigentlich pumpen sollte. Ich muss vorsichtig sein. Immer meine Tabletten nehmen.«

Aber wenn Betsy ihren Mann nicht täglich an seine Tabletten erinnerte, konnte man damit rechnen, dass er nicht nur den Grund für ihre Einnahme, sondern ihr Vorhandensein überhaupt vergessen würde. Es war beinahe so, als hätte er einen Todeswunsch, der gute Bernie Perryman. Es war beinahe so, als wartete er nur auf den richtigen Moment, ihr die Freiheit zurückzugeben.

Und wenn sie erst frei wäre, würde Betsy sich sagen, dass das Erbe ihr gehörte. Und das Erbe war der Schlüssel zur Zukunft mit Malcolm. Denn mit dem Erbe in der Hand würden sie und Malcolm endlich heiraten und Malcolm seine schlecht bezahlte Anstellung an der Schule aufgeben können. Glücklich und zufrieden mit seiner Forschungs­arbeit, seiner schriftstellerischen Tätigkeit und seinem Lehrauftrag an der Universität, würde er ihr ewig dankbar dafür sein, dass sie ihm dieses neue Leben ermöglicht hatte. Und in seiner Dankbarkeit wäre er ganz versessen darauf, alle ihre Bedürfnisse zu erfüllen.

Und genau so, würde sie sich denken, soll es sein.


Im Plantagenet Pub in Sutton Cheney zählte Malcolm das Trinkgeld, das ihm die harte mittägliche Arbeit eingebracht hatte. Er hatte alles gegeben, aber die australischen Omas hatten sich als eine Bande von Geiz­hälsen entpuppt. Am Ende hatte er vierzig Pfund für Führung und Vortrag - ein Hungerlohn, wenn man bedachte, welch umfassende Informationen er weiterge­geben hatte - und fünfundzwanzig Pfund an Trinkgeldern. Gott sei Dank für die Ein-Pfund-Münze, dachte er finster. Sonst hätten diese knickrigen alten Weiber ihn wahr­scheinlich mit Fünfzig-Pence-Stücken abgespeist.

Er steckte das Geld ein, als die Tür zur Straße geöffnet wurde und ein eisiger Windstoß in den Gastraum fegte. Die Flammen des Feuers neben ihm flackerten heftig. Asche aus dem offenen Kamin stob auf und rieselte zu Boden. Malcolm blickte hoch. Bernie Perryman - nur in Cowboystiefeln, Blue Jeans und einem T-Shirt mit dem AufdruckTeam Ferrari auf der Brust - torkelte ins Pub. Malcolm versuchte, irgendwo im Hintergrund zu verschwinden, aber das war nicht möglich. Nach dem Wind und der Kälte auf dem Bosworth Field hatte ihn das Verlangen nach Wärme an das lodernde Buchenfeuer geführt. Und direkt in Bernies Blickfeld.

»Malkie!«, grölte Bernie erfreut und sagte, was er immer sagte, wenn sie einander begegneten. »Malkie, alter Kumpel! Wie war's mit 'ner Partie Schach? Mir fehlen unser Schachabende, ehrlich!« Er schüttelte sich vor Kälte und schlug sich mit den Händen auf die Arme. Seine Lippen waren blau gefroren. »Scheiß die Wand an, ist das eine Affenkälte da draußen. Hey, gieß mir 'nen Blackie ein«, rief er dem Wirt zu. »Gleich einen Doppelten.« Er lachte und ließ sich auf einen Hocker an Malcolms Tisch fallen. »Also. Was macht das Buch, Malkie? Bist du schon berühmt? Hast du schon einen Verlag gefunden?« Er kicherte wie ein altes Weib.

Malcolm vergaß das schlechte Gewissen, das ihn manchmal plagte, weil er die Ehefrau dieses Säufers bumste, wann immer sein abgeschlaffter Körper mitmach­te. Bernie Perryman verdiente die Hörner, sie waren seine Strafe für die Art und Weise, wie er Malcolm seit zehn Jahren ständig piesackte.

»Diese letzte Partie hast du wohl nie überwunden, was?« Bernie kicherte wieder. Er bekam seinen Black Bush und kippte ihn mit einem Zug hinunter. Er prustete blubbernd. »Das war gut«, sagte er und bestellte den nächsten. »Also, wie geht die ganze Geschichte gleich wieder, Malkie? Bist du schon an der spannenden Stelle angekommen? Wird natürlich 'ne harte Sache, das zu beweisen, was, Kumpel?«

Malcolm zählte bis zehn. Bernie bekam seinen zweiten doppelten Whisky, der den gleichen Weg wie der vorige nahm.

»Aber ich bin gemein zu dir, obwohl ich gar keinen Grund dazu hab«, sagte Bernie unerwartet zerknirscht, wie das die Art von Betrunkenen war. »Du hast mir nie was Böses getan - außer damals bei der Abschlussprüfung -, und darum will ich dir auch nichts Böses. Ich wünsch dir nur das Beste. Ehrlich, du kannst mir's glauben. Aber es läuft eben nie so, wie man's gern hätte, stimmt's?«

Und genau das, dachte Malcolm, ist der gottverdammte springende Punkt. Es war - wie Bernie es gern ausdrückte - an jenem verhängnisvollen Morgen auf dem Bosworth Field auch für Richard nicht gut gelaufen. Der Graf von Northumberland hatte ihn im Stich gelassen, die Stanleys hatten ihn rundweg verraten, und ein unausgegorener kleiner Emporkömmling, der weder die Fertigkeiten noch den Mut besaß, um dem König im entscheidenden Kampf selbst gegenüberzutreten, hatte die Schlacht gewonnen.

»Komm, erklär deinem alten Freund deine Theorie noch mal, Malkie. Ich finde die Geschichte unheimlich spannend, wirklich, glaub's mir. Ich wünschte, du könntest die Sache irgendwie beweisen, dann wärst du ein gemachter Mann. Mit so 'nem Buch! Wie lang machst du schon an dem Manuskript rum?« Bernie wischte das Innere seines Whiskyglases mit einem schmutzigem Finger aus und leckte diesen ab. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund. Er hatte sich am Morgen nicht rasiert, und er hatte seit Tagen kein Bad genommen. Einen Moment lang hatte Malcolm beinahe Mitleid mit Betsy, die mit diesem verhassten Kerl unter einem Dach leben musste.

»Ich bin jetzt bei Elisabeth von York angelangt«, sagte Malcolm so freundlich, wie ihm das bei der Aversion, die er gegen Bernie hatte, möglich war. »Das ist die Tochter Eduards IV. Die zukünftige Frau des Königs von England.«

Bernie feixte und zeigte Zähne, die ewig keine Zahn­bürste mehr gesehen hatten. »Hey, die Tussie vergess ich immer wieder, Malkie. Was meinst du, woher das kommt?«

Das kommt daher, dass jeder Elisabeth vergisst, antwortete Malcolm im Stillen. Die älteste Tochter Eduards IV. war den Historikern im Allgemeinen nicht mehr als eine Fußnote wert, eine Frau ohne Bedeutung, älteste Schwester der Prinzen im Tower, gehorsame Tochter der Elisabeth Woodville, bloße Schachfigur im politischen Machtkampf, spätere Ehefrau des Usurpators Heinrich VII. Ihre Aufgabe war es, für den Erhalt der Dynastie zu sorgen und dann von der Bildfläche zu verschwinden.

Aber diese Frau war eine Woodville. In ihren Adern floss das schwere Blut dieser intriganten und ehrgeizigen Sippe. Dass sie angestrebt hatte, Königin von England zu werden wie vorher ihre Mutter, war im siebzehnten Jahrhundert nachgewiesen worden, als Sir George Buck in seinem WerkHistory of the Life and Reigne of Richard III von einem Brief der jungen Elisabeth berichtete, mit dem sie den Herzog von Norfolk bat, die Rolle des Vermittlers zum Zweck einer Heirat zwischen ihr und König Richard zu übernehmen. Sie sei, schrieb sie ihm, mit Herz und Gedanken des Königs. Dass sie so gewissenlos war wie ihre Eltern, beweist die Tatsache, dass ihr Brief an Norfolk noch vor dem Tod von Richards Ehefrau, Königin Anne, geschrieben worden war.

