VIER


Die Einwohner von Comtosook stellten sich nach und nach auf eine Welt ein, die aus den Fugen geraten war. Alle hatten stets einen Schirm dabei, um sich gegen den Regen zu schützen, der rot wie Blut vom Himmel fiel und zu einer feinen roten Staubschicht trocknete. Porzellan zerbrach Punkt zwölf Uhr mittags, ganz gleich, wie sorgfältig es eingepackt worden war. Mütter weckten ihre Kinder, damit sie sich die Rosen ansehen konnten, die um Mitternacht erblühten. Hosennähte platzten ganz von selbst auf, und Wasser begann nicht zu kochen, und wenn es noch so lange erhitzt wurde.

Manche machten die globale Erwärmung für die Ereignisse verantwortlich, andere hielten es schlicht für persönliches Pech. Aber als Abe Huppinworth feststellte, dass in seinem Laden jeder einzelne Artikel in den Regalen auf den Kopf gestellt worden war, überlegte er laut, ob nicht vielleicht dieser indianische Geist vom Otter Creek Pass was damit zu tun haben könnte. Und die drei Kunden, die das mitbekommen hatten, erzählten es ihren Nachbarn, und noch ehe es Abend wurde, spekulierte ganz Comtosook, ob es nicht doch besser wäre, dem Stück Land seinen Frieden zu lassen.


Rod van Vleet war nicht gerade begeistert von dem, was Ross Wakeman ihm zu berichten hatte. Falls es tatsächlich einen Geist gab – so lächerlich das auch klang –, was sollte Rod dann machen? Das Haus war abgerissen, die Trümmer wurden bereits abtransportiert. Die Redhook-Gruppe würde bauen, egal wie viele Unterschriftensammlungen und Petitionen auf seinem Schreibtisch landeten.

Und dennoch wollte Rod wissen, ob er dabei war, einem Geist die Heimstatt zu nehmen. Ob die Tatsache, dass alles, was er in letzter Zeit aß, nach Sägemehl schmeckte und dass seine Zahnbürste jeden Abend verschwunden war, irgendetwas mit seinem aktuellen Bauprojekt zu tun hatte.

»Diese Dinger da …« Rod zeigte auf den Fernsehschirm, wo ein grobkörniges Bild von einem nächtlichen Wald mit blauen Linien und schwebenden Lichtkugeln durchsetzt war. »Sollen die ein Geist sein?« Er entspannte sich innerlich. Was auch immer er erwartet haben mochte, das jedenfalls nicht. Ein paar Funken und Blasen konnten schließlich keinem etwas anhaben. Schon gar nicht das Geschäft gefährden.

Ross Wakeman war ein Scharlatan, so einfach war das. Er hatte die Gelegenheit gesehen, sich ein bisschen Aufmerksamkeit zu verschaffen, und sich Rod dafür zunutze gemacht.

»Das ist nicht der eigentliche Geist«, erklärte Wakeman. »Das ist die Wirkung, die der Geist auf die Geräte hat. Auf dem Grundstück sind Taschenlampen ausgegangen, außerdem hab ich diese aufgezeichneten Störungen hier und sehr starke Ausschläge bei Geräten, die Magnetfelder messen.«

»Mumpitz«, sagte Rod. »Nichts Konkretes.«

»Nur weil etwas nicht gemessen werden kann, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert.«

Plötzlich flog die Tür zum Baucontainer auf. Drei Baggerführer stürmten herein, deren Bagger so reglos dastanden wie schlafende Dinosaurier.

Einer von den dreien sagte wütend zu van Vleet: »Wir kündigen.«

»Sie können nicht kündigen. Die Arbeit ist noch lange nicht erledigt.«

»Scheiß drauf.« Er nahm seinen Schutzhelm ab und warf ihn van Vleet wie einen Fehdehandschuh vor die Füße. »Die machen uns wahnsinnig.«

»Wer, die?«

»Die Fliegen«, schaltete sich ein anderer Arbeiter ein. »Die Biester fliegen einem direkt ins Ohr und surren wie wild drin herum.« Seine Hände machten hektische, kreisende Bewegungen.

»Und wenn man sie verscheuchen will«, fügte der Erste hinzu, »ist nichts da.«

Der dritte Arbeiter bekreuzigte sich.

Ross hüstelte, und van Vleet warf ihm einen wütenden Blick zu. »Ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten«, beruhigte er sie. »Ist bestimmt der Wind. Oder Sie haben was mit den Ohren.«

»Dann ist es höllisch ansteckend; die Abenaki da draußen haben es nämlich auch gehört. Und der Alte hat das Wort buchstabiert, das wir alle gehört haben. C-H-I-J-I-S. Das heißt Baby in seiner Sprache.«

»Ist doch klar, dass der euch so was erzählt!«, rief van Vleet. »Der will, dass ihr geht. Der will euch Angst einjagen, damit ihr genau das macht, was ihr jetzt vorhabt –nämlich die Arbeit hinschmeißen.«

Die Männer wechselten Blicke. »Wir haben keine Angst. Aber solange Sie den Geist hier nicht losgeworden sind, müssen Sie sich andere Leute suchen.« Sie nickten zum Abschied und marschierten nach draußen.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Ross.

Van Vleet griff zum Telefon. »Ich muss neue Arbeiter finden«, sagte er. »Für so was hab ich keine Zeit.«


Das Blut lief ihr ins Gesicht.

Meredith war kaum aus dem Gebäude getreten, als die Flüssigkeit ihr ins Haar klatschte und über Wangen und Hals tropfte. »Wie viele Babys habt ihr heute wieder umgebracht?«, schrie eine der Demonstrantinnen.

Sie wischte sich die Augen frei. Kein richtiges Blut, bloß roter Saft. Das Institut war nicht so häufig Ziel von Demonstrationen wie die Abtreibungskliniken in der Gegend, aber die Kritik war dieselbe – schließlich gehörte es zu Meredith’ Aufgaben zu entscheiden, welche Embryos leben und welche verbrannt werden sollten, und das konnten die Abtreibungsgegner nicht akzeptieren. »Wir sprechen uns wieder, wenn du unfruchtbar bist«, knurrte Meredith leise und ging dann rasch zu ihrem Auto.

Meredith erinnerte sich noch gut, dass die Klinik damals nach Metall und Mundwasser roch. Dass das Wartezimmer voller Frauen war, viele blutjung. Dass sie die ersten beiden Bänder hinten an ihrem OP-Hemd zugebunden hatte, bevor sie beschloss, dass sie die Sache nicht durchziehen konnte.

Was, wenn ihre Schwangerschaft doch nicht so ein kolossaler Fehler war, wie sie glaubte? Was, wenn der Zeitpunkt nicht falsch, sondern goldrichtig war – ein Weckruf, eine Botschaft? Dann würde ihr Baby eben keinen Vater haben, na und? Meredith’ Vater war gegangen, als sie vier Jahre alt war. Danach hatte sie ihn nur noch ein paarmal gesehen. Und doch war sie der lebende Beweis dafür, dass man mit der richtigen Mutter sehr gut ohne Vater auskommen konnte. Wenn sie Luxe schon nicht wieder zum Leben erwecken konnte, so hatte sie jetzt wenigstens die Möglichkeit, ihr zu zeigen, was sie von ihr gelernt hatte. Sie würde ihre Tochter behüten und beschützen, sie würde sie mit Liebe großziehen.

Als sie sich wieder angezogen hatte und aus der Klinik kam, schüttete einer der Demonstranten einen Eimer falsches Blut über ihr aus. Meredith packte den Mann am Kragen und schrie ihn an, dass sie es nicht hatte machen lassen. Dann brach sie in den Armen des Fremden in Tränen aus.

