SIEBEN

1. September 1932



Warum soll der Staat nicht geringe Opfer von denjenigen verlangen, die ihn schwächen. Warum soll er nicht verhindern, dass ihm noch mehr auf der Tasche liegen … Drei Generationen von Schwachsinnigen sind genug.


Richter Oliver Wendell Holmes 1927 bei der Begründung des Urteils des obersten Berufungsgerichtes im Staate Virginia im Fall Buck gegen Bell, bei dem die Sterilisation eines »möglichen Elternteils von sozial unzulänglichen Nachkommen« in zweiter Instanz bewilligt wurde


Es war einmal, als meine Mutter so alt war wie ich jetzt, dass sie sich verliebte. Nicht in einen von den schmalgesichtigen, jungen Männern, die meinen imposanten Großvater mit Sir anredeten. Nicht in Harry Beaumont, einen jungen Professor, der die besten Aussichten hatte, den Preis zu gewinnen, nämlich die Hand meiner Mutter, und der fast zehn Jahre älter als sie war und in einem Atemzug von Liebe und natürlicher Auslese sprach. Während Harry und die anderen jungen Männer auf der Veranda mit meiner Mutter flirteten, blickte sie an ihnen vorbei und beobachtete einen Zigeuner, der auf den Feldern ihres Vaters arbeitete.

Seine Haut hatte die Farbe des schimmernden Klaviers, auf dem sie den Freundinnen ihrer Mutter zum Tee etwas vorspielte. Sein Haar war länger als ihres. Seine Augen waren so scharf wie die eines Habichts, und manchmal, wenn sie allein in ihrem Zimmer war und die Vorhänge geschlossen hatte, spürte sie, dass er sie trotzdem sehen konnte. Wenn sie den indianischen Arbeitern Wasser brachte – der einzige Kontakt mit ihnen, der ihr erlaubt war –, spürte sie ihn in ihren Adern.

Siebzehn Jahre lang war sie eine vorbildliche Tochter gewesen. Doch jetzt kam ihr ihr Leben vor wie ein eleganter Mantel, der all die Jahre in einer Aussteuerkiste gelegen hatte und nicht mehr passen wollte.

Eines Tages auf dem Feld war er der Letzte, der ihr seine Blechtasse reichte. Schweiß rann ihm über die nackte Brust, und er roch nach den Blaubeeren, die er gepflückt hatte. Seine Zähne blitzten weiß, als er sie fragte: »Wer sind Sie?«

Sie hätte sagen können, Lily Robinson. Oder Quentin Robinsons Tochter. Oder die Zukünftige von Harry Beaumont. Aber danach hatte er nicht gefragt. Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sie sich, warum sie sich stets als Teil eines anderen Menschen definierte.

Er begann, kleine Geschenke für sie auf der Veranda zu verstecken: ein Paar winzige Mokassins, ein Weidenkorb, die Zeichnung eines galoppierenden Pferdes. Sie erfuhr, dass er John hieß.

Vor ihrem ersten Rendezvous erzählte sie ihren Eltern, sie würde bei einer Freundin übernachten. Er erwartete sie an der Straße in die Stadt. Er nahm ihre Hand, als hätten sie das schon ewig so gemacht. Sie gingen zum Fluss, und der Sternenhimmel war ihr Baldachin. Als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, fiel sein Haar über ihr Gesicht und schloss die Welt aus.

Er war ein Jahr jünger als sie und ganz anders als die Zigeuner, von denen man ihr immer erzählt hatte. John war nicht schmutzig oder dumm oder verlogen. Und er verstand sie. Allmählich waren Lilys Tage nur noch die Wartezeit auf den Abend. Sie fing an, ihrem Vater Widerworte zu geben und ihre Mutter mit Verachtung zu strafen. Sie fing an, in satten Farben zu träumen. Und an dem Abend, als John in sie eindrang und ihr beibrachte, sich zu öffnen, da weinte Lily, weil jemand sie liebte und nicht nur die Person, die sie sein sollte.

Als sie schwanger wurde, beging sie den Fehler, darin eine Chance zu sehen. Sie wartete aufgeregt vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters, während John, in Oberhemd und geliehener Krawatte, um ihre Hand anhielt.

An das, was dann geschah, konnte Lily sich später nicht mehr erinnern, oder vielleicht ließ sie die Erinnerung auch nicht zu. Da war John, der bewusstlos und blutig geschlagen aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters geschleift wurde. Da war die Faust ihres Vaters, die über ihr bebte, als er ihr befahl, noch einmal die Hure zu geben, indem sie irgendeinen arglosen Dummkopf heiratete. Der förmliche Kuss, der ihre Verlobung mit Harry Beaumont besiegelte; der schreckliche Augenblick in der Kirche, als sie ihrem frischgebackenen Ehemann beinahe die Wahrheit gesagt hätte; einige Zeit später dann die Freude auf seinem Gesicht, als sie ihm stattdessen eröffnete, dass sie guter Hoffnung war.

Sie versuchte, John zu finden, aber es war schwierig, jemanden aufzuspüren, der keinen festen Wohnsitz hatte. Sie hörte Gerüchte, dass er in einer Bar in Vergennes arbeitete, dass er ein Pferdedieb geworden war, dass er sich im Steinbruch verdingt hatte. Als sie erfuhr, dass die letzte Geschichte stimmte, war John Delacour schon nicht mehr dort beschäftigt. Er saß im Gefängnis und wartete auf seinen Prozess wegen Mordes an einem Aufseher.

Sie schrieb ihm einen Brief, einen kleinen rechteckigen Zettel, den er zusammenfaltete und in einem Beutel um den Hals trug. Darin stand nichts über ihre Heirat oder ihr Befinden oder das Kind. Darin stand nur: Komm zurück. John antwortete nicht auf den Brief, weil er wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte. Nach einem Monat wachte Lily nicht mehr mit seinem Geschmack auf den Lippen auf. Nach drei Monaten konnte sie sich nicht mehr an den Holzrauch in seiner Stimme erinnern. Nach sechs Monaten bekam sie Albträume, dass ihr Baby mit rabenschwarzem Haar und zimtfarbener Haut zur Welt kommen würde.

Lily Robinson Beaumont erlitt eine Frühgeburt; sie fiel nach vierzig Stunden Wehen in tiefe Bewusstlosigkeit und starb kurz darauf. Sie hatte Johns Namen auf der Zunge und nahm ihn mit sich. Sie wusste nicht, dass John eines Tages zurückkommen würde – selbst als er von einem bestechlichen Gefängniswärter erfahren hatte, dass seine Geliebte in die Geisterwelt übergegangen war. Sie wusste nicht, dass die Tochter, die sie zurückließ, Cecelia, goldenes Haar hatte und eine Haut so weiß wie ein Wunder.


In meinen Träumen gebäre ich den Teufel, Jesus, einen Titanen, der mich zerreißt. Ich blute aus allen Poren, und wenn ich aufwache, sind die Laken schweißdurchtränkt. Das Fenster im Schlafzimmer klemmt. Etliche Male versucht Spencer vergeblich, es zu öffnen. Ich kann seinen Anblick nicht ertragen.

