ZWÖLF


Meredith saß lange schweigend da, während die Nacht immer engere Kreise um sie zog. Ihr Inneres fühlte sich flüssig an, und Meredith wusste, dass sie in nächster Zeit nicht in der Lage sein würde, sich zu bewegen, zu denken.

Geisterhaft.

Konnte einen der Wahnsinn so schnell befallen wie die Grippe? Ihr Verstand war nicht in der Lage, das Gesehene zu verarbeiten. Es war, als hätte man ihr gesagt, dass die Sonne nicht mehr aufgehen würde.

Aber sie war nicht Zeugin eines billigen Taschenspielertricks geworden, war nicht dem Geschwafel eines Verrückten aufgesessen. Mit eigenen Augen hatte sie einen Geist gesehen. Eine Frau, die genauso schnell wieder verschwunden war, wie sie gekommen war. Eine Frau, die genauso aussah wie Meredith.

Sie musste daran denken, wie oft sie Lucy gegenüber beteuert hatte, dass es keine Geister gab. Nun erschien ihr alles fragwürdig, woran sie je geglaubt hatte, denn wenn sie sich in dem Punkt geirrt hatte, was war dann noch alles ein einziger Irrtum? Es gab nur eines, dessen sie sich sicher sein konnte: Die Welt, in der sie heute Morgen erwacht war, war eine völlig andere gewesen als die, in der sie sich jetzt befand.

Sie merkte, dass sie sich vorbeugte und den Boden berührte, unsicher, ob auch der vielleicht nicht so fest war, wie sie glaubte. Sie fröstelte erneut und spürte, wie etwas auf ihre Schultern gelegt wurde. Bis zu diesem Augenblick, als Ross ihr seine Jacke umlegte, hatte sie gar nicht richtig registriert, dass jemand neben ihr saß.

Sie wandte sich um. »Ist das … ist das wirklich passiert?«

»Ich glaube, ja.« Ross wirkte genauso mitgenommen wie sie. Meredith betrachtete ihn genauer. Sie hatte ihm nicht wirklich geglaubt – seine Geschichten über Geisterjagd, über ihre Großmutter.

»Sie sah aus wie ich.«

»Ich weiß.«

»Aber … aber …« Es gab keine Worte für diese fremde Welt.

Sie spürte, wie Ross ihre Hand nahm, wie sein langes Haar über ihre Wange strich, als er sich zu ihr beugte. Er weinte. »Ich weiß«, wiederholte er, dabei wollte er doch in Wirklichkeit sagen, dass er gar nichts mehr wusste.

Sie hatte nicht daran geglaubt, dass es Geister gab, wohl aber daran, dass es Schmerz gab. Und sie wusste nur allzu gut, was für ein Gefühl es war, sich allein zu fühlen, wenn man nicht allein sein wollte. Diese Emotionen waren so wirklich, dass sie ihr einen Halt lieferten, an den sie sich klammern konnte. Meredith’ Gedanken trudelten zurück zu der verzweifelten Suche, der Angst, dem Selbstmord. »Ist es so gewesen?«, fragte sie. »Hat sie … sich umgebracht?«

»Ich glaube, ja.« Ross’ Stimme klang vor Trauer ganz wund.

»Können wir denn gar nichts tun?«

»Es ist schon geschehen«, sagte Ross. »Sie ist nicht mehr da.«

Der Geist hatte Meredith direkt angestarrt. Und es war wie ein Blick in den Spiegel gewesen – nicht bloß wegen der physischen Ähnlichkeit, sondern weil der Ausdruck in Lia Pikes Augen genau der war, den Meredith sah, wenn sie sich selbst betrachtete. Meredith verstand zwar nicht recht, dass die Grenze zwischen Leben und Tod mit unsichtbarer Tinte gezogen war, aber sie wusste, wie sich eine Mutter fühlte, die nichts anderes wollte, als ihr Kind zu schützen.

Mutterschaft berührte den Wesenskern. Du konntest ein Kind in dir spüren, auch wenn du es schon geboren hattest; es war so lange Fleisch deines Fleisches gewesen, dass es ein Teil von dir geworden war. Und wenn dieses Kind starb – als Embryo, als Neugeborenes, mit dreizehn Jahren an XP –, dann musste auch ein Teil von dir sterben. Lia hatte den Prozess nur beschleunigt, nachdem sie in das erkaltete Gesicht ihres Babys geschaut hatte.

»Sie ist ihrer Tochter gefolgt«, sagte Meredith und wandte sich Ross zu. »Glauben Sie, dass sie sich am Ende finden?«

Er antwortete nicht, konnte nicht antworten. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und er schluchzte haltlos. Sein Kummer brach tief und dunkel wie eine Quelle aus ihm hervor, ein Kummer, den Meredith kurz zuvor auf Lia Pikes Gesicht gesehen hatte, als sie glaubte, sie hätte ihre Tochter wirklich verloren.

»Ross«, sagte sie, und in diesem Moment fiel ihr etwas ein, das er einmal zu ihr gesagt hatte und von dem sie jetzt wusste, dass es die Wahrheit war: Man konnte jemanden lieben, der nicht real war. Fürsorglich berührte sie seinen Arm, wollte ihm zeigen, dass sie dieses Mal da sein würde, um ihn zu halten, falls er fiel. Aber er schüttelte sie ab, und dabei drehte er ein wenig den Unterarm, sodass sie die Narbe an seinem Handgelenk sehen konnte, ein Blitzstrahl, wo die Haut hätte ganz glatt sein müssen.

»Sie werden einander finden«, sagte er und wandte den Blick von ihr ab. »Bestimmt.«


»Das Baby war nicht tot«, erklärte Eli, »aber sie hielt es für tot, und deshalb hat sie sich aufgehängt.« Er ging durch Shelbys Küche und goß sich ein Glas Wasser ein, während er ihr erzählte, was er herausgefunden hatte. »Sie hat einen großen Block Eis durch das Sägemehl bis unter das Vordach geschleift, um sich draufzustellen, damit sie an den Dachbalken kam. Aber als Pike sie dann am Morgen fand, war das Eis geschmolzen, und es sah eher nach Mord als nach Selbstmord aus. Nach siebzig Jahren hab ich den Fall jetzt offiziell abgeschlossen.« Er schüttelte den Kopf. »Mag ja sein, dass wir ein bisschen langsam sind, aber es soll bloß keiner behaupten, die Detectives von Comtosook würden voreilig aufgeben.«

Shelby saß am Küchentisch, und als er an ihr vorbeiging, berührte er ihre Schulter. »Und das ist noch nicht alles«, sagte Eli und setzte sich ihr gegenüber. »Spencer Pike ist letzte Nacht gestorben.«

Er redete weiter, doch Shelby bekam nichts mehr mit. Sie konzentrierte sich auf das Gefühl in ihrer Schulter, nachdem Elis Hand heruntergeglitten war, als würde ihr dort jetzt etwas fehlen.

Plötzlich konnte Shelby sich gar nicht mehr vorstellen, dass es mal eine Zeit gegeben hatte, in der sie Eli Rochert nicht gekannt hatte. Er hatte sich auf jede vorangegangene Seite ihres Lebens eingeprägt, und erst jetzt merkte sie, wie groß die Lücken gewesen waren.

Meine Güte, dachte sie, ich liebe ihn.

Für Shelby war Liebe so etwas wie eine Sonnenfinsternis – atemberaubend schön, faszinierend und fähig, dich blind zu machen. Sie war nicht direkt davor geflohen, aber sie hatte sie auch nicht gesucht.

Sie war schon einmal verliebt gewesen, in ihren Exmann – sie kannte das Gefühl, beim Klang einer Männerstimme am Telefon Herzklopfen zu bekommen und beim Küssen zu spüren, wie die Welt aufhörte, sich zu drehen. Aber diese Beziehung war gescheitert, wie eigentlich jede andere Beziehung, von der sie wusste. Liebe bedeutete, aus großer Höhe zu springen und darauf zu vertrauen, dass ein anderer Mensch da war, um dich aufzufangen. In ihrem Fall jedoch war dieser Mensch weggelaufen, bevor sie unten ankam. Und sie war sich nicht sicher, ob sie noch einmal springen wollte.

» … und wenn man es mal so betrachtet … Shelby, hallo, alles in Ordnung?« Eli drückte ihre Hand, und sie fuhr zusammen. Sofort wich er zurück. »Stimmt was nicht?«

Und ob, dachte sie. »Wenn ich todkrank wäre, würdest du mir eine Niere spenden?«

Eli blickte verblüfft. »Eine von meinen?«

»An andere kämst du ja wohl kaum ran, oder?« Sie fixierte ihn. »Und?«

»Ich … ich … doch. Ja, würde ich.«

Stöhnend legte Shelby die Hände vors Gesicht.