Sie gaben ihr Kekse zu essen und Kakao aus einer Thermosflasche. Sie boten ihr einen Platz auf einer Decke an. Der Mann, der sie begossen hatte, gab ihr sein trockenes Hemd. An diesem Nachmittag war Meredith ihre Heldin.

Jetzt, fast zehn Jahre später, betrachtete Meredith die Demonstranten im Rückspiegel. Sie wünschte, sie hätte den Mut, zurückzugehen und sie zu fragen, ob einer von ihnen schon mal eine Entscheidung hatte treffen müssen, die sein ganzes Leben veränderte. Sie wünschte, sie könnte sie mit in ihr Labor nehmen, wo so viele gesunde Embryos warteten. Sie wünschte, sie könnte ihnen erklären, dass es auch Leben gab, das gar kein Leben vor sich hatte.

Dann steuerte Meredith ihren Wagen vom Parkplatz und machte sich auf den Weg nach Hause, wo sie ihre Tochter auf der Couch vorfinden würde, wie betäubt und lethargisch von den Psychopharmaka.


Ross saß in der Notaufnahme und blickte in die Gesichter der Verletzten und Kranken, die durch die automatische Tür kamen. Jedes Mal, wenn es nicht Lia war, entspannte er sich ein bisschen. Er war nun schon zwei Tage hier, hatte herausgefunden, dass keine Lia Beaumont eingeliefert worden war. Seine größte Befürchtung war, dass sie sich etwas antun könnte – oder dass ihr Mann ihr etwas antun könnte –, bevor Ross Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen.

Er wollte ihr sagen, dass er sich nicht mehr genau an Aimees Augen erinnern konnte. Acht Jahre lang hatte Ross sie deutlich vor sich gesehen, die leichte Mandelform, das zimtfarbene Zentrum, die Wimpern, die auf ihre Wangen einen Schatten warfen, wenn sie schlief. Doch seit der Nacht, in der Lia die Lippen an sein Ohr gelegt hatte, konnte er sich Aimees Gesicht nicht mehr vorstellen, ohne dass es sich in Lias verwandelte.

Er zog sich dreimal am Tag um, und doch roch er immer noch Rosen.

Er wollte sie küssen.

Er wollte sie.

Es konnte nicht gut gehen, das wusste Ross. Er würde Lias Ehe nicht zerstören, er würde Lia nicht in die Situation bringen, sich entscheiden zu müssen. Aber er musste wissen, dass es ihr gut ging. Er musste glauben können, dass sie sich in diesem Augenblick nicht irgendwo in Comtosook eine Rasierklinge ans Handgelenk hielt.

Plötzlich kam eine Frau hereingefegt, die ein Kind wie ein Spielzeug hinter sich herzog. »Ich suche nach einem Patienten«, sagte sie an der Anmeldung. »Ross Wakeman.«

Als Ross Shelbys Stimme hörte, fuhr er herum. Er rief ihren Namen.

»Ross!« Sie kam auf ihn zugestürmt, das Gesicht voller Angst. Ethan trug seine Tageslichtkleidung – von Kopf bis Fuß verhüllt. Die Teile des Gesichts, die Ross sehen konnte, waren fleckig und entzündet.

Shelbys Blick huschte von Ross’ Gesicht zu seinen Armen. Den Handgelenken. »Was ist los mit dir? Wie lange bist du schon hier? Herrje, Ross, warum hast du nicht angerufen?«

»Shel, mir geht’s gut. Aber ich suche nach jemandem. Ich dachte, es könnte ihr etwas passiert sein.«

»Dir geht’s also wirklich gut? Ganz bestimmt?«

»Ja.«

»Ein Glück«, entgegnete Shelby und gab ihm eine schallende Ohrfeige.


Der Anblick, wie Ross’ Kopf nach hinten schnellte, und der Abdruck ihrer Hand auf seiner Haut waren das Befriedigendste, was Shelby in den letzten achtundvierzig Stunden erlebt hatte, denn ungefähr so lange war ihr Bruder wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Sie hatte die Polizei angerufen und war mit einem Detective Rochert verbunden worden, der ihr erklärte, eine Vermisstenanzeige könne erst zwei volle Tage nach dem Verschwinden einer Person aufgenommen werden. Schließlich war sie mit Ethan am helllichten Tag aus dem Haus gegangen, war langsam durch die Stadt gefahren, hatte überall nachgefragt.

»Mensch, Shel«, sagte Ross und hielt sich die brennende Wange. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.«

»Du Scheißkerl.« Shelby kniff die Augen zusammen. »Weißt du eigentlich, wo ich überall nach dir gesucht habe, weil du es nicht für nötig gehalten hast, mir einen Zettel hinzulegen, wann du die Güte haben würdest, wieder aufzutauchen?«

»Wir waren auch unter dem Highway«, warf Ethan ein. »Da lag eine tote Möwe.«

Shelbys Gesicht war rot angelaufen. »Ja, stimmt. Unter dem Highway. Du weißt schon, nur für den Fall, dass du vielleicht auf die Idee gekommen wärst, von der Brücke zu springen.« Shelby hatte Tränen in den Augen.

»Wahrscheinlich ist es albern von mir zu denken, dass die Menschen, die mir etwas bedeuten, mich zumindest davon in Kenntnis setzen, dass sie nicht irgendwo tot im Straßengraben liegen.« Sie wischte sich über die Augen. »Freut mich, dass du dich nicht umbringst, Ross, aber wenn du so weitermachst, bringt mich das bestimmt noch um.«

»Weißt du was?«, sagte Ethan und zupfte Ross am Ärmel. »Die Möwe hatte ein ausgehacktes Auge.«

»Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen, ja? Ich hab dich schließlich nicht darum gebeten«, sagte Ross.

»So was kann man sich nicht aussuchen.«

»Dann mach dir um jemanden Sorgen, bei dem es angebracht ist.«

»Willst du damit sagen, bei dir wäre es nicht angebracht?«

»Nicht so wie bei dir«, konterte Ross. »Menschenskind, Shel, du lebst wie eine Nachteule. Du hast dich außer von Ethan von allen Menschen abgeschottet. Nie kommt eine Freundin auf eine Tasse Kaffee vorbei, Männerbekanntschaften hattest du schon seit einer Ewigkeit nicht mehr … Herrgott, der Papst erlebt mehr als du. Du bist zweiundvierzig und lebst wie eine Siebzigjährige.«

Sie würde nicht die Fassung verlieren, nicht mitten in der Notaufnahme, nicht vor Ross und vor allem nicht vor Ethan. »Bist du fertig?«

Ross nahm die Hand seiner Schwester und wartete, bis sie schließlich zu ihm aufsah. »Shelby. Ich werde mich nicht umbringen. Versprochen.«

»Das hast du schon mal versprochen, Ross«, flüsterte sie. »Und damals hast du gelogen.«

Nach Aimees Tod hatte Shelby genau gespürt, dass ihr Bruder nicht wieder ins Leben zurückfand. Sie hatte verzweifelt versucht, ihm zu helfen, hatte schließlich einen Termin bei einem Psychiater für ihn vereinbart. Nach der Therapiesitzung hatte Ross ihr erzählt, wie gut es gelaufen sei, und hatte sich sogar bei ihr bedankt. Als Shelby ihren Bruder dann wenige Tage später halb verblutet fand, hatte er noch eine Entschuldigung gehaucht, bevor er das Bewusstsein verlor.

Wie sich herausstellte, war er zu dem Termin beim Psychiater gar nicht erschienen.