Als ich heute Nacht aus dem Schlaf aufschrecke, erwacht Spencer nicht mit mir. Ich schlüpfe aus dem Bett, der Teppich dämpft meine Schritte, als ich die Treppe hinuntergehe. Spencer hat die Tür seines Arbeitszimmers offen gelassen.

Ich knipse die grüne Schreibtischlampe an. Ich war schon unzählige Male in diesem Zimmer, doch nie mit der Absicht, etwas zu suchen. Wo könnte Spencer es aufbewahren?

Auf seinem Schreibtisch liegen ordentliche Papierstapel. Sein Block ist mit unleserlichen Notizen vollgekritzelt. Einige Worte kann ich entziffern: Zwillinge, Vormundschaft, epidemisch. In einem Schirmständer neben dem Tisch stehen aufgerollte Stammbaumkarten. Sie tragen Überschriften: Delaire, Moulton, Waverly, Olivette – kein Delacour. Könnte mein Vater – mein Vater? – den Stammbaum von Gray Wolfs Familie unter einem anderen Namen abgelegt haben?

Weber/George.

Die Überschrift springt mir ins Auge. Behutsam ziehe ich die Karte aus dem Ständer und entrolle sie auf dem Tisch. Es ist nicht schwer, Rubys Namen zu finden, er steht ganz unten zwischen anderen, und Spencer hat ihn mit roter Tinte markiert. Ich sehe mathematische Berechnungen und Anmerkungen in seiner engen Handschrift. Er wollte ermitteln, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Ruby sich ebenso schlimm entwickelt wie ihre Verwandten.

Neben dem Namen ihrer geliebten Schwester befindet sich eine Markierung, dunkel wie ein Brandmal. Sx, für Unmoralisch.

Dasselbe Symbol hätte man auch meiner Mutter verpasst.

»Cissy.«

Spencers Stimme ist ganz leise, und doch fahre ich ruckartig hoch. Ich sehe seine Silhouette in der offenen Tür. Er hat seinen Bademantel an und beobachtet mich. Als er ins Zimmer tritt, fällt sein Blick auf den Tisch.

Einen quälenden Moment lang denke ich, er weiß genau, wonach ich gesucht habe. Doch aus unerfindlichen Gründen glättet sich sein Gesicht zu einer Maske. »Schatz, du bist wieder schlafgewandelt.«

»Ja.« Ich räuspere mich.

Er bietet mir seinen Arm an und führt mich aus dem Arbeitszimmer, schließt die Tür hinter uns ab. »Daran ist nur das Baby schuld«, sagte Spencer, ohne mein Gesicht aus den Augen zu lassen.

Wir sprechen über zwei verschiedene Dinge, und das wissen wir beide. »Nein«, antworte ich.


Am nächsten Morgen sitze ich vor dem Spiegel an meiner Frisierkommode, als Spencer sich zu mir beugt und mir einen Kuss auf den Hals gibt. »Wie fühlst du dich?«, fragt er, als wäre letzte Nacht nichts passiert.

Ich lege die Bürste aus der Hand. »Gut.«

Spencers Hand gleitet an meinem Nachthemd hinunter auf die Leibeswölbung, die unseren Sohn birgt. »Und wie fühlt er sich?«

»Er fühlt sich schwer an.«

Wir sind ein schönes Paar.

»Spencer«, sage ich vorsichtig. »Ich muss mit dir reden.«

Aber inzwischen hat er die Hände an meinen Armen hinuntergleiten lassen, und seine Finger liebkosen den allmählich verheilenden Wulst an meinem Handgelenk. Er hat den Kopf geneigt und schweigt, aber ich kann seine Gedanken lesen: Wenn er mich nicht lieben würde, wäre alles viel einfacher.

Aber er liebt ja nicht mich. Er kennt mich nicht einmal richtig. Wenn Spencer schon nicht zu einer Frau stehen kann, die ihr Leben nicht haben will, wie wird er dann erst auf eine Frau reagieren, die Halbindianerin ist?

Würde er meinen Namen an den Delacour-Stammbaum anfügen? Oder würde er den Stammbaum verbrennen? Spencer hat die Wahrheit über mich bislang vor Freunden und Kollegen überaus geschickt zu verbergen verstanden. Vielleicht würde ihm das auch weiterhin gelingen. Alle Babys, so könnte ich ihm erklären, haben als Neugeborene eine dunkle Haut und ein rundes Gesicht.

»Weißt du, Cissy«, sagt Spencer, »ich denke, wir sollten lieber nicht so viel reden. Das Reden und Denken bringt dich doch nur durcheinander.« Seine Finger kreisen sanft auf meiner Stirn. »Du brauchst mal eine Abwechslung. Eine Aufgabe, die dich beschäftigt.« Er holt einen Zettel aus der Tasche, auf dem die Namen von zehn Paaren stehen, und legt ihn neben mein französisches Teerosenparfüm. »Eine Dinnerparty. Vielleicht eine Vorgeburtstagsfeier für unser Baby. Lass dir mit Ruby das Menü einfallen, die Dekoration, ein Motto.« Er küsst mich auf die Wange. »Was denkst du?«

Ich streiche die Namensliste glatt und klemme sie in eine Ecke des Spiegels. Wir werden Rippenbraten und Süßkartoffeln und Ahornsirup und kandierte Möhren servieren. Wir werden Rotwein trinken und über Scherze lachen, die nicht witzig sind, und auf ein Baby trinken, das meine Welt zerbrechen wird. »Ich soll doch nicht denken«, entgegne ich.


Wir verwenden viel Sorgfalt auf unsere Viehzucht, doch an die sorgfältige Fortpflanzung des Menschen verschwenden wir keinen Gedanken.

Mrs. Bickford aus Bradford, zitiert in der »Burlington Free Press« vom 21. März 1931, im Zusammenhang mit der Debatte über das Sterilisationsgesetz


Ich fange an, mir Komplikationen auszudenken. Jeden Morgen stört mich angeblich irgendetwas anderes an der Schwangerschaft – ein Nerv ist eingeklemmt, das Baby bewegt sich nicht, ich habe quälendes Sodbrennen. Meine Angst vor der Geburt schürt dieses Feuer, und so wird Spencer nicht misstrauisch, wenn ich ihm jeden zweiten Tag sage, dass ich zu Dr. DuBois fahre.

Doch anstatt in die Stadt fahre ich zu dem Lager am See. Nachdem mich die Leute dort mehrere Tage zusammen mit Gray Wolf gesehen habe, hören sie auf, mich anzustarren. Manche kennen meinen Namen. »Meine Tochter«, sagt Gray Wolf, wenn er mich vorstellt.

Das Abenaki-Wort für »mein Vater« lautet n’dadan, und es klingt wie ein Herzschlag.

Heute regnet es. Wir sitzen in Gray Wolfs Zelt an einem zerkratzten Tisch. Ich krame in einem Zigarrenkistchen. Eine Brosche, ein violettes Haarband, eine Locke – das sind die Dinge, die meine Mutter ihm hinterlassen hat. Jedes Mal wenn ich hier bin, betrachte ich sie, als würden sie ein Geheimnis bergen, das ich noch nicht enträtselt habe.