Vor Heinrich Tudors Invasion hatte man die junge Elisabeth aus London fortgeschafft und nach Yorkshire hinaufgebracht, allem Anschein nach um ihrer Sicherheit willen. Dort hielt sie sich in Sheriff Hutton auf, einer Hochburg der Yorks mitten auf dem Land, wo Treue zu König Richard eine Konstante im Leben der Bürger war. Hier würde Elisabeth gut beschützt und gut bewacht sein. Wie ihre Geschwister.

»Hast du's immer noch so mit der guten Lizzie?«, erkundigte sich Bernie grinsend. »Mann, von der konntest du gar nicht genug kriegen damals.«

Malcolm schluckte seine Wut hinunter, ließ es sich aber nicht nehmen, dem anderen im Stillen Tod und Verdam­mnis zu wünschen. Bernie hegte eine tiefe Abneigung gegen jeden, der versuchte, etwas aus seinem Leben zu machen. Solche Menschen erinnerten ihn daran, in welchem Maß er selbst sein Leben vergeudet hatte.

Bernie hatte Malcolm offenbar etwas angemerkt, denn als er nach seinem dritten Whisky gerufen hatte, sagte er: »Komm, lass nur. Ich hab doch nur Spaß gemacht. Was treibst du überhaupt heute hier draußen? Warst du das auf dem Schlachtfeld, als ich vorhin vorbeigefahren bin?«

Bernie wusste zweifelsohne genau, dass er es gewesen war. Die Frage sollte nur dazu dienen, sie beide daran zu erinnern, wie stark Malcolms Leidenschaft war und welche Macht Bernie Perryman über sie besaß. O Gott! Am liebsten wäre Malcolm auf den Tisch gesprungen und hätte laut geschrien: »Ich vögel die Frau dieses Trottels zweimal in der Woche, drei- oder viermal, wenn ich es schaffe. Die beiden waren gerade mal zwei Monate verheiratet, als ich sie zum ersten Mal gevögelt hab, sechs Tage nach unserer ersten Begegnung.«

Aber genau das wollte Bernie Perryman ja erreichen - dass sein alter Freund Malcolm Cousins ausrastete: Damit wollte er ihm heimzahlen, dass er es einst abgelehnt hatte, Bernie zu helfen, sich durch das Abschlussexamen zu mogeln. Der Mann hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant und eine unheimlich nachtragende Natur. Aber Malcolm konnte mithalten.

»Ich weiß nicht, Malkie«, sagte Bernie kopfschüttelnd, als ihm sein Whisky gebracht wurde. Er griff unsicher nach dem Glas, während er sich mit blutloser Zunge die Unterlippe leckte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lizzie die beiden Jungs hat umlegen lassen. Das wär doch unnatürlich gewesen. Es waren ihre Brüder. Nicht mal für den Titel Königin von England hätte sie das gemacht. Außerdem waren die beiden doch ganz woanders, oder? Also, für mich ist das reine Spekulation. Reine Spekulation und nicht der kleinste Beweis.«

Nie sollst du einem Säufer deine Geheimnisse und Träume verraten, dachte Malcolm zum tausendsten Mal.

»Es war Elisabeth von York«, behauptete er. »Sie trug letztlich die Verantwortung.«

Die Entfernung von Sheriff Hutton nach Rievaulx, Jervaulx und Fountains Abbey war nicht unüberwindlich. Und Menschen in Abteien oder Klöstern verschwinden zu lassen, war damals beste Tradition. Im Allgemeinen waren es die Frauen, die in einer Klosterzelle landeten. Aber zwei junge Knaben - als jugendliche Novizen eines Klosters getarnt - wären vor Heinrich Tudor sicher gewesen, sollte er Englands Thron mit Waffengewalt an sich bringen.

»Tudor muss gewusst haben, dass die Knaben am Leben waren«, sagte Malcolm. »Als er Elisabeth die Ehe versprach, muss er gewusst haben, dass die Knaben lebten.«

Bernie nickte. »Die armen kleinen Kerlchen«, sagte er mit geheuchelter Bekümmerung. »Und der arme alte Richard, dem sie die Schuld gegeben haben. Wie ist sie an die Jungs rangekommen, Malkie? Was meinst du? Hat sie zusammen mit Tudor was ausgeheckt?«

»Sie wollte unbedingt Königin werden. Sie war nicht zufrieden, nur die Schwester eines Königs zu sein. Aber wenn sie Königin werden wollte, gab es für sie nur einen Weg. Doch Heinrich hatte sich noch während seiner Verhandlungen mit Elisabeth Woodville anderswo nach einer Gemahlin umgesehen. Das wird das junge Mädchen gewusst haben. Und sie wird auch gewusst haben, was das bedeutete.«

Bernie nickte feierlich, als scherte es ihn nicht einen Pfifferling, was vor mehr als fünfhundert Jahren an einem Augustabend keine zweihundert Meter von dem Platz entfernt, wo er jetzt im Pub saß, geschehen war. Er trank seinen dritten doppelten Whisky und klatschte sich mit der flachen Hand auf den Magen wie nach einer sättigenden Mahlzeit.

»Hab die Kirche für morgen schon hergerichtet«, teilte er Malcolm mit. »Wahnsinn, eigentlich, wenn man sich's mal überlegt, Malkie. Seit zweihundert Jahren kümmern sich die Perrymans um die St.-James-Kirche. Das ist fast so gut wie ein richtiger Stammbaum. Findest du nicht auch? Schon beachtlich, würd ich sagen.«

Malcolm betrachtete ihn ruhig. »Sehr beachtlich, Bernie«, sagte er.

»Hast du dir mal überlegt, wie anders dein Leben vielleicht ausgeschaut hätte, wenn deine Leute diejenigen gewesen wären, die seit Generationen in der alten St.- James-Kirche rummachen? Dann wär ich vielleicht du, und du wärst ich. Was meinst du dazu, hm?«

Was Malcolm dazu meinte, konnte er vor dem Mann, der ihm am Tisch gegenübersaß, nicht laut aussprechen. Stirb, dachte er. Stirb, bevor ich dich eigenhändig umbringe.


»Willst du mit mir zusammen sein, Darling?«, nuschelte Betsy ihm feucht ins Ohr. Wieder ein Samstag. Wieder drei Stunden Bumsen mit Betsy. Malcolm fragte sich, wie lange er die Farce noch würde durchhalten müssen. Er hätte ihr gern gesagt, sie solle auf die andere Seite rutschen - die Frau konnte einem die Luft besser abschnüren als jede Plastiktüte -, aber er wusste, dass beim gegenwärtigen Stand ihrer Beziehung eine Demonstration postkoitaler Nähe zur Erreichung seines Ziels ebenso wesentlich war wie eine Spitzenleistung zwischen den Laken. Und da Alter, zunehmende Lustlosigkeit und schwindende Kräfte dafür sorgten, dass seine Leistung jedes Mal ein kleines bisschen nachließ, wenn er zwischen Betsys wohlgepolsterten Oberschenkeln versank, hielt er es für weise, sie kuscheln und klammern zu lassen, solange er es ertragen konnte, ohne laut zu schreien.

»Wirsind zusammen«, sagte er, ihr über das Haar streichelnd. Es fühlte sich drahtig an, das Resultat von zu viel Wasserstoffsuperoxid und noch mehr Haarspray.

»Oder meinst du, dass du noch mal möchtest? Dafür brauche ich eine kleine Erholungspause, mein Schatz.«

Er drückte seine Lippen auf ihre Stirn. »Du machst mich ganz schön fertig, Bets, mein Liebes. Du bist Frau genug für ein ganzes Dutzend Männer.«

Sie kicherte. »Du magst es.«

»Nicht es. Dich! Ich liebe und begehre dich und kann nicht ohne dich sein.« Manchmal überlegte er, wie er auf den Blödsinn kam, den er ihr erzählte. Es war, als würde automatisch ein primitiver Teil seines Gehirns, der auf Süßholzraspeln spezialisiert war, eingeschaltet, sobald er mit Betsy ins Bett stieg.