»War das die falsche Antwort?«, fragte Eli verunsichert.

Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich möchte dich lieben, Eli. Aber gleichzeitig auch wieder nicht. Wenn ich mit dir zusammen bin, kommt es mir vor, als hätte sich in meinem Leben bisher nichts so richtig angefühlt wie jetzt. Aber wenn ich das zugebe, dann kann es doch nur noch bergab gehen. Sieh dir an, was die Liebe mit meinem Bruder gemacht hat. Oder mit Gray Wolf. Oder auch mit Lia Pike. Oder … was ist denn daran so lustig?«

Eli saß am Tisch und strahlte übers ganze Gesicht. Er nahm erneut ihre Hand, und als sie sie diesmal wegziehen wollte, hielt er sie fest. »Liebe«, wiederholte er, als wäre das alles, was er hören müsste. »Du hast Liebe gesagt.«


Lucys und Ethans Versteck – unter der Plastikplane, die über die Gartenmöbel gespannt war – war schon ganz verqualmt, aber das war es wert. Es war Ethans erste Blutsbrüderschaft, und er wollte alles richtig machen.

Er hielt die Klinge seines Schweizer Messers in die Kerzenflamme. »Fertig?«, fragte Lucy.

Es hatte sich herausgestellt, dass Lucy bloß knapp ein Jahr jünger war als er, aber das hätte er nie im Leben gedacht. Lucy bekam es schon mit der Angst, wenn sie eine Schnake sah. Manchmal war sie so still, dass Ethan völlig vergaß, dass sie neben ihm saß. Sie konnte sich nicht mal aufs Skateboard stellen, ohne hinzufallen.

Aber sie war klug, und sie roch nach Kuchen. Und weil sie den ganzen Sommer lang bei der Ferienfreizeit mitgemacht hatte, war ihre Haut wunderschön braun.

Sie erzählte Ethan, wie schön es war, zu einem Holzdeck auf einem See hinauszuschwimmen und dort in der Sonne einzuschlafen. Er erzählte ihr, wie sich ihm die Nackenhaare gesträubt hatten, als der Geist seinem Onkel aus dem alten Spukhaus nach draußen gefolgt war. Sie gab zu, dass sie sich manchmal unter der Decke verkroch und so tat, als wäre sie nicht da, wenn die Geister kamen. Er erzählte ihr, dass die Flüssigkeit, mit der der Hautarzt ihm die Wucherungen auf der Haut wegfror, wie Feuer brannte.

»Nun mach schon, Ethan«, sagte Lucy. »Ich krieg bald keine Luft mehr.«

»Okay.« Ethan hielt die Taschenlampe über das Messer, ließ die Taschenlampe fallen und dann das Messer. »Mist. Halt mal.« Er gab Lucy die Lampe und wischte die Klinge ab, hielt sie dann noch einmal in die Flamme. Als er aufblickte, sah Lucy ganz blass aus. »Du kippst mir doch hier nicht aus den Latschen, oder?«

Mit finsterer Miene streckte sie ihm ihr Handgelenk hin.

Ethan hielt seines direkt daneben. »Ich werde dir helfen, einen Geist zu finden, bevor er dich findet«, sagte er.

Sie starrte ihm in die Augen. »Ich bringe dich dahin, wo die Sonne aufgeht.«

»Tapferkeit«, sagte Ethan, und dann zog er die Klinge so schnell wie ein Aufkeuchen über beide Handgelenke. Sie legten die offenen Wunden aufeinander.

Lucy hielt den Atem an. »Tapferkeit.« Dann warteten sie und hofften, dass ihr Mut sie genauso fest aneinanderbinden würde wie Blut.


Az wurde vom Gesang der Vögel wach. Einen Moment lang blieb er auf seiner Pritsche liegen und versuchte, das Klagen des Schneefinks, das Trillern des Ziegenmelkers und die kehlige Altstimme des Seetauchers herauszuhören. Es war Wochen her, dass er ein solches Konzert gehört hatte. Das letzte Mal an dem Morgen, als er den anderen Abenaki von dem Friedhof erzählt hatte und dann mit ihnen auf das Pike-Grundstück gezogen war, um friedlich zu protestieren.

Er setzte sich langsam auf, spürte das Knarren und Knacken jedes einzelnen Wirbels. Er schwang die Füße über den Pritschenrand und stellte sie auf die festgetretene Erde des Zeltbodens.

Sie war warm, wie sich das im August gehörte. Nicht gefroren, wie bisher.

Az öffnete das Zelt und trat nach draußen. Die Welt schien wieder im Lot zu sein. Az pflückte eine Blüte von der Geißblattranke, die neben dem Zelt wuchs, und sah den Nektartropfen darin. Er saugte ihn auf und schmeckte Zucker statt Tränen.

Az blieb ganz ruhig stehen, und er spürte nicht mehr diesen pochenden Druck hinten im Kopf, wie einen Hammer. Er schloss die Augen und wusste sofort, wo der echte Norden lag.

Er machte Kaffee, wusch sich die Hände und das Gesicht und kleidete sich sorgfältig an. Er machte an diesem Morgen alles genauso wie in der ganzen Zeit, in der Comtosook verwunschen gewesen war. Az hatte gewusst, dass irgendwann alles wieder zur alten Ordnung zurückkehren würde.


Wäre er ein Zauberer gewesen, hätte Ross seiner Schwester Stärke hinterlassen. Keine Muskelkraft, sondern Durchhaltevermögen, denn nur damit kam man durchs Leben. Er musste es ja wissen, denn genau daran fehlte es bei ihm. Und so ging er nun die spärlichen Habseligkeiten in seiner Reisetasche durch. Sein weiches Shirt sollte Shelby bekommen, weil es nach ihm roch, denn er wusste, dass sie für alles dankbar wäre, womit sie die Erinnerung an ihn bewahren konnte. Seine Uhr sollte Ethan haben, anstatt der Zeit, die Ross ihm so gern geschenkt hätte. Die Pennys von 1932 würde er mitnehmen, um damit eine Spur durch die Ewigkeit zu legen, sodass Lia ihn finden konnte, nur für alle Fälle.

Was für ein Mann kann fünfunddreißig Jahre auf dieser Erde verbringen und am Ende nur so viel sein Eigen nennen, wie in eine schlichte Reisetasche passt?, fragte Ross sich. Und er dachte: Einer, der von vornherein nicht lange bleiben wollte.

Nach der Begegnung mit Lias Geist hatte er Meredith nach Hause gebracht. Er hatte gehört, wie sie Ruby anrief, sie um fünf Uhr morgens weckte, um ihr noch immer ganz verdattert zu erzählen, was sie gesehen hatte. Sie hatte gesagt, sie würde in ein paar Tagen zurück nach Maryland fahren, doch vorher müsse sie sich hier noch um ein paar Dinge kümmern. Ross wusste nicht, ob Meredith ihm jetzt glaubte, was er ihr über Geister erzählt hatte, und es war ihm eigentlich auch egal. Ihm war Lia wichtig, und sie würde nicht zurückkehren. Er wusste das genauso, wie er wusste, dass jeder Atemzug nach Teer schmeckte, dass von nun an jeder Tag schmerzen würde wie ein Messerstich. Er war müde, so gottverdammt müde, und er wollte nur noch eines, schlafen.

Ross ging weiter den Inhalt der Tasche durch. Ein Rasierer, der seinem Vater gehört hatte, der war für Shelby. Sein EMF-Messgerät – natürlich für Ethan. Er zog das alte Geisterfoto heraus, das er mit Curtis an einem See gemacht hatte, und lächelte. Vielleicht würde er es Meredith schenken.

Er würde keinen Abschiedsbrief hinterlassen, so viel war klar. Systematisch zerriss er jedes Stück Papier auf dem Schreibtisch in kleine Schnipsel und warf sie wie Konfetti in den Mülleimer.

Dann fiel sein Blick auf Lucy Oliver, die in der Tür stand. »Hallo«, sagte er. Sie machte Ross irgendwie nervös. Ihre Augen war fast silbrig, zu hell für das Gesicht, und sie benahm sich, als würde sie ihn schon seit Monaten und nicht erst seit ein paar Tagen kennen. Heute Abend trug sie eine abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift MADAME PRESIDENT. Am Handgelenk hatte sie ein Pflaster. »Bist du beim Skateboardfahren hingefallen?«, fragte Ross freundlich.

