Zweimal jedes Jahr schaffte es eines der Viertel im hübschen alten Städtchen East Wingate in den Stand der Vollkommenheit erhoben zu werden. Immer wenn es soweit war - oder vielleicht zum Zeichen dafür,dass es wieder einmal soweit war -, feierte derWingate Courier das Ereignis mit mehreren Spalten angemessen lobender Kommentare, die sich samt Fotos mitten in seinen Kleinstadtseiten breit machten. Bürger des Städtchens, die nach höherem gesellschaftlichem Ansehen, besserer Lebensqualität oder einem besser sortierten Freundeskreis strebten, pflegten begierig in das gekrönte Viertel zu strömen, weil sie hofften, dort ein Grundstück zu ergattern.
Die Napler Lane war so eine Gegend, die jederzeit und unter den richtigen Umständen zumIdealen Wohngebiet gekürt werden konnte. Sie besaß eine Menge Potential, wenn sie auch noch nicht alle Ansprüche erfüllte. Ihre Atmosphäre verdankte die Straße riesigen Grundstücken, Häusern, die mehr als ein Jahrhundert alt waren, noch älteren Bäumen - Eichen, Ahornbäume und Platanen -, Bürgersteigen, die von Sprüngen durchzogen ein eigenes Gesicht gewonnen hatten, altmodischen Lattenzäunen und rot gepflasterten Wegen, die sich durch Vorgärten zu idyllischen Veranden schlängelten, wo sich an schönen Sommerabenden die Nachbarn versammelten. Auch wenn noch nicht jedes Haus von einem jungen Paar mit überschüssiger Energie und nostalgischen Neigungen renoviert worden war, barg doch das gewundene Auf und Ab der Napler Lane die Verheißung, dass die Häuser früher oder später alle in alter Schönheit wiederhergestellt werden würden.
Wenn, was selten genug vorkam, wirklich einmal ein Haus in der Napler Lane zum Verkauf stand, wartete die gesamte Nachbarschaft mit angehaltenem Atem darauf, wer es kaufen würde. Hatte der Käufer Geld, würde es vielleicht in den Rang der schmucken, frisch gestrichenen Vorbilder aufsteigen, die Haus um Haus das Prestige der Napler Lane erhöhten. Und saß beim Käufer das Geld locker, so konnte man damit rechnen, dass die Renovierung des betreffenden Anwesens sogar mit einigem Nachdruck erfolgen würde. Es war immer wieder vorgekommen, dass Leute, die mit dem festen Vorsatz, zu restaurieren und zu renovieren, ein Haus in der Napler Lane erworben hatten, sehr schnell das Handtuch geworfen hatten, wenn sie feststellten, wie langwierig und kostspielig dieses Unterfangen war. Mehr als einmal hatte jemand die aufwändige Aufgabe, die gemeinhin als »Restaurierung eines historischen Gebäudes« bezeichnet wird, beherzt in Angriff genommen, sich aber spätestens nach sechs Monaten geschlagen gegeben und am Gartentor das Verkaufsschild der Kapitulation aufgerichtet, ohne sich dem gesetzten Ziel auch nur angenähert zu haben.
So war es dem Haus Nummer 1420 ergangen. Die letzten Bewohner hatten es zwar außen streichen und den Garten vorn und hinten von Unkraut und Abfällen säubern lassen, die sich auf einem Grundstück leicht ansammeln, wenn die Eigentümer nicht mit Argusaugen darüber wachen, aber mehr war nicht geschehen. Nun stand das alte Haus da wie Miss Havisham fünfzig Jahre nach der Hochzeit, die nie stattgefunden hatte: von außen stattlich anzusehen, doch innen ein Wrack, das in einer dürren Landschaft enttäuschter Träume verkümmerte. Jeder, der in Blickweite von 1420 wohnte, hoffte inbrünstig, es werde endlich jemand das Haus erwerben und auf Vordermann bringen.
Außer Willow McKenna. Willow, die gleich nebenan wohnte, wünschte sich nur nette Nachbarn. Sie war vierunddreißig Jahre alt, hatte zwei Kinder und versuchte gerade, ein drittes Mal schwanger zu werden, um ihrem Traum von einer Familie mit sieben Kindern einen Schritt näher zu kommen. Sie erhoffte sich nichts weiter als Nachbarn, denen das Gleiche wichtig war wie ihr: eine Familie, in der die Partner einander achteten und einer Schar einigermaßen wohlerzogener Kinder liebevolle Eltern waren. Rasse, Hautfarbe, Glaube, Herkunft, Parteizugehörigkeit, Lieblingsauto, bevorzugter Einrichtungsstil - das alles war unwichtig. Sie wünschte sich nichts weiter, als dass die Leute, die das Nachbarhaus einmal kauften, eine positive Ergänzung zu ihrem, wie sie es sah, geglückten Leben bilden würden. Dieses Leben wurde verkörpert durch eine heile Familie, in der der Vater einer ordentlichen Arbeit gehobener Art nachging, während die Mutter zu Hause blieb, um sich um die Kinder zu kümmern, und die Kinder selbst fantasievoll aber gehorsam waren, respektvoll den Erwachsenen gegenüber, glücklich und nicht mit ansteckenden Krankheiten behaftet. Die Zahl der Kinder spielte keine Rolle.
Je mehr, desto besser, fand Willow.
Bei ihr, die ohne Familie aufgewachsen war und sich immer an die vergebliche Hoffnung geklammert hatte, dass dieses oder jenes Pflegeelternpaar sie adoptieren würde, hatte schon früh die Gründung einer eigenen Familie an erster Stelle ihrer Lebensziele gestanden. Nach ihrer Heirat mit Scott McKenna, den sie seit ihrem zweiten High-School-Jahr kannte, hatte sie sich unverzüglich daran gemacht, für sich das Glück zu schmieden, welches das Schicksal und eine Mutter, die sie in einem Lebensmittelgeschäft ausgesetzt hatte, ihr bis dahin verwehrt hatten. Zuerst kam Jasmine. Zwei Jahre später folgte Max. Wenn alles nach Plan ging, würde als Nächstes Cooper oder Blythe eintreffen. Ihr Leben, das ihr seit Max' Eintritt in den Kindergarten dunkel, kalt und leer erschien, würde sich von neuem mit heiterer Geschäftigkeit füllen, und die beklemmenden Ängste, die sie seit drei Monaten quälten, würden sich endlich legen.
»Du könntest arbeiten gehen, Will«, hatte Scott, ihr Mann, vorgeschlagen. »Teilzeit, meine ich. Natürlich nur, wenn du das möchtest. Finanziell ist es nicht notwendig. Außerdem willst du natürlich hier sein, wenn die Kinder vom Kindergarten und von der Schule nach Hause kommen.«
Aber ein Job war nicht das, was Willow wollte. Sie wünschte, die Leere auf eine Weise zu füllen, wie das nur mit der Geburt eines weiteren Kindes möglich war.
Ihr Interesse galt Kindern und Familie und nicht der Frage, ob dieses oder jenes Viertel zum idealen Wohngebiet ausgerufen würde. Als bekannt wurde, dass Nummer 1420 verkauft war, fragte sie sich daher nicht, ob die neuen Nachbarn auf ihrem Grundstück die dringend notwendigen Ausbesserungsarbeiten vornehmen würden - ein neuer Zaun um den Vorgarten wäre schon mal ein guter Anfang, fanden die Gilberts, die auf der anderen Seite von 1420 wohnten -, sondern vielmehr, wie groß die Familie war und ob man mit der Mutter wohl Kochrezepte austauschen könnte.
Was kam, war für alle eine Enttäuschung. Nicht nur blieb auf dem Anwesen Napler Lane zunächst alles so, wie es war, es zeigte sich weit und breit keine Familie, die mit Sack und Pack in das alte viktorianische Haus einzog. Sack und Pack wurden zwar abgeladen, aber die Mama, der Daddy, die fröhlich krähende Kinderschar, die eigentlich hätte mitkommen müssen - sie ließen sich nicht blicken. An ihrer Stelle erschien eine allein stehende Frau, eine allein stehende und - das musste man schon sagen - recht merkwürdige Frau.
Sie hieß Anfisa Telyegin und war der Typ von Frau, um die herum auf der Stelle Gerüchte in die Höhe schießen.
Zunächst einmal war da ihre ganze Erscheinung, die sich ziemlich genau mit dem Wortgrau beschreiben ließ. Grau das Haar, grau der Teint, grau die Zähne, Augen und Lippen, grau auch die Persönlichkeit. Sie war wie Kaminrauch im Dunklen - präsent, aber unbestimmbarer Herkunft. »Gruselig«, nannten sie die Kinder in der Napler Lane. Und es bedurfte keiner großartigen Fantasie, um von »gruselig« auf »Hexe« zu kommen.
Ihr Verhalten trug auch nicht dazu bei, den Eindruck zu verbessern. Wie sie die Grüße der Nachbarn erwiderte, das war kaum noch höflich zu nennen. Nie machte sie ihre Tür auf, wenn die Kinder klingelten, um selbst gebackene Plätzchen, Süßigkeiten, Zeitschriften oder Geschenkpapier zur Aufbesserung der Pfadfinderkasse zu verkaufen. Sie hatte kein Interesse daran, am Kaffeeklatsch teilzunehmen, der jeden Donnerstagmorgen im Haus einer der Mütter stattfand, die tagsüber zu Hause blieben. Und - das war ihr schwerstes Vergehen - sie zeigte keinerlei Neigung, sich auch nur an einer der Aktivitäten zu beteiligen, die nach Überzeugung der gesamten Nachbarschaft dazu beitragen würden, die Napler Lane auf den ersten Platz der kurzen Liste jener Viertel zu befördern, die als ideale Wohngebiete zur Wahl vorgeschlagen waren. Einladungen zu Förderveranstaltungen wurden ignoriert. Die Grillparty am 4. Juli hätte ebenso gut nicht stattfinden können. Bei den Weihnachtsfeiern glänzte Anfisa Telyegin durch Abwesenheit. Und dass sie etwa einen Teil ihres Gartens für das alljährliche Ostereiersuchen zur Verfügung stellen könnte - schon der Gedanke war absurd.
Noch sechs Monate nach Anfisa Telyegins Einzug in der Napler Lane 1420 wusste man über sie lediglich das, was man hörte und sah. Man hörte, dass sie am örtlichen Community College Unterricht in russischer Sprache und Literatur gab. Man sah, dass sie von Arthritis verkrüppelte Hände hatte, einen unschönen Altweiberbuckel, für den sie zu bedauern war, kein modisches Interesse, eine Neigung zu Selbstgesprächen und eine starke Leidenschaft für ihren Garten.
So wenigstens wirkte es zu Anfang. Denn kaum hatte Anfisa Telyegin das Verkaufsschild von dem ausgetrockneten Stück Erde entfernt, das ihr Vorgarten war, da kniete sie schon, vor sich hin brummelnd, draußen im Dreck und pflanzte englischen Efeu an, den sie in den folgenden Tagen düngte, goss und zu einem Wachstum hochpäppelte, das in der Geschichte der Napler Lane einzigartig war.
Die Leute hatten den Eindruck, Anfisa Telyegins Efeu wüchse über Nacht, in so rasantem Tempo überzog er den Boden und sandte seine Ranken in alle Richtungen aus. Innerhalb eines Monats gedieh das glänzende Laub so prächtig wie ein aus dem Tierheim erretteter Straßenköter. Nach weiteren fünf Monaten war der ganze Vorgarten buchstäblich ein grünes Meer.
Nun, dachten die Leute in der Nachbarschaft, würde sie den Zaun in Angriff nehmen, der vor Altersschwäche kaum noch aufrecht stand. Oder vielleicht die Kamine, sechs an der Zahl und alle von Vögeln besiedelt und mit deren Mist verkrustet. Oder auch die Fenster, wo seit fünfzig Jahren dieselben windschiefen Sonnenjalousien vor den Scheiben hingen, ohne je geputzt worden zu sein. Aber nein, sie begab sich in den Garten hinter dem Haus, bepflanzte auch ihn mit Efeu, zog zwischen ihrem Grundstück und den Anwesen der Nachbarn eine Hecke und baute einen sehr geräumigen Hühnerstall, in dem sie täglich zu den gleichen Tageszeiten - morgens und abends - mit einem Korb am Arm aus und ein ging. Auf dem Hinweg war der Korb stets mit Körnern gefüllt, auf dem Rückweg war er leer - so schien es jedenfalls allen, die die Frau zu sehen bekamen.
»Was fängt die Alte mit den ganzen Eiern an?«, fragte Johnny Hart, der im Haus gegenüber wohnte und zu viel Bier trank.
»Ich hab keine Eier gesehen«, erwiderte Leslie Gilbert. Aber dass sie nichts gesehen hatte, war ganz normal, denn sie bewegte sich tagsüber, wenn die Talkshows im Fernsehen ihre Aufmerksamkeit beanspruchten, kaum je vom Sofa zum Fenster. Und dass sie Anfisa Telyegin abends sah, konnte man nicht erwarten. Da war es dunkel, und die Sicht war von den Bäumen versperrt, die die Frau jenseits der Hecke an der Grundstücksgrenze gepflanzt hatte und die, wie der Efeu, mit unheimlicher Geschwindigkeit in die Höhe zu schießen schienen.