Sie grub ihre Finger in sein üppig wucherndes Brusthaar. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wieso bei einem Mann, wenn er kahl wurde, am ganzen restlichen Körper das Haar in doppelter Fülle wuchs. »Ich meine, richtig zusammen sein, Darling. Wünschst du dir das? Wir zwei. So wie jetzt? Auf immer und ewig? Wünschst du dir das mehr als alles andere auf der Welt.«

Allein der Gedanke beschwor Bilder von Betonmauern herauf. Aber er erwiderte: »Betsy, mein Liebstes«, und ließ seine Stimme ordentlich zittern. »Sag so etwas nicht. Bitte. Ich halte das nicht noch einmal aus.« Damit zog er sie ziemlich grob an sich, weil er wusste, dass sie sich das wünschte. Er drückte sein Gesicht in die Mulde von Hals und Schulter und atmete durch den Mund, um nicht den erstickenden Duft der Tagesration Shalimar in die Nase zu bekommen. Er produzierte Wimmergeräusche wie ein Mensch, der aus dem letzten Loch pfeift. Gott, was würde er nicht alles tun für König Richard.

»Ich hab mich ein bisschen im Internet umgeschaut«, flüsterte sie, während sie seinen Nacken massierte. »In der Schulbibliothek. Am Donnerstag und am Freitag. Die ganze Mittagspause, Darling.«

Er hörte auf zu wimmern, während er in dieser Mitteilung nach tieferer Bedeutung suchte. »Ach, was?« Er knabberte an ihrem Ohrläppchen, während er auf weitere Informationen wartete. Sie wurden ihm auf indirektem Weg gereicht.

»Du liebst mich doch wirklich, Malcolm, Liebster?«

»Was glaubst du denn?«

»Und du begehrst mich, ja?«

»Das liegt ja wohl auf der Hand.«

»Auf immer und ewig?«

Wenn es sein muss, dachte er und gab sich alle Mühe, es ihr zu beweisen, wenn auch sein Körper sich nicht zu einer Höchstleistung aufschwingen konnte.

Später, beim Ankleiden, sagte sie: »Was es da für eine Auswahl an Themen gibt! Ich konnte es gar nicht fassen. Im Internet kann man wirklich alles nachschlagen. Das musst du dir mal vorstellen, Malcolm. Einfach alles. Bernie spielt heute Abend im Plantagenet mit dem Verein Schach, Darling.«

Malcolm runzelte die Stirn und versuchte, zwischen diesen scheinbar zusammenhanglosen Bemerkungen eine Verbindung herzustellen.

Sie sprach weiter. »Du fehlst ihm als Partner. Er wünscht sich immer, dass du am Vereinsabend mal vorbeikommen und eine Partie mit ihm spielen würdest, Liebster.« Sie ging auf nackten Füßen zur Frisierkommode und begann, ihr Make-up aufzufrischen. »Er spielt natürlich nicht gut. Er benützt Schach nur als zusätzlichen Vorwand, um ins Pub zu gehen.«

Malcolm beobachtete sie aus zusammengekniffenen Augen und wartete auf ein Zeichen.

Sie gab es ihm. »Ich mach mir Sorgen um ihn, Malcolm, Schatz. Irgendwann wird sein Herz einfach nicht mehr mitmachen. Ich begleite ihn heute Abend. Vielleicht kommst du ja vorbei. Malcolm, Liebster, liebst du mich? Wünschst du dir nichts mehr, als mit mir zusammen zu sein?«

Er bemerkte, dass sie ihn im Spiegel scharf beobachtete, während sie sich schminkte. Sie umrandete ihre Lippen mit dunklem Konturenstift und puderte sich die Wangen. Und dabei behielt sie ihn unablässig im Auge.

»Ich wünsche es mir mehr als das Leben«, sagte er.

Und als sie lächelte, wusste er, dass er die richtige Antwort gegeben hatte.

An diesem Abend gesellte sich Malcolm im Plantagenet Pub zu den Mitgliedern des Sutton-Cheney-Schachclubs, dem er auch einmal angehört hatte. Bernie Perryman freute sich wie ein Schneekönig, ihn zu sehen. Er ließ seinen regulären Partner - den siebzigjährigen Angus Ferguson, der wie er das Schachspiel zum Vorwand nahm, um sich voll laufen zu lassen - schnöde im Stich und drängte Malcolm zu einer Partie in die verqualmte Ecke des Gastraums. Betsy hatte natürlich Recht: Bernie ging es mehr ums Trinken als ums Schachspielen, und der Black Bush regte seine Redseligkeit an. Er quasselte ohne Punkt und Komma.

Er redete mit Betsy, die an diesem Abend die Bedienung für ihren Ehemann spielte. Von halb acht bis halb elf rannte sie unaufhörlich zwischen Tisch und Tresen hin und her und brachte Bernie einen Black Bush nach dem anderen, wobei sie jedes Mal in mahnendem Ton sagte: »Du trinkst zu viel«, und: »Das ist aber der Letzte, Bernie.« Aber er schaffte es, ihr immer noch einen abzuschwatzen, tätschelte ihr Gesäß, zwinkerte Malcolm zu und teilte allen, die es hören wollten, laut flüsternd mit, was er mit ihr vorhabe, sobald sie zu Hause seien. Schon glaubte Malcolm, er hätte Betsys verschlüsselte Botschaft am Morgen völlig missverstanden, da handelte sie endlich.

Um halb elf war es so weit, eine Stunde, bevor George, der Wirt, die letzte Runde ansagte. Das Pub war voll, und Malcolm hätte das Manöver vielleicht überhaupt nicht bemerkt, hätte er nicht geahnt, dass an diesem Abend etwas geschehen würde. Während Bernie mit gesenktem Kopf über dem Schachbrett hing und ewig über seinen nächsten Zug nachdachte, ging Betsy zum Tresen, um noch einen »doppelten Blackie« zu holen. Sie musste sich durch ein Gewühl von Dart-Club-Mitgliedern, Sängern des Kirchenchors, Frauen einer Selbsthilfegruppe aus Dadlington und eine Horde Teenager drängen, die am Spielautomaten ihr Glück versuchten. Sie blieb kurz stehen, um sich mit einer Frau zu unterhalten, der offensichtlich die Haare ausgingen und die Betsys Haar mit der künstlichen Begeisterung bewunderte, die Frauen solchen Geschlechtsgenossinnen gegenüber an den Tag zu legen pflegen, die sie auf den Tod nicht leiden können. Und Malcolm sah, wie sie während dieses Gesprächs den Inhalt eines Fläschchens in Bernies Whiskyglas kippte.

Ehrfürchtig staunend beobachtete er, mit welcher Routiniertheit sie das tat. Sie musste das tagelang geübt haben. Sie war so geschickt, dass sie es mit einer Hand mitten im Gespräch tat: Sie ließ das Fläschchen aus dem Ärmel ihres Pullis gleiten, schraubte es auf, kippte es aus und ließ es wieder unter ihrem Pulli verschwinden. Dann beendete sie ihre Unterhaltung und setzte ihren Weg zurück zum Tisch fort. Niemand außer Malcolm ahnte, dass sie ein klein wenig mehr getan hatte, als ihrem Mann an der Bar einen Whisky zu holen. Malcolm betrachtete sie mit neuem Respekt, als sie das Glas vor Bernie auf den Tisch stellte. Er war froh, dass er nicht die geringste Absicht hatte, sich mit dieser eiskalten Mörderin zusammenzutun.

Er wusste, was in dem Glas war: das Resultat von Betsys kurzem Ausflug ins Internet. Sie hatte mindestens zehn Digitoxin-Tabletten zu einem todbringenden Pulver zerstampft. Bernie würde eine Stunde nach der Einnahme ein toter Mann sein.

