EINS


Als Ross Wakeman sich das erste Mal umbrachte, hatte er Erfolg, anders als beim zweiten oder dritten Mal.

Er schlief am Steuer seines Wagens ein und fuhr von einer Brücke in einen See. Das war das zweite Mal. Seine Retter fanden ihn am Ufer. Als man seinen Honda barg, waren alle Türen verriegelt und die Fenster aus Sicherheitsglas waren von unzähligen Sprüngen durchzogen. Kein Mensch konnte sich erklären, wie er aus dem Auto herausgekommen war und dabei nicht einmal einen Kratzer abgekriegt hatte.

Beim dritten Mal wurde Ross in New York auf der Straße überfallen. Der Täter nahm ihm die Brieftasche ab, schlug ihn zusammen und schoss ihm dann in den Rücken. Die Kugel hätte ihm aus der kurzen Entfernung das Schulterblatt zerschmettern und einen Lungenflügel durchbohren müssen, doch stattdessen wurde sie wie durch ein Wunder von dem Knochen abgebremst. Das Bleikügelchen trägt Ross jetzt als Schlüsselanhänger bei sich.

Das erste Mal war vor etlichen Jahren, als Ross in ein Gewitter geraten war. Der Blitz war aus dem Himmel gezuckt, genau auf sein Herz zu. Die Ärzte teilten ihm mit, dass er sieben Minuten lang klinisch tot gewesen war. Sie folgerten, dass Ross nicht direkt von dem Stromschlag getroffen worden sein konnte, weil bei einer Spannung von 50 000 Ampere in der Brusthöhle die Feuchtigkeit in den Zellen verdampft und er im wahrsten Sinne des Wortes geplatzt wäre. Der Blitz musste demnach ganz in der Nähe eingeschlagen haben und hatte in Ross’ Körper einen Induktionsstrom erzeugt, der zu einer Herzrhythmusstörung geführt hatte. Die Ärzte sagten, dass er ein echter Glückspilz sei.

Sie irrten.

Und nun, als Ross das nasse Dach des Hauses der O’Donnells in Oswego hochkletterte, verschwendete er keinen Gedanken mehr an Sicherheitsmaßnahmen. Der Wind, der vom Lake Ontario heranwehte, war selbst im August noch kalt und peitschte ihm das lange Haar ins Gesicht, als er sich um das Giebelfenster herummanövrierte. Der Regen prasselte ihm in den Nacken, während er mit der Blitzlichthalterung hantierte und die wasserdichte Videokamera auf den Speicher ausrichtete.

Seine Stiefel rutschten ab und verschoben ein paar Schindeln. O’Donnell, der unter einem Regenschirm stand, spähte zu ihm hoch. »Vorsicht«, rief er. Und Ross hörte auch, was er nicht aussprach: Gespenster haben wir schon genug.

Aber ihm würde nichts passieren. Er würde nicht ausgleiten, er würde nicht abstürzen. Deshalb übernahm er freiwillig die riskantesten Einsätze, deshalb brachte er sich wieder und wieder in Gefahr. Deshalb hatte er Bungee-Springen und Free Climbing und Crack ausprobiert. Er winkte zu Mr. O’Donnell hinunter, um ihm zu signalisieren, dass er ihn verstanden hatte. Aber ebenso sicher, wie Ross wusste, dass in acht Stunden die Sonne aufgehen würde – ebenso sicher, wie er wusste, dass er wieder einen Tag durchstehen musste –, ebenso sicher wusste er, dass er nicht sterben konnte, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte.


Das Baby weckte Spencer Pike, und er setzte sich schwerfällig auf. Trotz der Nachtbeleuchtung, die in jedem Zimmer des Pflegeheims Shady Pines brannte, konnte Spencer nicht weiter als bis zum Fußende seines Bettes sehen. Er konnte in letzter Zeit gar nichts mehr sehen, wegen des grauen Stars auf beiden Augen; aber manchmal, wenn er aufstand, erhaschte er in dem Spiegel, an dem er vorüberkam, einen flüchtigen Blick von jemandem, der ihn beobachtete – jemand, dessen Gesicht nicht fleckig und gelb war, jemand, dem die Haut nicht schlaff von den Knochen hing. Jemand, der er früher einmal gewesen war.

Hören konnte er allerdings noch gut. Verdammt, er hörte Dinge, die er nicht hören wollte.

Das Baby weinte erneut los.

Spencers Hand huschte über die Decke zu dem Klingelknopf neben dem Bett. Einen Moment später kam die Nachtschwester herein. »Mr. Pike«, sagte sie. »Was ist los?«

»Das Baby weint.«

Die Schwester schüttelte sein Kissen auf. »Hier gibt es keine Babys, Mr. Pike, das wissen Sie doch. Sie haben geträumt.« Sie tätschelte seine hagere Schulter. »So, jetzt wird aber schön weitergeschlafen.«

Warum, fragte Spencer sich, sprach sie mit ihm, als wäre er ein Kind? Und wieso verhielt er sich wie eines, ließ zu, dass sie ihm die Decke bis über die Brust zog? Eine Erinnerung drang Spencer in die Kehle, etwas, das er nicht ganz bis vor die Nebelwand ziehen konnte, das ihm aber Tränen in die Augen trieb. »Brauchen Sie etwas Naproxen?«, fragte die Schwester freundlich.

Spencer schüttelte den Kopf. Schließlich war er mal Wissenschaftler gewesen. Und noch hatte kein Labor das Medikament entwickelt, das seinen Schmerz lindern könnte.


In natura war Curtis Warburton kleiner, als er im Fernsehen wirkte, aber es mangelte ihm nicht an dem Charisma, das Bogeyman Nights zu der Sendung mit den höchsten Einschaltquoten gemacht hatte. Sein schwarzes Haar wurde in der Mitte von einer weißen Strähne durchzogen. Die hatte er seit einer Nacht vor neun Jahren, als der Geist seines Großvaters am Fuße seines Bettes erschienen war – ein Ereignis, das ihn dazu bewogen hatte, sich mit der Erforschung paranormaler Phänomene zu befassen. Seine zierliche Frau Maylene, deren übersinnliche Fähigkeiten der Polizei von Los Angeles wohl bekannt waren, saß neben ihm und machte sich Notizen, während Curtis den Besitzern des Hauses Fragen stellte.