Die Kinder in der Napler Lane reagierten nach Kinderart auf die merkwürdigen Gewohnheiten der allein lebenden Frau. Die kleineren gingen auf die andere Straßenseite hinüber, wenn sie an Nummer 1420 vorbei mussten. Die größeren stachelten sich mit »Feigling, Feigling« gegenseitig dazu an, in den Garten einzudringen und mit flacher Hand gegen die verzogene Fliegengittertür zu klatschen, der seit dem vergangenen Halloween das Fliegengitter fehlte.
Die Ereignisse wären vielleicht aus dem Ruder gelaufen, hätte nicht Anfisa Telyegin selbst den Stier bei den Hörnern gepackt: Sie ging zum Chili-Essen, das die Leute aus der Napler Lane am Veteran's Day veranstalteten. Sie brachte zwar kein Chili mit, aber sie kam auch nicht mit leeren Händen. Und wenn Jasmine McKenna ein langes graues Haar aus dem Wackelpudding mit Limetten- geschmack und Bananenstückchen zog, den Anfisa zu dem Ereignis beitrug, so durfte man sich daran nicht stoßen. Was zählte, war schließlich der gute Wille - wenigstens in den Augen ihrer Mutter, wenn auch nicht in denen der anderen -, und dieser gut gemeinte Wackelpudding veranlasste Willow, die seltsame alte Frau von diesem Tag an mit wohlwollendem Blick zu betrachten.
»Ich bring ihr ein paar von meinen Schokonussschnitten rüber«, sagte sie eines Morgens, nicht lange nach dem Chili-Essen (bei dem übrigens zum dritten vermaledeiten Mal Ava Downey zur besten Köchin erklärt worden war), zu ihrem Mann Scott. »Ich glaube, sie weiß ganz einfach nicht, was sie von uns allen hier halten soll. Sie ist schließlich Ausländerin.« Die Nachbarn hatten es bei dem Chili-Essen von Anfisa selbst erfahren: Sie war in Russland geboren, als es noch Teil der UdSSR gewesen war; hatte ihre Kindheit in Moskau verbracht und später irgendwo hoch im Norden gelebt, bis die Sowjetunion in die Brüche gegangen war und Anfisa sich nach Amerika durchgeschlagen hatte.
Scott McKenna sagte: »Hm«, ohne wirklich zu hören, was seine Frau ihm erzählte. Er war gerade erst von der zweiten Nachtschicht bei TriOptics Incorporated zurück, wo er als Servicespezialist für das komplizierte Softwarepaket des Unternehmens stundenlang mit Kunden aus Europa, Asien, Australien und Neuseeland telefonieren musste, die mitten in der Nacht - Tag bei ihnen - anriefen und augenblicklich das Chaos entwirrt haben wollten, das sie selbst in ihrem System angerichtet hatten.
»Scott, hörst du mir überhaupt zu?«, frage Willow, die sich so fühlte, wie sie sich stets fühlte, wenn im Gespräch mit ihr seine Reaktion das gebührende Maß an Anteilnahme vermissen ließ: ausgeschlossen und ins Leere gestürzt. »Du weißt, dass ich es hasse, wenn du mir nicht zuhörst.« Ihr Ton war schärfer als beabsichtigt, und Jasmine, die gerade ihre Cheerios in der Milch herumrührte, um sie so pappig zu machen, wie sie sie mochte, sagte:
»Ach, Mam! Geil dich ab.«
»Woher hat sie das denn?« Scott blickte vom Wirtschaftsteil der Zeitung auf, und der fünfjährige Max - der seiner großen Schwester alles nachzumachen pflegte - rief: »Ja, Mam. Geil dich ab«, und schlug mit der Hand mitten ins Gelb seines Spiegeleis.
»Von Sierra Gilbert wahrscheinlich«, sagte Willow.
»Pah!« Jasmine warf den Kopf zurück. »Sierra Gilbert hat es vonmir.«
»Es ist mir egal, wer es von wem hat«, sagte Scott und ließ viel sagend die Zeitung knallen. »Ich möchte nicht noch einmal hören, dass du so mit deiner Mutter sprichst, ist das klar?«
»Es heißt doch nur -«
»Jasmine!«
»Schon gut.« Sie streckte die Zunge heraus. Willow sah, dass sie sich schon wieder die Stirnfransen abgeschnitten hatte, und seufzte. Sie fühlte sich ihrer eigenwilligen Tochter, die mit Riesenschritten der Pubertät entgegeneilte, nicht mehr gewachsen und hoffte, ihr dritter Sprössling, mit dem sie glücklich schwanger war - sei es eine kleine Blythe oder ein kleiner Cooper -, würde mehr ihrer Idealvorstellung von einem Kind entsprechen.
Ihr war klar, dass Scott ihren Plan einer Kuchenspende nicht zur Kenntnis nehmen, geschweige denn absegnen würde, wenn und solange sie ihn nicht darüber aufklärte, warum ihrer Meinung nach eine gutnachbarliche Geste angebracht war. Doch sie wartete damit, bis die Kinder außer Haus waren, sicher und wohlbehalten zur Bushaltestelle am Ende der Straße geleitet und dort - Jasmines ärgerlichen Protesten zum Trotz - fürsorglich beaufsichtigt, bis sich die gelben Türen hinter ihnen geschlossen hatten. Als Willow zurückkam, wollte ihr Mann gerade zu Bett gehen und sich die fünf Stunden Schlaf gönnen, die er sich täglich gestattete, bevor er seine Arbeitskraft in die private Beraterfirma steckte, die er unter dem Namen McKenna Computing Designs gegründet hatte und die bis dato mit sechs Kunden aufwarten konnte. Noch neun Kunden dazu, und er würde bei TriOptics aufhören können. Vielleicht würde ihr Eheleben dann etwas mehr Normalität bekommen. Kein streng terminierter Sex mehr in den Stunden zwischen der Schlafenszeit der Kinder und Scotts Aufbruch zur Arbeit. Keine endlosen einsamen Abende mehr, in denen man dem Knarren der Dielen lauschte und sich dauernd selbst vorsagen musste, das seien ganz normale Hausgeräusche.
Scott war im Schlafzimmer dabei, seine Kleider abzulegen. Er ließ alles liegen, wo es hinfiel, warf sich aufs Bett, drehte sich auf die Seite und zog die Decke bis zum Hals hinauf. Er war noch siebenundzwanzig Sekunden vom ersten Schnarcher entfernt, als Willow zu sprechen begann.
»Ich hab nachgedacht, Schatz.«
Keine Reaktion.
»Scott?«
»Hm?«
»Ich hab über Miss Telyegin nachgedacht.« Vielleicht auch Mrs. Telyegin, dachte Willow. Sie hatte noch nicht herausbekommen, ob die Nachbarin verheiratet, ledig, geschieden oder verwitwet war. Aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht recht erklären konnte, hielt Willow es für am wahrscheinlichsten, dass sie nie verheiratet gewesen war. Vielleicht hatte es mit den Gewohnheiten der Frau zu tun, die sich im Verlauf der Tage und Wochen zeigten und als immer eigenartiger entpuppten. Am Ungewöhnlichsten war, dass sie fast nur abends und nachts außer Haus ging. Darüber hinaus jedoch gab es allerhand andere Seltsamkeiten: zum Beispiel, dass die Sonnenjalousien von Nummer 1420 ständig heruntergelassen waren; dass Miss Telyegin bei schönem wie bei schlechtem Wetter stets Gummistiefel trug, wenn sie aus dem Haus ging; dass sie nicht nur niemals Besuch empfing, sondern auch niemals ausging, außer täglich um dieselbe Zeit zur Arbeit.
»Wann geht sie einkaufen?«, fragte Ava Downey.
»Sie lässt liefern«, antwortete Willow.
»Stimmt, ich habe den Lieferwagen gesehen«, bestätigte Leslie Gilbert.
»Sie geht also tagsüber nicht aus dem Haus?«
»Niemals vor Einbruch der Dunkelheit«, sagte Willow.
So kam zur Hexe noch der Vampir hinzu, aber nur die Kinder nahmen diesen Beinamen ernst. Dennoch wurden die anderen Nachbarn Anfisa Telyegin gegenüber merklich zurückhaltend, was bei Willow neues Mitleid hervorrief und sie in ihrer Meinung bestärkte, dass Anfisas Bemühen anlässlich des Chili-Essens am Veteran's Day der Bewunderung und der Erwiderung wert sei.
»Scott«, sagte sie zu ihrem schläfrigen Ehemann, »hörst du mir zu?«
»Können wir das nicht später besprechen, Will?«
»Es dauert nur eine Minute. Ich habe über Anfisa nachgedacht.«
Er wälzte sich seufzend auf den Rücken und schob die Arme unter seinen Kopf, wobei er entblößte, was Willow am wenigsten gern sah, wenn sie ihn ins Auge fasste: die Achselhöhlen eines behaarten Esau. »Okay«, sagte er, ohne auch nur zu versuchen, den langmütigen Ehemann zu spielen. »Was ist mit Anfisa?«
Willow setzte sich auf die Bettkante. Sie legte ihre Hand auf Scotts Brust, um sein Herz spüren zu können. Er hatte eines, auch wenn er im Moment ungehalten war. Ein sehr großes sogar. Sie hatte es zum ersten Mal beim Schultanz erlebt, als er sie zur Partnerin erkoren und vor einem Dasein als Mauerblümchen bewahrt hatte, und sie vertraute jetzt auf die Fähigkeit dieses großen Herzens, sich weit zu öffnen und ihre Idee in sich aufzunehmen.
»Es ist wirklich schade, dass deine Eltern so weit weg wohnen«, sagte sie. »Findest du nicht auch?«
Scott, der von Kindheit an unter den ewigen Vergleichen mit seinem älteren Bruder gelitten hatte und, um dem Leiden ein Ende zu bereiten, nur allzu gern mit seiner Familie in einen anderen Staat übergesiedelt war, kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Wieso schade?«, fragte er. »Wie meinst du das?«
»Na ja, achthundert Kilometer«, sagte Willow. »Das ist doch irre weit.«
Noch immer nicht weit genug, dachte Scott, um das ewige »dein Bruder, der Kardiologe« zum Verstummen zu bringen, das ihm überall folgte.
»Ich weiß, dass du die Distanz wünschst«, fuhr Willow fort, »aber für die Kinder wäre es schön, die Großeltern in der Nähe zu haben.«
»Nicht diese Großeltern«, erklärte Scott.
Es war die Entgegnung, die sie erwartet hatte, und es war ein Leichtes, sie als Einstieg in ihr Thema zu benutzen. Anfisa Telyegin habe mit ihrer Teilnahme am Chili-Essen den Nachbarn freundschaftlich die Hand geboten, setzte sie Scott auseinander, und sie finde, diese Geste verdiene Anerkennung. Wäre es nicht wunderbar, wenn man die Frau näher kennen lernen und sie vielleicht so etwas wie eine Ersatzgroßmutter für die Kinder werden könnte? Sie selbst - Willow - habe ja keine Eltern, die Jasmine, Max und dem Kleinen, das unterwegs war, ihre Weisheit und Lebenserfahrung weitergeben könnten. Und Scotts Eltern wohnten wie gesagt so weit weg ...
»Ich meine, Familie muss ja nicht gleich Blutsverwandtschaft sein«, erklärte Willow. »Leslie, zum Beispiel, ist für die Kinder wie eine Tante. Anfisa könnte wie eine Großmutter sein. Und außerdem blutet mir das Herz, wenn ich sehe, wie einsam sie ist. Gerade jetzt, wo die Feiertage kommen ... ich weiß auch nicht. Ich find's einfach traurig.«
Scotts Gesicht zeigte seine Erleichterung darüber, dass Willow nicht, wie befürchtet, vorgeschlagen hatte, sie sollten wieder in die Nähe seiner verhassten Eltern ziehen. Sie versuchte, sich in ihn einzufühlen, auch wenn sie seine Abwehr dagegen, sich weiteren Vergleichen mit seinem weitaus erfolgreicheren Bruder auszusetzen, vielleicht nicht verstand. Und er wusste, dass dieses Bemühen, sich in andere hineinzuversetzen, das sie auszeichnete und das er immer als ihre edelste Eigenschaft gesehen hatte, sich nicht auf seine Person beschränkte. Willow, seiner Frau, lagen auch andere Menschen am Herzen. Das war einer der Gründe, warum er sie liebte.
»Ich glaube, sie möchte gar nichts mit uns zu tun haben, Will«, sagte er.