»Nein«, antwortete Lucy, einfach Nein, mehr nicht. »Ich soll dir sagen, das Frühstück ist fertig.«

Ross wollte antworten – irgendwas in der Art wie Alles klar oder Ich komme gleich, aber stattdessen sagte er etwas, das für sie beide überraschend war. »Hat Lia mit dir über mich gesprochen?«

Lucy nickte langsam. »Manchmal.«

»Was hat sie gesagt?«

Doch statt zu antworten, blickte Lucy sich im Zimmer um, betrachtete die Sachen, die er zusammengelegt hatte. »Was machst du?«

»Ich bereite mich auf eine Reise vor«, erwiderte Ross.

»Wohin?«

Als er sie ansah, hatte er das Gefühl, als wüsste Lucy, dass es keine normale Reise war.

»Aber jetzt noch nicht«, sagte Lucy, eine Bestätigung.

Er legte den Kopf schief. Wie viel wusste sie? »Warum nicht?«

»Weil es Frühstück gibt.« Lucy machte einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand mit dem Pflaster am Gelenk hin. »Komm«, sagte sie und wartete, bis Ross ihre Hand nahm und sich in ihre Obhut begab.


Meredith hatte zwar keine große Trauerversammlung auf Spencer Pikes Beerdigung erwartet, aber dass sie mit Eli Rochert und seinem Bluthund allein am offenen Grab stand, während der Pfarrer rasch ein paar Worte sprach, das war schon ein wenig peinlich. Immerhin konnte sie froh sein, dass auf der anderen Seite des Zauns keine Trommeln geschlagen wurden, wo die Abenaki die Bauarbeiten auf dem Pike-Grundstück boykottierten. Shelby passte auf Lucy auf. Und Ross, tja, kein Mensch wusste, wo der steckte. Seit der Nacht, in der Lia erschienen war, hatte Meredith ihn nicht mehr gesehen, und sie war insgeheim froh darüber. Denn dann hätte sie die richtigen Worte finden müssen, und Es tut mir leid oder Ich bin hier kamen ihr längst nicht so passend vor wie Nein.

Als der Geistliche sie dazu aufforderte, streute Meredith geistesabwesend eine Handvoll Erde über Pikes Sarg.

Der Pfarrer sprach Meredith sein Beileid aus und ging dann gemessenen Schrittes zu seinem Wagen. Elis Hand berührte sie an der Schulter. »Möchten Sie mit mir zurückfahren?«

Meredith schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich bleibe noch ein bisschen.«

»Okay«, sagte Eli. Er entfernte sich mit dem Hund, drehte sich dann aber noch einmal um. »Rufen Sie mich auf dem Handy an, wenn Sie fertig sind, okay?«

Meredith dankte ihm und sah seinem Pick-up hinterher. Sie fragte sich, ob Shelby wohl wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass ein Mann wie er genau im richtigen Moment in ihr Leben getreten war. Meredith betrachtete das frische Grab. Eine leichte Brise bewegte den Saum des schwarzen Kleides, das sie sich ausgeliehen hatte.

»Adieu«, sagte sie leise, weil sie das Gefühl hatte, irgendwer sollte es sagen.

»Auf Nimmerwiedersehen«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Az Thompson stand nur wenige Schritte entfernt in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schmaler Krawatte. »Sie sind der Letzte, den ich hier erwartet hätte«, sagte Meredith.

»Ich bin nicht seinetwegen gekommen.« Az blickte auf das Grab. »Das ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich froh bin, jemanden überlebt zu haben.« Er sah Meredith an. »Gehen wir ein Stück spazieren?«

Sie zog ihre hochhackigen Schuhe aus und lief auf Strümpfen neben Az her. Er stapfte einen Hügel hinauf, marschierte über ein paar Gräber hinweg. An manchen Stellen spürte sie ein Kitzeln unter den Fußsohlen. »Keine gute Wahl, um mal in Ruhe nachzudenken«, sagte er stirnrunzelnd.

»Wo würden Sie denn hingehen?«

»An einen Wasserfall«, sagte Az, ohne zu überlegen. »Oder ich würde mich auf den Rücken legen und die Sterne betrachten.« Er sah sie an und streckte sich dann lang auf dem Boden aus. »So.«

Sie zögerte ganz kurz, weil das Kleid nicht ihr gehörte. Dann setzte sie sich neben Az und blickte zum Himmel hinauf. »Was sehen Sie?«, fragte sie, ein Spiel, das sie oft mit Lucy spielte.

»Wolken«, antwortete Az trocken.

Meredith legte die Arme um die Knie. In ihrer Armbeuge war ein kleiner blauer Fleck von der Blutabnahme vor ein paar Tagen. Az hatte auch einen. »Darf ich Sie mal was fragen?«

»Klar.«

»Es ist nämlich … na ja, ich weiß nicht, wie ich Sie nennen soll. Mr. Thompson oder Az oder John.«

»Ich glaube, ich fände es schön, wenn mich eine schlanke junge Frau N’mahom nennen würde.«

»Was bedeutet das?«

»Mein Großvater.« Er sah Meredith in die Augen. »Dann glaubst du es jetzt?«

Sie nickte. »Aber es nützt ja nichts.«

»Warum sagst du das?«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie war selbst überrascht und redete sich ein, dass es an dem Tag lag, der Hitze, am fehlenden Schlaf. »Es ist schon so viel passiert«, sagte sie leise. »So viele Menschen sind verletzt worden.« Sie dachte an Menschen wie Az, wie Lia, wie die gesichtslosen Abenaki in dieser Stadt, doch immer wieder tauchte Ross vor ihrem geistigen Auge auf. »Es sollte doch eigentlich gar nicht um mich gehen.«

»Die meisten Menschen sind zu sehr damit beschäftigt, über den Sinn ihres Lebens nachzudenken. Warum ich, warum jetzt. In Wahrheit widerfährt einem manches gar nicht aus einem bestimmten Grund. Manchmal geht es nur darum, für jemand anderen im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein.«

»Und das ist alles?«

»Das ist nicht wenig.« Er sah sie an und lächelte. »Fahrt ihr heute wieder nach Hause?«

Meredith hatte eigentlich vorgehabt, noch am selben Nachmittag zurück nach Baltimore zu fliegen. Aber sie hatte ihre Heimreise auf morgen verschoben. Die Beerdigung von Spencer Pike sollte nicht ihre letzte Erinnerung an Comtosook sein. »Bald«, wich sie aus. »Schreibst du mir?«

»Ich bin kein großer Freund des geschriebenen Wortes. Pike und seine Freunde haben vieles aufgeschrieben, was niemals zu Papier gebracht werden sollte. Und die Alnôbak ziehen die mündliche Überlieferung der geschriebenen vor.«

»Und ein großes Kapitel wird ausgelassen«, murmelte Meredith.

»Dann liegt es an dir, es zu erzählen.«

Als sie merkte, dass es ihm ernst war, schüttelte sie den Kopf. »Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte.«

»Egal. Fang einfach irgendwo an.«

»Für Lucy, meinst du?«

»Für jeden«, sagte Az, »der bereit ist zuzuhören.«

Sie fuhr sich durchs Haar. »Übrigens … heute Nachmittag wird das Testament verlesen. Eli hat dafür gesorgt, dass ein Richter mir den Besitz überschreibt, weil ich die Rechtsnachfolgerin meiner Mutter bin … und sie ja die wahre Besitzerin war. Ich möchte gerne … ich möchte gerne, dass du das Grundstück bekommst.«

Er lachte. »Was soll ich denn mit so viel Land anfangen?«

»Ich dachte, du würdest es vielleicht mit anderen teilen wollen.« Meredith schlitzte einen Grashalm mit dem Daumennagel auf. »Vorausgesetzt natürlich, dass Lucy und ich ein Dach über dem Kopf haben, wenn wir dich besuchen kommen. Würdest du die Einzelheiten für mich regeln?«

»Wende dich an einen Mann namens Winks Champigny. Er steht im Telefonbuch. Er wird wissen, was zu tun ist. Ich würde dir ja helfen, aber ich werde wahrscheinlich auch eine Zeit lang nicht hier sein.«

»Das ist mal wieder typisch. Da lerne ich einen tollen Mann kennen, und schon muss ich erfahren, dass er mit dem nächsten Schiff ablegt.« Meredith lächelte ihn an. »Wirst du hier sein, wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme?«

»Verlass dich drauf«, sagte Az.


»Und es macht dir wirklich nichts aus?«, fragte Shelby zum zehnten Mal. Sie betrachtete Meredith’ Bild im Spiegel, während sie sich ein Medaillon um den Hals legte.