»Verrat mir mal«, sagte sie, »wieso ich dir jetzt glauben soll.«

Ross wandte den Blick ab, starrte auf ein Plakat, das zu Organspenden aufrief. Dann begann er, ihr eine Geschichte zu erzählen, von einer Frau, die verschwunden war. Verängstigt … zerbrechlich … schön … wissbegierig: Ross türmte Adjektive aufeinander, und plötzlich war es, als hätte diese Lia Beaumont zitternd zwischen ihnen stehen können.

Ein Wort ließ Shelby aufhorchen. »Verheiratet?«, wiederholte sie.

»Sie hat Angst vor ihm.«

»Ross …«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er. Shelby wusste, dass er log, sie war nur nicht sicher, ob Ross sich selbst darüber im Klaren war. »Ich mache mir Sorgen um sie. Sie weiß nicht, wohin. Sie will da raus, aber sie weiß nicht, wie. Ich … ich habe Angst, sie tut sich was an.«

Und wie gefällt dir das?, dachte Shelby, doch bevor sie es aussprechen konnte, bemerkte sie den Gesichtsausdruck ihres Bruders. Wie gut kannte sie diesen Ausdruck doch von sich – beim Anblick der Sonne oder von Ethans abgespanntem, schlafendem Gesicht. Er hat sich in sie verliebt, dachte Shelby, und das ändert gar nichts.

Ihre Stimme wurde sanft. »Ross, du kannst sie nicht alle retten.«

Er wich zurück, als hätte Shelby ihn erneut geohrfeigt. »Nur ein Mal«, sagte er leise. »Ein einziges Mal wäre doch schön.« Dann wandte er sich ab und stürmte aus dem Krankenhaus.


Lucy schlief viel. Manchmal träumte sie, dass sie schlief, und sie sah sich selbst im Bett liegen. Manchmal träumte sie, dass sie verfolgt wurde, aber ihre Beine konnten sich nicht schnell genug bewegen. Einmal träumte sie, ein Riese hätte sie gefressen, und sie hätte sich einfach in einem seiner hohlen Backenzähne zusammengerollt und nur noch geschlafen.

Sie schrie noch immer im Schlaf, aber ihre Kehle war zu müde, um den Schrei auszustoßen.

Ab und zu erklangen Stimmen, schneidend wie ein Messer. Ihre Mutter, die sie anflehte, aufzustehen und ein bisschen zu essen. Granny Ruby, die beteuerte, dass Lucy schon viel besser aussah mit ihren roten Wangen. Sie hörte sie wie von ferne. Sie war in einen Brunnen gefallen und trieb jetzt auf dem Rücken, starrte zur Sonne hinauf.

Gesichter waren wie in ihre Augenlider eingebrannt: ihre Mutter, Granny Ruby und die Frau, die immer kam. Die in dem Baum gehangen hatte, die am Fußende ihres Bettes stand oder, wie jetzt, bei ihr auf der Couch saß, so nah, dass Lucys Füße eiskalt wurden.

Lucy wusste, dass die Frau jetzt eigentlich verschwunden sein müsste. Aber seit sie die Medizin nahm, war die Frau klarer denn je – das bläuliche Gesicht, die Traurigkeit in ihren Augen. Sie machte Lucy nicht mehr so viel Angst. Nein, es war, als wüsste sie Bescheid. Als ob sie das Gefühl kennen würde, vor Menschen zu stehen, die man liebte, und nicht von ihnen wahrgenommen zu werden.


Rod van Vleet hatte die Polizei verständigt, weil das abgerissene Haus wieder aufgebaut wurde. Über Nacht war der Rohbau des gesamten Erdgeschosses wieder errichtet worden. Van Vleet hatte die Abenaki in Verdacht, und er wollte, dass die Polizei von Comtosook sie auf frischer Tat ertappte.

Eli sah zu Watson hinüber, der das Seitenfenster seines Wagens mit Hundesabber bedeckte. Sie waren bereits bei den Zelten der Abenaki gewesen. Bis auf Az Thompson hatten alle tief und fest geschlafen. Als er jedoch kurz darauf auf dem Pike-Grundstück hielt, sah er sofort, warum van Vleet beunruhigt war: Innerhalb des provisorischen Sicherheitszauns schien sich das Haus selbst wieder zusammenzusetzen.

Hinter ihm winselte Watson und wich zurück. »Du Angsthase«, murmelte Eli und stieg über den Zaun. Die Konstruktion war abenteuerlich – Stützpfosten und Dachbalken waren wieder zusammengesetzt, aber es sah nicht ganz richtig aus. Trotzdem konnten sie das Gewicht tragen. Die unteren Mauern waren verputzt und zum Teil schon mit Holz verkleidet. Ein ganzer Bautrupp hätte Wochen dafür gebraucht. Dass es über Nacht geschehen sein sollte, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Vorsichtig stieg Eli über Schutt und Glasscherben, Watson folgte ihm zögerlich. Es gab noch keine Vordertreppe, also musste er zu der offenen Tür hochklettern. Er leuchtete ins Innere. Drinnen fehlten manche Zwischenwände, und die Türrahmen waren schief, aber die Konstruktion war solide. Er roch frische Farbe.

»Das können die Indianer unmöglich geschafft haben«, sagte Eli leise zu Watson. Langsam ging er durch die Räume, unsicher, ob der brüchige Boden ihn tragen würde. Als er an dem Treppengeländer rüttelte, fiel es um. Die Stufen verrutschten unter seinen Schuhen. Eli bückte sich und sah, dass sie nicht festgenagelt worden waren.

Im ersten Stock war das Haus noch unfertiger. Eine komplette Wand fehlte, das Dach war der Sternenhimmel. Nur zwei Zimmer wirkten fertig – ein großes Schlafzimmer am Ende des Ganges und das Bad direkt daneben.

Das Geräusch von fließendem Wasser ließ ihn aufhorchen. Sein Traum von letzter Nacht fiel ihm ein: wieder diese Frau. Diesmal machte sie eine Tür auf. Sie trug einen weißen Bademantel und hatte ein blaues Handtuch ums Haar geschlungen. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, schien all seine Fragen zu beantworten.

Watson legte sich flach auf den Bauch und winselte. Dann fuhr er herum und raste über die wackeligen Bretter die Treppe hinunter. »Du Held«, murmelte Eli und betrat vorsichtig das Badezimmer. Das Wasserrauschen wurde noch lauter, obwohl er im Schein seiner Taschenlampe weder Armaturen noch Leitungen sehen konnte. Als das Licht grell reflektiert wurde, blinzelte Eli zunächst und trat dann näher an den Spiegel heran, der an der Wand hing. Es war ein Wunder, dass etwas so Zerbrechliches die Abrissbirne überstanden hatte. Die Oberfläche war feucht, doch als er sie mit der Fingerspitze berührte, tat sich gar nichts. Als wäre der Spiegel von innen her beschlagen.

Eli hielt die Taschenlampe etwas höher, um nachzusehen, wie der Spiegel an der Wand befestigt war, doch plötzlich erkannte er zwei Hände, die innen gegen die Scheibe drückten. Blitzschnell zog Eli seine Pistole – aber worauf zielte er? Die Wand? Den Spiegel? Wie sollte er einen Feind bekämpfen, den er nicht sehen konnte?

Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Die Hände waren noch immer gegen die Rückseite des Spiegels gepresst. Dann malte ein Finger rückwärts, von rechts nach links, Buchstaben auf die beschlagene Scheibe. H-I-L-F-E.