»Zuerst in der Küche«, murmelte Eve O’Donnell, und ihr Mann nickte. Das Rentnerehepaar hatte sich dieses Haus am See als Sommerwohnsitz gekauft, und in den drei Monaten, seit die beiden hier wohnten, hatten sie mindestens zweimal in der Woche übernatürliche Phänomene beobachtet. »Gegen zehn Uhr morgens hab ich alle Türen abgeschlossen, die Alarmanlage eingeschaltet und bin zur Post gefahren. Als ich zurückkam, war die Alarmanlage noch immer eingeschaltet … aber in der Küche standen alle Schränke offen, und die Frühstücksflocken lagen überall auf dem Tisch. Ich hab Harlan angerufen, weil ich dachte, er wäre vielleicht zwischendurch nach Hause gekommen und hätte das Chaos angerichtet.«

»Ich war aber die ganze Zeit über im Elks Club«, warf ihr Mann ein. »Ich war nicht im Haus. Keiner war da.«

»Und dann haben wir nachts um zwei von oben auf dem Speicher diese Dampforgelmusik gehört. Sobald wir hinaufgingen, hörte sie auf. Und als wir die Tür aufgemacht haben, stand da ein Spielzeugklavier für Kinder, ohne Batterien, mitten im Raum.«

»Wir haben kein Spielzeugklavier«, fügte Harlan hinzu. »Und ein Kind schon gar nicht.«

»Als wir dann Batterien reingetan haben, hat es gar nicht die Musik gespielt, die wir gehört hatten.« Eve zögerte. »Mr. Warburton, Sie verstehen hoffentlich, dass wir keine Leute sind, die … die an solche Sachen glauben. Aber … Aber wenn es nichts Übersinnliches ist, dann bin ich dabei, den Verstand zu verlieren.«

»Mrs. O’Donnell, Sie werden nicht verrückt.« Curtis berührte mitfühlend ihre Hand. »Morgen früh haben wir bestimmt schon eine genauere Vorstellung davon, was in Ihrem Haus vor sich geht.« Er schaute über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Ross auch alles filmte. Je nachdem, wie sich die Dinge entwickelten, könnte er einen Beitrag über die O’Donnells in Bogeyman Nights bringen, und dann war das Gespräch hier von entscheidender Bedeutung. Die Warburtons erhielten täglich über dreihundert E-Mails von Leuten, die glaubten, dass es in ihren Häusern spukte. In fünfundachtzig Prozent der Fälle erwies sich das als Schwindel, oder die Gespenster entpuppten sich als Mäuse im Gebälk. Die Übrigen – nun ja, Ross hatte inzwischen lange genug mit der Materie zu tun, um zu wissen, dass es Dinge gab, die einfach unerklärlich blieben.

»Haben Sie irgendwelche Geistervisionen gehabt?«, fragte Curtis. »Temperaturschwankungen erlebt?«

»In unserem Schlafzimmer ist es manchmal höllisch heiß, und von einer Minute zur nächsten wird uns eiskalt«, antwortete Harlan.

»Gibt es irgendwelche Bereiche im Haus, in denen Ihnen besonders unbehaglich zumute ist?«

»Der Speicher, ganz eindeutig. Und das Badezimmer im ersten Stock.«

Curtis’ Augen huschten von dem handgeknüpften Orientteppich zu der antiken Vase auf dem Kaminsims. »Ich muss Sie warnen, dass eine Geistersuche eine kostspielige Angelegenheit werden kann.«

Als Warburtons Feldforscher hatte Ross in Bibliotheken und Zeitungsarchiven nach Dokumenten über das Grundstück der O’Donnells gesucht – in der Hoffnung, dabei auch auf Informationen zu stoßen, dass sich hier ein Mord oder Selbstmord ereignet hatte. Seine Nachforschungen hatten nichts dergleichen ergeben, aber das war für Curtis kein Hinderungsgrund. Schließlich konnte ein Geist sowohl eine Person als auch einen Ort heimsuchen. Geschichte konnte wie ein schwacher Duft in der Luft schweben oder wie eine Erinnerung sein, die sich auf der Innenseite der Augenlider eingeprägt hat.

»Der Preis spielt keine Rolle«, sagte Eve O’Donnell.

»Natürlich nicht.« Curtis lächelte. »Also dann. Ran an die Arbeit.«

Das war Ross’ Stichwort. Während der Ermittlungen war er für Aufbau und Überwachung der elektromagnetischen Ausrüstung, der digitalen Videokameras, des Infrarotthermometers zuständig. Er arbeitete für einen Hungerlohn, obwohl die Sendung im Fernsehen und Fälle wie dieser hier viel Geld einbrachten. Vor neun Monaten hatte Ross die Warburtons um einen Job bekniet, nachdem er in der L.A. Times zu Halloween einen Artikel über sie gelesen hatte. Anders als Curtis und Maylene hatte er noch nie einen Geist gesehen – aber er wollte es unbedingt. Er hoffte, dass die Empfänglichkeit für Geister sich durch engen Kontakt übertrug, wie eine ansteckende Krankheit – und dass er dadurch für immer gezeichnet werden würde.

»Ich würde mir gern mal den Speicher ansehen«, sagte Ross.

Er wartete an der offenen Tür, bis Eve O’Donnell vor ihm her nach oben ging. »Ich komme mir albern vor«, gestand sie, obwohl Ross sie nicht danach gefragt hatte. »Dass ich in meinem Alter auf einmal Gespenster sehe.«

Ross lächelte. »Ein Geist kann einen Menschen ganz schön durcheinanderbringen und ihm das Gefühl geben, er wäre verrückt, aber ein Geist tut dem Menschen nichts.«

»Oh, ich glaube nicht, dass sie mir was tun würde.«

»Sie?«

Eve zögerte. »Harlan meint, wir sollten Ihnen von uns aus keine Informationen geben. Und wenn Sie dann das, was wir sehen, auch sehen, hätten wir die Bestätigung.« Sie fröstelte, blickte die schmale Treppe hinauf. »Meine kleine Schwester ist gestorben, als ich sieben war. Manchmal frage ich mich … ob ein Geist einen Menschen finden kann, wenn er will?«

Ross wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht«, sagte er. Seine Augen verweilten auf der kleinen Tür oben an der Treppe. »Ist es da?«

Sie nickte, ließ ihn vor, damit er die Tür entriegeln konnte. Die Videokamera, die Ross draußen angebracht hatte, beobachtete sie durchs Fenster, ein Zyklopenauge. Eve schlang sich die Arme um den Oberkörper. »Ich krieg hier oben Gänsehaut.«

Ross rückte ein paar Kisten beiseite, damit auf dem Band keine Schatten zu sehen sein würden, die leicht zu erklären wären. »Curtis sagt, so weiß man, wo sie zu finden sind. Man orientiert sich an seinem Instinkt.« Ein Blinken auf dem Boden erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging in die Knie und hob eine Handvoll Pennys auf. »Sechs Cent.« Er lächelte. »Komisch.«

»Manchmal macht sie so was.« Eve schob sich Richtung Tür. »Lässt uns Kleingeld da.«

»Der Geist?«, fragte Ross und drehte sich um, aber Eve war schon die Treppe hinuntergeflüchtet.