Gray Wolf sagt, ich könnte die Sachen haben, wenn ich möchte. Er sagt, er brauche keine Dinge, um sich an sie zu erinnern, weil er sie im Gegensatz zu mir gekannt hat. Ich weiß nicht, wie ich ihm sagen soll, dass ich eigentlich etwas haben möchte, das ihm gehört – etwas, das mich an ihn erinnert, nur für alle Fälle. Daher stehe ich auf und mache ein paar Schritte in dem kleinen Zelt. Ich berühre seinen Rasierpinsel, das Rasiermesser, den Kamm. Hinter seinem Rücken nehme ich eine Pfeife vom Nachttisch und lasse sie in meine Tasche gleiten.

»Ich dachte, du bevorzugst Zigaretten«, sagt er, ohne sich umzudrehen.

Ich fahre herum. »Wie hast du das gemerkt?«

Er blickt über die Schulter. »Ich kann riechen, wie nervös du bist. Ich hätte dir die Pfeife geschenkt, wenn du etwas gesagt hättest.« Er schmunzelt. »Meine Tochter ist eine Diebin. Liegt bestimmt an dem vielen Zigeunerblut in ihren Adern.«

Meine Tochter. Wieder einmal gibt mir diese Bezeichnung das Gefühl, als hätte ich einen Stern verschluckt. »Du hast mich nie gefragt, ob ich es Spencer erzählen werde oder meinem … Harry Beaumont.«

»Das ist nicht meine Entscheidung. Ich hab es dir nicht erzählt, um Anspruch auf dich erheben zu können. Kein Mensch gehört einem anderen.«

Ich muss daran denken, wie er im Gefängnis die Entscheidung getroffen hat, sich sterilisieren zu lassen, damit er endlich nach mir suchen konnte. Ob er will oder nicht, Menschen gehören einander. Sobald man für einen anderen ein Opfer gebracht hat, besitzt man einen Teil seiner Seele. »Aber du willst doch, dass ich zu dir gehöre.«

Als er zu mir hochsieht, mache ich unwillkürlich einen Schritt zurück, so viel Leidenschaft liegt in seinem Blick. »Ich wollte zu dir. Um jeden Preis. Ich hätte alles dafür gegeben, dich nur ein einziges Mal zu Gesicht zu bekommen. Ob ich gern aus deinem Mund hören würde, dass du meine Tochter bist, wie du es jedem entgegenrufst? Oh ja, ein Teil von mir sagt, dass ich das, was ich getan habe, dafür getan habe. Aber ein größerer Teil von mir will einfach nur, dass es dir gut geht. Und wenn du den Leuten von mir erzählst, werden sie nicht hören, wie stolz du bist, sondern nur, dass du eine Indianerin bist.«

»Das ist mir egal.«

»Weil du nie eine warst. Du hast nicht jahrelang fremde Kleidung getragen, einen fremden Namen angenommen, in fremden Häusern gelebt und jede Arbeit verrichtet, nur um dazuzugehören. Und wenn du dich nicht anpassen kannst, dann läufst du weg … und beweist damit, dass du genau die Zigeunerin bist, für die sie dich die ganze Zeit gehalten haben.« Er schüttelt traurig den Kopf. »Ich möchte, dass du ein besseres Leben hast als ich. Selbst wenn das bedeutet, dass du dich von mir fernhältst.«

Das Baby in mir dreht sich langsam, beunruhigt. »Aber warum hast du dann überhaupt nach mir gesucht? Wieso hast du dich nicht einfach ferngehalten?«

Er starrt mich lange an. »Ich musste zu dir.«

»Wie kannst du mich dann bitten, dich zu meiden?«, frage ich.

Er blickt aus dem Zelt in den Regen. »Du wirst es verstehen, wenn das Baby erst da ist. Es gibt einen alten Ausdruck, awani kia. Er bedeutet: ›Wer bist du.‹ Nicht dein Name, sondern dein Volk. Man hört ihn häufig, wenn man unterwegs ist. Jedes Jahr im Winter, wenn ich nach Odonak ziehe und mich jemand fragt, erzähle ich von meinem Urgroßvater, der ein spiritueller Führer war. Oder von meiner Tante Sopi, die beste Heilerin zu ihrer Zeit. Jeden Winter, wenn ich die Frage beantworte, erinnert mich das daran, dass es keine Rolle spielt, wie die Leute mich nennen, solange ich weiß, wer ich wirklich bin.« Er zögert. »Diesmal werde ich ihnen von dir erzählen.«

Es ist das erste Mal, dass er davon spricht, das Lager zu verlassen. Er ist ein Wanderer, ein Reisender – das hab ich die ganze Zeit gewusst. Aber zum ersten Mal wird mir klar, dass er mich verlassen wird.

»Was, wenn ich mitkomme?«, entfährt es mir.

»Nach Odonak? Ich glaube nicht, dass du dort glücklich wärst.«

»Aber hier bin ich auch nicht glücklich.«

»Lia«, sagt er ruhig. »Ich werde dir nicht sagen, dass du nicht mitkommen sollst. Dafür bin ich zu selbstsüchtig. Aber sobald du in Kanada bist, wirst du daran denken, was du zurückgelassen hast.«

»Das kannst du nicht wissen!«

»Kann ich nicht?« Er blickt auf den Tisch, die Brosche meiner Mutter. »Ein Mensch kann nicht zugleich in zwei Welten leben.«

»Aber du hast mich doch gerade erst gefunden!«

Gray Wolf lächelt. »Wer hat denn gesagt, dass ich dich verloren hatte?«

Ich senke den Kopf. Unwillkürlich reibe ich mit den Fingern über die Narben an meinem Handgelenk. »Ich bin nicht so tapfer wie du«, sage ich.

»Nein«, entgegnet er. »Du bist tapferer.«


Niemand hat das Recht, Kinder in die Welt zu setzen, wenn er so gesündigt hat, dass seine Kinder darunter leiden müssten.

Mr. Harding aus W. Fairlee, zitiert in der »Burlington Free Press« vom 21. März 1931, im Zusammenhang mit der Debatte über das Sterilisationsgesetz


Im Billardzimmer klicken die Kugeln aneinander. »Spencer«, sagt mein Vater lachend, »du wirst dich doch nicht von einem alten Mann wie mir schlagen lassen!«

Ich lächle und drücke mir die Hand ins Kreuz. Ich stehe vor der Anrichte in der Diele und zähle unser Silberbesteck. Spencer möchte, dass ich das einmal im Monat mache. Er sagt, man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich bin beim siebten Teelöffel, als ich das Wort Zigeuner höre.