»Sie ist zum Chili-Essen gekommen. Ich glaube, sie möchte es versuchen.«
Scott hob lächelnd die Hand zum Gesicht seiner Frau und strich ihr über die Wange. »Wenn du nur jemanden retten kannst.«
»Nur wenn du einverstanden bist.«
Er gähnte. »Okay. Aber erwarte nicht zu viel. Wir wissen ja nichts über sie.«
»Man muss ihr nur ein bisschen entgegen kommen.«
Und noch am selben Tag mache sich Willow ans Werk. Sie backte zwei Bleche Schokonussschnitten und schichtete ein Dutzend davon hübsch auf einen grünen Pressglasteller. Das Ganze hüllte sie sorgsam in dünne Plastikfolie und schmückte es mit einer fröhlichen Schleife aus bunt kariertem Geschenkband. So feierlich, als brächte sie Weihrauch und Myrrhe, trug sie ihre Gabe zum Nachbarhaus hinüber.
Es war ein kalter Tag. Es schneite nie in diesem Teil des Landes, aber der Herbst, der im Allgemeinen lang und farbenprächtig war, konnte auch bitterkalt und grau sein. Genauso war die Stimmung, als Willow aus dem Haus ging. Raureif lag auf dem gepflegten Rasen in ihrem Vorgarten, auf dem ordentlich in Stand gehaltenen Zaun, auf den leuchtend roten Blättern der Zauberhasel am Rand des Bürgersteigs, und Nebelschwaden zogen durch die Straße.
Willow ging achtsam auf dem Backsteinweg, der von der Haustür zur Gartenpforte führte, und hielt dabei die Schokonussschnitten an ihren Busen gedrückt, als könnte der Kontakt mit frischer Luft ihnen schaden. Fröstelnd fragte sie sich, wie der Winter werden würde, wenn schon ein Herbsttag so gnadenlos sein konnte.
Sie musste den Teller mit dem Gebäck einen Moment auf dem Bürgersteig abstellen, als sie vor Anfisas Grundstück angelangt war. Das alte Gartentörchen hing nur noch in einer Angel, man konnte es nicht einfach aufstoßen, sondern musste es erst anheben, aufdrücken und dann wieder loslassen, was bei den Massen von Efeu, die den Gartenweg überwucherten, gar nicht so einfach war.
Als Willow sich dem Haus näherte, bemerkte sie etwas, das ihr vorher noch nicht aufgefallen war. Der Efeu, der unter Anfisas Fürsorge so üppig gedieh, rankte sich nun schon die Vortreppe hinauf und begann, die breite Veranda zu überziehen und an ihrem Geländer emporzukriechen. Wenn Anfisa ihm nicht bald mit der Gartenschere zu Leibe rückte, würde er noch das ganze Haus verschlingen.
Auf der Veranda, die sie nicht mehr betreten hatte, seit die letzten Bewohner des Hauses alle Heimwerkerbemühungen aufgegeben hatten und in eine brandneue - und gesichtlose - Wohnanlage außerhalb des Städtchens gezogen waren, bemerkte Willow, dass Anfisa neben der Bepflanzung ihres Gartens mit Efeu noch eine Neuerung auf dem Anwesen eingeführt hatte. Neben der Haustür stand ein großer Metallkasten, auf dessen Deckel in weißen Lettern »Lebensmittellieferungen« geschrieben war.
Eigenartig, dachte Willow. Sich die Lebensmittel auf Bestellung liefern zu lassen, war eine Sache - sie hätte selbst nichts dagegen gehabt, solchen Service in Anspruch zu nehmen, wenn sie sich hätte vorstellen können, dass jemand anderer die Nahrung für ihre Familie auswählte. Aber die Sachen dann draußen stehen zu lassen, wo sie leicht verderben konnten, wenn man nicht Acht gab, das war doch etwas völlig Anderes und ziemlich Unsinniges.
Nun, Anfisa Telyegin hatte dennoch ein stolzes Alter erreicht, sie musste also, sagte sich Willow, wissen, was sie tat.
Sie klingelte. Sie zweifelte nicht daran, dass Anfisa zu Hause war und noch viele Stunden zu Hause sein würden. Es war schließlich heller Tag Aber niemand kam, obwohl Willow das deutliche Gefühl hatte, dass jemand ganz in der Nähe war, hinter der Tür stand und lauschte. »Miss Telyegin?«, rief sie.
»Ich bin's, Willow McKenna. Es war so nett, Sie neulich Abend beim Chili-Essen zu sehen. Ich wollte Ihnen nur ein paar Schokonussschnitten vorbeibringen. Die sind nämlich meine Spezialität. Miss Telyegin? Hier ist Willow McKenna. Von nebenan. Napler Lane 1410. Gleich links von Ihnen.«
Nichts geschah. Willow schaute zu den Fenstern hinüber, aber sie waren wie immer von den Sonnenjalousien verdunkelt. Die Türglocke muss kaputt sein, dachte sie und klopfte an die grüne Haustür. Noch einmal rief sie: »Miss Telyegin?« Dann kam sie sich albern vor. Sie machte sich ja hier vor der gesamten Nachbarschaft lächerlich.
»Da stand unsere Willow und trommelte bei der Frau an die Haustür wie ein kleines Mädchen, das sich vorm Gewitter fürchtet«, würde Ava Downey am Nachmittag bei ihrem Gin Tonic erzählen. Und ihr Mann Beau, der aus seinem Immobilienbüro stets rechtzeitig nach Hause kam, um seiner Frau die Drinks so zu mixen, wie sie es mochte, würde es beim wöchentlichen Pokerabend seinen Kumpeln weitererzählen, und die würden es zu ihren Frau nach Hause tragen, bis schließlich die ganze Nachbarschaft wusste, wie dringend nötig es Willow McKenna hatte, in ihrer kleinen Welt Verbindungen zu knüpfen.
Peinliche Verlegenheit bemächtigte sich ihrer. Sie beschloss, ihre Nachbarsgabe einfach stehen zu lassen und Anfisa Telyegin anzurufen. Also klappte sie den Deckel des Lebensmittelkastens hoch und stellte den Teller mit den Schokonussschnitten hinein.
Als sie den Deckel langsam wieder herunterließ, hörte sie es im Efeu hinter sich rascheln. Sie dachte sich nichts weiter dabei, bis sie ein Huschen und Scharren auf den abgetretenen alten Holzdielen der Veranda vernahm. Sie drehte sich um und stieß einen Schrei aus, den sie hinter vorgehaltener Hand erstickte. Eine große Ratte mit glitzernden kleinen Augen und nacktem Schwanz fixierte sie. Das Tier hockte keinen Meter entfernt an der Verandakante, bereit, wenn nötig sofort im Schutz des Efeus unterzutauchen.
»O Gott!« Willow sprang auf den metallenen Lebensmittelkasten, ohne einen Gedanken an Ava Downey, Beau, die Pokerrunde oder die Nachbarn zu verschwenden. Sie hatte furchtbare Angst vor Ratten - sie hätte nicht sagen können, warum - und sah sich nach irgendetwas um, womit sie das Tier verscheuchen könnte.
Aber die Ratte verkroch sich bereits im Efeu. Und sobald der dicke graue Körper verschwunden war, sprang Willow McKenna vom Lebensmittelkasten herunter und rannte nach Hause.
»Es war eine Ratte«, behauptete Willow steif und fest.
Leslie Gilbert wandte den Blick vom Bildschirm des Fernsehapparats. Sie hatte den Ton heruntergedreht, als Willow gekommen war, hatte sich aber nicht ganz von dem drastischen Schauspiel losreißen können, das in der Talkshow zum ThemaMein Vater hat's mit meinem Freund getrieben geboten wurde.
»Ich weiß doch, wie eine Ratte ausschaut«, sagte Willow.
Leslie griff sich ein Dorito und kaute nachdenklich.
»Hast du ihr Bescheid gesagt?«
»Ich hab sofort bei ihr angerufen, aber sie hat sich nicht gemeldet, und sie hat keinen Anrufbeantworter.«
»Du könntest ihr einen Zettel hinlegen.«
Willow schauderte. »In diesen Garten möchte ich am liebsten nie wieder reingehen.«
»Daran ist bestimmt der Efeu schuld«, meinte Leslie.
»So viel Efeu ist nicht gut.«
»Vielleicht weiß sie nicht, dass die Ratten Efeu mögen. Ich meine, in Russland ist es für Ratten doch sicher viel zu kalt, oder?«
Leslie nahm sich noch ein Dorito. »Ratten sind wie Kakerlaken, Will«, erklärte sie. »Die lassen sich von nichts stören.« Sie richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. »Wenigstens wissen wir jetzt, warum sie diesen Kasten für die Lieferungen hat. Ratten fressen sich durch alles durch. Aber Stahl schaffen sie nicht.«
Es schien nichts anderes übrig zu bleiben, als Anfisa Telyegin einen Brief zu schreiben. Willow erledigte das ohne Aufschub, meinte aber, sie könnte der einsiedlerischen alten Frau eine solche Nachricht nicht überbringen, ohne auch eine Lösung des Problems anzubieten. Sie fügte ihrem Schreiben also die Worte an: »Ich werde versuchen, Abhilfe zu schaffen«, kaufte eine Falle, versah sie mit Erdnussmus als Köder und nahm sie mit hinüber zum Nachbarhaus.
Am nächsten Morgen erzählte sie ihrem Mann beim Frühstück, was sie unternommen hatte, und er nickte zerstreut über seiner Zeitung.
»Ich habe ihr unsere Telefonnummer aufgeschrieben«, fuhr sie fort. »Ich dachte, sie würde anrufen, aber das hat sie nicht getan. Ich hoffe nur, sie denkt jetzt nicht, dass sie wegen der Ratte in ihrem Garten bei mir in ein schlechtes Licht geraten ist. Ich wollte sie natürlich auf keinen Fall beleidigen.«
»Hm«, machte Scott und knisterte mit seiner Zeitung.
»Ratten?«, rief Jasmine. »Hast du Ratten gesagt? Igitt, igitt!«
Und Max rief: »Igittigittigitt.«
Willow, die der Meinung war, was man begonnen habe, müsse man auch vollenden, kehrte später, als Scott schlief und die Kinder aus dem Haus waren, zum Nachbarhaus zurück, wo sie die Rattenfalle auf der Veranda deponiert hatte.
Weit beklommener als bei ihrem ersten Besuch ging sie den Gartenweg hinauf. Jedes Rascheln im Efeu kündete von einer Ratte, und ganz bestimmt kam dieses dünne scharrende Geräusch, das sie hörte, von der Ratte, die sich von hinten anschlich, um ihr an die Beine zu springen.
Aber ihre Ängste waren unbegründet. Als sie zur Veranda hinaufstieg, sah sie, dass ihre Bemühung, das widerliche Vieh zu fangen, erfolgreich gewesen war. In der Falle hing die tote Ratte. Willow schauderte bei dem Anblick und nahm kaum wahr, dass das Tier etwas überrascht darüber aussah, dass man ihm das Genick gebrochen hatte, wo es sich doch nur sein Frühstück hatte holen wollen.
Sie hätte in diesem Moment am liebsten Scott zu Hilfe geholt. Aber sie wusste, dass er seinen Schlaf brauchte, und war daher gut gerüstet gekommen. In der Hoffnung, dass ihr erster Ausflug in die Ungeziefervernichtungsbranche von Erfolg gekrönt sein würde, hatte sie eine Schaufel und einen Müllbeutel mitgebracht.
Sie klopfte bei Anfisa Telyegin, um diese wissen zu lassen, was sie hier tat, aber wie beim letzten Versuch rührte sich nichts. Doch als sie sich umdrehte, um die Entsorgung der toten Ratte in Angriff zu nehmen, bemerkte sie, dass die Sonnenjalousie an einem der Fenster sich bewegte. »Miss Telyegin? Ich habe eine Falle aufgestellt. Ich hab eine Ratte erwischt. Sie brauchen sich wegen ihr keine Gedanken mehr zu machen«, rief sie und war ein bisschen verärgert, dass die Nachbarin es nicht einmal für nötig hielt, die Tür zu öffnen und ihr zu danken.
Sie wappnete sich für ihre Aufgabe - sie fand tote Tiere immer eklig, ob es nun tierische Überreste waren, die im Profil ihrer Autoreifen hingen, oder eine Ratte in der Falle - und schob die Schaufel unter die Ratte. Gerade als sie den steifen Kadaver im Müllbeutel versenken wollte, lenkte ein Knistern von Efeulaub sie ab, dem ein Geräusch wie ein Huschen folgte, das sie augenblicklich erkannte.
Sie fuhr herum. Zwei Ratten hockten mit glitzernden Äuglein und zuckenden Schwänzen am Rand der Veranda.
Willow McKenna ließ die Schaufel fallen und stürzte wie eine Rasende zur Straße hinaus.
»Noch mal zwei?« Ava Downey war skeptisch. Sie klapperte mit den Eiswürfeln in ihrem Glas, und Beau, ihr Mann, sprang - auf das Signal gut gedrillt - herbei, um ihr Glas aufzufüllen. »Bist du sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast?«
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, entgegnete Willow.