Er holte tief Luft, schloss die Speichertür und löschte das Licht, sodass der Raum in Dunkelheit versank. Er trat zur Seite, wo die Kamera ihn nicht erfassen konnte, und schaltete sie per Fernbedienung ein. Dann konzentrierte er sich auf die Finsternis, die ihn umgab, ließ sie schwer lasten auf seiner Brust und in seinen Kniekehlen, wie er es von Curtis Warburton gelernt hatte. Ross öffnete seine Sinne, bis seine Zweifel nachließen, bis der Raum um ihn herum erblühte. Vielleicht ist es genau so, dachte er. Vielleicht fühlt sich das Nahen der Geister an wie ein Schluchzen tief unten in der Kehle.

Irgendwo links von ihm hörte er einen Schritt und das unverkennbare Klimpern von Münzen auf dem Boden. Ross schaltete eine Taschenlampe ein und richtete den Strahl nach unten auf seine Schuhe – und die drei neuen Pennys daneben. »Aimee?«, flüsterte er in die leere Luft. »Bist du das?«


Comtosook, Vermont, war ein von Grenzen bestimmter Ort: das Gefälle, an dem er in den Lake Champlain glitt, die Klippen am Rande des Granitsteinbruchs, in dem die Hälfte der Einwohner arbeitete, die unsichtbare Demarkationslinie, an der entlang die wellige Landschaft von Vermont mit einem einzigen weiteren Schritt zur Stadt Burlington wurde. An der Kongregationalistenkirche im Ortskern hing eine von der Zeitschrift Vermont Life gestiftete Tafel von 1994, dem Jahr, in dem Comtosook zum malerischsten Ort von ganz Vermont gewählt worden war. Und das mit Recht – es gab Tage, an denen Eli Rochert die sich verfärbenden Blätter betrachtete und er einfach einen Moment stehen bleiben musste, weil ihm der Atem stockte.

Aber ganz gleich, was Comtosook für Touristen bedeutete, es was Elis Heimat. Schon immer. Als einer der beiden Polizisten im Ort war ihm natürlich klar, dass die Touristen nur eine Illusion sahen.

Er fuhr die Cemetery Road hinunter. In Nächten wie dieser, wenn der Mond kugelrund und gelb wie ein Habichtsauge aussah, lag der Friedhof immer auf seiner Route. Obwohl die Fenster heruntergekurbelt waren, wehte kaum ein Lüftchen, und Elis kurz geschnittenes schwarzes Haar war im Nacken feucht. Sogar Watson, sein Bluthund, hechelte auf dem Beifahrersitz.

Alte Grabsteine standen geneigt, wie müde Fußsoldaten. In der linken Ecke des Friedhofs, nahe der Buche, befand sich Comtosooks ältester Grabstein. WINNIE SPARKS, stand darauf. GEBOREN 1835. GESTORBEN 1901. GESTORBEN 1911. Der Legende nach war der Leichenzug der reizbaren alten Frau auf dem Weg zum Friedhof gewesen, als die Pferde scheuten und ihr Sarg vom Wagen fiel. Der Deckel sprang auf, und eine fuchsteufelswilde Winnie kletterte heraus. Zehn Jahre später starb sie – erneut –, und ihr schwer geprüfter Gatte hämmerte den Deckel vorsichtshalber mit 150 Nägeln zu, aus reiner Vorsicht.

Ob die Geschichte wahr war oder nicht, interessierte Eli herzlich wenig. Doch die Jugendlichen aus dem Ort sahen anscheinend in Winnies Unwillen, tot zu bleiben, Anlass genug, um mit Sixpacks Bier und Haschisch zu ihrem Grab zu ziehen. Eli faltete seinen langen Körper aus dem Pick-up. »Kommst du?«, sagte er zu dem Hund, der sich stattdessen auf dem Sitz niederließ. Kopfschüttelnd lief Eli über den Friedhof, bis er Winnies Grab erreichte, wo vier Jugendliche, die so bekifft waren, dass sie ihn nicht hatten kommen hören, um die blaufingerige Flamme einer Brennpastenschale herumsaßen.

»Buh«, sagte Eli ausdruckslos.

»Die Bullen!«

»Scheiße!« Man hörte Turnschuhe huschen und Flaschen klimpern, als die Jugendlichen hastig die Flucht ergriffen. Eli beschloss, sie laufen zu lassen. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe zuerst auf die letzte davoneilende Gestalt, dann auf den Boden. Außer einer dünnen, süßlich riechenden Rauchwolke hatten sie zwei Flaschen Bier, Marke Rolling Rock, zurückgelassen, die Eli sich nach Dienstschluss genehmigen würde.

Er bückte sich und zupfte einen Löwenzahn von Winnies Grabstein. Ein Wort kam ihm in den Sinn, als hätte die Bewegung es gelöst: chibaiak … Geister. Die Sprache seiner Großmutter, die auf Elis Zunge brannte wie Pfefferminz. »Gibt es nicht«, sagte er laut und ging zurück zum Wagen, um zu sehen, was die Nacht noch alles für ihn bereithielt.


Shelby Wakeman war nach einem durchschlafenen Tag erschöpft aufgewacht. Sie hatte wieder diesen Traum gehabt, in dem Ethan auf einem Flughafen neben ihr stand, doch wenn sie sich ihm zuwandte, war er verschwunden. Verzweifelt hetzte sie dann von Terminal zu Terminal, um ihn zu suchen, bis sie schließlich durch eine Tür hinaus auf das Rollfeld lief und sah, wie ihr Neunjähriger mitten auf der Landebahn einer heranrasenden Düsenmaschine stand.

Der Traum versetzte Shelby in Panik, egal, wie oft sie sich sagte, dass all das nie passieren würde, und die größte Angst bereitete ihr der Anblick ihres Sohnes, wie er mit ausgestreckten Armen dastand, sein Buttermilchgesicht der Sonne entgegengehoben.

»Erde an Mom … Hallo?«

»Tschuldigung.« Shelby lächelte. »Ich war ganz in Gedanken.«

Ethan stellte seinen Teller in die Spülmaschine. »Meinst du, man kann auch im Schlaf in Gedanken versinken, wenn Nacht ist?« Bevor sie antworten konnte, schnappte er sich sein Skateboard, ohne das er nicht mehr vor die Tür ging. »Kommst du gleich raus?«

Sie nickte und sah Ethan nach, wie er nach draußen stürmte. Sie hatte ihm schon so oft gesagt, er solle leise sein – um vier Uhr morgens schliefen die meisten Menschen und tobten nicht auf Skateboards herum –, aber meistens vergaß er es, und meistens brachte Shelby es nicht über sich, ihn daran zu erinnern.

Ethan litt unter XP, Xeroderma Pigmentosum, einer sehr seltenen Erbkrankheit, durch die er extrem empfindlich auf die ultravioletten Strahlen des Sonnenlichts reagierte. Auf der ganzen Welt gab es nur tausend bekannte Fälle von XP. Wenn man die Krankheit hatte, hatte man sie von Geburt an, und sie war unheilbar.