»Scheiße«, hauchte Eli, und dann wurde der Spiegel plötzlich vor seinen Augen klar gewischt und zeigte ihm sein panisches Gesicht. Er wich rückwärts aus dem Badezimmer und stieg, so schnell er konnte, die wackelige Treppe hinunter. Dicht gefolgt von seinem Hund, rannte Eli aus der offenen Tür hinaus. Als er den Sicherheitszaun gerade überwunden hatte, leuchtete das Haus plötzlich hell auf wie ein Weihnachtsbaum. Eli drehte sich um und starrte mit offenem Mund auf die verblüffende Schönheit eines Leuchtturms mitten im Wald.

Und das in einem Gebäude, in dem es schon seit zwanzig Jahren keinen Strom mehr gegeben hatte.


Es roch nach Tod. Ross konnte ihn auf den Fluren des Pflegeheims riechen, eingehüllt in den Geruch von Ammoniak und Bettwäsche und Tabletten.

Er war heute hergekommen, um Nachforschungen anzustellen, weil er hoffte, so die Gedanken an Lia verdrängen zu können. Seit einer Woche hatte er nichts von ihr gehört. Stattdessen hatte er zahllose Anrufe von Rod van Vleet erhalten. Ob Ross wusste, dass das Pike-Haus sich von selbst wieder aufbaute? Dass noch dazu ein Polizist behauptet hatte, in dem Haus seien alle Lichter angegangen – wo doch die Stromleitungen längst gekappt waren?

Ross hatte seinen Besuch nicht angemeldet, weil er nicht wusste, ob Spencer Pike bereit wäre, ihn zu empfangen. Und jetzt, da er dem alten Mann gegenübersaß, empfand Ross Mitleid mit ihm. Das bisschen Leben, das noch in Pike steckte, schien sich auf seine leuchtend blauen Augen zu beschränken.

»Die mit Zimt und Rosinen kannst du vergessen«, sagte Spencer Pike.

»Wie bitte?«

»So was dürfte gar nicht Bagel heißen. Wenn Sie mich fragen, aber mich fragt ja keiner, darf ein Bagel nicht süß sein, zum Donnerwetter noch mal. Wer schmiert sich schon Marmelade auf sein Schinkenbrot?« Er beugte sich vor. »Sie arbeiten doch für van Vleet. Sagen Sie ihm, dass ich das gesagt habe.«

»Genau genommen arbeite ich nicht für die Redhook-Gruppe«, stellte Ross klar.

Pike zuckte die Achseln. »Was wollen Sie dann hier?«

»Soweit ich weiß, gehörte der gesamte Besitz ursprünglich Ihrer Frau und fiel mit ihrem Tod an Sie, weil Sie keine Kinder hatten.«

»Das stimmt nicht.«

Ross schaute von seinem Notizblock auf. »So steht es im Testament Ihrer verstorbenen Frau.«

»Ist aber trotzdem falsch. Cissy und ich hatten ein Baby, aber es kam tot zur Welt.«

»Das tut mir leid.«

Pike strich die Decke über seinen Beinen glatt. »Das ist lange, lange her.«

»Mr. Pike, ich würde gern wissen, ob Sie irgendetwas über die Geschichte des Grundstücks wissen, bevor es in Ihren Besitz überging.«

»Es gehörte der Familie meiner Frau. Es war seit etlichen Generationen von der Mutter an die Tochter gegangen.«

»Hat das Land je den Abenaki gehört?«

Pike wandte langsam den Kopf. »Wem?«

»Den amerikanischen Ureinwohnern, die gegen das Bauprojekt auf dem Land protestieren.«

»Ich weiß, wer die sind!« Pikes Gesicht lief rot an, und er musste husten. Eine Pflegerin eilte herbei, blickte Ross tadelnd an und sprach beruhigend auf den alten Mann ein, bis er wieder halbwegs regelmäßig atmete. »Die können nicht beweisen, dass es ein Indianerfriedhof war, was?«

»Gewisse … Umstände«, sagte Ross behutsam, »legen den Schluss nahe, dass es auf dem Gelände spukt.«

»Oh ja, das kann sein. Schließlich ist meine Frau dort gestorben«, sagte Pike heiser.

Das tot geborene Kind, der frühe Tod von Cissy Pike, die Möglichkeit eines ruhelosen Geistes – allmählich fügte sich alles zusammen. »Im Wochenbett?«

Pike schüttelte den Kopf. »Sie wurde ermordet. Von einem Abenaki.«


Während ihrer Mittagspause ging Shelby, einem plötzlichen Impuls folgend, zur Stadtverwaltung hinüber. Lottie, die füllige Sekretärin, saß mit einem Diätplan hinter ihrem Schreibtisch. »Weißt du was?«, fragte sie und griff nach einer Selleriestange. »Gemüse ist Teufelswerk.« Sie biss ein Stück ab. »Schön blöd von mir, eine Diät anzufangen, wo ich sowieso schon schlecht gelaunt bin. Ich wünschte, der ganze Spuk hier hätte endlich ein Ende. Myrt Clooney hat mir erzählt, der Papagei von Wally LaFleur würde neuerdings Edith-Piaf-Lieder singen, einfach so. Und die Kaffeemaschine bei uns im Büro kocht nur noch Limonade.«

Zehn Minuten später saß Shelby unter dem Vorwand, für einen Gönner der Bibliothek eine Information zu suchen, im Kellergeschoss der Verwaltung, umgeben von Kisten mit den Akten des Standesamtes. Sie waren nach Jahren gebündelt, aber nicht sortiert – dicke Packen von vergilbten Karteikarten, auf denen die Geburten und Todesfälle in Comtosook von 1877 bis in die Gegenwart verzeichnet waren.

Ross hatte sie nicht um Hilfe gebeten. Vielleicht war sie gerade deshalb hier – seit ihrer Auseinandersetzung im Krankenhaus ging er ihr geflissentlich aus dem Weg, aber mit einer Höflichkeit, die sie doppelt schmerzte: ein Zettel auf dem Küchentisch mit der Nachricht, dass er zwischen vier und fünf Uhr morgens zurück sei; eine frische Packung Milch im Kühlschrank, wenn er die letzte ausgetrunken hatte. So vieles stand unausgesprochen im Raum. Wie gerne würde Shelby einfach zu ihrem kleinen Bruder sagen: Siehst du denn nicht, dass ich das nur aus Liebe zu dir tue? Aber sie traute sich nicht, aus Angst, von ihm dasselbe zu hören.

Sie wollte, dass sie wieder aufeinander zugingen. Aber da sie nicht die richtigen Worte fand, um sich bei ihm für ihr Misstrauen zu entschuldigen, wollte sie ihm diese Informationen geben, in der Hoffnung, dass das als Entschuldigung genügte.

Die Kiste mit den Todesfällen ab 1930 hatte in den späten Fünfzigerjahren eine Überschwemmung überstanden, und vor lauter Wasserflecken konnte Shelby auf vielen Karten nicht mal die Namen der Verstorbenen entziffern.

Nach einer Weile fand sie den Packen mit den Totenscheinen des Jahres 1932. Das Gummiband, mit dem sie zusammengehalten wurden, war brüchig und zerfiel in ihren Fingern. Die Karten rutschten auf ihren Schoß. Shelby sah sie rasch durch. BERTELMAN, ADA. MONROE, RAWLENE. QUINCY, OLIVE.

Zwei Karten klebten aneinander. Und auf beiden stand der Name PIKE. Die erste war der Totenschein für ein namenloses tot geborenes Kind. Geschätzter Todeszeitpunkt: 11 Uhr 32. An der Rückseite klebte der Totenschein für eine Mrs. Spencer Pike. Todeszeitpunkt: 11 Uhr 32.