»Ich hab's Leslie gesagt, und jetzt sag ich's dir. Eine habe ich in der Falle gefangen, aber ich habe noch mal zwei gesehen. Und ich schwör's dir, diewussten genau, was ich tat.«
»Aha, intelligente Ratten«, sagte Ava Downey und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ja eine erstaunliche Situation.«
»Das ist ein Problem, das uns alle angeht«, sagte Willow. »Ratten sind Krankheitsüberträger. Sie pflanzen sich fort wie - äh, sie pflanzen sich fort -«
»- wie Ratten«, warf Beau Downey ein. Er reichte seiner Frau das frisch gefüllte Glas und setzte sich in Ava Downeys schick eingerichtetem Wohnzimmer zu den Damen. Ava war die geborene Innenausstatterin, auch wenn das nicht ihr Beruf war. Alles, was sie berührte, erlangte augenblicklich eine Vollendung, die zur Abbildung inSchöner Wohnen reif war.
»Sehr witzig, Darling«, sagte Ava, ohne zu lächeln, zu ihrem Mann. »Du meine Güte! Hundert Jahre Ehe, und ich hatte keine Ahnung, dass du so geistreich sein kannst.«
Willow sagte: »Die werden sich in der ganzen Nachbarschaft ausbreiten. Ich wollte mit Anfisa darüber sprechen, aber sie geht nicht ans Telefon. Oder sie ist nicht zu Hause. Aber es brennt Licht im Haus, darum denke ich, dass sie da ist und ... wir müssen unbedingt etwas unternehmen. Wir müssen an die Kinder denken.«
Willow hatte selbst erst am frühen Nachmittag an die Kinder gedacht, nachdem Scott sich von seinen fünf Stunden Schlaf erhoben hatte. Sie war hinter dem Haus in ihrem Gemüsegarten gewesen und hatte die letzten Kürbisse gepflückt. Als sie nach einer der Früchte greifen wollte, war sie mit den Fingern in ein Häufchen Tierkot geraten und angewidert zurückgefahren. Hastig hatte sie den Kürbis aus seinem Blätter- und Rankengewirr herausgerissen und gesehen, dass die Schale von spitzen Zähnen angenagt war.
Der Kot und die Nagespuren sagten alles. Die Ratten waren nicht nur auf dem Grundstück nebenan. Die Ratten waren auf Wanderschaft. Jeder Garten war ihnen preisgegeben.
In diesen Gärten spielten Kinder. Familien veranstalteten dort im Sommer ihre Grillfeste. An heißen Tagen legten sich die Teenager ins Gras und sonnten sich, und an warmen Frühlingsabenden rauchten die Männer dort draußen ihre Zigarren. Ratten hatten in diesen Gärten nichts zu suchen. Ratten waren eine Gefährdung für die Gesundheit aller Bewohner.
»Das Problem sind nicht die Ratten«, erklärte Beau Downey. »Das Problem ist die Frau, Willow. Sie findet es wahrscheinlich ganz normal, Ratten zu haben. Menschens- kind, sie kommt aus Russland! Was willst du noch?«
Willow wollte in Ruhe leben. Sie wollte sicher sein, dass ihren Kindern nichts geschehen konnte, dass sie Blythe oder Cooper auf dem Rasen herumkrabbeln lassen konnte, ohne fürchten zu müssen, dass irgendwo eine Ratte - oder ein Haufen Rattenkot - wartete.
»Ruf die Schädlingsbekämpfung an«, riet Scott.
»Verbrenn ein Kreuz in ihrem Garten«, riet Beau Downey.
Sie rief beim Allround-Schädlingsbekämpfungsservice an, der prompt einen seiner Leute bei ihr vorbeischickte. Der Mann überprüfte das Beweismaterial in Willows Gemüsegärtchen und stattete sicherheitshalber auch gleich den Gilberts auf der anderen Seite von Nr. 1420 einen Besuch ab, um dort die gleichen Untersuchungen vorzunehmen. Das brachte Leslie wenigstens dazu, sich vom Sofa zu erheben. Sie schleppte eine Küchenleiter zum Zaun und spähte in den Garten von 1420 hinüber.
Abgesehen von dem Weg, der zum Hühnerstall führte, war alles von Efeu überwachsen, sogar die Stämme der rapide wachsenden Bäume.
»Das ist ein echtes Problem, Lady«, stellte der Mann vom Schädlingsbekämpfungsservice fest. »Der Efeu muss weg. Aber zuerst müssen die Ratten weg.«
»Dann packen wir's an«, sagte Willow.
Aber da gab es, wie sich herausstellte, leider ein Problem. Der Vertreter der Firma Allround konnte auf dem McKenna-Grundstück Ratten vernichten. Er konnte bei den Gilberts Ratten vernichten. Er konnte straßabwärts bei den Downeys tätig werden, und er konnte gegenüber bei den Harts nach dem Rechten sehen. Aber er durfte kein Grundstück ohne Genehmigung des Eigentümers und schriftliche Vereinbarung mit ihm betreten. Und diesen Vorschriften konnte nur im direkten Kontakt mit Anfisa Telyegin Genüge geleistet werden.
Um diesen Kontakt herzustellen, gab es nur ein Mittel: Man musste der Frau abends, wenn sie gewöhnlich das Haus verließ, um ihrer Arbeit am College nachzugehen, auflauern. Willow erbot sich, diese Aufgabe für die Nachbarschaft zu übernehmen. Sie bezog Posten am Küchenfenster und verköstigte ihre Lieben mehrere Abende hintereinander mit chinesischen Gerichten und Pizzen, die sie über den Heim-Service bestellte, um nur ja nicht den Moment zu verpassen, wenn die Russin sich zur Bushaltestelle am Ende der Napler Lane auf den Weg machte. Als es endlich soweit war, packte Willow ihren Parka und stürzte aus dem Haus, um ihr nachzulaufen.
Sie holte sie vor dem Haus der Downeys ein, das wie jedes Jahr im Glanz weihnachtlichen Lichterschmucks erstrahlte, obwohl noch nicht einmal Thanksgiving vorbei war. Im milden Schein des Rentierschlittens auf dem Hausdach erklärte Willow die Situation.
Anfisa hatte das Licht im Rücken, so dass Willow ihre Reaktion nicht erkennen konnte. Sie sah überhaupt nichts vom Gesicht der Nachbarin, die über dem Kopftuch, in das sie sich vermummt hatte, auch noch einen breitkrempigen Hut trug. Aber Willow hielt es sowieso für selbstverständlich, dass zur Bereinigung der unerfreulichen Situation nicht mehr notwendig sein würde, als die erhaltenen Informationen weiterzugeben. Doch da hatte sie sich getäuscht.
»In meinem Garten sind keine Ratten«, erklärte Anfisa Telyegin mit einer hoheitsvollen Würde, die angesichts der Lage der Dinge erstaunlich war. »Ich fürchte, Sie irren sich, Mrs. McKenna.«
»O nein«, widersprach Willow, »ich irre mich nicht, Miss Telyegin. Wirklich nicht. Die eine Ratte habe ich nicht nur mit eigenen Augen gesehen, als ich Ihnen die Schokonussschnitten rüberbrachte - haben Sie die übrigens bekommen? Sie sind meine Spezialität, wissen Sie -, ich habe sie sogar in einer Falle gefangen. Und da habe ich dann noch mal zwei gesehen. Und kurz danach hab ich den Kot in meinem Garten entdeckt und die Schädlingsbekämpfung angerufen. Der Mann hat sich bei mir umgesehen -«
»Na bitte, da haben Sie es doch«, fiel ihr Anfisa ins Wort. »Das Problem liegt bei Ihnen, nicht bei mir.«
»Aber -«
»Ich muss weiter.«
Damit ging sie davon, ohne dass irgendetwas geregelt worden war.
Als Willow das ihrem Mann berichtete, fand der, es sei Zeit für einen Nachbarschaftsrat, der im Grunde genommen nichts anderes war als ein Pokerabend, an dem nicht gepokert wurde, und zu dem die Ehefrauen zugelassen waren. Der Gedanke, was entstehen würde, wenn erst einmal die ganze Nachbarschaft mit in das Problem hineingezogen war, stürzte Willow in ängstliche Erregung. Sie fürchtete Ärger in jeder Form. Andererseits jedoch wollte sie ihre Kinder vor Ratten und ähnlichem Ungeziefer sicher wissen. Sie kaute fast die ganze Sitzung hindurch nervös auf den Fingernägeln.
Die von den Beteiligten vertretenen Standpunkte spiegelten die Vielfalt der menschlichen Natur wider. Scott wollte seiner Regelgläubigkeit entsprechend den Rechtsweg einschlagen: Zuerst die Gesundheitsbehörde einschalten; wenn das nicht wirkte, die Polizei hinzuziehen, danach, wenn nötig, einen Rechtsanwalt beauftragen. Owen Gilbert gefiel dieser Vorschlag überhaupt nicht. Er mochte Anfisa Telyegin aus Gründen nicht, die mehr mit der Tatsache zu tun hatten, dass sie es abgelehnt hatte, ihm ihre Steuererklärung anzuvertrauen, als mit den Ratten, die sein Grundstück zu besetzen drohten, und er plädierte dafür, das FBI und das Finanzamt auf sie anzusetzen. Sie habe todsicher Dreck am Stecken. Von Steuerhinterziehung bis Spionage sei alles denkbar. Bei Erwähnung von Spionage musste Beau Downey sofort an die Einwanderungsbehörde denken und geriet prompt in Rage. Er gehörte zu den Leuten, die überzeugt sind, dass die Einwanderer Amerikas Verderb sind, und da die Justiz und die Regierung offensichtlich nicht daran dächten, vor den einfallenden Horden die Grenzen zu schließen, erklärte er hitzig, sollten sie auf eigene Faust handeln, um wenigstens ihr Viertel vor ihnen zu schützen.
»Machen wir der Alten doch einfach klar, dass sie hier nicht erwünscht ist«, sagte er, und seine Frau Ava verdrehte die Augen zum Himmel. Sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Beau ihrer Meinung nach zu nicht mehr taugte, als ihre Drinks zu mixen und ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.
»Und wie sollen wir das anstellen, Darling?«, fragte sie. »Sollen wir ihr ein Hakenkreuz auf die Haustür malen?«
»Verdammt noch mal, wir brauchen sowieso eine Familie da drüben«, verkündete Johnny Hart und trank sein Bier. Es war sein siebtes, und seine Frau hatte ebenso mitgezählt wie Willow, die nicht verstand, warum Rose, anstatt tatenlos mit Märtyrerinnenmiene herumzusitzen, ihn nicht daran hinderte, sich vor aller Öffentlichkeit lächerlich zu machen. »Wir brauchen da drüben ein Paar in unserem Alter, Leute mit Kindern, mit einer halbwüchsigen Tochter vielleicht - die anständige Titten hat.« Mit einem anzüglichen Lachen warf er Willow einen Blick zu, der ihr nicht gefiel. Er nahm ihre normalerweise teetassengroßen Brüste, die mit der Schwangerschaft um einiges üppiger geworden waren, ins Visier und zwinkerte ihr zu.
Gibt es angesichts der Äußerung so vieler unterschiedlicher Meinungen noch Zweifel daran, dass nichts geklärt wurde? Erreicht wurde lediglich, dass die Temperamente sich erhitzten. Und dafür fühlte sich Willow verantwortlich.
Vielleicht, sagte sie sich, gab es eine andere Möglichkeit, mit der Situation fertig zu werden. Aber wie sehr sie sich an den folgenden Tagen auch das Gehirn zermarterte, es fiel ihr keine Lösung ein.
Erst als der Briefträger ihr versehentlich einen Brief brachte, der nicht für sie bestimmt war, kam ihr ein Einfall, der vielleicht zu einer Lösung führen würde. Der Brief steckte in einem Packen von Rechnungen und Katalogen, ein größerer brauner Umschlag, der Anfisa Telyegin aus Port Terryton, einem kleinen Ort am Fluss Weldy, etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von East Wingate, nachgesandt worden war. Vielleicht, überlegte Willow, könnte jemand von Anfisas ehemaligen Nachbarn ihren jetzigen Nachbarn raten, wie man am besten mit der Frau umging.
An einem kühlen Morgen, als die Kinder im Kindergarten beziehungsweise in der Schule waren und Scott sich seine wohlverdienten fünf Stunden Schlaf genehmigte, holte Willow also ihre Landkarte heraus und arbeitete eine Route aus, die sie vor Mittag nach Port Terryton führen würde. Leslie Gilbert fuhr mit, obwohl sie dafür auf einige Stunden ihres täglichen Fernsehkonsums verzichten musste.
Beide Frauen hatten schon von Port Terryton gehört. Es war ein malerischer kleiner Ort, vor etwa dreihundert Jahren erbaut, umgeben von alten Laubwäldern, die bis an die Ufer des Weldy heranreichten. In Port Terryton war Geld zu Hause. Altes Geld, neues Geld, Spekulantengeld, ererbtes Geld. Prachtvillen, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert gebaut waren, dienten als Schaustücke ungeheuren Reichtums.
Es gab auch bescheidenere Viertel im Ort, Straßen mit gefälligenCottages, wo die Zugehfrau und die sozial tiefer stehenden Sterblichen wohnten. In einem dieser Viertel fanden Willow und Leslie Anfisas ehemaliges Heim, ein gepflegtes, grau-weiß gestrichenes Häuschen mit viel Charme, das, von einem Blutahorn beschattet, in einem Garten mit kurz geschorenem Rasen und farbenfrohen Stiefmütterchenrabatten stand.