»Tja«, sagt Spencer daraufhin, »ich hab die Arbeit selbst beenden müssen.«

»Überrascht mich nicht.« Ein scharfes Klacken, als mein Vater sein Queue gegen eine Kugel stößt. »Stehlen, Lügen … würde mich nicht wundern, wenn Unzuverlässigkeit ein vererbbares Merkmal ist.«

»Na, der hier hatte auch noch wegen Mordes im Gefängnis gesessen.«

»Großer Gott …«

»Genau.« Spencer misslingt offenbar ein Stoß, denn er flucht leise. »Ich bin durchaus für Resozialisierung, aber ich möchte wirklich nicht riskieren, dass meine eigene Frau dadurch zu Schaden kommt.«

Ein lautes Klackern ertönt, mein Vater legt die Kugeln für ein neues Spiel auf. »Das Problem ist, dass das Sterilisationsgesetz nichts gegen die Degenerierten ausrichten kann, die bereits geboren sind«, sagt er. »Das müsste als Nächstes in Angriff genommen werden.«

Alles Blut weicht aus meinem Kopf. Er sagt das nicht mit Boshaftigkeit. Seine Worte können gar nicht voller Hass sein, weil er ja keinen der Menschen kennt, die er eliminieren will. Er und Spencer wollen nur die Welt verändern, sie für ihre Kinder verbessern.

Indem sie die Kinder von anderen loswerden.

Ich starre sie durch die offene Tür an. Spencer grinst freundlich. »Genozid ist nicht legal.«

»Nur wenn man sich erwischen lässt«, sagt mein Vater lachend und greift wieder nach seinem Queue. »Halbe oder Volle?«

Ich trete ins Zimmer, kalkweiß; Spencers Queue fällt klappernd zu Boden, und er ist mit wenigen Schritten bei mir. »Cissy?«, sagt er außer sich. »Was ist los? Ist was mit dem Baby?«

Mein Vater blickt besorgt. »Liebes, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Vielleicht stimmt das, denn gerade habe ich etwas gesehen, das im Grunde schon immer da war, ich war nur zu blind, es zu bemerken. Spencer windet mir die Teelöffel aus der Hand. »Lass das doch jetzt. Komm. Du musst dich hinlegen.«

»Ich will mich nicht hinlegen«, sage ich lauter werdend. Ich stoße Spencer weg, und die Teelöffel poltern zu Boden. Ich breche in Tränen aus.

»Ruf Dr. DuBois an«, sagt Spencer leise zu meinem Vater, der nickt und nimmt den Hörer von der Gabel.


Mit Ausnahme der abwesenden Mrs. Farr aus Monkton befürwortete jede Frau im Abgeordnetenhaus von Vermont die Verabschiedung des Sterilisationsgesetzes.

Burlington Free Press, 25. März 1931


Ich liege auf dem Bett, und Dr. DuBois, das Stethoskop noch im Ohr, blickt mich an und sagt dann in munterem Tonfall: »Tja, dem Baby geht’s gut. Ich denke, du brauchst nur ein bisschen Ruhe.« Er schüttelt zwei Schlaftabletten aus einem Medizinfläschchen und beobachtet mich genau, als ich sie in den Mund stecke und einen Schluck aus der Tasse mit Wasser trinke, die er mir hinhält. »Gleich geht’s dir besser. Aber du kannst mich natürlich jederzeit rufen, Cissy, jederzeit, falls du irgendwelche … Fragen hast.«

Dann steht er auf und geht zu Spencer, der an der Tür wartet. Als sie sich leise murmelnd unterhalten, rolle ich mich auf die Seite und spucke die Tabletten aus.

Ich kann jetzt nicht schlafen, weil ich mich dann nicht wie verabredet heute Nachmittag mit Gray Wolf treffen kann. Natürlich werde ich mir jetzt nach Dr. DuBois’ Hausbesuch eine neue Entschuldigung ausdenken müssen. Vielleicht sage ich, dass ich in die Stadt fahre, um Pergamentpapier für die Einladungen zu unserer Dinnerparty zu kaufen. Sie begreifen einfach nicht, dass ich keine Pillen und keine Ruhe brauche. Ich brauche jemanden, der nicht von mir erwartet, dass ich mein Leben verschlafe.

Das Bett sinkt neben mir ein, als Spencer sich auf den Rand setzt. Ich drehe mich zu ihm, die Augenlider halb geschlossen. »Ich werde schon müde.«

»Da bist du nicht die Einzige«, entgegnet Spencer, und seine Stimme klingt gepresst.

Mir stockt der Atem.

»Wie kommt es, dass sich Dr. DuBois – der Arzt, den du in den letzten zwei Wochen wegen verschiedener Beschwerden sechsmal aufgesucht hast – gar nicht an die Besuche erinnern kann?« Sein Gesicht ist rot gefleckt. »Was um alles in der Welt könnte meine Frau gemacht haben, dass sie mich dafür anlügen muss?« Er hat die Hände um meine Schultern gelegt und schüttelt mich. »Nicht bloß einmal, sondern immer und immer wieder?«

Mein Kopf wackelt vor und zurück. »Spencer, es ist nicht so, wie du denkst.«

»Erzähl mir nicht, was ich denke!«, brüllt er. Und dann sackt er plötzlich in sich zusammen. »Cissy, Gott, was hast du mir angetan?«

Als ich sehe, dass er die Fassung verliert, setze ich mich auf und wiege seinen Kopf in meinem Schoß. »Spencer. Ich habe Spaziergänge gemacht. Allein. Ich wollte nur mal allein sein.«

»Allein? Du warst allein?«

Ich blicke ihm direkt in die Augen. »Ja«, erwidere ich, und auf meinen schwangeren Bauch deutend, sage ich gequält: »Schau mich doch an.«

»Das tu ich ja«, antwortet Spencer, »das tue ich.« Er gibt mir einen Kuss, und als er aufsteht, entschuldigt er sich. »Es tut mir leid, Cissy.« Ich drücke seine Hand, doch als er den Schlüssel zum Schlafzimmer aus der Kommode holt, wird mir klar, dass er sich nicht für das entschuldigt, was er getan hat, sondern für das, was er tun wird. »Dr. DuBois ist ganz meiner Ansicht – du kannst nicht allein bleiben. Vor allem jetzt nicht, wo du durch die Schwangerschaft emotional so labil bist. Er sagt, es besteht das Risiko, dass du dir … wieder etwas antust.«

»Und der Himmel verhüte, dass ich das irgendwo tue, wo mich jemand sehen könnte. Was sollen denn die Leute sagen, wenn sie wüssten, dass Spencer Pike mit einer Frau verheiratet ist, die eigentlich nach Waterbury gehört!«

Spencers Hand klatscht laut auf meine Wange, und ich bin stumm vor Entsetzen. Er starrt auf seine offene Hand, ebenso überrascht wie ich. Ich streiche mir mit den Fingerspitzen über die Wange und spüre den Abdruck anschwellen. »Ich tue das«, sagt Spencer steif, »weil ich dich liebe.«

Sobald sich die Tür hinter ihm schließt und der Schlüssel sich dreht, steige ich aus dem Bett. Ich hämmere gegen die Tür. »Ruby!«, schreie ich. »Ruby, lass mich sofort raus!«

Ich höre ein Kratzen auf der anderen Seite der Tür. »Ich darf nicht, Miz Pike. Der Professor hat es verboten.«

Ich schlage ein letztes Mal mit der Faust gegen das Holz. Von der Anstrengung ist mir in dem überhitzten Zimmer noch heißer geworden. Eine Prinzessin in einem Elfenbeinturm, genau das bin ich. Aber wenn der Prinz wüsste, dass ich im Grunde eine Kröte bin, würde er dann so darum kämpfen, mich zu behalten?