Shelby fröstelte trotz der Hitze im Keller. Nicht nur, weil diese Frau, diese Mrs. Spencer Pike, die mit gerade mal achtzehn Jahren gestorben war, ihr Baby nie im Arm hatte halten können. Sondern auch weil das Baby keinen einzigen Atemzug getan hatte. Nein, auch weil der Klebstoff, der die beiden Karten so viele Jahre zusammengehalten hatte, ganz offensichtlich Blut war.


Ruby Weber gab es nicht gerne zu, aber sie wurde langsam alt. Sie erzählte allen, sie sei siebenundsiebzig, doch in Wirklichkeit war sie dreiundachtzig. Ihre Hüften bewegten sich wie rostige Angeln, ihre Augen wurden trübe. Das Schlimmste war, dass sie manchmal mitten im Satz einschlief. Eines Tages würde sie einfach einnicken und vergessen, wieder aufzuwachen.

Aber nicht, bevor es Lucy nicht wieder besser ging. Ruby wusste, dass die Medikamente ihrer Urenkelin halfen, doch das hatte seinen Preis – denn jetzt hatten Lucys Albträume sich bei Ruby eingenistet. Ganz gleich, wo oder wann Ruby jetzt einschlief, immer durchlebte sie erneut den Telefonanruf, der ihr Leben zerstört hatte.

Es war an einem regnerischen Montag gewesen, vor acht Jahren. Als sie ans Telefon ging, dachte sie, es wäre jemand von der Apotheke, der Bescheid sagen wollte, dass ihr Arthritismedikament jetzt da war. Oder vielleicht ihre Tochter Luxe, die vom Markt aus anrief, um ihr zu sagen, dass sie ein bisschen später kommen würde. Aber die Stimme am anderen Ende gehörte einem Geist.

Sie saß noch immer mit dem Hörer in der Hand da, zitternd, als Luxe vom Einkaufen kam. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich in der Schlange gestanden habe«, sagte Luxe. »Als ob die Leute Angst vor einer Hungersnot hätten.« Dann sah sie Rubys Gesicht. »Ma? Was ist denn los?«

Ruby hatte die Hand ausgestreckt und Luxe’ Haut berührt, glatt und warm. Wie machte man einem Menschen begreiflich, dass er nicht der war, der er zu sein glaubte?

Jetzt spürte Ruby Hände auf ihren Schultern, die sie sachte rüttelten. »Granny. Granny

Ruby konnte nicht antworten, in Gedanken war sie noch ganz bei Luxe, die zu Boden gesunken war, die Hände auf die Brust gepresst, als Ruby ihr erzählt hatte, wer der Anrufer gewesen war, wer Luxe wirklich war, was Ruby nicht war. Noch immer sah sie Luxe’ Gesicht vor sich, wächsern und still, durch den Eingang der Notaufnahme hindurch, als der Arzt herauskam und ihr mitteilte, dass sie an einem Herzstillstand gestorben war.

An dem Tag, als ihre Mutter starb, war Meredith in Boston gewesen. Sie traf völlig aufgelöst im Krankenhaus ein und verlangte ein Wunder: mit solch verzweifelter Inbrunst, dass Ruby sich schon fast vorgestellt hatte, wie Luxe auf der Bahre das Leichentuch zurückwirft und sich aufsetzt. Solche Wunder hatte es schon gegeben. Ruby hatte es mit eigenen Augen gesehen.

Sie hatte Meredith nie erzählt, was sie Luxe gestanden hatte, kurz bevor das Herz ihrer Tochter aussetzte. Jetzt jedoch … wo Lucy so litt … vielleicht würde Meredith verstehen, dass die Liebe zu einem Kind eine Frau in den Wahnsinn treiben konnte. »Merry«, sagte Ruby unvermittelt, wollte ihr alles erzählen. »Weißt du noch, als deine Mutter gestorben ist?«

»Ach, Granny«, seufzte Meredith. »Hast du davon geträumt?«

Ihre kühle Hand auf Rubys Wange: Mehr brauchte Ruby nicht, um einzusehen, dass sie nicht denselben Fehler zweimal machen konnte. Sie beschloss, ein für alle Mal einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Das hier war jetzt ihr Leben. Spencer Pike hatte nie wieder angerufen. Und von ihr aus konnte er geradewegs zur Hölle fahren.


Der Hund machte ihn nervös. Das Tier lag etwa einen Meter von Ross’ Fuß entfernt, eine große Pfütze Fell, völlig entspannt, wenn da nicht die dunklen Augen gewesen wären, die Ross starr fixierten, seit er das Büro des Detective betreten hatte. »Mr. Wakeman«, sagte Detective Rochert. »Versetzen Sie sich doch mal für einen Moment in meine Lage. Da kommt jemand, der sich paranormaler Ermittler nennt, in mein Büro spaziert und bittet mich, einen siebzig Jahre alten unaufgeklärten Mordfall wieder aufzunehmen. Von wem soll ich mir denn Zeugenaussagen holen – von Geistern? Und selbst wenn ich einen Täter ermitteln kann, ist der wahrscheinlich tot oder deutlich über neunzig. Kein Staatsanwalt in Vermont würde sich mit so einem Fall befassen.«

Ross schielte zu dem Hund hinüber, der aufgestanden war und die Zähne bleckte. Der Detective schnippte mit dem Finger, und der Hund sackte wie ein Stein zurück auf den Boden. »Ich denke, angesichts der gegenwärtigen Streitigkeiten um das Grundstück ist der Fall aktueller, als Sie glauben. Es ist nun mal ein großer Unterschied, ob eine Frau bei der Geburt ihres Kindes stirbt oder ermordet wird. Vielleicht ist Spencer Pike ja senil. Vielleicht waren die Totenscheine von 1932 fehlerhaft. Aber vielleicht verbirgt sich gerade hier der Grund, warum die Abenaki meinen, sie hätten einen Anspruch auf das Land.«

Eli beugte sich vor, und seine dunklen Augen waren plötzlich eiskalt. »Sie sind nicht zufällig zu mir gekommen, weil Sie wissen, dass ich ein Halb-Abenaki bin, nicht wahr? Sie meinen, ich würde den Fall neu aufrollen, weil ich es denen schuldig bin.«

Ross schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie der diensthabende Detective sind«, sagte er.

Rochert schluckte. »Mr. Wakeman, Sie begnügen sich mit Ahnungen und Mutmaßungen, ich brauche knallharte Beweise.«

»Im Grunde unterscheidet sich meine Arbeit gar nicht so sehr von Ihrer. Geht die Spurensuche nicht immer davon aus, dass Menschen stets etwas von sich zurücklassen?«, antwortete Ross.

»Unsere Erkennungsdienstler können nach Fingerabdrücken suchen. Aber nicht nach …« Er verstummte, und Ross sah, wie Rochert nachdenklich die Stirn in Falten legte. Nach einem Moment sprach er weiter. »Selbst wenn dieser Mord nach siebzig Jahren noch aufgeklärt wird, würde das nichts ändern. Pikes Frau ist und bleibt tot. Ihm gehört das Land. Und er hat nach wie vor das Recht, es zu verkaufen.«

»Kommt drauf an«, sagte Ross.

»Worauf?«

»Wer den Mord damals begangen hat.«


Eli wunderte sich nicht, dass das Polizeirevier von Comtosook noch immer im Besitz der Akte über einen so lange zurückliegenden, ungelösten Mordfall war. Der Grund dafür war nicht darin zu sehen, dass ungeklärte Fälle mit großer Gewissenhaftigkeit behandelt wurden, sondern in der völlig inkompetenten Archivierung. Es war einfach nie jemand auf die Idee gekommen, jemals das Archiv auszumisten. Er wischte sich Spinnweben von der Wange und zog den ausgebeulten Karton aus dem Regal.