Brav trank Bernie seinen Whiskey. Er kippte ihn hinunter, wie er jeden doppelten Black Bush hinunter­zuspülen pflegte, und wischte sich hinterher mit dem Handrücken den Mund ab. Malcolm wusste nicht, wie viele Whiskys Bernie an diesem Abend getrunken hatte, aber er meinte, wenn das Gift ihn nicht tötete, dann würde es gewiss der Alkohol tun.

»Bernie«, sagte Betsy nörgelnd, »lass uns nach Hause fahren.«

»Kann noch nicht, Betsy«, erwiderte Bernie. »Erst muss ich die Partie hier mit Malkie fertig spielen. Wir haben seit Jahren keine Session mehr gehabt. Das letzte Mal war ...«

Er grinste Malcolm mit glasigem Blick an. »Ha, ich erinnere mich noch an den Abend oben auf dem Hof. Du nicht, Malkie? Muss um die zehn Jahre her sein? Oder isses länger? Als wir die letzte Partie miteinander gespielt haben.«

Malcolm wollte sich auf dieses Thema nicht einlassen. Er sagte: »Du bist am Zug, Bernie. Oder willst du dich mit einem Unentschieden zufrieden geben?«

»Kommt nicht in Frage.« Bernie schwankte auf seinem Hocker und starrte aufs Brett.

»Bernie ...«, sagte Betsy einschmeichelnd.

Er tätschelte ihre Hand, die auf seiner Schulter lag.

»Fahr du mal schon vor, Bets. Ich finde schon heim. Malkie fährt mich, stimmt's, Malkie?« Er kramte seine Autoschlüssel aus der Hosentasche und drückte sie seiner Frau in die Hand. »Aber schlaf mir nicht ein, Mamilein. Wir haben noch was zu erledigen, wenn ich heimkomme.«

Betsy spielte Widerstreben und Besorgnis, dass Malcolm selbst zu viel getrunken haben könnte, um ihren kostbaren Bernie wohlbehalten nach Hause zu chauffieren, aber Bernie sagte: »Wenn er draußen auf dem Parkplatz nicht auf 'ner geraden Linie laufen kann, geh ich zu Fuß. Ich versprech dir's, Mamilein. Ehrenwort.«

Betsy sah Malcolm mit viel sagendem Blick an. »Dann pass mir gut auf ihn auf.«

Malcolm nickte. Betsy ging. Jetzt hieß es nur noch Warten.


Bernie Perryman schien trotz seines erblichen Herzfehlers die Konstitution eines Maulesels zu haben. Eine Stunde später, als Malcolm ihn in seinen Wagen bugsiert hatte, um ihn nach Hause zu fahren, quasselte er immer noch wie einer, dessen Lebensgeister neu erwacht sind. So wie er redete, konnte er es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen und seiner Frau die Kleider vom Leib zu reißen. Höchstens das Jüngste Gericht konnte Bernie davon abhalten, seiner Mama die tollste Nacht ihres Lebens zu bereiten.

Malcolm, der den größten Umweg zum Hof genommen hatte, der möglich war, ohne Bernies Verdacht zu erregen, begann allmählich zu glauben, dass seine Geliebte ihrem Mann gar keine Überdosis seines Herzmittels verabreicht hatte. Erst als Bernie vor der Einfahrt zum Haus aus dem Wagen stieg, regten sich Malcolms Hoffnungen von neuem.

Bernie sagte: »Mir geht's 'n bisschen mies, Malkie. Puh! Jetzt nichts wie ab in die Falle«, und torkelte in Richtung zum Haus davon. Malcolm beobachtete ihn, bis er kopfüber in die Hecke am Rand der Einfahrt stürzte. Als er sich danach nicht mehr rührte, wusste Malcolm, dass die Tat endlich vollbracht war.

Zufrieden fuhr er ab. Wenn Bernie nicht gleich tot gewesen war, dann würde er auf jeden Fall bis zum Morgen tot sein.

Wunderbar, dachte er. Die Ausführung hatte zwar Ewigkeiten gedauert, aber sein Plan würde aufgehen.

Malcolm hatte ein wenig Angst gehabt, dass Betsy ihren Part in dem nachfolgenden Drama vermasseln würde. Aber in den nächsten Tagen entpuppte sie sich als Schauspielern von beachtlichem Talent. Nachdem sie beim morgendlichen Erwachen das Bett an ihrer Seite leer vorgefunden hatte, tat sie, was jede vernünftige Ehefrau eines Trinkers getan hätte: Sie suchte ihren Mann. Als sie ihn weder im Haus noch in den Stallgebäuden fand, machte sie ein paar Anrufe. Sie fragte im Pub nach; sie fragte in der Kirche nach; sie fragte bei Malcolm nach. Hätte Malcolm nicht mit eigenen Augen gesehen, wie sie ihren Mann vergiftet hatte, er wäre überzeugt gewesen, eine Frau am Telefon zu haben, die außer sich vor Sorge um das Wohlergehen ihres Mannes war. Aber sie war natürlich wirklich besorgt. Sie brauchte einen Leichnam, um zu beweisen, dass Bernie tot war.

»Ich habe ihn an der Einfahrt abgesetzt«, sagte Malcolm, ganz Hilfsbereitschaft und rührende Besorgnis.

»Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er auf dem Weg zum Haus, Bets.«

Daraufhin ging sie hinaus und fand Bernie genau an der Stelle, wo er in der vergangenen Nacht gestürzt war. Und mit der Auffindung seines Leichnams kam alles Notwendige ins Rollen.

Natürlich gab es eine gerichtliche Untersuchung. Sie erwies sich allerdings als reine Formalität. Auf Grund von Bernies bekanntem Herzleiden und seinen »Alkohol­problemen«, wie die Behörden es formulierten, in Verbindung mit der äußerst ungünstigen Witterung der vergangenen Tage, gelangte das Gericht zu einem höchst vernünftigen Urteil: Bernie Perryman habe nach übermäßigem Alkoholkonsum im Plantagenet Pub, wo sechzehn Zeugen beobachtet hatten, dass er in weniger als drei Stunden mindestens elf doppelte Whisky getrunken hatte, in der kältesten Nacht des Jahres auf dem recht langen Weg von der Straße zu seinem Haus das

Bewusstsein verloren und sei an Unterkühlung gestorben.

Es gab keinen Anlass, sein Blut nach Giftstoffen zu untersuchen. Zumal nachdem der Arzt erklärt hatte, es sei in Anbetracht der Krankengeschichte seiner Familie und seiner »Alkoholprobleme« ein Wunder, dass der Mann überhaupt so alt geworden sei.

Bernie war an der Seite seiner Vorfahren auf dem Friedhof von St. James begraben worden, jener Kirche, um deren schmuckes Aussehen bei Gottesdiensten und anderen Anlässen sich die Männer seiner Familie seit Generationen verdient gemacht hatten.

Malcolm beruhigte die wenigen Gewissensbisse, die er wegen Bernies Tod hatte, indem er sie ignorierte. Bernie war herzkrank gewesen. Bernie war ein Gewohnheits­trinker gewesen. Wenn Bernie im Suff in der Einfahrt zu seinem Haus, das keine fünfzig Meter entfernt war, das Bewusstsein verloren hatte und infolgedessen an Unterkühlung gestorben war - tja, wer konnte sich da die Schuld geben?

Zwar war es traurig, dass Bernie Perryman für Malcolms Suche nach der Wahrheit sein Leben hatte lassen müssen, aber er hatte sich sein vorzeitiges Hinscheiden selbst zuzuschreiben.


Malcolm wusste, dass er nach der Beerdigung nur noch Geduld brauchte. Er hatte nicht zwei Jahre fleißig den Boden, sprich Betsy, beackert, um sich dann am Tag der Ernte durch unüberlegtes und überstürztes Handeln um die Früchte seiner Arbeit zu bringen. Außerdem war Betsy ungeduldig genug für sie beide, und ihm war klar, dass sie höchstens Tage - vielleicht sogar nur Stunden - warten würde, ehe sie sich zum langjährigen Rechtsberater der Familie Perryman begab, um sich über die Erbschaft informieren zu lassen, die sie zu erwarten hatte.