Ich frage mich, ob Gray Wolf sich Sorgen machen wird, wenn ich nicht komme.

»Nia Lia«, sage ich. Ich bin Lia. »N’kadi waji nikônawakwanawak.« Ich will nach Hause.


In Zukunft wird der Staat Vermont bemüht sein, die Fortpflanzung von Idioten, Schwachsinnigen oder Geistesgestörten zu verhindern, wenn es dem Wohl der Gesellschaft sowie dem Wohl von Idioten, Schwachsinnigen oder Geistesgestörten durch die hiermit verfügte freiwillige Sterilisation zugute kommt.

»Erlass über die freiwillige Sterilisation«,

Gesetze von Vermont (1931), Nr. 174, S. 194


Am dritten Tag meiner Gefangenschaft mache ich mir schon nicht mehr die Mühe, mich anzukleiden. Ruby ist zum Metzger gegangen, Spencer ist in der Universität. Das Radio dudelt vor sich hin, und das Herz meines Babys schlägt im Rhythmus der Musik.

Als ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht, wundere ich mich, dass Ruby schon so schnell wieder da ist. Doch selbst die Art, mit der sich Gray Wolf durch ein Zimmer bewegt, ist anders als bei jedem anderen Menschen. Ich setze mich auf, unfähig zu sprechen, und er kniet sich neben mein Bett und umarmt mich. »Du hast es ihm gesagt?«

»Nein.« Er riecht nach seinem Leben im Freien. Ich sauge ihn in mich auf.

»Wieso hat er dich dann eingesperrt?«, fragt Gray Wolf entsetzt. Doch ehe ich es erklären kann, redet er schon weiter. »Als du nicht gekommen bist, dachte ich, dass du am Ende vielleicht doch auf mich gehört hast und lieber wegbleiben wolltest.«

»Ich würde nie …«

»Aber dann habe ich mir gedacht, dass du auf jeden Fall Lebewohl gesagt hättest. Und als du auch am nächsten Tag und dem Tag danach nicht gekommen bist … da bin ich in die Stadt gegangen. Da hatte dich auch niemand mehr gesehen. Und dann die Sache mit dem Lager …«

»Was ist damit?«

Er sieht mich an. »Es gibt keines mehr. Ich hatte in der Stadt übernachtet, und als ich zurückkam, war keine Menschenseele mehr da. Leere Zelte, Wäsche noch auf der Leine, Spielzeug auf dem Boden verstreut – als wären alle von einer Sekunde auf die andere aufgebrochen.«

»Wieso sollten sie wegziehen, ohne ihre Sachen mitzunehmen?«

»Weil jemand sie gezwungen hat«, sagt Gray Wolf ausdruckslos.

Ich denke an die alte Frau, die vor ihrem Zelt rauchte und Weidenkörbe flocht. An die Kleine, die mit einem Stock im Sand zeichnete und in Tränen ausbrach, als ein Hundewelpe ihr Kunstwerk zerstörte. Waren sie zusammengetrieben worden? In irgendwelche Anstalten gebracht und sterilisiert worden? Umgebracht?

»Erst bist du verschwunden … dann alle anderen …« Er drückt meine Hand. »Ein Mensch muss schon sehr viel Zorn in sich haben, um so viel Schaden anzurichten.«

Ich begreife, was er sagen will. »Du irrst dich«, sage ich zu Gray Wolf. »Das würde Spencer niemals jemandem antun.«

»Nicht mal, wenn er die Wahrheit erfahren hat?«

Wir starren einander an, ratlos, bis uns eine Stimme von der Tür her aufschreckt. »Und welche Wahrheit soll das sein?«, fragt Spencer leise.

Er hat die Flinte aus der Vorratskammer in der Hand und hält sie auf Gray Wolf gerichtet. »Du Dreckskerl«, sagt er. »Ich hab gesehen, wie du ins Haus eingebrochen bist. Ich hab gedacht, du wolltest stehlen, und ich wollte dich auf frischer Tat ertappen.« Er blickt auf unsere verschränkten Finger. »Aber wie ich sehe, musstest du gar nichts stehlen, nicht wahr? Es ist dir auf einem Silbertablett serviert worden.«

»Spencer, hör auf!«

Bevor ich aufstehen kann, stürzt sich Gray Wolf auf Spencer und schlägt ihm die Waffe aus der Hand. Spencer ringt ihn zu Boden und hält ihn fest. Er ist jünger und wütender. Seine Faust landet immer wieder in Gray Wolfs Gesicht, bis diesem Blut aus Nase und Mund quillt und er die Augen verdreht.

Ich will Spencers Arm festhalten, doch er stößt mich weg, und ich falle auf die Seite. Ein stechender Schmerz schießt mir durch den Unterleib in den Rücken. Ich zucke zusammen. »Bitte! Lass ihn los!«

Spencer reißt Gray Wolf am Hemdkragen hoch. »Der einzige Grund, dich nicht umzubringen, ist der, dass ich mich nicht auf dein Niveau begeben will«, keucht er und zerrt meinen Vater die Treppe hinunter. Ich folge ihnen, rutsche auf Blut aus, versuche, nicht auf den Schmerz zu achten, der an meiner Wirbelsäule entlangjagt. Als Spencer die Tür öffnet, um Gray Wolf hinauszustoßen, steht Ruby davor. Sie wirft einen Blick auf das malträtierte Gesicht und schreit auf, lässt die Tasche mit den Einkäufen auf die Veranda fallen.

»Lia.« Gray Wolf windet sich in Spencers Griff. »Komm mit mir.«

Das Baby in mir krampft sich zusammen und erinnert mich an die einzig richtige Antwort. »Ich kann nicht.«

Spencer stößt ihn so heftig von der Veranda, dass er mit dem Gesicht auf dem Boden landet. »Wenn du morgen noch in Comtosook bist«, schwört er, »sorge ich dafür, dass man dich bis an dein Lebensende ins Gefängnis steckt. Sag deinem Liebhaber Adieu, Cissy.«

»Er ist nicht mein Liebhaber!«, schreie ich, doch meine Stimme überschlägt sich. Als Spencer sich zu mir umdreht, sieht er, wie ich mich zusammenkrümme und auf das Fruchtwasser starre, das sich unter mir ausbreitet wie ein See.


So also ist meine Mutter gestorben: weit aufgerissen wie ein ausgerenkter Kiefer, ein ganzes Jahrhundert aus sich herauspressend, unfähig zu atmen, aus Angst vor dem, was als Nächstes kommt. Feuer rast von meinem Rücken zum Bauch, und mein Inneres krampft sich bei jeder Wehe enger zusammen. Ruby, genauso verängstigt wie ich, steht leise wimmernd am Fußende des Bettes und hofft darauf, mit ihren ausgestreckten Händen ein Wunder aufzufangen.