Chief Follensbee würde nichts dagegen haben, wenn Eli sich in seiner Freizeit mit der Sache beschäftigte. Als er zu seinem Schreibtisch zurückging, redete er sich ein, dass sein erwachtes Interesse nichts mit den merkwürdigen Dingen zu tun hatte, die er neulich Nacht im alten Pike-Haus erlebt hatte. Auch nicht damit, dass er sich insgeheim fragte, ob die Frau in seinen Träumen vielleicht aus einem bestimmten Grund immer wieder auftauchte. Der Fall interessierte ihn einfach, weil er bislang nicht aufgeklärt worden war und weil die modernen kriminaltechnischen Möglichkeiten Antworten auf Fragen liefern könnten, die 1932 unbeantwortet bleiben mussten.

Als Eli wieder ins Büro kam, sah Watson gelangweilt zu, wie Eli den Inhalt des Kartons auf den Schreibtisch kippte. Ein Aktenordner, ein Stapel Fotos vom Tatort, eine Papiertüte, eine Zigarrenkiste und eine Schlinge.

Eli zog sich Gummihandschuhe über und nahm das Seil unter die Lupe. Ein ganz normaler Strick, wie er vermutlich sogar noch heute hergestellt wurde. Der Kollege, der damals in dem Fall ermittelt hatte, war so klug gewesen, den Knoten nicht zu lösen; nach all den Jahren war er immer noch intakt.

Er nahm die Fotos vom Tatort in die Hand. Auf einem war eine junge Frau zu sehen, die mit der Schlinge um den Hals ausgestreckt auf dem Boden lag. Brust und Hals waren blutig zerkratzt, nicht von dem Seil, sondern von ihren langen Fingernägeln – sie hatte versucht, sich zu befreien. Auf einem anderen war das Vordach einer Hütte zu sehen. Eli sah genauer hin: Das Vordach lag auf dicken Balken auf. Eine Lache auf dem Boden, vermutlich ausgetretene Körperflüssigkeiten, verriet ihm, dass der Körper an einem der Balken gehangen hatte. Eine weitere Aufnahme zeigte die übel zugerichteten nackten Beine des Opfers.

In der braunen Papiertüte waren ein fleckiges Nachthemd und ein Paar Damenschuhe. Ein kleiner Lederbeutel mit einem gerissenen Lederband und eine Pfeife aus Pappelholz mit schlangenförmigem Pfeifenkopf befanden sich in der Zigarrenkiste. Eli nahm die Pfeife und drehte sie in der Hand. Sein Großvater hatte mal so eine geschnitzt. Er hob sie an die Nase, roch den aromatischen Tabak, der ihn an seine Kindheit erinnerte.

Er legte die Pfeife weg und schlug den Polizeibericht auf.


FALLNUMMER: 32-01

ERMITTELNDER OFFICER: Detective F. Olivette

NAME DES OPFERS: Cecelia Pike (Mrs. Spencer Pike)

GEBURTSDATUM: 09.11.1913

ALTER: 18

WOHNHAFT: Otter Creek Pass, Comtosook, Vermont

TATZEIT: 0.00 – 9.00 Uhr, 19. September 1932

TATORT: Otter Creek Pass, Comtosook, VT


HERGANG:

Um 09 Uhr 28 am Morgen des 19. September 1932 rief Professor Spencer Pike (geb. 13.05.06) im Polizeirevier von Comtosook an und meldete den Mord an seiner Ehefrau Cecelia »Cissy« Pike. Professor Pike gab an, dass der Tod seiner Frau auf ihrem Anwesen irgendwann zwischen Mitternacht und 9 Uhr eingetreten sei. Detective Duley Wiggs und ich begaben uns zum Haus der Familie Pike, um die Ermittlungen aufzunehmen.


Professor Pike war sichtlich erschüttert. Er führte uns zum Eishaus, wo wir den Leichnam seiner Frau vorfanden. Das Opfer lag auf dem Rücken vor dem Eishaus. Es war kein Puls feststellbar. Der Körper fühlte sich kalt an. Daraufhin verständigte ich den Coroner.


Das Opfer trug ein geblümtes Kleid und Schuhe und hatte eine Schlinge um den Hals. An Brust und Hals des Opfers waren tiefe, blutige Kratzer zu erkennen, die Unterschenkel wiesen zahlreiche Blutergüsse auf. Das kleine Vordach des Eishauses wird durch dicke Balken gestützt. Eine erste Untersuchung lässt vermuten, dass das Opfer an einem dieser Balken aufgehängt wurde. Es wurden Fotografien von Opfer und Tatort gemacht.


Neben der Leiche lag ein Lederbeutel mit zerrissenem Riemen. In dem Beutel befand sich eine Art Kräutermasse. Unter den Stufen zum Eishaus entdeckten wir eine geschnitzte Pfeife aus Pappelholz. Am Tatort wurden keinerlei Hilfsmittel gesichert, mit denen das Opfer selbst den Balken hätte erreichen können.


Professor Pike gab an, dass er seine Frau 1931 geheiratet hatte. Er bestätigte, dass er als Dozent im Fachbereich Anthropologie an der University of Vermont tätig ist. Er sagte, dass Mrs. Pike im neunten Monat schwanger war und dass am Abend des 18. September die Wehen eingesetzt hatten. Nach Aussagen von Professor Pike brachte seine Frau mithilfe ihres Hausmädchens um 23 Uhr ein totes weibliches Kind zur Welt. Er stellte fest, dass Mrs. Pike nach der Geburt deprimiert und körperlich erschöpft war. Nach Aussage von Professor Pike fiel seine Frau gegen Mitternacht in Schlaf. Das ist angeblich das letzte Mal, dass Mrs. Pike lebend gesehen wurde.


Professor Pike gab an, dass er, als seine Frau schlief, in sein Arbeitszimmer gegangen sei, um etwas zu trinken. Er schätzte, dass er sechs Scotch auf Eis konsumiert hatte. Er sagte aus, dass er in seinem Schreibtischsessel eingeschlafen und erst gegen 9 Uhr aufgewacht sei. Er habe sofort nach seiner Frau sehen wollen, ihr Schlafzimmer aber leer vorgefunden, mit eingeschlagener Fensterscheibe. Professor Pike gab an, dass er im ganzen Haus nach ihr gesucht habe, ehe er sie aufgehängt am Vordach des Eishauses fand. Er habe sie dann mit einem Messer vom Stützbalken geschnitten.


Die sichergestellte Pfeife und der Lederbeutel wurden Professor Pike gezeigt. Er identifizierte sie als Eigentum eines männlichen Abenaki namens Gray Wolf. Er sagte aus, dass er Gray Wolf am Mittag des 18. September unter Anwendung körperlicher Gewalt von seinem Grund und Boden verwiesen habe. Professor Pike gab an, dass er Zeuge gewesen sei, wie Gray Wolf seine Frau belästigt habe. Nach Aussage von Professor Pike handelt es sich um einen kürzlich entlassenen Häftling, der wegen eines Tötungsdeliktes im Gefängnis von Burlington einsaß und derzeit ohne festen Wohnsitz ist. Professor Pike gab an, dass er Gray Wolf zur Rede gestellt und ihn aufgefordert habe, das Grundstück augenblicklich zu verlassen. Angeblich musste Gray Wolf mit Gewalt gezwungen werden, der Aufforderung nachzukommen.