Malcolm hatte sich diesen Moment während seines Verhältnisses mit Betsy oft genug vorgestellt. Manchmal hatte ihn während der endlosen Beischlafübungen einzig die Vorstellung von dem Augenblick, wo Betsy die Wahrheit erfuhr, aufrechterhalten.

Howard Smythe-Thomas, in Nuneaton ansässig, würde sie in seine Kanzlei bitten und ihr die grausame Wahrheit zweifellos so schonend wie möglich beibringen. Und anfangs würde Betsy vielleicht glauben, seine Zurück­haltung sei dem traurigen Anlass angepasst.

»Meine liebe Mrs. Perryman«, würde er sagen, und das müsste sie eigentlich warnen, dass eine schlechte Nachricht wartete, aber wie die schlechte Nachricht aussah, würde sie natürlich erst erfahren, wenn er ihr die bitteren Tatsachen eröffnete.

Bernie hatte kein Geld. Der Hof war bis übers Dach verschuldet; Ersparnisse oder Wertpapiere waren keine da. Inventar von Haus und Nebengebäuden gehörten selbstverständlich ihr, aber den völligen Bankrott könne sie nur durch den Verkauf aller Besitztümer und des Hofs abwenden. Und selbst dann noch würde es auf Messers Schneide stehen. Die Bank hatte nur deshalb die Versteigerung noch nicht anberaumt, weil die Familie Perryman seit mehr als zweihundert Jahren bei ihr Kunde war. »Loyalität«, würde Smythe-Thomas salbungsvoll sagen. »Bernard mag seine Schwierigkeiten gehabt haben, Mrs. Perryman, aber die Bank hat seine Familie immer hoch geachtet. Wenn schon Vater und Vorväter treue Kunden ein und desselben Bankunternehmens waren, ist man bereit, einen gewissen Spielraum zu gewähren, den man jemandem, der der Bank weniger gut bekannt ist, wahrscheinlich nicht einräumen würde.«

Mit anderen Worten, da es auf der Windsong Farm keine Perrymans mehr gab - und Smythe-Thomas würde Betsy bestimmt mit gebotener Behutsamkeit erklären, dass die Ehefrau eines trunksüchtigen Perryman nicht zählte -, war damit zu rechnen, dass die Bank Bernies Schulden eintreiben würde. Sie wäre klug, würde Smythe-Thomas vermutlich sagen, sich auf diese Eventualität einzustellen Aber was ist mit dem Erbe?, würde Betsy fragen. »Bernie hat dauernd von einem Erbe palavert.« Und sie wäre fassungslos wegen der Falschheit ihres Mannes.

Smythe-Thomas würde natürlich nichts von einem Erbe wissen. Und in Anbetracht der Geschichte der Perrymans, die nie härter für ihren Lebensunterhalt gearbeitet hatten, als in der Kirche von Sutton Cheney herumzuwerkeln ... Er würde freundlich darauf hinweisen, dass mit solcher Hilfsarbeit wohl keiner ein Vermögen anhäufen könnte.

Betsy würde vielleicht einige Stunden - möglicherweise sogar einige Tage - brauchen, um diese Neuigkeit in ihren dicken Schädel hineinzubekommen. Zuerst würde sie glauben, es müsse ein Irrtum oder Missverständnis vorliegen. Ganz bestimmt war irgendwo wertvoller Schmuck oder Bargeld versteckt, Silber oder Gold oder Eigentumsurkunden für irgendwelche Immobilien oben auf dem Speicher. Sie würde anfangen zu suchen, also genau das tun, was Malcolm beabsichtigt hatte: zuerst suchen und dann in Tränen aufgelöst bei Malcolm aufkreuzen. Woraufhin Malcolm die Sache in die Hand nehmen würde.

Unterdessen arbeitete er frohgemut an seinem großen Werk. Auf erfreuliche Weise häuften sich links von seiner Schreibmaschine die Blätter, während er die Wiederher­stellung des Ansehens von Englands meist geschmähtem König in Angriff nahm.

Viele aufrechte Männer fielen an jenem Morgen des 22. August 1485, unter ihnen auch der Herzog von Norfolk, der die Vorausabteilung von Richards Heer befehligte. Als der Graf von Northumberland sich weigerte, seine Truppen in den Kampf zu schicken, um Norfolks führerlosen Männern beizustehen, begann das Glück der Schlacht sich zu wenden.

Fahnenflucht, Treuebruch und Verrat auf dem Schlachtfeld waren damals an der Tagesordnung. Natürlich war das sowohl dem König als auch Tudor, seinem Feind, bekannt. Damit ist leicht erklärt, warum beide Männer die Stanleys brauchten und ihnen gleichzeitig misstrauten und warum Heinrich Tudor mitten im Schlachtgetümmel zu den Stanleys floh, die es bisher abgelehnt hatten, in den Kampf einzutreten. Heinrich Tudor, dessen Heer dem des Königs an Größe weit unterlegen war, wusste, dass er ohne das Eingreifen der Stanleys zu seinen Gunsten verloren wäre. Und er war sich nicht zu gut, ihre Hilfe zu erbitten. Nur darum unternahm er jenen verzweifelten Ritt über die Ebene zu den Truppen der Stanleys.

König Richard donnerte mit seinen Männern den Ambion Hill hinunter und fing ihn ab. Nur einen Kilometer vom Heerlager der Stanleys entfernt kam es zum Kampf zwischen den beiden kleinen Streitkräften. Schnell fielen Tudors Ritter unter dem Angriff des Königs: William Brandon und das Banner von Cad­wallader stürzten zu Boden; der gewaltige Sir John Cheyney wurde von des Königs eigener Axt getroffen. Es war nur noch eine Frage von Minuten, dass Richard sich zu Heinrich Tudor selbst durchschlagen würde. Als die Stanleys das erkannten, beschlossen sie, die kleine Truppe des Königs anzugreifen.

Im folgenden Kampf wurde der König vom Pferd gestoßen und hätte fliehen können. Aber er erklärte, er würde als »König von England« untergehen, und kämpfte trotz schwerer Verletzungen weiter. Mehr als ein Mann waren nötig, um ihn in die Knie zu zwingen. Und er starb mit der Würde eines königlichen Prinzen.

Das Heer des Königs ergriff die Flucht, verfolgt vom Grafen von Oxford, der zweifellos entschlossen war, so viele Männer des Königs wie möglich zu töten. Sie flohen zum Dorf Stoke Golding, das in der entgegengesetzten Richtung von Sutton Cheney lag.

Das war entscheidend für die Ereignisse, die folgten. Wenn man um sein Leben bangen muss, wenn man mit dem geschlagenen König von England blutsverwandt ist, denkt man unweigerlich an die Rettung des eigenen Lebens. John de la Pole, Graf von Lincoln, Neffe König Richards, befand sich unter den flüchtenden Soldaten. Wäre er nach Sutton Cheney geritten, so wäre er dem Grafen von Northumberland in die Hände gefallen, der sich geweigert hatte, dem König Beistand zu leisten, und sich nur zu gern durch die Auslieferung von Richards Neffen die besondere Gunst Heinrich Tudors gesichert hätte. Also ritt er nach Süden anstatt nach Norden. Und mit dieser Entscheidung verdammte er seinen Onkel zu fünfhundert Jahren Verleumdung durch die Tudors.

Denn die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, dachte Malcolm.

Aber manchmal wird sie auch neu geschrieben.


Und während er Geschichte neu schrieb, musste er immer wieder an Betsy und ihre wachsende Verzweiflung denken. Obwohl seit Bernies Tod mittlerweile zwei Wochen vergangen waren, war sie nicht wieder zur Arbeit gekommen. Der Direktor - der schniefende Samuel, wie Malcolm ihn mit Vorliebe nannte - berichtete, Betsy wäre völlig niedergeschmettert über den plötzlichen Tod ihres Mannes. Sie brauche Zeit, um sich mit ihrem Schmerz auseinander zu setzen und ihn zu verarbeiten, teilte er dem versammelten Lehrkörper bekümmert mit.