»Was wollen wir eigentlich rausbekommen?«, fragte Leslie, als Willow den Wagen am Bordstein anhielt. Sie hatte einen Karton Cremedonuts mit Zuckerguss mitgenommen und auf der Fahrt beinahe unaufhörlich gegessen. Jetzt leckte sie sich die Finger und beugte sich tiefer, um durch das Fenster Anfisas früheres Haus zu mustern.
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Willow: »Irgendwas, das uns weiterhilft.«
»Owens Vorschlag war der beste«, erklärte Leslie loyal. »Kurzen Prozess machen und sie dem FBI übergeben.«
»Aber es muss doch etwas weniger - na ja, weniger Brutales geben. Wir wollen ja nicht ihr Leben zerstören.«
»Hey, es geht hier um eine Rattenplage auf ihrem Grundstück«, erinnerte Leslie sie. »Eine Rattenplage, die sie leugnet.«
»Ich weiß, aber vielleicht hat es einen Grund, dass sie von den Ratten keine Ahnung hat. Oder warum sie deren Existenz verleugnen muss. Wir müssen ihr irgendwie helfen können, den Tatsachen ins Gesicht zu blicken.«
Leslie unterdrückte einen Seufzer und sagte: »Wie du meinst, mein Schatz.«
Sie waren ohne festen Plan nach Port Terryton gekommen. Da sie jedoch beide recht harmlos und ungefährlich wirkten - die eine sichtbar schwanger, die andere von einer Friedfertigkeit, die Vertrauen einflößte -, beschlossen sie, einfach ein paar Häuser in der Nachbarschaft abzuklappern. Und schon beim dritten Versuch bekamen sie die Aufklärung, die sie gesucht hatten. Sie war allerdings nicht von der Art, wie Willow sie sich gewünscht hätte.
Von Barbie Townsend, der gegenüber Anfisa Telyegin früher einmal gewohnt hatte, wurden sie mit Tee, Schokoladenkeksen und reichlich Informationen bewirtet. Barbie hatte sogar ein Album mit Zeitungsausschnitten über den »Fall der Rattenfrau«, wie die Lokalzeitung ihn genannt hatte.
Auf der Heimfahrt sprachen Willow und Leslie kaum ein Wort. Sie hatten ursprünglich vorgehabt, in Port Terryton zu Mittag zu essen, aber nach dem Gespräch mit Barbie Townsend hatte es ihnen beiden den Appetit verschlagen. Sie wollten nur noch zurück in die Napler Lane und ihren Ehemännern berichten, was sie erfahren hatten. Ehemänner waren schließlich dazu da, in solchen Situationen einzuspringen. Sie waren für den Schutz der Familie zuständig. Und die Frauen für die Nestwärme. So war das nun mal.
»Sie waren überall«, sagte Willow zu ihrem Mann, nachdem sie ihn mitten im Telefongespräch mit einem Kunden unterbrochen hatte. »Scott, die Zeitung hat sogar Bilder von ihnen gebracht.«
»Ratten«, teilte Leslie ihrem Owen mit. Sie fuhr schnurstracks in sein Büro und stürmte hinein, ihr Paisleytuch hinter sich herziehend wie eine Schmusedecke, ohne die sie nicht sein konnte. »Der ganze Garten war voll. Sie hatte Efeu angepflanzt. Genau wie hier. Sämtliche Behörden vom Gesundheitsamt über die Polizei bis zum Gericht wurden eingeschaltet ... Die Nachbarn haben geklagt, Owen.«
»Es hat fünf Jahre gedauert«, berichtete Willow ihrem Mann. »Stell dir das mal vor - fünf Jahre! In fünf Jahren ist Jasmine zwölf. Und Max zehn. Und bis dahin haben wir auch das Kleine, Blythe oder Cooper. Und wahrscheinlich noch zwei Kinder mehr, vielleicht sogar drei. Wenn wir das Problem bis dahin nicht aus der Welt geschafft haben .« Sie begann zu weinen vor Angst um ihre Kinder.
»Sie haben ein Vermögen an Anwaltskosten bezahlt«, erzählte Leslie Gilbert ihrem Mann. »Weil sie jedes Mal, wenn das Gericht ihr irgendwelche Auflagen machte, mit einer Gegenklage konterte. Oder sie legte Berufung ein. Aber wir hier sind nicht so betucht wie die Leute in Port Terryton. Was sollen wir also tun?«
»Sie ist krank«, erklärte Willow ihrem Mann. »Da bin ich ganz sicher, und ich möchte nichts tun, was ihr schadet. Aber sie muss einsehen ... Nur, wie sollen wir sie zur Einsicht bringen, wenn sie leugnet, dass überhaupt ein Problem existiert? Sag mir das, wie?«
Willow wollte es auf die Psychotour versuchen. Während die Männer aus der Napler Lane sich allabendlich versammelten, um einen Aktionsplan zur sofortigen Bereinigung des Problems auszuarbeiten, surfte Willow ein wenig im Internet. Was sie bei ihren Recherchen herausbekam, weckte ihr tiefstes Erbarmen mit der Russin, die, das erkannte sie nun, für die Rattenplage auf ihrem Grundstück nicht voll verantwortlich war.
»Lies das mal«, sagte sie zu ihrem Mann. »Es ist eine Krankheit, Scott, eine geistige Störung. Es ist so was wie - du weißt doch, wenn Leute sich eine Katze nach der anderen zulegen, bis das ganze Haus voll ist? Frauen, meistens ältere. Man kann ihnen alle Katzen wegnehmen, aber wenn man die psychische Störung nicht behandelt, marschieren sie einfach los und holen sich neue Katzen.«
»Willst du damit sagen, dass sie Ratten sammelt?«, fragte Scott. »Das glaube ich nicht, Willow. Wenn du schon mit Psychologie argumentieren willst, dann lass uns das Kind auch beim Namen nennen: Es ist schlicht und einfach Verleugnung. Sie kann wegen der Dinge, mit denen Ratten assoziiert werden, nicht zugeben, dass sie Ratten hat.«
Die Männer stimmten Scott zu, mit besonderem Nachdruck Beau Downey, der darauf hinwies, dass Anfisa Telyegin als Ausländerin wahrscheinlich von Hygiene, gleich, welcher Art, keine Ahnung habe. Der Himmel allein wisse, wie es imInneren ihres Hauses aussehe! Ob einer von ihnen schon einmal drinnen gewesen sei? Nein? Na also! Damit war seine Beweisführung fürs Erste abgeschlossen. Sie sollten ganz einfach drüben auf Nummer 1420 einen kleinen Unfall arrangieren. Einen Brand, zum Beispiel, durch einen Kurzschluss ausgelöst oder vielleicht durch eine undichte Gasleitung.
Aber davon wollte Scott nichts wissen, und Owen Gilbert machte Anstalten, sich von der ganzen Geschichte zu distanzieren. Rose Hart - die auf der anderen Straßenseite wohnte und für die nicht so viel auf dem Spiel stand - wies darauf hin, dass sie ja gar nicht wussten, wie viele Ratten tatsächlich da waren. Vielleicht, meinte sie, machten sie hier viel Lärm um nichts.
»Willow hat nur insgesamt drei gesehen - die eine, die sie in der Falle gefangen hat, und zwei weitere. Es kann doch sein, dass wir uns viel zu sehr aufregen. Vielleicht ist das Problem einfacher zu lösen, als wir glauben.«
»Aber in Port Terryton war es einePlage«, rief Willow händeringend. »Und auch wenn im Moment nur noch zwei da sind, werden wir bald zwanzig haben, wenn wir sie nicht los werden. Wir können das nicht ignorieren. Scott? Sag ihnen .«
Einige Frauen tauschten wissende Blicke. Typisch Willow McKenna, nicht einmal jetzt konnte sie auf eigenen Füßen stehen.
Ausgerechnet Ava Downey - wer hätte das gedacht? - hatte einen Vorschlag zur Lösung des Problems zu bieten. »Wenn sie tatsächlich die Realität verleugnet, wie du meinst, Scott, Darling«, sagte Ava, »warum unternehmen wir dann nicht einfach etwas, damit ihreFantasiewelt Realität wird?«
»Und wie soll das gehen?«, erkundigte sich Leslie Gilbert. Sie mochte Ava nicht, verdächtigte sie, hinter jedem verheirateten Mann her zu sein, und würdigte sie im Allgemeinen keines Worts. Aber in der gegenwärtigen misslichen Situation war sie bereit, ihre Aversion zurückzustellen und sich alles anzuhören, was eine rasche Lösung des Problems verhieß. Sie hatte schließlich erst heute Morgen, als sie vergeblich versucht hatte, ihren Wagen anzulassen, feststellen müssen, dass die Zündkabel von irgendwelchen Tieren durchgebissen worden waren.
»Nehmen wir ihr die Arbeit ab und machen den Biestern den Garaus«, sagte Ava. »Ob zwei oder drei oder zwanzig. Vernichten wir sie einfach.«
Johnny Hart schüttete den letzten Rest seines neunten Biers an diesem Abend hinunter und erinnerte daran, dass keine Schädlingsbekämpfungsfirma den Auftrag ohne Anfisa Telyegins Einverständnis annehmen würde, nicht einmal dann, wenn die Nachbarn bereit waren, dafür zu bezahlen. Owen, Scott und Beau bliesen in das gleiche Horn. Ob Ava denn nicht mehr wisse, was der Mann von der Allround-Schädlingsbekämpfung Leslie und Willow erklärt hatte?
»Doch, natürlich weiß ich das noch«, erwiderte Ava.
»Darum schlage ich ja vor, dass wir den Job selbst erledigen.«
»Aber es istihr Grundstück«, wandte Scott ein.
»Sie holt womöglich die Bullen und lässt uns alle verhaften, wenn wir ihren ganzen Garten mit Fallen pflastern, Schatz«, fügte Beau Downey hinzu.
»Dann müssen wir es eben tun, wenn sie nicht zu Hause ist.«
»Aber die Fallen sieht sie doch«, sagte Willow. »Und die toten Ratten auch. Da merkt sie sofort -«
»Du hast mich missverstanden, Darling«, sagte Ava.
»Ich rede nicht von Fallen.«
Von den Nachbarn rund um die Nummer 1420 kannte jeder die Gewohnheiten aller anderen: Jeder wusste zum Beispiel, um welche Zeit Johnny Hart morgens hinaustorkelte, um die Zeitung zu holen, oder wie lange Beau Downey jeden Tag den Motor seiner SUV hochjagte, ehe er zur Arbeit abbrauste. Das gehörte dazu, wenn man miteinander auf freundschaftlichem Fuß stand. Darum fühlte sich auch niemand zu einer Bemerkung darüber veranlasst, dass Willow McKenna auf die Minute genau sagen konnte, wann Anfisa Telyegin jeden Abend zu ihrer Arbeit im Community College aufbrach und wann sie danach wieder nach Hause kam.
Der Plan war einfach: Sobald Owen Gilbert für alle das erforderliche Schuhwerk besorgt hatte - keiner der Männer wollte in Slippers durch Efeu waten, in dem es möglicherweise von Ratten wimmelt -, würden sie loslegen. Die acht Treiber - wie sie sich selbst nannten - würden eine Kette bilden und in dicken Gummistiefeln langsam durch den Efeu überwucherten Vorgarten vorrücken. Sie würden die Ratten dem Haus zutreiben, wo die Terminatoren sie in Empfang nehmen würden, sobald sie auf der Flucht vor den Gummistiefeln aus dem Efeu hervorschossen. Die Terminatoren würden sich mit Knüppeln und Schaufeln und anderen Gegenständen, die zum Totschlag der ekligen Biester geeignet waren, bewaffnen.
»Meiner Meinung nach ist das der einzige Weg«, erklärte Ava Downey. Denn einerseits wollten alle es Anfisa Telyegin ersparen, ihren Garten voller Fallen mit toten Ratten vorzufinden; andererseits aber wollte auch keiner die Ratten im eigenen Garten haben, wohin sich die Tiere vielleicht noch schleppen könnten, wenn man Gift als Mittel zu ihrer Beseitigung wählte.
Aus diesem Grund schien die einzige Lösung im Nahkampf von Mann gegen Nager zu liegen. Und, wie Ava Downey es auf ihre unnachahmliche Art formulierte:
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Männer, groß und stark, wie ihr seid, was gegen ein bisschen Blut an den Händen habt - ich meine, es geht immerhin um eine gute Sache.«
Was sollten sie auf eine solche Herausforderung ihrer Männlichkeit sagen? Hier und dort trat einer nervös von einem Fuß auf den anderen, und jemand brummte: »Also, ich weiß nicht . «, aber Ava konterte sogleich mit: »Ich sehe einfach keine andere Möglichkeit, das zu erledigen. Natürlich bin ich jederzeit für andere Vorschläge offen.«
Die gab es nicht. Man setzte also einen Tag fest. Und dann wurden die nötigen Vorbereitungen getroffen.