Als Ethan sechs Wochen alt war, hatte Shelby bereits bemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber es verging noch ein Jahr mit zahlreichen Untersuchungen, bis XP diagnostiziert wurde. Ultraviolettes Licht, so hatten die Ärzte erklärt, schädigt die menschliche DNA. Bei den meisten Leuten wird dieser Schaden automatisch repariert … nicht jedoch bei XP-Patienten. Schließlich wird die Zellteilung beeinträchtigt, was Krebs auslöst. Ethan, so sagten sie, könnte vielleicht ein wenig älter als zehn Jahre werden.

Doch Shelby überlegte sich, dass sie, wenn das Sonnenlicht ihren Sohn töten würde, einfach nur dafür sorgen musste, dass es immerzu dunkel war. Sie blieb tagsüber im Haus. Sie las Ethan bei Kerzenlicht Geschichten vor. Sie verhängte die Fenster des Hauses mit Handtüchern und Vorhängen, die ihr Ehemann jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, wieder herunterriss. »Verdammt, kein Mensch ist allergisch gegen die Sonne«, hatte er gesagt.

Als ihre Scheidung durch war, hatte Shelby sich inzwischen gründlich über Licht informiert. Sie wusste, dass nicht nur die Außenwelt Gefahren barg. Supermärkte und Arztpraxen hatten Neonlampen, die ultraviolette Strahlung abgaben. Sonnenmilch wurde so alltäglich wie Handcreme, sowohl im Haus als auch draußen. Ethan hatte zweiundzwanzig Mützen, und er setzte sie mit der gleichen beiläufigen Routine auf, wie andere Kinder sich ihre Unterwäsche anzogen.

Shelby räumte die Küche auf und setzte sich dann mit einem Buch an den Rand der Einfahrt. Ihr langes, dunkles Haar war in einem faustdicken Zopf gebändigt, und ihr war noch immer warm – wie um alles in der Welt konnte Ethan so herumtoben? Er sauste mit seinem Skateboard eine selbst gemachte Holzrampe hinauf und machte einen Kickflip. »Mom! Mom? Hast du das gesehen? Genau wie Tony Hawk.«

»Weiß ich doch«, bestätigte Shelby.

»Findest du nicht, es wäre super, wenn wir …«

»Wir werden uns keine Halfpipe hier in der Einfahrt bauen, Ethan.«

»Aber … dann eben nicht. Mir doch egal.« Und schon war er mit donnernden Rädern verschwunden.

Shelby schmunzelte. Sie liebte die leise Großspurigkeit, die sich allmählich in Ethans Persönlichkeit schlich, als legte ein Puppenspieler ihm gelegentlich Worte in den Mund. Sie liebte es, wenn er heimlich Late Night mit Conan O’Brien guckte, weil er glaubte, sie würde es nicht merken, und versuchte, aus den vielen Zweideutigkeiten schlau zu werden. Es machte ihn … so normal. Wäre da nicht der Mond am Himmel und wäre Ethans Gesicht nicht so blass, dass die Venen unter seiner Haut leuchteten wie Straßen, die sie in- und auswendig kannte – wären da all diese Kleinigkeiten nicht, dann könnte Shelby fast glauben, dass ihre Welt genauso wie die vieler anderer alleinerziehender Mütter war.

Ethan vollführte einen Shifty Pivot, dann einen Casper-Bigspin. Es hatte eine Zeit gegeben, sinnierte Shelby, da hätte sie einen Helipop nicht von einem G-Turn unterscheiden können. Es hatte auch eine Zeit gegeben, in der Shelby für sich selbst und für Ethan Mitleid empfunden hatte. Doch Shelby konnte sich kaum noch daran erinnern, wie ihr Leben gewesen war, bevor seine Krankheit über sie geschleudert wurde wie ein Fischernetz. Und ehrlich gesagt, jedes Leben, das sie vor Ethan gehabt hatte, konnte eigentlich kein berauschendes Leben gewesen sein.

Er machte vor ihr eine Vollbremsung. »Ich hab einen Mordshunger.«

»Du hast doch gerade erst gegessen!«

Ethan blinzelte sie an, Shelby seufzte. »Meinetwegen, dann geh rein und iss eine Kleinigkeit, aber es wird schon rosa.«

Ethan blickte in Richtung Sonnenaufgang, eine Klaue, die sich am Horizont festgekrallt hatte. »Lass mich von hier draußen zusehen«, bettelte er. »Nur einmal.«

»Ethan …«

»Ich weiß ja.« Seine Stimme senkte sich am Ende. »Noch drei Hardflips.«

»Einen.«

»Zwei.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, sauste Ethan wieder davon. Shelby klappte ihren Roman auf, nahm die Worte wahr wie Autos auf einem Frachtzug – ein Strom ohne individuelle Merkmale. Sie hatte gerade die Seite umgeblättert, als sie merkte, dass Ethans Skateboard nicht mehr in Bewegung war.

Er hatte es sich gegen ein Bein gelehnt, das Emblem vom Superhelden Wolverine war weiß getüpfelt. »Mom?«, fragte er. »Schneit es?«

Das kam ziemlich oft vor in Vermont. Aber nicht im August. Eine weiße Flocke landete auf dem Buch. Aber es war keine Schneeflocke. Sie hob das Blütenblatt an die Nase und schnupperte. Rosen.

Shelby hatte von eigenartigen Wetterphänomenen gehört, die Frösche dazu brachten, massenhaft Richtung Meer zu wandern; einmal hatte sie einen regelrechten Hagelschauer aus Heuschrecken erlebt. Aber das?

Die Blütenblätter fielen weiter, verfingen sich in ihrem und Ethans Haar. »Verrückt«, flüsterte er und setzte sich neben Shelby, um die Laune der Natur zu bestaunen.


»Pennys.« Curtis Warburton drehte die Münzen, die Ross ihm gegeben hatte, in der Hand. »Sonst noch was?«

Ross schüttelte den Kopf. Drei Stunden waren vergangen, und selbst bei einem wütenden Gewitter draußen, das reichlich Energie lieferte, war die paranormale Aktivität bestenfalls minimal gewesen. »Einmal hab ich gedacht, ich hätte was gesehen, aber das war dann doch nur ein Rauchmelder ganz hinten im Speicher.«

»Tja, ich hab nicht das Geringste gespürt«, seufzte Curtis. »Wir hätten besser den Fall in Buffalo nehmen sollen.«

Ross steckte eine Filmkassette zurück in ihre Hülle und schob sie sich in die Tasche. »Übrigens, die Frau, Eve, sie hat eine kleine Schwester erwähnt, die gestorben ist, als sie sieben Jahre alt war.«

Curtis sah ihn an. »Interessant.«

Die beiden Männer gingen nach unten. Maylene saß mit einem Infrarotthermometer auf der Couch im dunklen Wohnzimmer. »Hast du was?«, fragte Curtis.