»Wieso denn? Die Kinder passen aufeinander auf. Ich werde mich auf die Couch setzen, Pralinen essen und mir Liebesfilme angucken.«

Es war etwas ganz Neues für Shelby – sie war zu einer normalen Zeit mit einem normalen Mann zum Abendessen verabredet. »Aber du musst doch bestimmt packen, weil ihr morgen zurückfliegt. Also bist du vom Dienst befreit, sobald Ross nach Hause kommt.«

Er war unterwegs, um Geräte zu holen, die er auf dem Pike-Grundstück gelassen hatte. Warum er das ausgerechnet im Dunkeln machen musste, abends um halb neun, war Meredith allerdings schleierhaft. »Weißt du, wohin Eli dich einladen will?«

»Irgendein schickes Restaurant in Burlington.« Sie ließ sich neben Meredith aufs Bett fallen. »Ich habe mich schon so oft mit ihm getroffen«, sagte sie leise. »Wieso bin ich jetzt bloß so aufgeregt?«

»Weil du verrückt nach ihm bist«, sagte Meredith. »Das kommt vom Dopamin, das in deinem Gehirn produziert wird.«

»Warum müsst ihr Wissenschaftler sogar die Liebe auf eine chemische Reaktion reduzieren?«

»Weil es für diejenigen unter uns, die nicht gerade mit Liebe verwöhnt werden, so leichter ist.«

Shelby drehte sich auf den Bauch. »Wer ist Lucys Vater?«

»Ein Mann, der es nicht hätte sein sollen«, entgegnete Meredith. »Und Ethans Vater?«

»Anscheinend der Bruder von Lucys Vater.« Shelby stützte das Kinn in die Hände. »Hast du ihn geliebt?«

»Sehr.«

»Genau wie ich.« Sie sah Meredith an. »Manchmal tu ich so, als wäre ich Eli nicht begegnet. Oder als wäre er nicht mein letzter Gedanke, bevor ich abends einschlafe. Das ist wie eine Art Aberglaube, verstehst du – wenn mir eine Beziehung nicht ganz so wichtig ist, wird sie mir vielleicht nicht wieder weggerissen.«

»Die hier zieht dir keiner mehr unter den Füßen weg«, stellte Meredith fest. »Beziehungen gelingen und scheitern wegen der Menschen, die sie führen … nicht wegen irgendeines kosmischen Plans.«

Shelby schüttelte den Kopf. »Da setzt ja dann das Schicksal ein. Wenn ich nicht Ethan bekommen hätte, dann hätte ich mich nicht von Thomas scheiden lassen. Wenn Ethan nicht XP hätte, wäre ich nicht in diese Stadt gezogen, wo die Häuser so weit voneinander entfernt stehen, dass er nachts spielen kann. Wenn Ross nicht so verzweifelt gewesen wäre, wäre er nicht hergekommen und hätte nicht die Untersuchungen auf dem Pike-Grundstück machen können. All diese Dinge, die furchtbar waren, als sie passierten, haben vielleicht nur dazu geführt, dass ich Eli begegnet bin.«

»Ach, weißt du«, sagte Meredith, »das Schicksal haben die Menschen erfunden, um sich Dinge erklären zu können, die sie nicht verstehen. Zehn Jahre habe ich nach einem Mann gesucht, der, wenn er einen Raum betritt, sofort weiß, wo ich bin, ohne hinsehen zu müssen. Aber ohne Erfolg. Ich kann mir die Wahrheit eingestehen, dass ich nämlich ein unglückliches Händchen habe, wenn es um Liebe geht, oder ich kann mir einreden, dass mir meine verwandte Seele einfach noch nicht über den Weg gelaufen ist. Und es ist immer leichter, ein Opfer zu sein als eine Versagerin.«

Shelby setzte sich auf. »Aber was genau sorgt denn dafür, dass du dich von einem ganz bestimmten Mann angezogen fühlst?«

»Liebe«, sagte Meredith. »Liebe trotzt jeder Erklärung. Aber nicht das Schicksal.« Sie dachte daran, wie Lia auf der Lichtung erschienen war. »Es gibt Dinge, die du nicht erklären kannst und die trotzdem passieren. Aber entscheidend ist, wenn es geschieht, dann weil ich nach dem Mann gesucht und ihn gefunden habe. Nicht weil wir füreinander bestimmt waren.«

»Meredith! Du bist ja eine heimliche Romantikerin!«

Es klingelte an der Tür. Shelby sprang vom Bett und schob rasch die Füße in zwei unterschiedliche Schuhe. »Welche, flach oder verführerisch hochhackig?«

»Wenn es Schicksal ist«, lächelte Meredith, »müsste das eigentlich egal sein.«

Shelby lachte und nahm die Hochhackigen. Nach einem letzten Blick in den Spiegel eilte sie mit Meredith im Schlepptau nach unten und öffnete die Tür.

Eli hatte eine pinkfarbene Rose in der Hand. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, ein blütenweißes Hemd und eine weinrote Krawatte. »Mannomann«, sagte Shelby.

»Du bist … du bist …« Eli schüttelte den Kopf. »Ich hab mir so viele schöne Wörter überlegt, und jetzt fällt mir kein einziges mehr ein.«

»Das liegt am Dopamin«, sagte Shelby mitfühlend.

»Bezaubernd?«, schlug Meredith vor. »Entzückend? Betörend?«

»Nein«, sagte Eli schließlich. »Die Meine.«


Az nahm noch einen Schluck von dem Whiskey, den Ross mit zum Steinbruch gebracht hatte. Sie saßen nebeneinander auf Klappstühlen, tranken und betrachteten den Himmel. »Du weißt ja, dass ich dich eigentlich wegschicken müsste«, sagte er.

»Dann tu’s doch.«

Az zuckte die Achseln. »Wegen des Dynamits. Im ganzen Steinbruch sind Sprengladungen verteilt. Im Morgengrauen werden die per Computer gezündet. Er schielte zu Ross hinüber. »Also mach keine Dummheiten, ja?«

»Dummheiten«, wiederholte Ross gemächlich. »Was wäre denn eine Dummheit? Zum Beispiel sich nicht bloß nach einer, sondern gleich nach zwei toten Frauen zu sehnen?«

»He.« Az streckte die Hand aus. »Gib mal den Whiskey.«

Ross reichte ihm die Flasche, und Az warf sie im hohen Bogen in den Steinbruch hinunter, wo sie zerplatzte.

»Was soll der Quatsch?«

»War nur zu deinem Besten.« Az stand langsam auf, schob sich den Klappstuhl unter den Arm. »Tu mir einen Gefallen, und pass mal ein Weilchen hier auf, ja?«

»Wo willst du denn hin?«

»Zigarettenpause«, sagte Az.

Ross sah ihm nach, wie er am Rand des Steinbruchs entlangging. »Du rauchst doch gar nicht!«, rief er dem alten Mann hinterher.

Ross stand auf, die Hände in den Taschen, und blickte nach unten auf die Scherben seiner Whiskeyflasche. »Scheiße«, sagte er und trat gegen einen Stein, der über den Rand in die Tiefe kollerte. Weil das ein schönes Gefühl war, tat er es noch einmal. Er blickte in den Abgrund, breitete die Arme aus, beugte sich über den Schlund. Als ihm seine Baseballkappe mit dem Bogeyman-Nights-Aufdruck vom Kopf fiel und auf einer Dynamitstange landete, grinste er. Er schaute über die Schulter, sah Az noch immer nicht zurückkommen und zündete sich eine Zigarette an. Er warf sie in den Steinbruch, wo sie fünfzehn Zentimeter von einer anderen Dynamitladung entfernt landete und verglomm.

Er war es satt, sein Leben noch einmal leben zu müssen, wo er doch schon beim ersten Mal nicht sehr begeistert davon gewesen war. Wie Lia war er in seiner eigenen Vergangenheit gefangen. Ross war im selben Augenblick gestorben wie Aimee. Und als er dann endlich jemand anderen gefunden hatte, für den es sich zu leben lohnte, stellte sich heraus, dass sie seit siebzig Jahren tot war.

Er stellte sich vor, wie die Zigarette auf dem Dynamit landete, wie die Explosion die Erde erschütterte und ihn in den Steinbruch schleuderte. Er malte sich aus, wie sein Körper von Flammen umhüllt wurde, Flammen, die seine Kleidung fraßen und ihm den Schmerz abschälten. Warum ich? Wieso war er nicht nur mit einer, sondern gleich mit zwei toten Frauen verbunden? War er eine Art übernatürliches Bindeglied? Eine kosmische Schachfigur? Ein Blitzableiter für verlorene Seelen? Oder war das seine Strafe? Nach Aimees Tod hatte man ihn einen Helden genannt, obwohl Ross wusste, dass er genau das Gegenteil war.