Es ist zu früh – für die Ankunft des Babys und für meinen Abschied.

Seit elf Stunden liege ich in den Wehen. Die ganze Zeit über war Ruby bei mir. Und Spencer hat sich in seinem Arbeitszimmer betrunken. Ich weiß nicht, ob er Dr. DuBois angerufen hat. Ich habe Angst vor der Antwort, so oder so.

»Ruby!«, rufe ich, und sie tritt neben mich. »Hör gut zu. Du hast mir versprochen, dass du dich um das Baby kümmern wirst.«

»Das werden Sie selbst können …«

»Nein, das werde ich nicht.« Und ich weiß es – die Ränder meines Gesichtsfeldes wabern grau; meine Arme sind so schwach, dass ich sie nicht bewegen kann. »Erzähl ihm von mir. Sag ihm, dass ich ihn ge-, oh Gott!« Ich verstumme, als wieder eine Wehe meinen Leib erfasst. Alles in mir schraubt sich nach unten, und ich nehme alle meine Kräfte zusammen, um zuzulassen, as da Großes geschieht. »Ruby«, flüstere ich. »Jetzt.«

Mir wird rot vor Augen, und in meinen Ohren rauscht der Ozean. Mein Körper ist eine Welle, die mich in Schmerz und Verzückung davonreißt. Ich öffne die Augen und erwarte, meine Mutter zu sehen, jetzt, da ich auf der anderen Seite bin, doch stattdessen blicke ich in das Gesicht meines Kindes.

Meine Tochter.

Ich habe so lange geglaubt, dass die Geburt mein Tod sein würde und dass das Kind in meinem Leib ein Junge war. Beides war unrichtig. In einer atemlosen Sekunde ist meine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden.

Sie weint, das süßeste Geräusch, das ich je gehört habe. Als Ruby die Nabelschnur durchtrennt und das Baby in Windeln wickelt, kommt Spencer ins Zimmer gestürzt. Seine Augen sind von einem unseligen Rot. Er stinkt nach Whiskey. »Du lebst«, sagt er heiser. »Cissy, Gott, du lebst.« Dann bemerkt er das Neugeborene in Rubys Armen.

»Mr. Pike«, sagt sie. »Schauen Sie sich doch Ihre kleine Tochter an.«

»Tochter?« Er schüttelt den Kopf. Das kann nicht sein.

Ich strecke die Arme aus, und Ruby reicht sie mir. Ich denke an meine Mutter, die dieses Glücksgefühl nie erlebt hat. Jetzt, da ich die Kleine gefühlt und gehört habe, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich meinem Leben ein Ende machen wollte, ohne sie wachsen und gedeihen zu sehen. Es wird der Augenblick kommen, da sie mich anlächelt, der Augenblick, da sie ihre ersten unsicheren Schritte macht. Wie könnte ich das versäumen?

Ich lege sie in meine Armbeuge. »Ihr Name ist Lily«, sage ich.

Spencer tritt näher und blickt nach unten auf unser Baby. Auf ihr Gesicht – dunkel, rund wie der Mond, mit den flachen Gesichtszügen des Volkes, aus dem ihr Großvater stammt.

Als Spencer mich ansieht, begreife ich, dass er gehofft hat, das Baby würde ein Neuanfang sein, anstatt ihn umso heftiger zu beunruhigen. »Lily«, wiederholt er und schluckt.

»Spencer, es ist nicht so, wie du denkst. Gray Wolf – dieser Mann –, er ist mein Vater. Du kennst dich doch mit Vererbungslehre aus … du weißt, warum sie so aussieht. Aber sie ist von dir, Spencer, das musst du mir glauben.«

Spencer schüttelt den Kopf. »Dr. DuBois hat gesagt, dass du nach der Geburt verwirrt sein könntest … Wir sollten ihn holen, damit er nach dir sieht.« Er nimmt das Baby aus meinen Armen und dreht sich zu Ruby um, die Augen stumpf, die Stimme ruhig. »Nimm bitte den Wagen und hole den Doktor, Ruby.«

»Den Wagen …?« Sie ist noch nie mit dem Packard gefahren, aber sie ist klug genug, Spencer jetzt nicht zu widersprechen. »Ja, Sir«, murmelt Ruby und stiehlt sich an ihm vorbei.

Spencer will ihr folgen, das Baby im Arm.

»Nein«, rufe ich. »Spencer, ich will sie halten.«

Er starrt mich so lange an, als wiederholte sich unsere ganze gemeinsame Geschichte vor seinem inneren Auge. Tränen glänzen in seinen Augen. Doch dann zieht er einen Stuhl ans Bett und setzt sich. Er hält Lily so, dass ich ihr Gesicht sehen kann. Er lächelt schwach, und für einen kurzen Augenblick gebe ich mich der Hoffnung hin, dass Spencer verstehen könnte, dass nicht Blut eine Familie zusammenhält, sondern die Liebe. »Ruh dich aus, Cissy«, sagt er zu mir. »Ich kümmere mich um sie.«


Ich sehe mich rennen. Der Regen strömt mir übers Gesicht, meine Füße sind schlammverklebt, und doch weiß ich, dass ich vor meinem Verfolger fliehen muss, wer immer er ist. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, sehe ich ihn – den Mann, der schon mehrmals in meinen Träumen aufgetaucht ist, der Mann mit dem langen braunen Haar und den stillen Augen. Er ruft meinen Namen, und ich drehe mich erneut um, und kurz darauf stolpert er und stürzt. Ich bleibe stehen, um mich zu vergewissern, dass er sich nicht verletzt hat, und da sehe ich ihn – den Grabstein mit meinem Namen darauf, den Grabstein, durch den ich hindurchgelaufen bin.

Als ich mit einem Ruck erwache, spüre ich ein Gewicht auf meiner Hüfte. Spencer liegt quer über meinem Schoß. Zuerst denke ich, er schläft, und dann merke ich, dass er schluchzt. Seine Augen sind so blutunterlaufen, dass es mir Angst macht, und seine Haut dünstet Alkohol aus.

»Cissy«, sagt er. »Du bist wach.«

Mein Körper fühlt sich an, als wäre ich tagelang geprügelt worden. Meine Beine sind so schwach, dass ich sie nicht bewegen kann. Irgendwer – Spencer? – hat mit kalte Kompressen zwischen die Schenkel gepresst, um die Blutung zu stillen. »Wo ist Lily?«, frage ich.

Spencer nimmt meine Hand und führt sie an seine Lippen. »Cissy.«

»Wo ist mein Baby?« Ich stütze mich im Bett auf.

»Cissy, das Baby – es war zu jung. Seine Lunge …«

Ich erstarre.

»Das Baby ist gestorben, Cissy.«

»Lily!«, schreie ich. Ich will aus dem Bett springen, doch Spencer hält mich fest.