Malcolm wusste, dass sie sich in Wirklichkeit mit etwas ganz anderem auseinander setzen musste: Sie musste irgendetwas finden, das sie als »das Erbe« ausgeben konnte, um ihn an sich zu binden, obwohl die erwartete Erbschaft ausgeblieben war. Wie eine Furie durch das alte Bauernhaus tobend, würde sie in dem heftigen Bemühen, irgendetwas von Wert aufzustöbern, wahrscheinlich Bernies Kleiderschrank mit der Lupe durchsuchen, nach Landkarten, die zu verborgenen Schätzen führten, und Eigentumsurkunden über wertvollen Landbesitz. Sie würde sämtliche Bücher ausschütteln, den Inhalt der Truhen, die auf dem Speicher standen, von oben bis unten inspizieren. Sie würden in den Nebengebäuden Jagd machen, vor Kälte blau bis zu den Lippen. Und wenn sie gewissenhaft suchte, würde sie den Schlüssel finden.

Der Schlüssel würde sie zu dem Schließfach bei eben der Bank führen, deren Kunden die Perrymans schon seit zweihundert Jahren waren. Als Witwe Bernard Perrymans, mit seinem Testament und dem Totenschein gerüstet, würde man ihr gestatten, das Fach zu öffnen. Und da würde sie vor dem Ende all ihrer Hoffnungen stehen.

Malcolm fragte sich, was sie denken würde, wenn sie das schmutzige Blatt Papier erblickte, welches das immer wieder beschworene Erbe der Perrymans darstellte. So dicht beschrieben mit eng gesetzten Schriftzügen, dass diese fast nicht zu lesen waren, sah es für das ungeschulte Auge nach nichts aus. Und eben das würde Betsy glauben - dass sienichts zu bieten hätte -, wenn sie sich endlich Malcolm auf Gnade und Ungnade auslieferte.

Aber Bernie Perryman hatte es besser gewusst an jenem lang vergangenen Abend, als er Malcolm das Schreiben gezeigt hatte.

»Hey, schau dir das mal an, Malkie«, hatte Bernie gesagt, »und verrat deinem alten Freund Bernie, was du davon hältst.«

Er war angetrunken wie immer, aber noch bei Verstand. Und Malcolm, der ihn soeben beim Schach vernichtend geschlagen hatte, war großzügiger Stimmung und bereit, sich das weitschweifige Gerede des Kindheitsfreunds anzuhören.

Im ersten Moment glaubte er, Bernie nähme ein Blatt aus einer großen alten Bibel, aber dann erkannte er, dass die vermeintliche Bibel ein altes Lederalbum irgend­welcher Art war, und das Blatt eine Urkunde, ein Brief, wie sich zeigte. Das Schreiben trug keine Anrede, aber es war unterzeichnet, und neben der Unterschrift waren Wachsreste eines Abdrucks von einem Siegelring zu erkennen.

Bernie beobachtete ihn auf diese durchtriebene Art, die Betrunkene an sich haben; er wollte seine Reaktion sehen. Daran merkte Malcolm, dass Bernie genau wusste, was er in seinem Besitz hatte. Und das machte ihn neugierig, aber auch vorsichtig.

Die Vorsicht gebot ihm, nach einem Blick auf das Schreiben zu sagen: »Ich weiß nicht, Bernie. Ich werde nicht recht klug daraus.« Während die Neugier ihn hinzuzufügen trieb: »Woher kommt das?«

Bernie zierte sich. »Der alte Boden, der hat denen doch immer Ärger gemacht, weißt du noch, Malkie? Einge­sunken war er, die Steine zu grob, einfach keine ordentliche Arbeit. Aber was kann man anderes erwarten, wenn so ein Gebäude eine kleine Ewigkeit auf dem Buckel hat?«

Malcolm klopfte diese scheinbar unsinnige Bemerkung auf eine Bedeutung ab. Die alten Gebäude in der Gegend waren die Schule, das Plantagenet Pub, das Rathaus von Market Bosworth, die Fachwerkhäuser in der Rectory Lane, die St.-James-Kirche in ...

Sein Blick wurde scharf, als er zuerst Bernie ansah und dann das Schreiben. Die St.-James-Kirche in Sutton Cheney, dachte er und schaute sich das Dokument genauer an.

Es gelang ihm, die erste Zeile des eng geschriebenen Texts zu entziffern - »Ich, Richard, Herrscher von Gottes Gnaden über Engelland, Frankreich und Herr über Irland ...« An dieser Stelle flog sein Blick zu der eilig hingeworfenen Unterschrift, die er ebenfalls entziffern konnte. »Richard R.«

Heiliger Herr Jesus, dachte er, was war Bernie, dem Säufer, da in die Hände gefallen?

Er wusste, dass es jetzt wichtig war, ruhig zu bleiben. Nur ein Anzeichen von Interesse, und Bernie würde sich ein Vergnügen daraus machen, mit ihm Katz und Maus zu spielen. Darum sagte er: »Bei dieser Beleuchtung kann ich kaum was erkennen, Bernie. Hast du was dagegen, wenn ich mir das Ding zu Hause mal näher ansehe?«

Aber da biss er bei Bernie auf Granit. »Kann ich nicht aus der Hand geben, das Ding, Malkie«, sagte er. »Das ist ein Familienerbstück. Es ist schon seit Ewigkeiten in unserem Besitz, und jeder von uns hat geschworen, es sicher aufzubewahren.«

»Wie seid ihr ... ?« Aber Malcolm wusste, dass es keinen Sinn hatte, Bernie zu fragen, wie die Familie in den Besitz eines Schreibens von der Hand Richard III. gekommen war. Bernie würde ihm diese Frage nur beantworten, wenn er es für nötig hielt, Malcolm einzuweihen. Er sagte deshalb: »Schauen wir es uns doch mal in der Küche an. Ist dir das recht?«

Das war Bernie Perryman sehr recht. Er wollte seinem alten Kumpel schließlich genau zeigen, was das für eine Urkunde war. Sie gingen also in die Küche und setzten sich an den Tisch, und Malcolm beugte sich über das Schreiben.

Die Handschrift war nahezu unleserlich, nicht klar und gestochen scharf wie die eines amtlichen Schreibers, der die Korrespondenz seines Königs zu erledigen pflegte. Nein, dies war die Schrift eines Menschen in großer Erregung. Beinahe seit zwanzig Jahren sammelte Malcolm jedes Fetzchen Wissen über Richard Plantagenet, Herzog von Gloucester, später Richard III., genannt der Usurpator, Englands Schwarze Legende, die bucklige Kröte, und praktisch mit jedem anderen denkbaren Schimpfnamen bedacht. Er wusste daher, wie leicht möglich es tatsächlich war, dass er hier, in diesem alten Bauernhaus, keine zweihundert Meter vom Bosworth Field und anderthalb Kilometer von der St.-James-Kirche entfernt, das echte Schreiben vor sich hatte. Richard hatte die letzte Nacht seines Lebens in dieser Gegend verbracht. Er hatte hier eine Schlacht geschlagen. Er war hier gestorben. Sollte es also nicht vorstellbar sein, dass Richard irgendwo in der Nähe auch einen Brief geschrieben hatte, in einem Gebäude, wo er sich versteckt gehalten hatte, bis .

Malcolm rief sich alles ins Gedächtnis, was er von der Geschichte dieser Gegend wusste. Und er stieß auf die Tatsache, die er brauchte. »Der Boden von St. James«, sagte er. »Er wurde vor zweihundert Jahren angehoben, nicht wahr?« Und einer der zahllosen Perryman- Taugenichtse war dabei gewesen, hatte wahrscheinlich bei der Arbeit geholfen und dieses Schreiben gefunden.