Rod van Vleet vertrank seinen letzten Gehaltsscheck in der einzigen Bar von Comtosook. Oliver Redhook höchstpersönlich hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er gefeuert war und den Firmenwagen und das Firmenhandy bis Montag in der Zentrale in Massachusetts abzugeben habe. »Ich hätte einen dressierten Affen nach Vermont schicken können«, hatte Redhook gesagt. »Aber ich habe den schweren Fehler begangen, Sie auszuwählen.«

Es war wohl einer zynischen Laune des Schicksals zu verdanken, dass der Barkeeper ausgerechnet einer von den Indianern war, die drei Wochen lang vor seinem Baucontainer getrommelt hatten. Als fairer Gewinner hatte er Rod die ersten drei Drinks spendiert. Jetzt, beim achten, war Rods Feinmotorik so angeschlagen, dass er sein Glas kaum noch heben konnte. Es kam ihm klein und glitschig vor.

»Noch einen«, brachte er hervor.

Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage, Mr. van Vleet. Es sei denn, Sie bestellen sich ein Taxi.«

»Ich bin ein Taxi«, sagte Rod.

Der Barkeeper wechselte einen Blick mit der Frau neben Rod. Sie hatte langes schwarzes Haar und Schultern wie ein Möbelpacker, und beim genaueren Hinsehen entpuppte sie sich als Mann. Rod leerte sein Glas in einem Zug. »Auch gut«, lallte er. »Dann fahr ich jetzt eben nach Burlington rüber. Und lass es da noch richtig krachen.«

»Viel Glück«, sagte der Barkeeper. »Hoffentlich kracht es nicht schon irgendwo unterwegs. Wär schade um Ihr Auto.«


Das Blaulicht von den Streifenwagen huschte über die Windschutzscheibe des Pick-up und verfärbte Shelbys Haut. Sie zog sich Elis Jacke fester um die Schultern und zitterte, obwohl ihr nicht kalt war. Er hatte extra ein Stück abseits geparkt, damit sie nicht auf das Autowrack und den Körper starren musste, der auf die Straße geschleudert worden war, aber sie wandte immer wieder den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen.

»Tut mir leid«, hatte Eli auf halbem Weg zum Restaurant zu ihr gesagt, als das Funkgerät im Pick-up sich meldete. »Da muss ich hin.«

Sie verstand das, und deshalb stieg sie jetzt auch aus und stöckelte in ihren hochhackigen Schuhen über den feuchten Asphalt. Außerhalb des Wagens, der die Geräusche gedämpft hatte, herrschte lärmendes Durcheinander, Sirenen heulten, Cops brüllten, Sanitäter rannten umher. Sie näherte sich dem Zentrum des Geschehens, rechnete fest damit, Ross zu sehen.

Damals bei dem Unfall, bei dem Aimee ums Leben gekommen war, musste es ähnlich gewesen sein wie jetzt. Damals war auch ein Auto umgekippt gewesen, genau wie jetzt; die Sanitäter hatten Ross auf eine Trage geschnallt, genau wie die, die gerade über den Asphalt zu dem Verletzten gerollt wurde.

Als der Anruf von der Polizei kam, stillte sie gerade Ethan. Fast hätte sie den Anrufbeantworter anspringen lassen, weil es so lästig war, gleichzeitig ein müdes Baby und einen Telefonhörer zu halten. Bis heute wusste sie nicht, ob die Stimme am anderen Ende männlich oder weiblich gewesen war. Nur ein paar Worte blieben haften, die ihr noch heute ab und zu durch den Kopf stolperten: Ross, Unfall, ernst, Beifahrerin tot.

Die Zeit blieb stehen, und Ethan war von ihrem Schoß auf die Couch gerollt. Shelby hatte versucht, sich Ross vorzustellen, verletzt und blutend, aber sie sah immer nur den mageren Fünftklässler mit den zornigen Augen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, den Schüler aus der Oberstufe zu verprügeln, der Shelby das Herz gebrochen hatte.

Jetzt schob sie zwei uniformierte Polizisten beiseite, um besser sehen zu können. Die Kleidung war zerfetzt, das Gesicht übel zugerichtet, aber Shelby erkannte trotzdem den Geschäftsmann, der mit dem Bauprojekt auf dem Pike-Grundstück zu tun hatte.

Eine Hand zog sie am Ellbogen nach hinten. Eli starrte sie aufgebracht an. »Was machst du denn hier?«

»Ich … ich musste es sehen.«

»So was sollte niemand sehen müssen.«

»Wird er überleben?«

»Ja, aber er hat ein paar schlimme Brüche und Verbrennungen.« Eli hatte sie wieder zurück zum Pick-up geführt. Er öffnete die Tür und half ihr hinein. »Bleib im Wagen.«

»Ich bin nicht Watson.«

Sein Blick wurde weich. »Allerdings nicht. Watson ist so was gewohnt. Du nicht.«

Als er sich abwandte, um wieder zur Unfallstelle zurückzugehen, rief Shelby unwillkürlich seinen Namen. Sofort drehte er sich um. Obwohl sie den Satz schon auf der Zunge hatte, wusste sie nicht, warum sie Eli unbedingt sagen wollte, was ihr durch den Kopf ging. »Ross wäre fast mal bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, sagte sie schließlich.

Eli blickte über die Schulter auf das Wrack und den Rauch. »Fast zählt nicht«, sagte er.


Ethan hatte heimlich das EMF-Messgerät aus dem Zimmer seines Onkels geholt und sich für seine Flucht für ein kurzärmeliges T-Shirt entschieden, das er sonst nur im Haus tragen durfte. Ein leises Klopfen an der Tür verriet ihm, dass Lucy fertig war. Sie schlüpfte in sein Zimmer, die Augen so groß und so ängstlich, dass Ethan lachen musste. »Wir sind doch noch nicht mal unterwegs. Cool bleiben.«

»Stimmt«, flüsterte Lucy atemlos. »Was wäre denn das Schlimmste, was passieren könnte?«

Für Lucy wäre das Schlimmste, dass sie Panik bekäme. Onkel Ross hatte gesagt, dass ein menschlicher Geist einem nichts tun konnte. Für Ethan wäre das Schlimmste, na ja, viel schlimmer. Er hatte Lucy erzählt, dass er von der Sonne krank wurde, aber er hatte ihr nicht erzählt, dass er davon sterben könnte. Aber Ethan hatte sich alles genau überlegt, und wenn er schon jung sterben musste, dann wenigstens so, wie er es wollte. Jedenfalls nicht auf irgendeiner Kinderstation mit blöden lilafarbenen Dinosauriern an den Fenstern, als könnten die ein Kind darüber hinwegtäuschen, wo es war.

Vielleicht konnte ja die Hoffnung, wenn sie groß genug war, das Schicksal in eine andere Bahn lenken – es war möglich, dass die Blutsbrüderschaft, die er und Lucy am Abend vorher geschlossen hatten, sie beide ein bisschen verändert hatte: Vielleicht war Lucy ein wenig tapferer und er ein wenig stärker geworden. »Okay«, sagte Ethan, steckte das EMF-Gerät ein und öffnete das Fenster. »Wir rutschen vorsichtig runter aufs Verandadach, und dann springen wir.« Er setzte einen Fuß auf die Fensterbank. »Ich gehe als Erster.«

»Moment noch.«

Ethan drehte sich um. »Lucy, wir haben doch lang und breit darüber geredet, schon vergessen? Du bist ein Angsthase, und ich hab diese bescheuerte Krankheit. Also? Bloß Versager finden sich damit ab.«

Sie nickte und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Wo wollen wir noch mal hin?«

»Zu der einzigen Stelle in ganz Comtosook, wo man einen Geist finden kann und sehen, wie die Sonne aufgeht«, antwortete er. »Vertrau mir.« Er streckte seine weiße Hand aus und wartete, bis Lucy ihre hineinlegte, ein Schwur. Dann kletterten sie durchs Fenster hinaus in die Dunkelheit, fest entschlossen, ihr Leben zu ändern.


Am Ufer von Lake Champlain dachte Az Thompson an den Tag zurück, als seine Tochter Lia mit einer Sozialarbeiterin hierhergekommen war und er ihr eine Sprache geschenkt hatte, in der sie reden konnte. Damals hatte er sich noch nicht getraut, ihr zu sagen, wer er war oder dass er sie kannte. Stattdessen hatte er ihr ein paar Worte Abenaki beigebracht, Worte, die sie in sich aufnehmen konnte, damit sie in ihr Wurzeln schlugen. Ein geheimer Garten für das Enkelkind, das sie in sich trug.