»Du hättest nichts tun können. Niemand.«

»Dr. DuBois …«

»Der hat eine Operation in Vergennes. Ruby hat ihm eine Nachricht hinterlassen, dass er kommen soll, sobald er kann. Aber als sie zurückkam, war das Baby schon …«

»Sprich es nicht aus«, sage ich drohend. »Sprich es nicht aus.«

Auch er weint. »Sie ist in meinen Armen gestorben.«

Ich will nur mein Baby. »Ich muss sie sehen.«

»Das geht nicht.«

»Ich muss sie sehen!«

»Cissy, ich habe sie schon beerdigt.«

Ich stürze mich auf ihn und schlage ihn auf die Brust, die Arme, den Kopf. »Das hast du nicht. Das hast du nicht!«

Er hält meine Handgelenke fest, schüttelt mich. »Wir hätten sie nicht taufen lassen können. Wir hätten sie nicht in geweihter Erde bestatten lassen können.« Ein Schluchzen steigt aus seiner Kehle. »Ich hatte Angst, wenn du sie siehst, wirst du versuchen, ihr zu folgen. Ich kann dich nicht auch noch verlieren. Himmel, Cissy, was sollte ich denn machen?«

Ich brauche einen Augenblick, bis ich seine Worte richtig begreife. Wir hätten sie nicht taufen, sie nicht auf dem Friedhof bestatten lassen können, weil sie unehelich war, wie Spencer glaubt. Er schließt mich in die Arme, während ich ganz steif vor Entsetzen bin. »Liebling«, flüstert er, »kein Mensch muss es erfahren.«

Mir brennen die Augen, die Kehle schmerzt. »Meine Mutter hat sich in einen Indianer verliebt. Gib ihr dafür die Schuld, nicht mir. Mein einziger Fehler war, dass ich mich in dich verliebt habe.«

Was ist das für ein Gefühl, möchte ich fragen, auf einmal selbst unten auf einer von deinen Stammbaumkarten zu stehen? Doch stattdessen nehme ich die Wickeldecke vom Fußende des Bettes. »Führ mich zu dem Grab.«

»Du bist zu aufgewühlt. Du musst dich …«

»Ich muss das Grab meiner Tochter sehen. Sofort.«

Spencer steht auf. Von einem Tablett neben dem Bett nimmt er die Schere, mit der Ruby die Nabelschnur durchtrennt hat, und ein Messer, das sie abgekocht hatte, nur für alle Fälle. Beides schiebt er in seine Brusttasche, zur Sicherheit. »Morgen«, verspricht er und küsst mich dann auf die Stirn. »Cissy. Lass uns noch einmal von vorn anfangen.«

Ich starre ihn so lange an, bis alles in mir zu Stein wird. »Also gut, Spencer«, antworte ich mit einer Stimme, die fast so klingt wie die Frau, die ich einmal war. Mir zittern die Hände im Schoß, aber ich kann das Spiel mitspielen.


Lily ist nicht tot. Wieso würde Spencer sich sonst weigern, mir die Leiche zu zeigen, den Sarg, das Grab? Vielleicht hat er sie versteckt, bis er die Gelegenheit hat, sie vor einer Kirche abzulegen. Oder er wartet auf Dr. DuBois, damit der sie mitnimmt. Noch ein Grund, warum ich bei der Geburt nicht gestorben bin: Es ist meine Pflicht, mein Baby zu finden.

Ich warte, bis ich ganz sicher bin, dass Spencer sich wieder in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hat, und dann ziehe ich mich an. Es geht nur langsam – mein Kopf ist schwer von Fieber, und mir zittern die Beine. Ich schiebe Gray Wolfs Pfeife in die Tasche des Kleides, und ich mache einen doppelten Knoten in meine Schnürsenkel – für den Fall, dass ich schnell laufen muss. Vorsichtig wie eine Spionin öffne ich die Tür und schleiche auf den Flur.

Als Erstes durchsuche ich das Badezimmer. Als ich sie dort nicht finde, durchwühle ich Rubys Zimmer. Nichts.

Denk nach, beschwöre ich mich. Denk wie Spencer.

Im Erdgeschoss gehe ich auf Zehenspitzen von einem möglichen Versteck zum nächsten, spähe in Nischen, in die nur etwas so Kleines wie ein schlafendes Neugeborenes hineinpassen könnte. Vorsichtig schleiche ich an Spencers Arbeitszimmer vorbei, wo das Klimpern von Glas mir verrät, dass er an der Anrichte steht. Als ich die Küche erreiche, bin ich den Tränen nahe. Sie muss doch inzwischen Hunger haben, sie wird frieren. Weine nur, und ich finde dich.

Ich werde sie an meine Brust drücken, ich werde sie wärmen. Auf dem Weg nach Kanada werde ich ihr erzählen, was es alles zu sehen gibt – die Kühe auf den Weiden, die violetten Waldweidenröschen am Wegesrand, die geschwungenen Bergkämme. Wir werden neben Gray Wolf stehen, wenn man ihn in Odonak fragt: »Wer bist du?«, und er wird auf uns beide zeigen.

Ich bleibe in der dunklen Küche stehen und denke an den Weinschrank, die Mehlkisten, den Kartoffelkeller. Es gibt viele mögliche Verstecke. Gerade habe ich einen Schritt in die kühle, pechfinstere Vorratskammer gemacht, als jemand von hinten gegen mich stößt. Ich unterdrücke einen Aufschrei, ziehe hastig an der Kordel, die von der Decke hängt, und das Licht geht an. »Ruby, was machst du denn hier?«

Sie zittert wie Espenlaub. »Ich wollte mir … manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, dann mache ich mir eine Tasse von Ihrem guten Kakao. Es tut mir leid, Miz Pike. Ich weiß, es ist unrecht.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Wo ist sie?« Meine Hände gleiten über die Regale, unter Handtuchstapel, schieben Dosen beiseite.

»Wer?«

»Mein Baby. Du hilfst ihm, das Baby zu verstecken.«

»Ach, Miz Pike«, sagt sie mit großen, feuchten Augen. »Das Baby lebt nicht mehr.«

»Ruby, du verstehst das nicht. Es geht ihr gut, der Kleinen geht’s gut. Ich muss sie nur finden. Ich muss sie finden und von hier wegbringen.«

»Aber der Professor hat doch gesagt …«

Ich packe Ruby an den Schultern. »Hast du die Leiche gesehen? Hast du das?«

»Ich hab – ich hab …« Rubys Zähne schlagen aufeinander.

»Verdammt, Ruby, nun sag schon!« Ich schüttele sie, und sie reißt sich von mir los. Ich will ihr folgen, da ziehen mich Hände hinaus aus der Kammer in die Küche. »Lass mich los, Spencer«, sage ich, versuche mit aller Kraft, mich zu befreien.