Bernie beobachtete ihn immer noch, und um seine Mundwinkel spielte ein arglistiges kleines Lächeln. »Was steht 'n drin, Malkie?«, fragte er. »Meinst du, mit dem Ding ließe sich was verdienen?«

Malcolm hätte ihm am liebsten den Kragen umgedreht, aber er fuhr ruhig fort, das kostbare Dokument zu studieren. Das Schreiben war nicht lang, nur ein paar Zeilen, die, wie er erkannte, den Lauf der Geschichte hätten ändern können und die, sobald sie dank dem Aufsatz, den er zu schreiben beschlossen hatte, publik würden, endlich das Ansehen des Königs wiederherstellen würden, der fünfhundert Jahre lang verleumderischen Anschuldigungen von Mord und Totschlag ausgesetzt worden war, für deren Richtigkeit es nie den Schatten eines Beweises gegeben hatte.

Ich, Richard, königlicher Herrscher von Gottes Gnaden über Engelland und Frankreich und Herr über Irland, beauftrage am heutigen Tage, dem 21. August 1485, die guten Mönche von Jervaulx, den Überbringer dieses Schreibens, Edward, genannt Lord Bastard, und seinen Bruder Richard, genannt Herzog von York, in Obhut zu nehmen. Der Besitz dieses Schreibens soll ausreichen, seinen Überbringer als John de la Pole, Graf von Lincoln, geliebter Neffe des Königs, auszuweisen. Niedergeschrieben in großer Eile in Sutton Cheney. Richard R.

Zwei Sätze nur, aber genug, den guten Ruf eines Mannes wiederherzustellen. Als der König an jenem 22. August 1485 in der Schlacht gefallen war, waren seine zwei jungen Neffen am Leben gewesen.

Malcolm sah Bernie unverwandt an. »Du weißt, was das ist, nicht wahr, Bernie?«, fragte er seinen alten Freund.

»Was? Ein Dummkopf wie ich«, erwiderte Bernie, »der nicht mal die Abschlussprüfung in der Schule geschafft hat? Woher sollte ich wohl wissen, was dieses Stück Scheißpapier ist? Aber was meinst du? Lässt sich damit Geld machen?«

»Du kannst dieses Dokument nicht verkaufen.« Malcolm sprach ohne Überlegung und viel zu hastig. Und damit verriet er sich.

Bernie packte das Schreiben und drückte es mit grober Hand an seine Brust. Es tat Malcolm weh, dies zu sehen. Wer konnte wissen, was für Schaden der Narr anrichten würde, wenn er betrunken war?

»Geh vorsichtig damit um«, sagte Malcolm. »Es ist sehr empfindlich.«

»Wie Freundschaft, richtig?« Bernie torkelte aus der Küche hinaus.

Kurz danach musste Bernie das Dokument an einem anderen Ort versteckt haben, denn Malcolm hatte es nie wieder gesehen. Aber das Wissen von seiner Existenz gärte in seinem Inneren. Und erst als Betsy auf der Bildfläche erschienen war, hatte er endlich eine Möglich­keit gesehen, dieses kostbare Stück Papier in seinen Besitz zu bringen.

Nun würde es bald so weit sein. Wenn Betsy all ihren Mut zusammennahm und ihn anrief, um ihm das Schreckliche mitzuteilen - dass das Erbe nichts weiter war als ein altes Stück Papier, das höchstens dazu taugte, einen Vogelkäfig auszulegen.


Während Malcolm auf ihren Anruf wartete, legte er letzte Hand an sein Werk,Die Wahrheit über Richard und die Schlacht auf dem Bosworth Field, an dem er zehn Jahre lang geschrieben hatte und zu dessen Vollendung nur ein einziges, bisher unbekanntes, historisches Dokument fehlte, das als Zeugnis der Richtigkeit seiner Theorie darüber dienen konnte, was den beiden jungen Prinzen geschehen war. Die Stunden, die er an der Schreibmaschine saß, flogen dahin wie Blätter, die der Wind von den Bäumen des Ambion Forest riss, wo einst ein Sumpf Richards Südflanke vor einem Angriff von Heinrich Tudors Söldnerheer geschützt hatte.

Das Schreiben bestätigte Malcolms Vermutung, dass Richard jemanden über den Aufenthaltsort der Knaben unterrichtet hatte. Im Fall eines Sieges Heinrich Tudors, das wusste Richard, würden die Prinzen in tödliche Gefahr geraten; darum hatte er am Vorabend der Schlacht schließlich einem anderen sein bestgehütetes Geheimnis anvertrauen müssen: Den Ort, an dem die beiden Knaben sich befanden. So konnten sie, wenn Tudor siegen sollte, aus dem Kloster geholt und außer Landes gebracht werden, um sie vor Schaden zu bewahren.

John de la Pole, der Graf von Lincoln und geliebte Neffe Richards III., kam für die Aufgabe am ehesten in Frage. Er hatte vermutlich Anweisung erhalten, wenn der König fiele, unverzüglich nach Yorkshire zu reiten, um das Leben der beiden Knaben zu retten, die für legitim erklärt wurden - und daher für den Usurpator die größte Bedrohung bedeuteten -, sobald Heinrich Tudor ihre Schwester heiratete.

John de la Pole war sich zweifellos der großen Gefahr, die den Knaben drohte, bewusst gewesen. Aber obwohl sein Onkel ihm gewiss gesagt hatte, wo die Prinzen versteckt waren, hätte man ihm ohne persönliche Anweisung des Königs an die Mönche niemals den Zugang zu ihnen gestattet und sie ihm erst recht nicht ausgeliefert.

Das Schreiben hätte ihm den gewünschten Zugang verschafft. Aber er hatte nach Süden fliehen müssen, weil der Norden nicht sicher gewesen war, und darum hatte er das Schreiben nie unter den Steinen von St. James hervorholen können, wo sein Onkel es am Vorabend der Schlacht versteckt hatte.

Dennoch verschwanden die Knaben, und es wurde nie wieder von ihnen gehört. Wer hatte sie entführt?

Auf diese Frage konnte es nur eine Antwort geben: Elisabeth von York, Schwester der Prinzen, aber auch Verlobte des neuen Königs, der sich hier auf dem Schlachtfeld hatte krönen lassen.

Als Elisabeth gehört hatte, dass ihr Onkel gefallen war, hatte sie ganz klar erkannt, welche Möglichkeiten ihr sein Tod eröffnete: Königin von England, sollte Heinrich Tudor den Thron behalten, oder bloß Schwester eines sehr jungen Königs, sollte ihr Bruder Eduard Anspruch auf den Thron erheben, sobald Heinrich sie für legitim erklären ließ oder das Gesetz aufhob, mit dem sie für illegitim erklärt worden war. Sie konnte also die Stammmutter eines königlichen Hauses werden oder nur eine Marionette, die aus machtpolitischen Gründen mit jedem Mann verheiratet werden konnte, der ihrem Bruder als Verbündeter wünschenswert erschien.

Sheriff Hutton, ihr vorübergehender Aufenthaltsort, war von keiner der Abteien weit entfernt. Als Lieblingsnichte ihres Onkels wohlvertraut mit seiner Neigung zum Religiösen, hatte sie, wenn Richard es ihr nicht selbst gesagt hatte, vermutlich erraten, wo er ihre Brüder versteckt hielt. Und die Knaben wären ihr bereitwillig gefolgt, schließlich war sie ihre Schwester.

»Ich bin Elisabeth von York«, hätte sie dem Abt in dem gebieterischen Ton erklären können, den sie so häufig bei ihrer schlauen Mutter gehört hatte. »Ich möchte meine Brüder gesund und wohlauf sehen. Auf der Stelle.«

Wie leicht musste dies alles zu bewerkstelligen gewesen sein. Die beiden jungen Prinzen, die ihre Schwester nach Gott weiß wie langer Zeit zum ersten Mal wieder sahen, waren ihr entgegengelaufen, hatten sie umarmt, sich voll Eifer dem Abt zugewandt, als sie ihnen mitteilte, dass sie gekommen sei, um sie endlich zu holen ... Und wie hätte der Abt sich anmaßen können, einer königlichen Prinzessin - die ja offensichtlich von den Knaben erkannt worden war - ihre Brüder vorzuenthalten? Zumal in der gegebenen Situation, da Richard tot war und ein Mann den Thron bestiegen hatte, der seine Blutrünstigkeit bereits gezeigt hatte, indem er als eine seiner ersten Amtshandlungen als König alle diejenigen, die in der Schlacht von Bosworth auf Richards Seite gekämpft hatten, zu Verrätern erklären ließ! Tudor würde den Mönchen gegenüber keine Nachsicht zeigen, wenn bekannt würde, dass sie die Knaben versteckt gehalten hatten. Gott allein wusste, wie er sich rächen würde, sollte er sie finden.