Worte, so flüchtig und unsichtbar sie auch waren, besaßen große Kraft. Sie konnten so stark sein wie eine Festungsmauer und so spitz wie ein Florett. Sie konnten beißen, schlagen, schockieren, verwunden. Aber anders als Taten konnten Worte dir nicht wirklich helfen. Kein Versprechen hatte je einen Menschen gerettet; erst wenn es gehalten wurde, brachte es Erlösung.

Wie passend, so dachte er, dass es nach allem, was passiert war, noch immer darauf ankam, was geschrieben und was gesagt worden war. Er betrachtete die Kiste mit Akten und Stammbaumkarten, die am Flussufer stand. Es war nicht schwer gewesen, in den Keller der Stadtverwaltung einzudringen und die letzten Zeugnisse des Vermonter Eugenikprojektes herauszuholen, die Ross Wake mans Schwester wieder dorthin zurückgebracht hatte.

Az wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Wörter ihrer Macht zu berauben: Sie mussten getilgt werden. War ein Wort erst mal in die Welt entlassen worden, konnte man es nicht mehr zurückrufen, aber man konnte es daran hindern, dass es erneut ein offenes Ohr fand. Er nahm das mitgebrachte Isolierband und die erste Akte von Spencer Pike, drückte sich die Akte an die Brust und wickelte das Klebeband einmal um den Körper.

Während er Akten und Papiere und Stammbaumkarten an seinem dünnen Körper befestigte, dachte Az an seine Tochter: daran, wie ihre Augen aufleuchteten, wenn sie ihn kommen sah, an die Bewegung ihrer Hände auf ihrem schwangeren Leib, daran, dass sie ihn immer an eine Orchidee erinnert hatte.

Seine Gedanken wanderten noch weiter zurück, zu dem Augenblick, als er seine wunderschöne Lily zum ersten Mal gesehen hatte, an dem Tag, als er bei ihrem Vater auf den Feldern angefangen hatte. Irgendwann war er am Haus vorbeigekommen und hatte sie mit ihrem silber glänzenden Haar und der weißen Haut auf der Veranda Walzer tanzen sehen. Sie hatte dabei eine Melodie gesummt, die Arme um einen imaginären Partner geschlungen. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand sie beobachtete, und schon das hatte Az den Atem geraubt. Sie braucht einen Partner, hatte Az gedacht, und so hatte es angefangen.

Er fragte sich, ob Meredith schon mit Winks über das Land gesprochen hatte. Er fragte sich, ob sie wohl nach Comtosook zurückkehren würde, wie sie gesagt hatte. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, verwechselte er sie mit Lia. Sie sahen sich ähnlich, ja, aber das war nicht alles. Er konnte nicht für seine Tochter sprechen, aber er glaubte, Lia wäre stolz gewesen.

Als er sich die letzte Akte am Körper befestigt hatte, ging Az ins Wasser. Selbst im August war es so kalt, dass seine Knöchel rasch gefühllos wurden. Er spürte, wie die Akten sich vollsogen. Das Papier war ein Schwamm, der ihn auf den schlammigen Grund des Sees drückte.

Az atmete noch einmal tief ein, bevor sein Kopf unterging. Er ging über den Seeboden, wirbelte Schnecken und Steine und vergessene Schätze auf. Er ließ die Luft aus seiner Lunge sprudeln und legte sich auf den Rücken, beschwert durch das Gewicht der Geschichte an seinem Körper, und dort wartete er auf den Morgen.


»Es tut mir so leid«, sagte Eli mindestens zum soundsovielten Mal zu Shelby, als er die Tür zu seinem Haus öffnete, in dem ein einsamer Watson sie begrüßte.

»Du kannst doch nichts dafür.«

Eli war bis nach ein Uhr mit dem Autounfall beschäftigt gewesen. Jetzt bekamen sie nicht mal mehr bei McDonald’s etwas zu essen. Eli warf die Schlüssel in eine Schale auf dem Küchentisch, in der drei überreife Bananen lagen. »Die reinste Katastrophe«, murmelte er und öffnete den Kühlschrank. »Ich kann dir nicht mal was zubereiten. Außer du magst Brot mit Senf.« Er inspizierte die Packung. »Berichtigung: Penicillin mit Senf.«

Plötzlich umarmte Shelby ihn von hinten. »Eli«, sagte sie. »Ich hab gar keinen so großen Hunger.«

»Nein?« Er richtete sich auf und drehte sich zu ihr um.

Sie lockerte seine Krawatte. Dann schlüpfte sie aus ihren Pumps. »Nein«, sagte sie. »Aber heiß ist mir.«

Wem sagst du das, dachte Eli, und dann drehte sie sich um und hob ihr langes Haar im Nacken an. »Machst du mir den Reißverschluss auf?«

Zentimeter für Zentimeter zog er den kleinen Metallgriff nach unten, und mit jeder sich öffnenden Verzahnung wurde er nervöser. Shelbys Haut war so unglaublich weiß und glatt. Noch ein Stückchen tiefer, und der Verschluss ihres schwarzen BHs kam zum Vorschein.

Er trat irritiert zurück. »Vielleicht, äh, ziehst du dir besser was Bequemeres über«, schlug er vor.

»Ich hab aber gar nichts dabei.« Shelby griff nach hinten, zog den Reißverschluss ganz auf und ließ das Kleid zu Boden gleiten, sodass sie plötzlich wie eine Fata Morgana aus Fleisch und Blut und Spitzenunterwäsche vor Eli stand. Mit einem Lächeln wandte sie sich ab und ging die Treppe hinauf, Watson folgte ihr.

Eli zog seinen Piepser und das Handy aus dem Gürtel und schaltete beide Geräte ab. Dann nahm er den Telefonhörer von der Gabel. Das war zwar alles gegen die Dienstvorschrift, aber eine Tragödie pro Nacht reichte. Und ehrlich gesagt, es war ihm ziemlich egal, ob die Welt unterging, solange er mit Shelby zusammen war, wenn es passierte.


Meredith hatte jede Zeitschrift in Shelbys Haus durchgeblättert, als sie merkte, dass irgendetwas nicht stimmte – nämlich dass sie dabei kein einziges Mal von ihrer Tochter gestört worden war. Von Ethan hatte sie auch keinen Ton gehört.

Meredith legte das Heft beiseite und rief die beiden. Keine Antwort, aber sie waren ja auch mit einem Computerspiel beschäftigt gewesen und hatten die Tür geschlossen. Meredith lief die Treppe hinauf und rüttelte an der verschlossenen Tür. »Ethan?«, rief sie. »Was macht ihr beiden denn da drin?«

Als noch immer keine Antwort kam, wurde sie unruhig. Sie holte sich einen Kleiderbügel aus Draht und stocherte damit in dem Schloss herum, bis die Tür aufsprang.

Das Fenster war offen.

Meredith raste die Treppe hinunter zum Telefon.


Als Ross in die Küche kam, knallte Meredith gerade den Telefonhörer auf die Gabel und drehte sich um, mit Tränen im Gesicht. »Das Restaurant hat geschlossen, und Eli hat den Piepser und das Handy ausgeschaltet, und die Polizei will mir seine Privatnummer nicht geben und …«

Die düstere Stimmung, die ihn befallen hatte, war schlagartig verflogen. »Was ist denn los?«

»Die Kinder«, schluchzte Meredith, »sind verschwunden.«

»Seit wann?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe es eben erst bemerkt.«

»Und Shelby und Eli sind nicht erreichbar?« Sie schüttelte den Kopf. »Okay. Ich fahr die Kinder suchen.«

»Wo denn? Wir wissen doch nicht, wo sie sind.«

»Doch, ich schon. Bleib hier, falls sie anrufen oder Shelby nach Hause kommt.« Aber als er zur Tür ging, wusste er, dass Meredith nur einen Schritt hinter ihm war.


Wer hätte gedacht, dass es so viele verschiedene Schwarztöne gab? Der mondlose Himmel war genau wie eine Bettdecke über dem Kopf, und der Steinbruch, ein tiefer Kreis aus Nichts direkt vor Lucys Schuhspitzen, war nur ein bisschen dunkler als die Nacht. Ein Schritt, ein Fehler, und sie würden abstürzen. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um Ethan zu sehen, der auf einmal das Absperrungsgeländer losließ und vor ihren Augen verschwand.

Ihr Atem wurde fest, wie ein Klotz in der Kehle. Sie hätte geschrien, aber was würde Ethan von ihr denken? Dann tauchte sein Kopf dicht neben ihren Füßen wieder auf. »Wartest du auf eine schriftliche Einladung?«, fragte er, und sie merkte, dass er auf einer Leiter stand, die hinunter in den Steinbruch führte.