»Nein. Dieses Haus ist ungefähr so aktiv wie ein Komapatient.«

»Wie läuft’s?«, mischte Eve O’Donnell sich ein. Sie stand in der Tür zum Wohnzimmer, eine Hand am Kragen ihres Bademantels.

»Ich denke, wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Sie nicht allein im Haus sind. Die hier …«, Curtis hielt ihr die Pennys hin, die Ross ihm gegeben hatte, »hab ich oben gefunden.«

»Ja … manchmal liegen da Münzen rum. Das habe ich Ross erzählt.«

»Ach ja?«

Ross drehte sich stirnrunzelnd um. Doch bevor er Curtis fragen konnte, warum er sich dumm stellte, sprach sein Boss schon weiter. »Geister treiben manchmal ihren Schabernack. Vor allem der Geist eines Kindes, beispielsweise.«

Ross spürte die Anspannung in der Luft, als Eve O’Donnell ihr ganzes Vertrauen in Curtis setzte. »Ich muss Ihnen sagen«, fuhr Curtis fort, »dass ich hier sehr starke Einflüsse spüre. Es gibt eine Präsenz, aber es ist jemand, den Sie kennen, jemand, der Sie kennt.« Curtis neigte den Kopf zur Seite und zog die Stirn kraus. »Es ist ein Mädchen … ich spüre, dass es ein Mädchen ist, und ich empfange eine Zahl … sieben. Hatten Sie vielleicht eine jüngere Schwester, die verstorben ist?«

Ross stand wie angewurzelt da. Ihm war eingeschärft worden, sich stets vor Augen zu halten, dass es sich bei 85Prozent der Fälle, die sie untersuchten, um Schwindeleien von Leuten handelte, die entweder ihre Zeit vergeuden, ins Fernsehen kommen oder beweisen wollten, dass die Beschäftigung mit übersinnlichen Phänomenen alles andere als eine Wissenschaft war. Er wusste schon nicht mehr, wie oft sie in einer stöhnenden Wand versteckte Lautsprecher gefunden hatten oder wie oft an einem wackelnden Kronleuchter eine Angelschnur befestigt gewesen war. Aber er hätte nie gedacht, dass auch die Warburtons eine Show abzogen.

»Es würde natürlich zusätzliche Kosten bedeuten«, sagte Curtis gerade, »aber ich denke, hier eine Séance abzuhalten wäre angebracht.«

Ross dröhnte der Schädel. »Curtis, könnte ich Sie kurz sprechen?«

Sie zogen ihre Mäntel über und gingen nach draußen unter das Garagenvordach, während der Regen niederprasselte. »Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund dafür«, sagte Curtis. »Ich hatte sie praktisch schon am Haken, als Sie mich unterbrochen haben.«

»Ich glaube nicht, dass es hier einen Geist gibt. Das mit der Schwester wissen Sie doch nur von mir.«

Curtis zündete sich eine Zigarette an. Die Spitze glimmte wie ein rotes Auge. »Na und?«

»Sie können die Frau doch nicht anlügen, nur um ein paar Dollar zu verdienen und ihre Reaktion zu filmen.«

»Ich erzähle den O’Donnells bloß das, was sie hören wollen. Die beiden glauben, dass sie einen Geist im Haus haben. Sie wollen glauben, dass sie einen Geist im Haus haben. Selbst wenn wir heute Nacht nicht viel Aktivität empfangen, heißt das nicht, dass kein Geist da ist. Vielleicht hält er sich bloß bedeckt, weil Besuch da ist.«

»Es geht hier nicht bloß um irgendeinen Geist«, sagte Ross mit bebender Stimme. »Es geht um jemanden, der ihr etwas bedeutet hat.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so ein Purist sind. Ich dachte, Sie wüssten inzwischen, wie die Sache läuft.«

»Ich weiß allerdings, wie die Sache läuft. Ich wusste nur nicht, dass das alles Schwindel ist.«

Curtis schleuderte die Zigarette auf den Boden. »Ich bin kein Schwindler. Der Geist meines Großvaters ist mir erschienen, Ross. Ich habe sogar ein Foto von ihm gemacht, wie er am Fuß meines Bettes steht. Sie ziehen Ihre eigenen Schlüsse. Verdammt, was ist denn mit der Aufnahme, die Sie selbst gemacht haben, von dem Gesicht, das aus dem See aufsteigt? Meinen Sie, ich hätte das arrangiert? Ich war zu dem Zeitpunkt doch ganz woanders.« Curtis atmete tief durch, beruhigte sich wieder. »Hören Sie, ich will die O’Donnells nicht aufs Kreuz legen. Ich bin Geschäftsmann, Ross, und ich kenne meine Kunden.«

Ross konnte nichts antworten. Vielleicht hatte Curtis ja sogar die Pennys, die er gefunden hatte, selbst unter das Stativ gelegt. Vielleicht hatte Ross die letzten neun Monate seines Lebens völlig vertan. Er war auch nicht besser als die O’Donnells – er hatte nur das gesehen, was er glauben wollte.

Vielleicht hatte sie tatsächlich übersinnliche Fähigkeiten, denn genau in diesem Moment kam Maylene nach draußen. »Curtis? Was ist denn?«

»Ach, nichts weiter. Ross möchte die Branche wechseln, er will zu den Moralpredigern.«

Ross trat hinaus in den peitschenden Regen und stapfte zu seinem Auto. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Digitalkamera und seinen Rucksack zu holen. Das waren Dinge, die er ersetzen konnte, im Gegensatz zu seiner Selbstbeherrschung, die ihm rasch abhandenzukommen drohte. In seinem Auto drehte er die Heizung voll auf, versuchte, die innere Kälte zu vertreiben, die nicht verschwinden wollte. Er fuhr eine Meile, ehe er merkte, dass er das Licht nicht eingeschaltet hatte. Dann hielt er am Straßenrand und schnappte nach Luft.

Ross wusste, wie man paranormale Phänomene wissenschaftlich aufzeichnete und wie man die Ergebnisse interpretierte. Er hatte Lichter gefilmt, die über Gräbern tanzten; er hatte Stimmen in leeren Kellern aufgenommen; er hatte Kälte an Orten gespürt, wo sich kein Lüftchen regen konnte. Neun Monate lang hatte Ross geglaubt, einen Zugang zu der Welt gefunden zu haben, in der Aimee war … und jetzt stellte sich heraus, dass diese Tür bloß auf die Wand gemalt war.

Verdammt, allmählich gingen ihm die Ideen aus.