Professor Pike konnte keine Angaben zum Verbleib des Hausmädchens machen, das nicht da war, als er um 9 Uhr erwachte. Ihre persönliche Habe befand sich jedoch noch im Haus. Ihr Zimmer zeigte keine Spuren eines Kampfes. Professor Pike gab an, dass das vierzehnjährige Hausmädchen körperlich nicht in der Lage gewesen wäre, seiner Frau etwas anzutun. Er vermutete, dass das Hausmädchen aufgrund seiner schwachen Konstitution möglicherweise davongelaufen sei, nachdem es den Leichnam seiner Frau entdeckt hatte.


Der Coroner, Dr. J. E. DuBois, traf um 10 Uhr ein und untersuchte die Leiche des Opfers. Seine vorläufigen Erkenntnisse deuten auf Tod durch Ersticken hin.


Eli blätterte weiter. Beschreibungen des Hauses, der Gegenstände in Cissy Pikes Schlafzimmer. Anzeichen für einen Einbruch und Kampfspuren. Der Bericht des Coroners. Ein Satz Fingerabdrücke, die dem Opfer abgenommen worden waren. Eine Vernehmung von Pike, eine weitere von Gray Wolf, der freiwillig aufs Revier gekommen war. Aussagen der Männer, die Gray Wolf für die Nacht ein Alibi lieferten. Ein Haftbefehl gegen Gray Wolf, einen Tag später ausgestellt, der nie ausgeführt werden konnte, weil Gray Wolf wie vom Erdboden verschluckt war.

Eli betrachtete das Seil, das Nachthemd, die Pfeife. Zumindest konnte er diese Gegenstände zur DNA-Analyse ins Labor schicken, um feststellen zu lassen, ob Gray Wolf irgendwelche Spuren hinterlassen hatte.

Geistesabwesend streichelte Eli Watsons Kopf. Es war möglich, dass Gray Wolf aus der Stadt geflohen war, weil er wusste, dass er erneut verurteilt werden würde. Aber es war ebenso gut möglich, dass Gray Wolf nie gefunden wurde, weil er die ganze Zeit auf dem Grundstück am Otter Creek Pass war, zwei Meter unter der Erde – dank Spencer Pike.

Was bedeuten würde, dass das Land tatsächlich ein Indianerfriedhof war.


Ross sah, wie der Blitz zwischen den Sternen hindurchzuckte. Dann riss der Himmel erneut auf, Donner grollte. Der erste Tropfen fiel auf Ross’ Stirn.

Bei paranormalen Ermittlungen gab es gewisse Grundregeln im Hinblick auf Temperatur und Wetterbedingungen. Man wollte schließlich keine Geisterfotos aufnehmen, bei denen sich später herausstellte, dass sie nur den Frosthauch des eigenen Atems zeigten. Aus demselben Grund waren Regen und Schneefall tunlichst zu meiden. Ross hatte diese Regeln schon einmal sträflich missachtet, weil Gewitter so viel Energie lieferten, dass Geister sich leichter materialisieren konnten als sonst. Die Warburtons waren einmal nach einem Gewitter vom Staat Connecticut um Hilfe gebeten worden, weil ein Verwaltungsbeamter mit dem Dienstwagen eine Frau angefahren hatte, die über den Highway gelaufen war. Obwohl sechs Zeugen den Unfall gesehen hatten und der Kotflügel des Wagens stark zerbeult war, fehlte von der Frau jede Spur. Curtis hatte die Theorie aufgestellt, dass die gewaltige Energie in der Luft diesen Geist ungewöhnlich verfestigte Substanz hatte annehmen lassen.

Ross hatte seine Ausrüstung am Abend auf der Lichtung aufgebaut, doch der Regen machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er zog hastig seine Jacke aus und wickelte sie als Schutz um die Videokamera. Nachdem er alles eingepackt hatte, warf er sich die Tasche über die Schulter, steckte die Taschenlampe ein und stapfte gebeugt durch den Wald. Der gefrorene, regennasse Boden war glitschig. Plötzlich stieß er gegen jemanden, der genauso zielstrebig in den Wald ging wie er hinaus, und fluchte leise. Doch dann sah er, dass es Lia war, die vor ihm stand.


Das Telefon klingelte, und Eli griff nach dem Hörer. »He«, sagte eine weibliche Stimme. »Wieso bist du denn am Samstagabend zu Hause?«

Er lächelte. »Und wieso arbeitest du noch, Frankie?«

Frankie Martine war Genforscherin und eine alte Freundin von ihm. Sie wohnte inzwischen in Maine, wo Eli sie vor zwei Tagen besucht hatte, um ihr persönlich die Beweismittel im Mordfall Pike zu bringen. Sein Chef hätte niemals zugelassen, dass das Geld der Steuerzahler für DNA-Tests verschleudert wurde, die doch nichts bringen würden, und Frankie hatte ihrem alten Freund den Gefallen nicht abschlagen können.

»Ich bin noch im Labor, weil ich Überstunden für alte Freunde machen muss«, sagte sie.

Eli setzte sich. »Hast du was rausgefunden?«

»Kommt drauf an. Jedenfalls hab ich von den Speichelresten auf der Pfeife DNA nehmen können. Und von den Hautzellen an dem Seil. Offenbar eine Mischung aus zwei eindeutigen Profilen. Die erste Probe, die von der Schlinge, stammt von einer Frau – ich vermute, deinem Opfer. Die zweite, die vom Ende des Stricks, stammt von einem Mann.«

»Volltreffer.«

»Nicht ganz, die DNA stammt von einem anderen Mann als dem, dessen Speichel an der Pfeife war.«

Elis Gedanken überschlugen sich. Falls die Pfeife Gray Wolf gehört hatte und falls Gray Wolf Cissy Pike erhängt hatte, müsste dann nicht auch seine DNA auf dem Seil sein? Und wenn nicht, reichte das, um ihn zu entlasten? Und wenn das nicht seine DNA auf dem Strick war … von wem war sie dann? Von den Ermittlungsbeamten? Von Spencer Pike?

»Hm«, sagte Eli, »und was ist mit dem Medizinbeutel? Mit diesem kleinen Lederding?«

»Ach das«, sagte Frankie. »Da krieg ich irgendwie dauernd falsche Resultate. Ich glaube, da stimmt was nicht mit dem Testablauf. Die Ergebnisse sind einfach komisch, mehr nicht.«

»Wann kannst du mir den Bericht liefern?«, wollte Eli wissen und runzelte die Stirn.

»Je länger du mich am Telefon aufhältst, desto später.«

»Danke, Frankie.«

»Bedank dich nicht zu früh«, sagte sie. »Vielleicht ist dir nicht mehr danach, wenn ich fertig bin.«


Ethan steckte schüchtern den Kopf ins Badezimmer, wo seine Mutter gerade ein Schaumbad nahm. »Komm rein, Eth«, sagte sie lachend. »Du kannst ruhig hingucken.«

Er tat es. Tatsächlich. Nur ihr Kopf ragte aus dem Schaum. »Ich krieg das nicht auf«, sagte Ethan und hielt ihr das Glas Erdnussbutter hin.

»Ich versuch’s mal.« Seine Mutter nahm das Glas, drehte den Deckel, reichte es ihm zurück. »Was machst du denn da unten?«

»Ich mach uns Sandwiches. Für nachher, wenn wir den Film gucken.« Sie hatten irgendeinen Kinderkram à la Disney ausgeliehen. Ethan sah zum Fenster, an dem der Regen herablief. »Echt ätzend, dass wir nicht rausgehen können.«

»Ethan

»Trotzdem echt ätzend, auch wenn ich das nicht sagen soll.«

Als es an der Tür klingelte, zuckten sie beide zusammen. Wer kam denn um halb zehn an einem Samstagabend zu Besuch? Ethan sah, wie das Gesicht seiner Mutter so weiß wurde wie der Schaum um sie herum. »Ross ist was passiert«, flüsterte sie und sprang auf.