Ethan hatte gesagt, da unten wäre ein Geist, ein Steinbruchaufseher, der von irgendeinem Verrückten getötet worden war. Er meinte, sie würden den Geist auf jeden Fall zu Gesicht bekommen. Er hatte gesagt, dass sie sich vielleicht vor einem Wachmann verstecken müssten, aber wie es aussah, waren sie beide die Einzigen weit und breit. Vielleicht war das ja Glück, vielleicht bedeutete es, dass es nicht schlimm war, hier zu sein. Also stieg Lucy die Leiter nach unten. Riesige Steinsäulen ragten um sie herum auf, schienen sich zu bewegen. Die Sohlen ihrer Turnschuhe rutschten auf einer Granitplatte ab, und sie landete auf einem Geröllhaufen. »Alles klar?«, rief Ethan. Es war so dunkel, dass sie ihn kaum sehen konnte.

Plötzlich begriff sie, dass Ethan immerzu so lebte.

Sie krochen zwischen Felsspalten hindurch, die so schmal waren, dass Lucy die Luft anhalten musste, an steilen Wänden hoch und unter schrägen Pfeilern her und über riesige, zerklüftete Blöcke hinweg. Sie balancierten über Steinnadeln, die kreuz und quer lagen, als hätte ein Riese Mikado gespielt. Hin und wieder traten sie einen lockeren Granitbrocken los, der in einer Staubwolke nach unten polterte. »Alles in Ordnung?«, sagte dann Ethans Stimme aus dem Dunkel, und sie gingen weiter.

Lucys Hände und Knie waren schon ganz zerschrammt, und sie hatte sich irgendwo einen tiefen Schnitt zugezogen, den sie lieber gar nicht erst sehen wollte. Sie stieß gegen Ethans Rücken und erkannte, dass sie die andere Seite des Steinbruchs erreicht hatten, gegenüber der Leiter. »Hier bleiben wir«, sagte Ethan und zeigte auf zwei Granitplatten, die im spitzen Winkel aneinanderlehnten und einen Sims bildeten.

Er kletterte als Erster hinauf. Dann streckte er die Hand nach unten, um Lucy hochzuziehen, aber ihre staubigen Finger rutschten voneinander ab, und mit einem kurzen Aufschrei fiel Lucy auf ein Geröllbett. »Lucy, alles in Ordnung?«, rief Ethan.

Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie zwang sich aufzustehen. »Ja«, sagte Lucy und kletterte ganz vorsichtig nach oben, schob die Füße fest in die Risse im Granit, ehe sie mit der Hand nach dem nächsten Halt tastete. Oben angekommen, ließ sie sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen, während Ethan seine Geisterjägerausrüstung aufbaute. Als sie wieder zu Atem gekommen war, setzte sie sich auf und schaltete eine Taschenlampe an, ließ den Strahl über die Strecke gleiten, die sie hinter sich gebracht hatten. Lucys Augen wurden groß, als sie die Steintürme und zerklüfteten Kanten sah, die ungeheure Entfernung. Die Leiter, die sie hinabgeklettert waren, war so weit weg, dass sie kaum zu erkennen war.

Lucy hatte schon jetzt mehr Mut bewiesen, als sie für möglich gehalten hätte.

»Und nun?«, fragte Lucy.

»Nichts. Jetzt können wir nur noch warten.« Sie setzten sich fröstelnd Schulter an Schulter. »Weißt du, was ein Stern ist?«, fragte Ethan kurz darauf, und Lucy schüttelte den Kopf. »Eine Explosion, die lange her ist, Hunderte von Jahren, die wir aber jetzt erst sehen.«

»Wieso?«

»Weil das Licht so lange braucht, bis es hier ankommt.«

Vielleicht war es bei Geistern so ähnlich, dachte Lucy. Vielleicht bewegte sich Traurigkeit nicht so schnell wie das wirkliche Leben, und deshalb tauchten sie Jahre nach ihrem Tod auf. Sie blinzelte zu dem trüben Himmel hinauf, hielt Ausschau nach einem einzigen Stern. Die Explosion war bestimmt laut und grell und schrecklich gewesen. Aber das, was sie jetzt sah, war einfach schön.

Vielleicht sah ja alles aus der Entfernung besser aus.

Noch ehe dieses Radiodings, das Ethan in der Hand hielt, anfing zu piepsen, wusste Lucy, was kam. Sie spürte das Gewicht der Luft auf der Haut, in dem hohlen Hall, der in ihre Ohren drang. Die Härchen auf ihren Armen sträubten sich, und ihr Magen schien sich um sich selbst zu drehen. »Bild ich mir das ein«, wisperte Ethan, »oder ist es gerade fünfzig Grad kälter geworden?«

Das kleine Radio lärmte jetzt ungeheuerlich. »Lucy«, flüsterte Ethan. »Steh auf.«

Sie tat es. Sie ging bis ganz dicht an den Rand von ihrem Sims, und im Kopf dachte sie, so fest sie konnte: Du kannst mir keine Angst einjagen.

Ethan hatte ihr gesagt, dass Geister sich nicht ohne Energie materialisieren konnten. Angst war eine Art Energie, und man konnte sie klein zusammenknüllen wie eine Kugel. Deshalb beschwor Lucy jetzt das ganze Grauen herauf, das sie in die Falten ihres Bettlakens und hinter die Wand aus Kleidern in ihrem Schrank gesteckt hatte. Sie dachte an all die Asthmaanfälle, die sie gehabt hatte, wenn ein Geist ihr direkt gegenüberstand. Sie presste die Augen fest zu und konzentrierte sich, und einen Moment später, als sie vorsichtig blinzelte, sah sie einen Mann auf sich zukommen.

Es war ein Mann, und es war kein Mann. Er war durchsichtig, wie die Frau, die in Lucys Zimmer kam, und Lucy konnte die scharfen Felskanten durch seine Schultern und sein Rückgrat hindurch sehen. Außerdem war er seltsam gekleidet: ein gestreiftes Hemd, das aussah wie eine alte Matratze, eine Hose, die keine Gürtelschlaufen hatte, und eine Weste mit einer glänzenden goldenen Taschenuhr. Er hatte einen Schnurrbart, der an den Spitzen nach oben gezwirbelt war, wie bei einem Gewichtheber im Zirkus, und das Haar klebte ihm am Kopf. An die Arbeit, sagte er mitten in ihrem Kopf.

Lucy spürte, wie ihr die Knie schlotterten. Hau ab, erwiderte sie ihm in Gedanken.

Und zu ihrer großen Verblüffung tat der Geist wie geheißen. Er machte zwei Schritte nach vorn, ging direkt durch sie durch, sodass ihre Knochen und Adern eiskalt wurden und sie einen kurzen Augenblick lang genauso reglos war wie die Felsen um sie herum, und dann verschwand er.

Lucy lächelte. Sie sah sich um, aber sonst spukte niemand in diesem Steinbruch herum. Und tatsächlich, das Druckgefühl in ihrer Magengrube war weg. Sie schlüpfte wieder in ihre kleine Höhle zu Ethan, der das EMF-Messgerät gegen die Granitplatte schlug. »Mann«, sagte er, »das Teil funktioniert einfach nicht.«

Lucy starrte ihn an. »Hast du denn nichts gesehen?«

»Nee. Falscher Alarm.« Er blickte auf. »Wieso? Du denn?«

»Und ob«, sagte Lucy.


Elis Körper war lang und sehnig und muskulös, seine Berührung so zart wie die Versprechen, die er ihr ins Ohr raunte. Shelby ließ sich von ihm durch den Augenblick hindurchführen, unsicher, ob sie überhaupt noch wusste, wie es ging, doch als ihre Gliedmaßen ineinander verschlungen waren, hatte sie längst vergessen, je Zweifel gehabt zu haben.

Er küsste ihre Fußknöchel, glitt über Waden und Knie und Oberschenkel nach oben, bis sie es kaum noch erwarten konnte, dass er ganz zu ihr kam. Als er es tat, als sich sein Mund auf sie senkte, reckte sie sich ihm entgegen und schloss die Augen, sah Landschaften aus Gold, leuchtende Smaragde, Schauer von Rubinen. Sie brannten heißer, kleiner, wurden zu Quasaren und Novas und füllten ein Universum. Eli bewegte sich, als hätte er alle Zeit der Welt. Dann, gerade als sie sich nicht länger zurückhalten konnte, war er plötzlich über ihr, zwang sie, ihn anzusehen, damit sie genau erkannte, welche Richtung ihr Leben nahm. »Wo warst du so lange?«, murmelte Eli und füllte sie aus.