Als Az Thompson erwachte, hatte er den Mund voller Steine, klein und glatt wie Olivenkerne. Er spuckte fünfzehn auf die runzelige ledrige Haut seiner Handfläche, ehe er sich zutraute, wieder Luft zu holen, ohne zu ersticken. Er schwang die Beine über den Rand der Armeepritsche. Er versuchte, die Gewissheit abzuschütteln, dass aus diesen Steinen, sollte er in der harten Erde unter seinen Füßen begraben werden, ein krebsartiges, schwarzes Dickicht wachsen würde wie das, das in dem Märchen des Weißen Mannes über ein Mädchen, das nur durch einen Kuss geweckt werden konnte, ein Schloss überwucherte.

Es machte ihm nichts aus, in der freien Natur zu übernachten. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er immer ein Bein in der Natur und ein Bein in der Jankee-Welt gehabt. Az steckte den Kopf zum Zelt hinaus und sah, dass sich schon einige zum Frühstück versammelt hatten. Ihre Schilder – Plakate, die um den Hals getragen wurden, und Transparente – lagen auf einem Haufen wie die Puppen eines Bauchredners, harmlos, ohne einen Geist, der sie beseelte. »Haw«, brummte er und ging auf das kleine Lagerfeuer zu, wo man ihm Platz machen würde.

Die anderen behandelten ihn so, wie sie Abraham Lincoln behandeln würden, wenn er aus dem Zelt spaziert käme – mit Demut und einiger Ehrfurcht angesichts der Tatsache, dass er immer noch am Leben war. Az war nicht so alt wie Lincoln, aber viel fehlte nicht. Er war 102 oder 103 – er hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu zählen. Da er die aussterbende Sprache seines Volkes beherrschte, wurde er als Lehrer geachtet. Außerdem machte ihn schon allein sein Alter zum Stammesältesten, was einige Bedeutung gehabt hätte, wenn die Abenaki ein rechtlich anerkannter Stamm gewesen wären.

Az hörte jeden einzelnen Wirbel in seinem Rückgrat knirschen, als er sich auf einem Klappstuhl niederließ. Er hob ein Fernglas auf, das neben der Feuerstelle lag, und spähte auf das Land, eine Parzelle an der nordwestlichen Kreuzung von Montgomery Road und Otter Creek Pass. Auf seiner höchsten Stelle stand das große, weiße Haus, jetzt ein Schandfleck. Es würde als Erstes verschwinden, wie Az wusste, der alles über dieses Grundstück wusste, von den Landvermessungsergebnissen bis hin zur Nummer des Grundbucheintrags. Er wusste, an welchen Stellen der Boden im Winter zuerst vereiste und wo niemals Grün wuchs. Er wusste, welches Fenster in dem verlassenen Haus von herumstromernden Kindern zerbrochen worden war, welche Seite der Veranda zuerst eingesackt war, welche Bretter der Treppe morsch waren.

Er kannte auch das Kennzeichen von jedem Fahrzeug der Redhook-Gruppe, das im Umkreis geparkt hatte. Man munkelte, dass Newton Redhook das erste Einkaufszentrum von Comtosook bauen lassen wollte. Auf einem ihrer Friedhöfe.

»Glaub mir«, sagte Fat Charlie. »Das war El Niño.«

Winks schüttelte den Kopf. »Es ist unnatürlich, sonst nix. Ist doch nicht normal, dass es Rosen regnet.«

Fat Charlie lachte. »Winks, guck dir lieber wieder irgendwelche Talkshows im Fernsehen an. Diese Horrorstreifen vernebeln dir langsam das Hirn, Mann.«

Az sah sich um, bemerkte die zarte Blütenschicht auf der Erde. Er fuhr sich mit der Zunge durch die Mundhöhle, schmeckte wieder die Steine. »Was denkst du, Az?«, fragte Winks.

Er dachte, dass diese Blütenblätter noch ihr geringstes Problem sein würden. Az richtete das Fernglas auf einen Bulldozer, der gemächlich die Straße heraufgetuckert kam.

»Ich denke, keiner kann in der Erde graben«, sagte er laut, »ohne etwas ans Licht zu holen.«


So hatte Ross Aimee kennengelernt: Am Broadway Ecke 112. Straße, im Schatten der Columbia University, war er im wahrsten Sinne des Wortes in sie hineingelaufen, und alle ihre Bücher und Notizen waren in einer braunen Pfütze gelandet. Sie war Medizinstudentin und bereitete sich auf ihre Anatomieprüfung vor, und als sie die Früchte ihrer harten Arbeit im Schlamm liegen sah, fing sie beinahe an zu hyperventilieren. Wie sie so dasaß, mitten auf der Straße in New York, war sie außerdem die schönste Frau, die Ross je gesehen hatte. »Ich helf dir«, versprach Ross, obwohl er von Anatomie keine Ahnung hatte. »Gib mir eine Chance.«

So machte Ross Aimee einen Heiratsantrag: Ein Jahr später waren sie mit einem Taxi auf dem Weg zu einem Restaurant. Am Broadway Ecke 112. Straße bat Ross den Fahrer anzuhalten. Er stieg aus und kniete sich vor der offenen Tür auf dem schmutzigen Bürgersteig hin. Er klappte ein kleines Kästchen mit einem Ring darin auf und blickte in Aimees stahlblaue Augen. »Heirate mich«, sagte er, und dann verlor er das Gleichgewicht, und der Brillantring fiel durch das Gitter eines Gullys.

Aimee klappte der Unterkiefer herunter. »Sag, dass das nicht wahr ist«, brachte sie schließlich hervor.

Ross blickte nach unten auf das schwarze Gitter und das leere Kästchen. Er warf auch das in den Gully. Dann zog er einen anderen Ring, den richtigen Ring, aus der Tasche. »Gib mir noch eine Chance«, sagte er.

Jetzt hob er auf dem menschenleeren Parkplatz die Flasche und trank einen Schluck. Manchmal hätte Ross sich am liebsten selbst die Haut abgekratzt, um zu sehen, was auf der anderen Seite war. Er wollte von Brücken in Betonseen springen. Er wollte schreien, bis ihm die Kehle blutete, rennen, bis seine Fußsohlen aufplatzten. In solchen Momenten, wenn das Versagen wie eine Flutwelle war, wurde sein Leben zu einer endlichen Geraden, deren Ende er aber aufgrund irgendeines kosmischen Witzes offenbar nicht erreichen konnte.

Ross dachte über Selbstmord nach, so wie manche Menschen Einkaufslisten aufstellten – methodisch, detailliert. Es gab Tage, da ging es ihm gut. Und dann gab es Tage, an denen er auf der Straße die Leute zählte, die ihm glücklich vorkamen. Es gab Tage, da wäre es für ihn das Naheliegendste auf der Welt gewesen, kochendes Wasser zu trinken oder im Kühlschrank zu ersticken oder nackt hinaus in den Schnee zu gehen, um sich in der Kälte einfach zum Schlafen hinzulegen.