Ethan wandte sich verschämt ab. Sie zog ihren Bademantel über, wickelte sich ein blaues Handtuch um das nasse Haar und eilte die Treppe hinunter.

Er hätte ihr folgen können. Doch stattdessen konnte er nur an das denken, was er von seiner Mutter gesehen hatte, bevor er wegsah – einen Fuß, der aus dem Schaum auftauchte.

Er wusste nicht, wieso, aber dieses Bild erinnerte ihn an die Nacht, als er mit seinem Onkel auf Geisterjagd gewesen war.


In seinen wildesten Phantasien hätte Eli sich nicht vorstellen können, dass er einmal mit jemandem zusammenarbeiten würde, der auf Geisterjagd ging. Aber Frankies abendlicher Anruf hatte alles verändert. Die DNA des angeblichen Mörders hatte sich nicht auf dem Strick gefunden – dafür aber die DNA von jemand anderem. Eli brauchte mehr Hintergrundinformationen. Deshalb wollte er mit jemandem sprechen, der seine historischen Lücken füllen konnte. Und das war Ross Wakeman.

Eli stand auf der Veranda, auf deren Metalldach der Regen trommelte, und klingelte ein zweites Mal. Wakeman hatte ihm seine Telefonnummer und Adresse dagelassen, »nur für den Fall«, so hatte er zu Eli gesagt, »dass Sie es sich anders überlegen und die alte Akte doch noch wieder öffnen wollen.« Elis wachsamer Blick hatte bereits das Skateboard registriert, das an der Wand lehnte, und das Paar gelbe Gartenschuhe gleich daneben. Er war überrascht. Ross Wakeman hatte auf ihn nicht den Eindruck eines Familienmenschen gemacht.

Schließlich wurde die Tür entriegelt, und eine ängstliche Stimme fragte: »Ist was passiert?«

Doch Eli war nicht in der Lage zu antworten. Er starrte sprachlos die Frau an, die er in seinen Träumen gesehen hatte.


Ethan tauchte die Hand in den Schaum und pustete ihn behutsam weg. Als das Licht in dem Spukhaus ausgegangen war, hatte er so etwas Ähnliches gerochen. Er stand auf und schaltete das Licht aus, tauchte das Badezimmer in Dunkelheit. Mit dem Blumenduft in der Luft und der drückenden Feuchtigkeit war es jetzt genau wie in jener Nacht.

Sein Onkel hatte ihn gefragt, ob er irgendwas gesehen hatte, und Ethan hatte Nein gesagt, er habe sich nur versteckt. Doch einmal hatte er aus einem Versteck hervorgelugt, und da war etwas gewesen. Eine Bewegung im Dunkeln. Zuerst hatte er gedacht, es wäre sein Onkel, der zurückkam, aber er war es nicht. Ethan hatte angestrengt auf die Kontur dort vor ihm geblickt, dünn wie eine Angelschnur. Ein Gesicht oder vielleicht doch kein Gesicht, er konnte es nicht genau sagen, damals genauso wenig wie jetzt.

Nur einer Sache war Ethan sich absolut sicher: Dieser Blumenduft war da gewesen und dann verschwunden. Was immer in dem Zimmer gewesen war, es war Onkel Ross nach draußen gefolgt und nicht umgekehrt.


Ein Blitzstrahl durchbrach den Bann. »Du bist zurückgekommen«, sagte Ross. Er bemerkte gar nicht, dass Lias Augen rot und entzündet waren und dass sie den Kopf schüttelte. Sie war zu ihm zurückgekehrt, und allein deshalb würde er alles tun, um sie bei sich zu behalten. In diesem Moment war er sicher, dass er es mit ihrem Mann würde aufnehmen können. Dass er sogar dem Donner Einhalt gebieten könnte, wenn nötig.

»Ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen«, entgegnete Lia.

Ross wehrte den Satz ab wie einen Schlag. »Nein.« Sein Haar war tropfnass, und der Regen rann ihm übers Gesicht. Er wusste nicht, wie er Lia begreiflich machen sollte, dass eine Trennung eine gemeinsame Entscheidung war, dass ein Mensch einen anderen nicht verlassen konnte, wenn der ihn nicht gehen lassen wollte. Und weil ihm die Worte fehlten, streckte er die Arme nach ihr aus.

Ross nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er glaubte, ihre Unsicherheit und ihren Schmerz zu schmecken. Sie musste doch die Leere in seinem Inneren spüren – und dass nur sie diese Leere auszufüllen vermochte.

Das Gewitter wurde stärker, Blitze zuckten, und der Donner ließ den Boden vibrieren. Lia riss sich von ihm los, sah ihn mit großen Augen an. »Warte«, sagte Ross, doch sie wandte sich ab und lief durch den Wald davon.

Er folgte ihr wie ein Jäger, die Augen auf das Weiß ihres Kragens gerichtet. Sie rannte über die nasse, schneebedeckte Lichtung, zwischen den Erdhügeln hindurch, die aus dem Nichts wieder aufgetaucht waren, und verschwand zwischen den Bäumen.

Auf diesem Teil des Grundstücks war Ross noch nicht gewesen, zumindest konnte er sich nicht erinnern. Seine Lunge schmerzte bei jedem keuchenden Atemzug, aber er lief weiter. Lia war in einen schmalen Pfad eingebogen. Dornen verfingen sich in Ross’ Schnürsenkeln, zerkratzten ihm die Knöchel und gaben dann wundersamerweise nach. Die Erde unter seinen Füßen war getaut, ein kleines Fleckchen, bedeckt mit Dutzenden zertrampelter weißer Rosen.

Auch Lia blickte nach unten auf die Blüten, aber sie blieb nicht stehen. Und Ross, der sie nicht aus den Augen ließ, sah ihre Beine direkt durch zwei Grabsteine gleiten, gegen die er einen Moment später mit dem Fuß prallte, sodass er mit dem Kopf voran in den Schlamm stürzte.

Atemlos und benommen kam er auf die Knie. Beim nächsten Blitz konnte er die Namen auf den Grabsteinen entziffern. LILY PIKE, 19. SEPTEMBER 1932. Und in größeren Buchstaben: CECELIA BEAUMONT PIKE, 9. November 1913 – 19. SEPTEMBER 1932.

Cissy Pike. Cecelia. Lia.

Ross hatte von Geistern gehört, die nicht wussten, dass sie Geister waren. Er hatte Erforscher von paranormalen Phänomenen kennengelernt, die von Geistern gebissen, geschlagen, geboxt und gestoßen worden waren. Er war immer davon ausgegangen, dass der erste Geist, den er sehen würde, durchsichtig wäre, aber wenn genug Energie zur Verfügung stand, konnten Geister auch in körperlicher Form erscheinen.

Ross, der immer unter Schlaflosigkeit litt, hatte nach seiner Begegnung mit Lia geschlummert wie ein Baby. Er hatte in ihrer Gegenwart gefröstelt. Das war körperliche Anziehungskraft im elementarsten Sinne gewesen: Ein Geist hatte ihm seine Wärme entzogen.

»Ross«, sagte Lia, und er hörte das Wort im Geist, unausgesprochen. »Ross?« Über den Grabstein, ihren Grabstein, hinweg streckte sie ihm die Hand entgegen.

Noch während er nach ihr griff, wusste er, dass ihm das nur Schmerz bringen würde. Von Lias Fingern stieg Kälte seinen Arm hinauf. Ihre Gesichtszüge wurden durchsichtig. Ross wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zwang sich hinzusehen, damit er diesmal genau den Augenblick mitbekam, in dem er zurückgelassen wurde.

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