Drei Tage später wurden alle Kinder abends zu den Harts gebracht, um sie den kommenden Ereignissen auf Nummer 1420 fern zu halten. Keiner wollte, dass seine Kinder etwas von der geplanten Vernichtungsaktion mitbekämen. Kinder seien hoch sensible, kleine Wesen, erklärten die Frauen ihren Männern nach einem letzten Kriegsrat beim Morgenkaffee. Je weniger sie von dem bevorstehenden Feldzug ihrer Daddys erführen, desto gesünder sei es für sie. Keine erschreckenden Erinnerungen und keine bösen Träume.
Die Männer unter ihnen, die etwas gegen Blut, Gewalt und Tod hatten, machten sich Mut, indem sie sich sagten, es gehe um das Wohl ihrer Kinder und um eine gute Sache. Einer oder zwei hielten sich vor, dass ein Garten voller Ratten beimWingate Courier bestimmt nicht gut ankäme und dem Bestreben der Napler Lane, den Status eines idealen Wohngebiets zuerkannt zu bekommen, kaum förderlich wäre. Andere schließlich trösteten sich damit, dass es ja nur zwei Ratten seien. Zwei Ratten und beinahe das Zehnfache an Männern . ? Das waren doch gute Chancen!
Genau dreißig Minuten, nachdem Anfisa Telyegin das Haus verlassen hatte, um zur Bushaltestelle zu gehen und von dort aus zum Community College zu fahren, rückten die Männer im Schutz der Dunkelheit an. Und die Erleichterung der Kleinmütigen war gewaltig, als die Treiber nur ganze vier Ratten in die wartende Kette der Terminatoren hineintrieben. Unter den Letzteren befand sich Beau Downey, der mit Vergnügen alle vier Ratten eigenhändig erledigte. »Hey, leuchtet mal hier rüber, da kriegen die richtig Schiss«, schrie er, während er ein Tier nach dem anderen zur Strecke brachte. Später hieß es, er hätte das Gemetzel ein bisschen zu sehr genossen. Er trug seinen blutbespritzten Overall mit dem Stolz eines Mannes, der nie eine echte Schlacht ausgetragen hatte. Er redete davon, dass man »die kleinen Scheißer kaltmachen« müsse und brach in Kriegsgeschrei aus, als sein Knüppel auf Ratte Nummer vier landete.
Er war auch derjenige, der darauf hinwies, dass man sich den Garten hinter dem Haus ebenfalls vornehmen müsse. Es wurde also die ganze Prozedur wiederholt, mit dem Ergebnis, dass weitere fünf Rattenkadaver in den Müllsack wanderten.
»Neun Ratten, doch nicht ganz so schlimm.« Owen Gilbert, der von Anfang an dafür gesorgt hatte, dass er bei den Treibern war und somit für immer vom Blut der Unschuldigen unbefleckt bleiben würde, war sichtlich erleichtert.
»Also, meiner Ansicht nach kann das nicht stimmen«, erklärte Johnny Hart. »Überlegt doch mal! Bei den McKennas war überall im Garten Kot, und bei Leslies Auto waren die Kabel durchgebissen. Ich glaub nicht, dass wir sie alle erwischt haben. Wer ist dafür, dass wir mal unters Haus kriechen? Ich hab ein paar Rauchbomben, mit denen könnten wir sie ausräuchern.«
Die Rauchbomben wurden gezündet, und drei weitere Ratten folgten ihren Brüdern und Schwestern in die ewigen Jagdgründe. Eine vierte jedoch entwischte Beaus Knüppel und floh in einem Höllentempo zu Anfisas Hühnerstall.
»Schnappt sie euch!«, schrie jemand, aber keiner war schnell genug. Das Tier schlüpfte unter den Verschlag und war verschwunden.
Seltsam war nur, dass die Hühner die Ratte in ihrer Mitte gar nicht zu bemerken schienen. Aus dem Stall war kein ängstliches Flügelschlagen und kein zorniges Gackern zu hören. Es war, als wären die Hühner betäubt oder - eine noch unheimlichere Vorstellung - von Ratten gefressen worden.
Ganz klar, dass einer würde nachsehen müssen, ob dies zutraf. Aber keiner war besonders erpicht darauf, die Aufgabe zu übernehmen. Argwöhnisch pirschten sich die Männer an den Hühnerstall heran, und diejenigen, welche Taschenlampen trugen, konnten sie kaum ruhig halten.
»Los, pack die Tür und reiß sie auf, Owen«, sagte einer der Männer. »Schnappen wir uns dieses letzte Biest, und dann nichts wie weg.«
Owen zögerte. Ihm lag überhaupt nichts an einer Konfrontation mit mehreren Dutzend verstümmelter Hühnerkadaver. Und dass sie auf Kadaver stoßen würden, schien mittlerweile sehr wahrscheinlich; denn im Hühnerstall blieb es trotz ihrer Annäherung totenstill.
»Verdammt noch mal!«, sagte Beau Downey angewidert, als Owen sich nicht rührte. Er drängte sich an ihm vorbei, riss die Tür auf und warf eine Rauchbombe in den Stall.
Und da ging es los.
Ratten strömten aus der Öffnung. Hunderte. Kleine Ratten, große Ratten, offensichtlich wohl genährte Ratten. Sie ergossen sich aus dem Hühnerstall wie heißes Pech aus dem Gusserker einer Wehrmauer und flitzten in alle Richtungen auseinander.
Die Männer schlugen mit Knüppeln und Schaufeln auf sie ein. Knochen splitterten, die Ratten quietschten und pfiffen, Blut spritzte. Die Strahlen der Taschenlampen fingen das blutige Massaker in grellen Lichtkreisen ein. Die Männer sprachen nicht, ächzten nur noch, während eine Ratte nach der anderen niedergemetzelt wurde. Es war wie ein primitiver Kampf um die Vorherrschaft zwischen zwei Spezies, von denen nur eine überleben würde.
Am Ende war Anfisa Telyegins Garten ein blutgetränktes Schlachtfeld, mit den Gebeinen und Kadavern des Feindes übersät.
Die Ratten, denen es gelungen war, zu entkommen, hatten sich in die Gärten der McKennas und der Gilberts geflüchtet; sie würden später von den Profis beseitigt werden. Und das Territorium, das diese wenigen überlebenden Ratten zurückgelassen hatten, war wie jedes andere Katastrophengebiet ein Ort, der nicht schnell wieder gesäubert und ganz gewiss nicht so schnell vergessen werden kann.
Aber die Männer hatten ihren Frauen versprochen, keinerlei Spuren der Aktion zu hinterlassen, und bemühten sich daher nach Kräften, Kadaver und Kadaverteile einzusammeln und das Blut vom Efeu und von den Wänden des Hühnerstalls abzuspülen. Dabei entdeckten sie, dass in dem Hühnerstall nie Hühner gewesen waren, und was daraus bezüglich Anfisa Telyegins täglicher Körnerlieferungen in den Stall zu schließen war ... Ja, was daraus bezüglich Anfisa Telyegins Person zu schließen war .
Johnny Hart sagte: »Die Frau ist geisteskrank«, und Beau Downey meinte: »Wir müssen sie hier wegkriegen.« Doch bevor es über diese Meinungsäußerungen zur Diskussion kommen konnte, wurde das schiefe alte Gartentörchen aufgedrückt, und Anfisa selbst trat in den Garten.
Der Plan war nicht gründlich genug überlegt worden, um zu berücksichtigen, dass infolge der Zwischenprüfungen der Unterricht am College an diesen Abend früher als sonst enden würde. Und er war nicht gründlich genug überlegt worden, um in Betracht zu ziehen, wie der Efeu in Anfisa Telyegins Garten aussehen würde, nachdem acht Mann in Kettenformation durch ihn hindurchgetrampelt waren.
Anfisa Telyegin warf nur einen Blick auf ihren verwüsteten Garten - im Schein der Straßenlampe vor ihrem Grundstück deutlich zu erkennen - und stieß einen Mark erschütternden Schrei aus, der bis zur Bushaltestelle zu hören war.
Sie schrie, weil sie ihren Efeu liebte und entsetzt darüber war, was ihm angetan worden war. Vor allem aber schrie sie, weil sie intuitiv wusste, was diese Verwüstungen in ihrem Garten zu bedeuten hatte.
»O mein Gott!«, heulte sie klagend. »Nein! Nein!«
Es gab keinen anderen Weg vom Grundstück als den durch den Vorgarten, und als die Männer einer nach dem anderen hervortraten, fanden sie Anfisa mitten im zertrampelten Efeu kniend. Die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, wiegte sie sich unaufhörlich vor und zurück.
»Nein! Nein!«, schrie sie immer wieder und begann zu weinen. »Sie wissen nicht, was Sie getan haben.«
Damit konnten die Männer nicht umgehen. Ratten totschlagen, ja, okay, das war genau ihr Ding. Aber eine fremde Frau trösten, deren Leiden sie überhaupt nicht verstanden ...? Nein, das war nichts für sie. Lieber Himmel, sie hatten der armen Irren doch einen Gefallen getan! Na schön, der Efeu hatte dabei einiges abbekommen, aber Efeu gedieh wie Unkraut, und vor allem in diesem Garten. In spätestens einem Monat würde alles wieder beim Alten sein.
»Ich hol Willow«, sagte Scott McKenna, während Owen Gilbert gleichzeitig murmelte: »Ich hole Leslie«. Die anderen suchten so schnell sie konnten das Weite, mit schuldbewussten Mienen wie kleine Jungen, die vielleicht zu viel Spaß dabei hatten, irgendwelche Dummheiten zu machen, für die sie bald ihre Strafe bekommen würden.
Willow und Leslie stürzten aus Rose Harts Küche zu Anfisa, die weinend und schwankend in ihrem Garten hockte und sich mit den Fäusten auf die Brust trommelte.
»Könnt ihr sie hineinbringen?«, sagte Scott McKenna zu seiner Frau.
Und Owen Gilbert sagte zu Leslie: »Mach ihr klar, dass es nur ein Haufen Efeu ist, Les. Er wächst nach. Und es ging nicht anders.«
Willow, die mit solch intensivem Einfühlungsvermögen geschlagen war, musste angesichts des Schmerzes der alten Frau selbst gegen einen Ausbruch von Gefühlen ankämpfen. Sie hatte geglaubt, sie würde nach der Beseitigung der Ratten einzig Erleichterung verspüren; die Schuldgefühle und das Mitleid, das sie überkamen, verwirrten sie unendlich und trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie räusperte sich und sagte zu Leslie: »Würdest du ...?« Dann beugte sie sich zu Anfisa hinunter und nahm sie beim Arm. »Miss Telyegin«, sagte sie, »es ist alles gut. Glauben Sie mir. Alles wird gut. Kommen Sie, gehen wir ins Haus, ja? Dürfen wir Ihnen eine Tasse Tee machen?«
Mit vereinten Kräften halfen sie und Leslie der schluchzenden Frau auf, und während sich drüben in Rose Harts Vorgarten die anderen Frauen aus der Nachbarschaft versammelten, stiegen Willow und Leslie die Treppe zu Nummer 1420 hinauf und halfen Anfisa dabei, die Tür zu öffnen.
Scott folgte. Nach dem, was er im Hühnerstall erlebt hatte, dachte er nicht daran, seine Frau allein in dieses Haus gehen zu lassen. Wer konnte sagen, was sie da drinnen vorfinden würden.
Doch seine Fantasie hatte ihm falsche Bilder gezeigt. In Anfisa Telyegins Haus gab es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Als er das sah, schämte er sich seiner finsteren Erwartungen. Er entschuldigte sich und überließ es Leslie und Willow, Anfisa Telyegin zu trösten, so gut sie konnten.
Leslie setzte Wasser auf. Willow suchte den Tee und Tassen. Und Anfisa setzte sich an den Küchentisch und stieß mit zuckenden Schultern schluchzend hervor:
»Verzeiht mir. Bitte verzeiht mir!«
»Aber Miss Telyegin«, murmelte Willow besänftigend, »solche Dinge kommen vor. Da gibt es nichts zu verzeihen.«
»Ihr habt mir vertraut«, sagte Anfisa weinend. »Es tut mir Leid, was ich getan habe. Ich werde das Haus verkaufen. Ich werde woanders hinziehen. Ich suche etwas -«
»Aber das ist doch nicht nötig«, unterbrach Willow sie. »Keiner von uns möchte, dass Sie von hier wegziehen. Wir möchten nur, dass Sie sich hier, auf Ihrem Grund und Boden, sicher fühlen können. Wir möchten uns alle sicher fühlen.«
»Ach, was ich euch angetan habe«, rief Anfisa unter Tränen. »Nicht nur einmal, sondern zweimal. Das könnt ihr mir nicht verzeihen.«
Bei diesem »sondern zweimal« wurde Leslie Gilbert schlagartig und mit Unbehagen klar, dass die Russin und Willow McKenna aneinander vorbeiredeten. »Hey, Will«, sagte sie warnend im selben Augenblick, als Anfisa ausrief: »Ach, meine liebsten kleinen Freunde. Alle seid ihr tot.«
Da erst begriff mit einem kalten Schauder auch Willow.