Ross hatte einiges über Selbstmord gelesen und war fasziniert, was sich die Leute alles einfallen ließen – Frauen, die sich ihr langes Haar als Schlinge um den Hals legten, Männer, die sich Mayonnaise in die Vene spritzten, Teenager, die Feuerwerkskörper verschluckten. Aber jedes Mal, wenn er kurz davor war zu testen, wie viel Gewicht ein Balken hielt, oder wenn er sich mit einem Grafikermesser die Haut aufritzte, bis Blut kam, musste er daran denken, was für eine Sauerei er hinterlassen würde.

Er wusste nicht, was der Tod für ihn bereithielt. Aber er wusste, dass es nicht das Leben sein würde, und das reichte ihm. Seit dem Tag, an dem Aimee starb, hatte er nichts mehr empfunden. Seit dem Tag, an dem er, wie ein Idiot, den Helden spielen musste, zuerst seine Verlobte aus dem Autowrack zog und dann auch noch die Fahrerin des anderen Wagens, bevor der in Flammen aufging. Als er zu Aimee zurückkam, war sie schon tot. Sie war allein gestorben, während er Supermann spielte.

Toller Held, der die Falschen rettet.

Er warf die leere Flasche auf den Boden seines Jeeps, legte den Gang ein und raste wie ein Teenager von dem Parkplatz auf die schmale Landstraße.

Er bremste vor einem Bahnübergang, wo die Schranke sich soeben langsam senkte und das Warnlicht blinkte. Er dachte an nichts mehr, außer daran, den Wagen langsam vorrollen zu lassen, bis er die Schranke durchbrach, bis der Jeep unbeweglich auf den Schienen saß, wie ein Opfertier.

Der Zug stampfte heran. Die Schienen begannen, eine stählerne Sinfonie zu singen. Ross überließ sich dem Sterben, preßte vor dem Aufprall noch ein einziges Wort durch die Zähne: Endlich.

Das Getöse war überwältigend, ohrenbetäubend. Und doch glitt es an ihm vorbei, entfernte sich, bis Ross den Mut aufbrachte, die Augen zu öffnen. Dampf stieg aus der Motorhaube seines Wagens auf, der ungleichmäßig hoppelte, als hätte ein Reifen zu wenig Luft. Und er zeigte jetzt in die Richtung, aus der Ross gekommen war.

Es war nichts zu machen: Mit Tränen in den Augen fuhr Ross los.


Ohne unterschriebenen Vertrag würde Rod van Vleet nicht wieder wegfahren. Zum einen hatte Newton Redhook ihn damit betraut, das gut siebeneinhalb Hektar große Pike-Grundstück an sich zu bringen. Zum anderen hatte er über sechs Stunden gebraucht, um zu dem Pflegeheim in dieser gottverlassenen Gegend von Vermont zu gelangen, und Rod hatte keinesfalls die Absicht, in naher Zukunft noch einmal herzukommen.

»Mr. Pike«, sagte er lächelnd zu dem alten Mann, der so potthässlich war, dass Rod noch wochenlang Albträume haben würde. Spencer Pikes kahler Schädel war fleckig wie eine Warzenmelone. Seine Hände waren knotig und verdreht, sein Körper hatte die Form einer Gurke angenommen. »Wie Sie hier sehen, ist die Redhook-Gruppe bereit, heute einen auf Sie ausgestellten Scheck in Höhe von fünfzigtausend Dollar zu hinterlegen, als Zeichen unseres guten Willens, bis die Eigentumsfrage verbindlich geklärt ist.«

Der Alte kniff die milchigen Augen zusammen. »Was zum Teufel soll ich mit Geld anfangen?«

»Na ja. Sie könnten vielleicht eine Reise machen. Sie und eine Pflegeperson.« Rod lächelte die Frau an, die mit verschränkten Armen hinter Pike stand.

»Kann nicht reisen. Anweisung des Arztes. Die Leber könnte … versagen.«

Rod lächelte verlegen. »Na ja.«

»Das haben Sie schon mal gesagt. Sind Sie senil?«

»Nein, Sir.« Rod räusperte sich. »Soweit ich informiert bin, war das Grundstück bereits seit etlichen Generationen im Besitz der Familie Ihrer Frau, ist das richtig?«

»Ja.«

»Mr. Pike, wir sind davon überzeugt, dass die Redhook-Gruppe zum weiteren Wachstum von Comtosook beitragen kann, indem wir Ihr Land zur Förderung der Wirtschaft des Ortes nutzen.«

»Ihr wollt da Geschäfte hinsetzen.«

»Jawohl, Sir, das haben wir vor.«

»Baut ihr auch einen Laden, in dem man Bagels kriegt?«

Rod blinzelte verblüfft. »Ich glaube nicht, dass Mr. Redhook das schon so genau weiß.«

»Baut einen. Ich mag Bagels.«

Rod schob den Scheck erneut über den Tisch, diesmal zusammen mit dem Vertrag. »Mr. Pike, wir können gar nichts bauen, solange ich nicht hier Ihre Unterschrift habe.«

Pike starrte ihn lange an, dann griff er nach einem Stift. Rod stieß den angehaltenen Atem aus. »Die Eigentumsurkunde läuft auf den Namen Ihrer Frau? Cecelia Pike?«

»Es hat Cissy gehört.«

»Und das … was die Abenaki behaupten … ist da irgendetwas dran?«

Pikes Fingerknöchel wurden weiß vor Anspannung. »Auf dem Land gibt es keinen Indianerfriedhof.« Er sah zu Rod hoch. »Ich kann Sie nicht leiden.«

»Den Eindruck habe ich auch, Sir.«

»Der einzige Grund, warum ich das hier unterschreibe, ist der, dass ich das Land lieber weggebe, als erleben zu müssen, dass es an den Staat fällt.«

Rod rollte den unterschriebenen Vertrag zusammen und trommelte damit auf den Tisch. »So!«, sagte er. »Wir werden die offenen Fragen prüfen und die Transaktion dann hoffentlich möglichst bald über die Bühne bringen.«

»Bevor ich sterbe, meinen Sie«, sagte Pike trocken, während Rod sich sein Jackett anzog. »Wollen Sie nicht noch zu unseren Gesellschaftsspielen bleiben? Oder zum Lunch … ich hab gehört, heute gibt es Wackelpudding.« Er lachte, und es klang wie eine Säge in Rods Rücken. »Mr. van Vleet … was geschieht mit dem Haus?«

»Um die Wahrheit zu sagen, es befindet sich nicht gerade in einem guten Zustand«, sagte Rod vorsichtig. »Es könnte sein, dass wir einige … Änderungen vornehmen müssen. Mehr Platz schaffen, wissen Sie, für Ihren Hamburger-Imbiss.«

»Bagels.« Pike runzelte die Stirn. »Ihr reißt es also ab.«

»Leider ja.«

»Ist auch besser so«, sagte der Alte. »Zu viele Gespenster.«


Die einzige Tankstelle von Comtosook gehörte zu dem Gemischtwarenladen. Zwei Zapfsäulen aus den Fünfzigerjahren standen auf dem Parkplatz, und Rod brauchte gut fünf Minuten, bis er begriff, dass es tatsächlich keinen Schlitz für seine Kreditkarte gab. Er schob die Zapfpistole in den Tank, holte sein Handy heraus und wählte eine der eingespeicherten Nummern. »Angel-Steinbruch«, meldete sich eine weibliche Stimme.