Dem Abt schien es also nur vernünftig, Eduard, den Lord Bastard, und seinen Bruder Richard, Herzog von York, ihrer Schwester zu übergeben. Und Elisabeth wiederum übergab sie jemand anderem. Einem der Stanleys? Dem falschen Herzog von Northumberland, der Heinrich Tudor fortan im Norden diente? Sir James Tyrell, einem ehemaligen Gefolgsmann Richards, der zweimal in den Genuss einer allgemeinen Amnestie kam, die Tudor kein Jahr nach seiner Thronbesteigung erließ?

Ganz gleich, wer es war - sobald sich die Prinzen in der Gewalt des Betreffenden befanden, war ihr Schicksal besiegelt. Und danach hätte keiner, dem sein Leben lieb war, es gewagt, Anklage gegen die Gemahlin eines regierenden Königs zu erheben, der bereits Neigung gezeigt hatte, Untertanen zum Tode verurteilen und ihrer Ehrenrechte berauben zu lassen, um dann ihren Besitz zu konfiszieren.

Ein brillanter Plan von Elisabeth, fand Malcolm. Sie war eben doch die Tochter ihrer Mutter, und sie wusste, wie wichtig es war, die eigenen Interessen an die erste Stelle zu setzen. Außerdem hatte sie sich vermutlich gesagt, dass es die Kämpfe um den Thron, die bereits dreißig Jahre andauerten, nur verlängern würde, wenn man die Knaben am Leben ließ. Sie konnte dem Blutvergießen ein Ende bereiten, indem sie noch ein wenig mehr Blut vergoss. Welche Frau in ihrer Position hätte anders gehandelt?

Dass Betsy mehr als drei Monate brauchte, um den Mut zu finden, Malcolm die enttäuschende Nachricht beizubringen, bereitete ihm nun doch ab und zu eine gewisse Sorge. Nach dem Zeitplan, den er schon vor langer Zeit im Kopf aufgestellt hatte, wäre sie spätestens vierundzwanzig Stunden nach der grausamen Entdeckung, dass ihr Erbe nur ein voll geschmiertes altes Blatt Papier war, in Tränen aufgelöst zu ihm gekommen. Sie hätte sich ihm weinend in die Arme geworfen und auf Rettung gewartet. Um die schreckliche Situation, in der sie sich befand, zu illustrieren, hätte sie das Schreiben mitgebracht. So, hätte sie gesagt, hatte Bernie Perryman seine liebende Gattin hinters Licht geführt. Und er - Malcolm - hätte ihr das Papier aus der zitternden Hand genommen, hätte einen Blick darauf geworfen, hätte es zu Boden flattern lassen und, in ihre Klagen einstimmend, mit ihr gemeinsam den Tod ihrer schönsten Träume betrauert. Denn sie war finanziell am Ende, und er konnte ihr mit seinem kläglichen Gehalt von der Schule nicht das Leben bieten, das sie verdiente. Nach einer beherzten und unvergesslichen Runde im Bett wäre sie dann gegangen, und das Papier wäre auf seinem Teppich liegen geblieben. Das Schreiben hätte ihm gehört. Und wenn sein Werk dann veröffentlicht worden wäre und Vorträge, Fernseh­interviews, Talk-Show-Termine und Lesungen sich in seinem Terminkalender gedrängt hätten, wäre für eine biedere kleine Hausfrau, die zu blöd gewesen war, um zu erkennen, was sie in Händen gehabt hatte, keine Zeit mehr gewesen.

So sah der Plan aus. Und Malcolm verspürte - wie gesagt - ab und an ein Fünkchen Sorge, als er nicht mit der erwarteten Geschwindigkeit aufging. Doch er sagte sich, Betsys Widerstreben, ihm die Wahrheit zu enthüllen, sei Teil des großen Plans Gottes. So hatte er Zeit, sein Manuskript fertig zu stellen. Und er nutzte die Zeit gut.

Da er und Betsy sich einig gewesen waren, dass nach Bernies Tod Diskretion angebracht wäre, sahen sie einander nur in den Schulkorridoren, nachdem sie ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte. In dieser Zeit rief Malcolm sie jeden Abend zu einer kleinen Telefonsex­Sitzung an, nachdem er gemerkt hatte, dass er sie so bei der Stange halten konnte, und korrigierte währenddessen die Anfangskapitel seines Werks.

Endlich dann, drei Monate und vier Tage nach Bernies unglücklichem Hinscheiden, flüsterte Betsy ihm im Korridor vor dem Direktorat etwas zu. Ob er am Abend zu ihr zum Essen kommen könne? Sie wirkte nicht so bedrückt, wie Malcolm es in Anbetracht ihrer Mittel­losigkeit und enttäuschten Träume gern gesehen hätte, aber er dachte sich nichts weiter dabei. Betsy hatte sich ja bereits als erstaunlich begabte Schauspielerin erwiesen. Ganz klar, dass sie in der Schule nicht zeigen wollte, wie ihr zumute war.

Bevor Malcolm an diesem Nachmittag nach Hause fuhr, überreichte er in der herrlichen Gewissheit, dass sein Traum endlich wahr werden würde, dem Direktor seine Kündigung. Samuel Montgomery nahm sie mit einer etwas irritierenden Bereitwilligkeit an, was Malcolm nicht sonderlich gefiel. Obwohl der Direktor seine freudige Überraschung hinter heuchlerischem Bedauern darüber verbarg, dass der Schule ein Mann verloren ginge, der »zu einer wahren Institution« geworden sei, merkte Malcolm genau, wie froh er war, einen Lehrer los zu werden, den er für einen pädagogischen Dinosaurier hielt. So war die Kündigung für ihn mit mehr Genugtuung verbunden, als er für möglich gehalten hätte, da er wusste, wie groß sein eigener Triumph sein würde, wenn er sich erst in der Welt der englischen Geschichte einen Namen gemacht hatte.

Malcolm hätte nicht vergnügter sein können, als er an diesem Abend zur Windsong Farm hinausfuhr. Der lange Winter seines Missvergnügens war in einen herrlichen Frühling übergegangen, und in wenigen Minuten würde er nicht nur ein fünfhundert Jahre altes Unrecht endlich wieder gutmachen, sondern sich zugleich einen Platz im Pantheon der großen Historiker erobern. Gott ist gut, dachte er, als er in die lange Einfahrt des Hofs einbog. Schade, dass Bernie Perryman hatte sterben müssen, aber da sein Tod der Richtigstellung eines schweren histo­rischen Irrtums gedient hatte, konnte man in diesem Fall wohl sagen, dass der Zweck die Mittel geheiligt hatte.

Als er aus dem Wagen stieg, riss Betsy die Haustür auf. Malcolm kniff die Augen zusammen, verwundert über ihre Kostümierung. Er brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass sie einen beinahe bodenlangen Pelz­mantel trug. Silbernerz, allem Anschein nach, oder möglicherweise Hermelin. Nicht gerade die klügste Garderobenwahl in Zeiten militanter Tierschützer, aber Betsy hatte noch nie weit über ihre eigenen Wünsche hinausgedacht.

Ehe Malcolm Gelegenheit hatte, sich zu fragen, wie Betsy den Kauf eines Pelzmantels hatte finanzieren können, schlug sie mit großer Geste den Mantel auseinander und stand splitterfasernackt in der offenen Tür.

»Darling!«, jubelte sie. »Wir sind reich, reich, reich. Und du errätst nie, was ich dafür verkauft habe.«

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