Sie sah Leslie an. »Meint sie damit ...«
»Richtig, Will. Ich glaube, die meint sie.«
Erst zwei Wochen später, als Anfisa Telyegin vor ihrem Haus in der Napler Lane ein Verkaufsschild aufgestellt hatte, erfuhr Willow McKenna von ihr die ganze Geschichte. Sie ging mit einem Teller Weihnachtsplätzchen als versöhnliche Geste zu ihr hinüber, und anders als bei ihrem letzten Besuch mit den Schokonussschnitten machte Anfisa ihr diesmal die Tür auf. Mit einem Kopfnicken bat sie Willow ins Haus. Sie führte sie in die Küche und bot ihr eine Tasse Tee an. Sie hatte in den vergangenen zwei Wochen offenbar nicht nur getrauert, sondern diese Zeit auch zu reiflicher Überlegung genutzt und den Entschluss gefasst, Willow einen Blick in ihre Welt zu gestatten.
»Zwanzig Jahre lang«, sagte sie, als sie sich zusammen an den Tisch setzten. »Ich habe mich geweigert, so zu werden, wie sie mich haben wollten, und ich habe mir nicht den Mund verbieten lassen. Da haben sie mich deportiert. Zuerst kam ich nach Lubyanka, wissen Sie, was das ist? Vom KGB geführt. Ein grauenvoller Ort. Von dort nach Sibirien.«
»Sie waren im Gefängnis?«, fragte Willow leise.
»Gefängnis wäre schön gewesen. Das war ein Konzentrationslager. Ach Gott, ich habe oft genug gehört, wie Ihre Landsleute ihre Witze über Sibirien machen - ha, ha, ha, die Salzbergwerke von Sibirien. Ja, das habe ich oft genug gehört. Aber wirklich dort zu sein, ohne einen Menschen, jahrelang. Vergessen zu sein, weil die wichtige Stimme, die Stimme, die zählte, die des Geliebten war, während man selbst, solange er am Leben war, bloß als Handlangerin angesehen und von keinem ernst genommen wurde, bis die Behörden einen plötzlich ernst nahmen. Es war eine schreckliche Zeit.«
»Sie waren -?« Wie nannte man das gleich wieder? Willow versuchte, sich zu erinnern. »Eine Dissidentin?«
»Eine Stimme, die ihnen nicht passte. Die sich nicht mundtot machen ließ, die lehrte und schrieb, bis sie kamen, um sie abzuholen. Erst war es Lubyanka. Dann war es Sibirien. Und dort in der Zelle, da kamen die Kleinen zu mir. Zuerst hatte ich Angst vor ihnen. Der Schmutz. Die Krankheiten. Ich verscheuchte sie. Aber sie kamen trotzdem. Sie kamen immer wieder und beobachteten mich. Und da sah ich, dass sie auch Angst hatten. Sie wollten nur wenig. Ich gab ihnen ein bisschen zu essen. Brot. Ein Fetzchen Fleisch, wenn ich welches hatte. Da sind sie geblieben, und ich war nicht mehr allein.«
»Die Ratten ...« Willow bemühte sich, ihren Ekel nicht zu zeigen. »Sie waren Ihre Freunde.«
»Und sind es bis auf den heutigen Tag.«
»Aber Miss Telyegin«, sagte Willow, »Sie sind doch eine gebildete Frau. Sie haben studiert. Sie sind belesen. Sie müssen wissen, dass Ratten Krankheiten übertragen.«
»Zu mir waren sie nur gut.«
»Ja. Ich sehe Ihnen an, dass Sie davon überzeugt sind. Aber das war damals, als Sie im Lager waren und keine Hoffnung hatten. Sie brauchen jetzt keine Ratten mehr. Lassen Sie Menschen ihren Platz einnehmen.«
Anfisa Telyegin senkte den Kopf. »Einbruch und Mord«, sagte sie. »Manche Dinge kann man nicht vergessen.«
»Aber man kann sie verzeihen. Und niemand hier möchte, dass Sie fortziehen. Wir wissen - ich weiß, dass Sie schon einmal Ihr Heim aufgeben mussten. In Port Terryton. Ich weiß, was dort passiert ist. Die Polizei, die Gerichtsverfahren . Miss Telyegin, bitte verstehen Sie doch, wenn Sie von hier wegziehen und woanders neu anfangen und wieder Ratten auf ihrem Grundstück dulden ... Ist Ihnen denn nicht klar, dass sie dann wieder genau dort enden werden, wo Sie angefangen haben? Niemand wird zulassen, dass Sie Ratten den Vorzug vor Menschen geben.«
»Das werde ich nicht wieder tun«, sagte Anfisa.
»Aber ich kann nicht hier bleiben, nach allem, was geschehen ist.«
»Ist doch das Beste, Darling«, sagte Ava Downey und trank von ihrem Gin Tonic. Acht Monate waren seit der Rattennacht vergangen, und Anfisa Telyegin war aus ihrer Mitte verschwunden. In der Nachbarschaft war alles wieder wie früher, und die neuen Eigentümer von Nummer 1410 - ein Ehepaar namens Houston, er Rechtsanwalt, sie Kinderärztin, mit einem Au-pair- Mädchen aus Dänemark und zwei adretten Kindern von acht und zehn Jahren, die in ihrer Privatschule Uniform tragen mussten und ihre Bücher in ordentlichen Schulranzen vom Haus zum Auto und wieder zurück beförderten - taten endlich das, was die Anwohner sich schon lange wünschten. Wochenlang schwangen die Maler die Pinsel, schleppten die Tapezierer Tapetenrollen ins Haus, schmirgelten und beizten die Schreiner, schufen die Innenausstatter Elegantes an den Fenstern . Der Hühnerstall wurde abgerissen und verbrannt, der Efeu entfernt, der Lattenzaun erneuert, und vor dem Haus wurden eine Rasenfläche und Blumenrabatten angelegt, während hinten ein Garten im englischen Stil kreiert wurde. Sechs Monate später wurde die Napler Lane endlich vomWingate Courier zum idealen Wohngebiet erhoben und Haus Nummer 1420 als repräsentatives Beispiel für die Vorzüge des Viertels vorgestellt.
Und es gab darüber keine Eifersucht, wenn auch die Downeys ziemlich kühl waren, als die übrigen Nachbarn den Houstons zur Wahl ihres Hauses als Vorbild perfekten Wohnens gratulierten. Immerhin hatten die Downeys ihr Haus lang vorher renoviert, und Ava hatte Madeline Houston von Beginn an netterweise ihre sachkundige Hilfe bei der Inneneinrichtung angeboten .
Auch wenn Madeline praktisch Avas gute Ratschläge alle in den Wind geschlagen hatte, hätte es sich für die Houstons gehört, bescheidene Zurückhaltung zu üben und die Ehre, die Napler Lane auch im Bild repräsentieren zu dürfen, an die Downeys abzutreten, die auf jeden Fall allen hier kluge Ratgeber waren, wenn es um Hausrenovierung und Innenausstattung ging. Aber die Houstons sahen das offenbar nicht so und stellten sich vergnügt vor dem Haus Nr. 1420 auf, als die Zeitungsfotografen anrückten. Die darauf folgende Titelseite desWingate Courier ließen sie rahmen und hängten sie im Vestibül auf, wo jeder - auch die neiderfüllten Downeys - sie sehen konnte, der zu Besuch kam.
In den Worten »Ist doch das Beste, Darling«, schwangen also gemischte Gefühle mit, als Ava Downey sie zu Willow McKenna sagte, die im Vorübergehen stehen geblieben war, um ein wenig zu schwatzen. Sie hatte den kleinen Cooper dabei, der in seinem Kinderwagen ein Nickerchen machte. Ava saß in ihrem Schaukelstuhl aus Rattan auf der Vorderveranda ihres Hauses und genoss einen warmen Frühlingstag mit dem ersten Gin Tonic der Freiluftsaison. Ihre Worte bezogen sich auf Anfisa Telyegins Abgang von der Nachbarschaftsbühne, mit dem Willow noch immer nicht recht ausgesöhnt war - trotz der Ankunft der Houstons, die mit ihren Kindern, ihrem Au- pair-Mädchen und ihrem ernsthaften Renovierungsbemühen so viel besser in die Napler Lane passten.
»Kannst du dir vorstellen, was jetzt hier los wäre, wenn wir nichts unternommen hätten, um das Problem ein für allemal aus der Welt zu schaffen?«, fragte Ava.
»Aber wenn du sie an dem Abend gesehen hättest .«
Willow wurde das Bild der Russin, wie sie in ihrem Garten gekniet und in den verwüsteten Efeu geschluchzt hatte, nicht los. »Und dann zu hören, was die Ratten ihr bedeuteten ... Ich fühl mich einfach so ....«
»Das ist eine verlängerte postnatale Depression«, erklärte Ava. »Weiter nichts. Du brauchst nur einen anständigen Drink. Beau! Beau, Schätzchen, bist du da, Darling? Mixe doch Willow -«
»Nein, nein. Ich muss das Abendessen machen. Und die Kinder sind allein. Außerdem ... Ich bin einfach immer noch traurig über das alles. Es ist, als hätten wir sie von hier vertrieben, und ich hätte nie geglaubt, dass ich jemals so was tun würde, Ava.«
Ava zuckte nur die Schultern und klapperte mit ihren Eiswürfeln. »Es war das Beste«, sagte sie wieder.
Und Leslie Gilbert sagte finster: »Ist ja klar, dass Ava es so sieht. Die Südstaatler sind es gewöhnt, Menschen von ihren Grundstücken zu vertreiben. Das ist bei ihnen ein Sport.« Aber sie sagte das hauptsächlich, weil sie zugesehen hatte, wie Ava sich bei der Silvesterparty Owen an den Hals geworfen hatte. Sie hatte immer noch nicht vergessen, dass die beiden sich geküsst und dabei mit den Zungen herumgefuhrwerkt hatten, obwohl Owen das bis heute bestritt.
»Aber sie hätte nicht wegzuziehen brauchen«, klagte Willow. »Ich hatte ihr verziehen. Du nicht auch?«
»Natürlich. Aber wenn jemand sich schämt ... was soll er da tun?«
Auch Willow schämte sich. Sie schämte sich darüber, in kopflose Panik geraten zu sein und Anfisa nachspioniert zu haben. Am meisten aber schämte sie sich darüber, dass sie der Frau, nachdem sie in Port Terryton die Wahrheit herausgefunden hatte, keine Chance gegeben hatte, die Dinge in Ordnung zu bringen, bevor die Männer eingriffen. Hätte sie das getan und Anfisa reinen Wein darüber eingeschenkt, was sie über sie erfahren hatte, so hätte Anfisa ganz sicher alles unternommen, um dafür zu sorgen, dass in East Wingate nicht das Gleiche geschah wie in Port Terryton.
»Ich habe ihr überhaupt keine Chance gegeben«, sagte sie zu Scott. »Ich hätte ihr sagen müssen, was wir für den Fall, dass sie es ablehnte, die Schädlingsbekämpfung zu holen, vorhatten. Ich finde, ich sollte ihr das wenigstens noch sagen: Dass wir zwar das Richtige getan haben, dass aber die Art und Weise, wie wir es getan haben, nicht in Ordnung war. Ich glaube, es wird mir gleich besser gehen, wenn ich das tue, Scott.«
Scott McKenna war der Meinung, es sei überflüssig, Anfisa Telyegin Erklärungen zu geben. Aber er kannte Willow. Sie würde keine Ruhe geben, bevor sie nicht die Versöhnung mit der ehemaligen Nachbarin herbeigeführt hatte, die sie für ihren eigenen Seelenfrieden zu brauchen meinte. Er persönlich fand, sie verschwende nur ihre Zeit, aber er steckte so tief in seiner Arbeit für die - Gott sei gelobt! -zwölf Kunden, derer sich seine Firma McKenna Computing Designs mittlerweile erfreute, dass er sich darauf beschränkte: »Tu, was du für richtig hältst, Will«, zu murmeln, als seine Frau schließlich erklärte, sie beabsichtige, Anfisa zu besuchen.
»Sie war im Gefangenenlager«, erinnerte Willow ihn.
»In einem Konzentrationslager. Wenn wir das damals gewusst hätten, hätten wir bestimmt alles anders gemacht. Meinst du nicht?«
Scott hörte nur mit halbem Ohr zu. »Ja, ja, wahrscheinlich.«
Willow nahm es als Zustimmung.
Es war nicht schwierig, Anfisa ausfindig zu machen. Willow wandte sich an das Community College, wo eine verständnisvolle Sekretärin aus der Personalabteilung einen Kaffee mit ihr trank und ihr einen Zettel mit einer Adresse im knapp zweihundert Kilometer entfernten Lower Waterford über den Tisch schob.
Diesmal nahm Willow Leslie Gilbert nicht mit. Sie bat sie vielmehr, für den Tag auf Cooper aufzupassen. Da Cooper in einem Alter war, wo er die meiste Zeit schlief, wenn er nicht gerade gefüttert werden musste, und sie daher nicht auf ihre tägliche Zufuhr an Talkshows würde verzichten müssen, sagte Leslie zu. Und in ihrer Vorfreude auf das Thema ihrer Lieblingssendung an diesem Tag - Ich hatte Gruppensex mit den Freunden meines Sohnes - fragte sie Willow nicht einmal, was sie vorhabe und ob sie nicht Begleitung wolle.