Er sieht Ruby an. »Ruf Dr. DuBois noch mal an. Sag ihm, er soll sofort herkommen.«

»Lass mich los! Ruby, er lügt. Lass los – Lily!«, kreische ich. »Lily!«

Nur mit Mühe gelingt es Spencer, mich aus der Küche zu zerren. Ruby steht wie angewurzelt da, sieht zu, wie er mich, die ich noch immer schreie und tobe, am Handgelenk die Treppe hinaufzieht. »Das hier geht dich nichts an, Ruby«, ruft Spencer ihr zu. »Du siehst ja, dass Mrs. Pike nicht sie selbst ist, und ich werde dafür sorgen, dass sie sich beruhigt.« Er ächzt, als einer meiner Tritte ihn mit voller Wucht am Schienbein trifft. »Ruf den Doktor. Und dann tust du, was ich dir gesagt habe.«

»Hör nicht auf ihn, Ruby!«

Sie scheint vor meinen Augen zu schrumpfen. »Los«, bellt Spencer. »Sofort.« Plötzlich sacke ich in seinen Armen zusammen. Er fängt mich auf, bevor ich zu Boden falle, und trägt mich ins Schlafzimmer. Ich halte die Augen geschlossen, auch als er verschämt die Binde zwischen meinen Beinen überprüft, ob ich nicht zu stark blute, auch als er tief seufzt, wie ein Mann, der alle Hoffnung verloren hat. Dann deckt Spencer mich zu, zieht mir die Schuhe aus, geht aus dem Zimmer und schließt sorgfältig die Tür hinter sich ab.

Ich habe nicht das Gefühl, gescheitert zu sein.

Schließlich weiß ich jetzt, dass Lily irgendwo da draußen versteckt sein muss.


Warum geben wir nicht auf? … Seit Jahren bemühen wir uns, und was haben wir erreicht?

Solange das Geld reichte, war alles gut und schön, jetzt jedoch sieht die Sache anders aus. Falls Hitler mit seiner Sterilisation im großen Stil Erfolg hat, wäre das eine Demonstration, die der Eugenik mehr Auftrieb geben würde, als das hundert Eugenikgesellschaften könnten. Falls er im großen Stil scheitert, wird das der Bewegung dermaßen schaden, dass auch hundert Eugenikgesellschaften sie nicht mehr retten könnten.

Auszug aus einem Brief vom 1. Februar 1934 von Henry H. Goddard an H. F. Perkins als Antwort auf eine Bitte um finanzielle Unterstützung, Eugenik-Erhebung-Vermont, (EEV-)Papiere, Öffentliches Archiv, Middlesex, Vermont


Die größte Schwierigkeit ist, die Scheibe einzuschlagen. Das geräuschlos zu bewerkstelligen ist nahezu unmöglich. Ich wickele die Bettdecke um den Stuhl und kann so den Lärm etwas dämpfen. Draußen neben dem Fenster lehnt noch immer die Leiter für die Dachreparatur. Im Nu bin ich unten angekommen und schleiche unter dem Lichtschein hinweg, der aus Spencers Arbeitszimmer fällt. Der helle Mond ermöglicht gute Sicht.

Das Grundstück ist riesig, und sie könnte überall sein.

Ich suche unter den Büschen entlang der Veranda, unter der Veranda selbst, am Feuerholzstapel an der Ostwand. Hinter dem Haus gehe ich in größer werdenden Kreisen Richtung Wald, bis ich mich schließlich einfach auf den Boden setze und haltlos weine.

Es ist schrecklich, wird Spencer zu Dr. DuBois sagen, wenn er eintrifft. Ich hab sie gefunden, wie sie in der Erde wühlte. Nein, es ist nicht das erste Mal, dass sie schlafgewandelt ist … aber diesmal kommt sie gar nicht mehr zu sich.

Aber ist es denn wirklich verrückt, nach etwas zu suchen, von dem man weiß, dass es irgendwo ist?

Ich blicke zum Haus zurück. In Rubys Zimmer ist kein Licht, in Spencers Arbeitszimmer keine Silhouette. Ich schließe orientierungslos die Augen, und als ich erneut blinzele, zeichnen sich die Umrisse des Eishauses vor dem Nachthimmel ab. Wieder hat jemand die Tür angelehnt gelassen. Ich stehe auf, werde von einer unsichtbaren Schnur in den eiskalten Bauch der Hütte gezogen.

Meine Schuhsohlen rutschen auf dem Sägemehl. Schimmernde Eisblöcke liegen dicht nebeneinander, eine leuchtende Reihe von Riesenzähnen. Ich sehe die Bratenstücke, die Ruby für die Dinnerparty gekauft hat, die nicht stattfinden wird. Und auf einem Eisblock steht eine alte Apfelkiste, der Deckel liegt daneben.

Drinnen ist die kleinste, regloseste Puppe, die ich je gesehen habe.

»Nein. Nein. Oh nein.« Ich umklammere den rauen Rand der Kiste, den winzigen Sarg, und betrachte das Gesicht meiner Tochter.

Ihre Wimpern sind so lang wie der Nagel meines kleinen Fingers. Ihre Wangen sind blass, milchig blau. Ihre Faust, so unglaublich klein, ist zusammengerollt wie eine Schnecke. Ich berühre ihr Grübchenkinn mit dem Finger, ihr winziges Ohr. »Lily«, flüstere ich. »Lily Delacour Pike.«

In dem eiskalten Kinderzimmer hebe ich meine Tochter aus der Wiege. Ich wickele die Decke fester um sie, damit sie es schön warm hat. Ich drücke sie an meine Brust, damit sie hört, wie mein Herz bricht.

Spencer kann sie mir nicht wegnehmen. Dazu müsste ich sie erst gehen lassen.

Awani kia, denke ich. In der anderen Welt wird man sie fragen, wer sie ist. »Erzähl ihnen von deiner Großmutter und deinem Großvater, die eine Brücke aus Liebe gebaut haben«, sage ich an ihrer Haut. »Erzähl ihnen von deinem Vater, der glaubte, das Richtige zu tun. Und erzähl ihnen von mir.« Ich küsse sie, lasse meine Lippen einen Augenblick auf ihrer Haut. »Erzähl ihnen, dass ich komme.«

Dann lege ich mein Baby zurück in das Bettchen und presse mir die Faust auf den Mund, um all den Schmerz in mir zu halten. Bis in alle Ewigkeit werde ich mich fragen, ob Spencer die Wahrheit gesagt hat. Ob Lily tatsächlich von allein in seinen Armen aufgehört hat zu atmen oder ob er nachgeholfen hat. Vielleicht wird er mir eines Tages sagen: Ich habe es nur getan, weil ich dich liebte.

»Ich auch«, sage ich laut.

Spencer wird bald aufwachen und nach mir suchen. Und er wird mir dafür bezahlen. Es gibt Möglichkeiten, der Polizei zu zeigen, was wirklich passiert ist. Ich werde alles tun, was dazu erforderlich ist, selbst wenn es mich das Leben kostet.

Es bleibt nicht viel Zeit. Ich greife erneut in die Kiste, wo das Gesichtchen meiner Kleinen in meine geöffnete Hand passt. Ihre Nase und ihr Kinn drücken sich hinein, eine Erinnerung, die ich mitnehmen werde.

Ich denke an Madame Soliat am Unabhängigkeitstag, mit ihrem Wolfshund und ihrem Zelt.

Ich brauche keine Wahrsagerin mehr. Ich weiß, was als Nächstes kommt.

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