Rod schüttelte den Kopf. »Ich wollte die Nummer 617-569 …«

»Tja, da haben Sie sich wohl verwählt.« Klick.

Verdutzt steckte er sein Handy wieder ein und füllte noch ein paar Liter in den Tank. Dann griff er nach seinem Portemonnaie und ging auf den Laden zu, um zu bezahlen.

Ein Mann mittleren Alters mit karottenrotem Haar stand auf der Veranda und fegte etwas zusammen, das aussah wie Blütenblätter. Rod blickte zu dem Schild über der Tür – ABE’S STORE – und dann wieder zu dem Ladenbesitzer. »Sind Sie Abe?«

»Richtig geraten.«

»Haben Sie ein öffentliches Telefon?«

Abe deutete in eine Ecke der Veranda. Dort stand ein Fernsprecher, direkt neben einem betrunkenen Alten, der keine Anstalten machte, zur Seite zu gehen. Rod tippte eine Nummer ein und spürte dabei die ganze Zeit die Blicke des Ladenbesitzers im Rücken. »Angel-Steinbruch«, hörte er gleich darauf.

Er knallte den Hörer auf und starrte ihn an. Abe bewegte sich beim Fegen auf Rod zu. »Probleme?«, fragte er.

»Da stimmt anscheinend irgendwas mit den Telefonleitungen nicht.« Rod fischte einen Zwanziger für das Benzin aus seinem Portemonnaie.

»Kann sein. Oder die Indianer haben doch recht – dass auf dem ganzen Ort ein Fluch liegt, wenn sie ihr Land nicht zurückbekommen.«

Rod verdrehte die Augen. Er war schon fast wieder bei seinem Wagen, als ihm Spencer Pikes Bemerkung mit den Gespenstern wieder einfiel. Er drehte sich um und wollte Abe danach fragen, aber der Mann war verschwunden. Sein Besen lehnte an dem ramponierten Verandageländer, und mit jedem Lufthauch flogen Blütenblätter aus dem zusammengefegten Haufen auf, wie Wünsche.

Plötzlich hielt ein Wagen auf der anderen Seite der Zapfsäulen. Ein Mann mit schulterlangem braunen Haar und beunruhigenden seegrünen Augen stieg aus und reckte sich, bis sein Rücken knackte. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »wissen Sie, wo Shelby Wakeman wohnt?«

Rod schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht von hier.«

Er wusste nicht, warum er das tat, aber er schaute in den Rückspiegel, als er wieder im Wagen saß. Der Mann stand noch immer da. Dann klingelte Rods Handy. Er zog es aus der Brusttasche, klappte es auf. »Van Vleet.«

»Angel-Steinbruch«, sagte die Frau am anderen Ende, als hätte er sie angerufen, als wäre das ganz normal.

»Ich komm ja schon«, murmelte Shelby, als das Klopfen an der Haustür lauter wurde. Es war erst elf Uhr morgens. Wenn dieser Trottel Ethan aufgeweckt hatte … Sie band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz hoch und blinzelte in die Sonne, als sie die Tür öffnete. Er hatte das Tageslicht im Rücken, und im ersten Moment erkannte sie ihn nicht.

»Shel?«

Vor zwei Jahren hatte sie Ross zuletzt gesehen. Sie sahen sich noch immer ähnlich – die gleiche schlaksige Figur, der gleiche intensive, helle Blick, von dem die meisten Menschen sich schwer lösen konnten. Aber Ross war dünner geworden, und er hatte langes Haar. Und ach, die Ringe unter seinen Augen waren noch dunkler als ihre eigenen.

»Ich hab dich geweckt«, entschuldigte er sich. »Ich kann auch später …«

»Komm schon her«, unterbrach Shelby ihn und schlang die Arme um ihren kleinen Bruder.


»Geh wieder ins Bett«, drängte Ross, nachdem Shelby ihn fast eine Stunde bemuttert hatte. »Bald braucht Ethan dich wieder.«

»Ethan wird dich brauchen«, verbesserte Shelby ihn. »Sobald er merkt, dass du da bist, ist es mit deiner Ruhe vorbei.« Sie legte einen Stapel Handtücher an das Fußende des Gästebettes und umarmte ihn. »Und du kannst natürlich so lange bleiben, wie du willst.« Er vergrub das Gesicht an ihrer Schulter und schloß die Augen. Shelby roch nach seiner Kindheit.

Plötzlich wich sie zurück. »Ach, Ross«, murmelte sie, schob dann die Hand unter seinen Hemdkragen und zog die lange Kette heraus, die er darunter verbarg. Der Anhänger war ein Brillantring, ein gefallener Stern. Shelby schloss die Faust darum.

Ross fuhr zurück, und die Kette zerriss. Er packte Shelbys Handgelenk und schüttelte es, bis sie den Ring losließ und er ihn in der Hand hielt. »Nicht«, sagte er scharf.

»Aber es ist doch schon …«

»Meinst du, ich wüsste nicht, wie lange es her ist?« Ross wandte sich ab.

Als Shelby ihn am Arm berührte, reagierte er nicht. Sie ließ es dabei bewenden und zog sich aus dem Zimmer zurück.

Shelby hatte recht – er brauchte Schlaf –, aber er wusste auch, dass er ihn nicht finden würde. Ross hatte sich an die Schlaflosigkeit gewöhnt, die jahrelang zu ihm unter die Decke gekrochen war.

Er legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Den Ring hielt er so fest in der Hand, dass sich die Zacken der Einfassung in seine Haut gruben. Er würde sich irgendwas besorgen müssen – eine Schnur, ein Lederband –, damit er ihn wieder um den Hals tragen konnte.

Als er um 5 Uhr 58 mit einem Ruck erwachte, war Ross völlig verblüfft. Er blinzelte, fühlte sich so gut wie seit Monaten nicht mehr. Es war das Fehlen des leichten Gewichts auf seiner Brust, das ihn an den Ring erinnerte. Ross öffnete die Faust und geriet in Panik. Der Brillantring, den er beim Einschlafen fest in der Hand gehalten hatte, war nirgends zu sehen. Ich hab sie verloren, dachte Ross, während er blicklos auf das starrte, was stattdessen in seiner Hand lag: ein Penny von 1932 – glatt wie ein Geheimnis, noch warm von der Berührung seiner Haut.

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