Willow war das recht. Sie wollte sowieso mit Anfisa Telyegin allein sprechen.
Anfisas neues Haus in Lower Waterford war im Rosebloom Court, und eine neue Welle von Schuldgefühlen überspülte Willow, als sie es sah und mit Anfisas früheren Häusern in Port Terryton und in der Napler Lane verglich. Beide Häuser hatten historischen Wert besessen. Bei diesem hier war das nicht der Fall. Sie hatten den Geist der Zeit gespiegelt, in der sie erbaut worden waren. Dieses hier spiegelte nichts weiter als das Bestreben eines geschäftstüchtigen Bauunternehmers, mit möglichst geringer Anstrengung möglichst viel Geld zu machen. Es war wie die Häuser, in die die Leute nach dem zweiten Weltkrieg in Scharen eingezogen waren: Gipswände, eine Betoneinfahrt mit einer Rinne in der Mitte, in der das Unkraut wucherte, und ein Dach aus Teerpappe. Der Anblick machte Willow tief traurig.
In ihrem Wagen sitzend, bereute sie alles, am meisten aber bereute sie ihre Neigung zur Panik. Hätte sie nicht bei der Begegnung mit der ersten Ratte den Kopf verloren, wäre sie nicht in Panik geraten, als sie den Kot in ihrem Gemüsegarten entdeckt und später von Anfisas Schwierigkeiten in Port Terryton erfahren hatte, so hätte sie die arme Person vielleicht nicht zu einem Dasein in dieser tristen Gasse mit den sterilen kleinen Gärten, in denen höchstens mal ein einziger Baum stand, mit den hässlichen Häusern und den holprigen Bürgersteigen voller Schlaglöcher verdammt.
»Es war ihre eigene Wahl, Darling«, hätte Ava Downey gesagt. »Und vergiss nicht den Hühnerstall, Willow. Das war doch wirklich nicht nötig, dass sie sich in ihrem Garten Ratten hielt, oder?«
Diese letzte Frage beschäftigte Willow, während sie in ihrem Auto vor Anfisas neuem Haus saß, und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass zwischen diesem Anwesen und dem letzten, das Anfisa bewohnt hatte, noch andere Unterschiede bestanden als der in der Art der Häuser. Hier gab es im Gegensatz zu dem Grundstück in der Napler Lane nirgends auch nur ein Blattchen Efeu. Es gab überhaupt nichts, was einer Ratte Unterschlupf geboten hätte. Der ganze Garten bestand aus kurz geschnittenem Rasen, ordentlich bepflanzten Blumenbeeten und ebenso ordentlich gestutzten Sträuchern.
Vielleicht, sagte sich Willow, hatte Anfisa Telyegin zwei Häuser und zwei Garnituren hellauf empörter Nachbarn gebraucht, um zu begreifen, dass sie keine Hoffnung hatte, ein ruhiges, unauffälliges Leben zu führen, wenn sie ihr Heim mit Ratten teilte.
Willow musste sich vergewissern, dass das, was sich in der Napler Lane abgespielt hatte, auch sein Gutes gehabt hatte, darum stieg sie aus dem Wagen und schlich zum Zaun, der den Garten hinter dem Haus umschloss. Ein Hühnerstall, eine Hundehütte oder ein Geräteschuppen wäre ein sehr schlechtes Zeichen. Aber ein Blick über den Zaun zur Terrasse, zum Rasen und zu den Rosenbüschen zeigte ihr, dass Anfisa diesmal keine Unterkunft für Ratten vorgesehen hatte.
»Manchmal lernen die Menschen nur durch schmerzliche Erfahrung, Willow«, hätte Ava Downey gesagt.
Und es sah in der Tat so aus, als hätte Anfisa Telyegin etwas gelernt, ob nun durch schmerzliche Erfahrung oder nicht.
Willow fühlte sich durch das, was sie sah, ein wenig befreit, aber sie wusste, dass die Erlösung erst fällig war, wenn sie sich vergewissert hatte, dass Anfisa sich in ihrer neuen Umgebung wohl fühlte. Ja, sie hoffte sogar, dass ein Gespräch mit ihrer ehemaligen Nachbarin zu einem Dankeswort Anfisas an die Leute aus der Napler Lane führen würde, die es geschafft hatten - wenn auch mit sehr drastischen Mitteln -, sie zur Vernunft zu bringen. Das wäre etwas, was Willow ihrem Mann und ihren Freunden zu Haus überbringen könnte, und damit könnte sie, die ja eigentlich an allem schuld war, ihre Ehre auch vor ihnen wiederherstellen.
Willow klopfte an die Tür, in eine kleine Nische eingelassen und mit einer Betonstufe davor. Sie verspürte einen Anflug von Beklommenheit, als sich ein Vorhang hinter dem Glas in der Tür bewegte, und rief, in der Hoffnung, die Frau zu beruhigen: »Miss Telyegin, sind Sie zu Hause? Ich bin's, Willow McKenna.«
Ihr Gruß hatte Wirkung. Die Tür wurde einen Spalt aufgezogen, und in ihm zeigte sich ein schmales Teilstück Anfisa Telyegins.
Willow lächelte. »Hallo! Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich hier einfach so hereinplatze. Ich war gerade in der Gegend und wollte sehen . « Sie verstummte. Anfisa starrte sie völlig verständnislos an.
»Willow McKenna«, sagte sie noch einmal. »Ihre Nachbarin aus der Napler Lane. Erinnern Sie sich, Miss Telyegin? Wie geht es Ihnen?«
Da verzogen sich Anfisas Lippen zu einem Lächeln. Sie trat von der Tür weg. Willow nahm dies als Aufforderung, hereinzukommen, versetzte der Tür einen leichten Stoß und trat ins Haus.
Alles schien in bester Ordnung. Das Haus war pieksauber - gefegt, geschrubbt, poliert. Es hing zwar ein etwas eigenartiger Geruch in der Luft, aber das schrieb Willow der Tatsache zu, dass trotz des schönen Frühlingswetters nirgends ein Fenster geöffnet war. Das Haus war wahrscheinlich den ganzen Winter über nicht richtig gelüftet worden, und durch die Heizungsluft hatten sich sämtliche Küchendünste in den Räumen festgesetzt.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Willow herzlich. »Ich denke so oft an Sie. Unterrichten Sie jetzt an einem College hier in der Gegend? Sie fahren doch sicher nicht jeden Tag nach East Wingate?«
Anfisa lächelte selig. »Es geht mir gut«, antwortete sie. »Es geht mir sehr gut. Trinken Sie eine Tasse Tee?«
Diese warme Begrüßung tat Willow so gut wie ein Daunenplumeau in einer eisigen Winternacht. Sie sagte:
»Haben Sie mir verziehen, Anfisa? Haben Sie mir wirklich und wahrhaftig verzeihen können?«
Anfisas Antwort hätte nicht tröstlicher sein können.
»Ich habe in der Napler Lane viel gelernt«, sagte sie.
»Ich lebe nicht mehr so, wie ich damals lebte.«
»Ach, tatsächlich?«, sagte Willow. »Ich bin ja so froh!«
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Anfisa. »Hier hinein, bitte. Ich koche uns einen Tee.«
Nur zu gern setzte sich Willow an den Tisch und sah Anfisa zu. die mit heiterer Geschäftigkeit in der Küche hantierte. Sie erzählte, während sie den Kessel mit Wasser füllte und Teetassen aus dem Schrank nahm.
Sie habe sich hier gut eingelebt, berichtete sie Willow. Es sei ein schlichteres Viertel, sagte sie, Leuten wie ihr, die schlichtere Bedürfnisse und Vorlieben hatten, angemessener. Die Häuser und Gärten seien bescheiden wie sie selbst, und die Leute kümmerten sich nicht viel um ihre Umgebung.
»Das ist besser für mich«, erklärte Anfisa. »Es entspricht mehr dem, was ich gewöhnt bin.«
»Aber ich hoffe doch, Sie sehen die Napler Lane nicht als einen großen Irrtum für sich«, entgegnete Willow.
»Ich habe in der Napler Lane viel über das Leben gelernt«, erwiderte Anfisa. »Viel mehr als irgendwo sonst. Und dafür bin ich dankbar. Ihnen. Und allen Nachbarn. Ich lebte nicht so, wie ich jetzt lebe, wenn die Napler Lane nicht gewesen wäre.«
Sie lebe, erklärte sie, in Frieden. Und es zeigte sich in der Tat vielleicht weniger in ihren Worten als in ihrem Handeln, den wechselnden Ausdrücken von Freude, Zufriedenheit und Glück, die über ihr Gesicht zogen, während sie sprach. Sie wollte wissen, wie es Willows Familie gehe: ihrem Mann, dem kleinen Mädchen und seinem Brüderchen. Und es sei ja wohl in der Zwischenzeit ein drittes dazugekommen, nicht wahr? Ob sie noch mehr Kinder wolle? Ja, sicherlich, nicht?
Willow errötete bei dieser letzten Frage, die einiges über Anfisas Intuition verriet. Ja, bekannte sie, sie wolle noch mehr Kinder haben. Tatsächlich sei sie ziemlich sicher, dass der vierte McKenna bereits unterwegs war, obwohl sie ihrem Mann noch nichts davon gesagt hatte.
»Eigentlich wollte ich nicht schon so bald nach Cooper das nächste Kind«, gestand Willow. »Aber nun ist es mal passiert, und ich muss sagen, ich freue mich wahnsinnig. Ich liebe große Familien. Ich habe mir immer eine große Familie gewünscht.«
»Ja.« Anfisa lächelte. »Die kleinen Geschöpfchen. Durch sie wird das Leben erst schön.«
Willow erwiderte das Lächeln. Sie war so beglückt über den Empfang, den Anfisa ihr bereitete, über ihre offen zur Schau getragene Freude über alles, was Willow ihr erzählte, dass sie sich vorbeugte und Anfisa die Hand drückte. »Ich bin so froh, dass ich hierher gekommen bin«, sagte sie. »Sie kommen mir vor wie ein anderer Mensch.«
»Ich bin ein anderer Mensch«, erwiderte Anfisa. »Ich tue nicht mehr das, was ich früher getan habe.«
»Sie haben gelernt«, konstatierte Willow. »Genau darum geht es im Leben.«
»Das Leben ist schön«, stimmte Anfisa zu. »Es ist ein volles Leben.«
»Wie ich mich freue, das zu hören! Das klingt wie Musik in meinen Ohren, Anfisa. Ich darf Sie doch so nennen, ja? Anfisa? Ich möchte Ihre Freundin sein.«
Anfisa drückte Willow die Hand, wie die zuvor die ihre gedrückt hatte. »Freundinnen«, sagte sie. »O ja. Das wäre schön, Willow.«
»Vielleicht können Sie einmal nach East Wingate kommen und uns besuchen«, sagte Willow. »Und wir kommen zu Ihnen zu Besuch. Wir haben im Umkreis von achthundert Kilometern keine Verwandten, und wir fänden es wunderbar, wenn Sie - wenn Sie unseren Kindern so etwas wie eine Großmutter sein könnten. Natürlich nur, wenn Ihnen das recht ist. Wissen Sie, das hatte ich mir schon erhofft, als Sie in der Napler Lane eingezogen sind.«
Anfisas Gesicht leuchtete auf, sie drückte eine Hand auf ihre Brust. »Ich? Sie wollten mich als Großmutter für Ihre Kleinen?« Sie lachte, unverkennbar entzückt über die Vorstellung. »Ach, das wäre ich gern. Von Herzen gern. Und Sie« - wieder ergriff sie Willows Hand - »Sie sind zu jung, um eine Großmutter abzugeben. Dann müssen Sie eben die Tante sein.«
»Die Tante?« Willow lächelte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon Anfisa redete.
»Ja, ja«, bestätigte Anfis. »Die Tante meiner Kleinen, so wie ich die Großmutter Ihrer Kleinen sein werde.«
»Ihrer ...« Willow schluckte. Sie konnte es sich nicht verkneifen, einen scharfen Blick in die Runde zu werfen. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und sagte: »Sie haben auch was Kleines? Das wusste ich gar nicht, Anfisa.«
»Kommen Sie!« Anfisa stand auf und legte Willow die Hand auf die Schulter. »Sie müssen sie kennen lernen.«
Willow folgte, obwohl sie gar nicht wollte. Sie folgte Anfisa aus der Küche ins Wohnzimmer und von dort durch einen schmalen Gang. Der Geruch, den sie wahrgenommen hatte, als sie ins Haus gekommen war, wurde intensiver und noch intensiver, als Anfisa eine Zimmertür öffnete.
»Ich habe sie hier drinnen untergebracht«, sagte Anfisa über ihre Schulter hinweg zu Willow. »Die Nachbarn wissen nichts, und Sie dürfen nichts verraten. Ich habe aus der Zeit in der Napler Lane wahrhaftig viel gelernt.«