Ihre Körper wiegten sich um einen Fixpunkt, ihr Rhythmus erzählte eine Geschichte. Und in dem Augenblick, als sie beide losließen, vergaß Shelby jedes Wort, das sie je gelernt hatte, bis auf eines: Wir.

Als Eli in ihren Armen eingeschlafen war, schob Shelby sich unter ihm hervor und schmiegte sich an ihn. Sie versuchte, sich die Muster seiner Sommersprossen und die Linie seines Scheitels einzuprägen. Sie roch ihren eigenen Duft auf seiner Haut.

Etwas drückte unangenehm gegen ihren Oberschenkel, und sie rutschte ein Stück zur Seite, suchte eine bequemere Position. Aber was immer es war, es bewegte sich mit ihr, und als Shelby die Hand zwischen Eli und sich schob, ertastete sie einen kleinen, scharfkantigen Gegenstand. Sie hielt ihn in den rosafarbenen Streifen Tageslicht, der schräg auf die Bettdecke fiel, und runzelte die Stirn. Diese ungewöhnliche Fassung, die Kombination von Steinen, kam ihr sehr bekannt vor.

»Hallo.« Eli griff nach ihr.

»Hallo«, sagte Shelby, den Mund auf seinen Lippen, und vergaß alles andere. Sie ließ den Diamantring fallen, den Ross vor vielen Jahren Aimee geschenkt hatte und der vor Monaten bei ihr zu Hause verschwunden war.


Es war das Schönste, das Ethan je gesehen hatte – die zarten Rosatöne und sanften Orangefarben, die Morgenröte, die die Sterne erblassen ließ, die Linie, an der die Nacht zum Tag wurde. Ethan hätte sich gewünscht, dass die Dämmerung noch einmal anbrach, jetzt sofort, obwohl das bedeutet hätte, dass er noch einen Tag älter und seinem Tod näher wäre.

Lucy hatte noch geschlafen, als Ethan auf den Sims gekrochen war. Er saß im Schneidersitz, die Arme vor sich ausgestreckt, und mit jedem Grad, den die Sonne am Himmel höher stieg, entstand eine weitere Blase auf seiner Haut.

Aber, Gott, das war es wert. Die Ankunft des Morgens zu erleben, ohne eine Glasscheibe vor den Augen. Den Sonnenaufgang zu spüren, anstatt ihn bloß zu sehen.

Sein linker Arm war jetzt krebsrot und juckte wie verrückt. Hinter ihm kam Lucy gähnend auf den Felsen. Dann sah sie seine Arme. »Ethan!«

»Ist nicht so schlimm.« Aber es war schlimm. Das war unübersehbar. Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Glitzerndes auf dem Grund des Steinbruchs. Vielleicht ein silberner Knopf – oder eine Schnalle. Es war eine Baseballmütze, und als Ethan sich über den Rand des Granitsimses beugte, konnte er den Schriftzug darauf erkennen. »Das ist ja komisch«, sagte er. Doch ehe er Lucy die Mütze zeigen konnte, die vermutlich seinem Onkel gehörte, explodierte sie vor seinen Augen.


Wie an jedem Morgen, wenn im Angel-Steinbruch gesprengt wurde, lösten die Computer die ersten Explosionen aus und ließen dann dem Gestein etwas Zeit, wieder zur Ruhe zu kommen, bevor die nächste Ladung zur Detonation gebracht wurde. Gewaltige Brocken flogen durch die Luft, und feine Partikel stiegen in einer Pilzwolke auf. Gesteinsstaub bedeckte das Dach von Ross’ Wagen. Kurz nach der ersten Sprengung krachte die zweite los. Ein spitzer Stein durchschlug die Windschutzscheibe. »Oh Gott«, schrie Meredith, und während der Wagen noch rollte, stieß sie die Beifahrertür auf, sprang nach draußen und rannte auf den Steinbruch zu, in dem vielleicht ihre Tochter war.

Große Granitplatten kippten wie Dominosteine, stürzten Steinpfeiler von ihren Podesten und wirbelten eine so dichte Wolke aus silbrigem Sand und Steinsplittern in die Luft, dass Meredith vorübergehend kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Ross kam angerannt. »Ich kann Az nirgends entdecken«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich die Sprengung stoppen soll.«

Meredith krallte die Finger in den Maschendrahtzaun. »Lucy!«, schrie sie. »Lucy!«

Die einzige Antwort war eine erneute Serie von Explosionen. Das Getöse des berstenden Gesteins war noch lauter als der Krach der Detonationen.

Jemand anderes hätte es vielleicht nicht gehört – das kurze Keuchen, auf das ein Schluchzen folgte –, doch Meredith entging das Geräusch nicht. »Lucy«, flüsterte sie und strengte die Augen an, um irgendeinen Beweis dafür zu entdecken, dass ihre Ohren sie nicht getäuscht hatten. Sie fand ihn, auf einem Steinsims kauernd – ein schmaler Farbfleck, der in dem Staubschleier aufblitzte, ein rostroter Streifen von Lucys T-Shirt, der nicht von grauem Puder bedeckt war. Meredith sprang an dem Zaun hoch und kletterte los.

»Meredith!«

Sie hörte Ross’ Stimme, der ihr über den Zaun folgte. Es war durchaus denkbar, dass die Sprengungen jeden Augenblick weitergingen, aber Meredith war das egal. Sie hatte Ethan und Lucy tief unten im Steinbruch erspäht, und stieg jetzt eine Leiter hinab, deren Sprossen an der Steinwand befestigt waren.

Unten angekommen, zögerte sie kurz, eingeschüchtert durch steinerne Obelisken, die sechsmal größer waren als sie, doch dann erkletterte sie den ersten und sah sich nach dem kürzesten Weg zu ihrer Tochter um. An dem rauen Fels kratzte sie sich die Hände blutig. Sie rutschte ab, knickte mit einem Fuß um und schrie auf. Im selben Augenblick entdeckte Lucy sie. »Mommy!«, hörte sie und Weinen, und sie quälte sich fünfzehn Meter weiter.

Ein Signalhorn ertönte, dreimal hintereinander. »Deckung«, rief Meredith, so laut sie konnte, winkte ihnen zu, sich in die Höhle zu verkriechen, die sie gefunden hatten. Sie legte sich die Arme über den Kopf, als könnte sie sich dadurch schützen, und fast im selben Moment explodierten die Sprengladungen auf der anderen Seite des Steinbruchs. Die Detonation war zwar weit entfernt, doch die Erschütterung ließ den Boden unter Merediths Füßen erbeben. Sie spürte, wie der Stein unter ihr nachgab, ihre blutnassen Finger suchten vergeblich nach Halt, und dann fiel sie und landete auf dem verletzten Fuß. Das Bein zerknickte unter dem Gewicht der Granitplatte und wurde eingeklemmt.


Ross sah die Explosionen wie in Zeitlupe. Er hörte das Tosen des Gerölls, das ihm mit seinem rasenden Puls in den Ohren hallte. Er konnte die Zeit nicht beschleunigen, er konnte seine Arme und Beine nicht dazu bringen, sich schneller zu bewegen. Die ganze Welt um ihn herum wurde zersprengt. Doch selbst in diesem Chaos übertönte Ethans Hilfeschrei alles Krachen.

Ross blendete jeden Gedanken daran aus, dass es praktisch unmöglich war, heil auf die andere Seite des Steinbruchs zu gelangen. Er wusste nur, dass er nicht noch einmal einen Menschen sterben lassen würde, den er liebte. Dass er der Einzige war, der Ethan retten konnte. Dass er keine Wahl hatte.

Dass die Geschichte sich nicht wiederholen würde.

Als er Meredith erreichte, waren seine Schienbeine vom Granit zerschnitten. Blut rann ihm von der Schläfe, wo ein Splitter ihn getroffen hatte. Meredith lag eingeklemmt unter einer Felsplatte, so groß wie ein erwachsener Mann. »Die Kinder«, keuchte sie, und er nickte ihr zu.

Er rammte einen Schuh in den Spalt zwischen zwei Steinen, streckte die Arme aus und zog sich weiter. Wieder und wieder. Manchmal bewegten sich Felsen unter ihm, oder seine Hände rutschten ab. Doch Ross gab nicht auf. Er hielt die Augen auf Ethan und Lucy gerichtet, die auf dem Sims hinter einer Staubwand standen und auf ihn warteten.

Die beiden aneinandergelehnten Felsen, unter denen Lucy und Ethan Schutz gesucht hatten, brachen plötzlich zusammen. Lucy sprang kreischend an den äußeren Rand des Simses. »Schnell!«, rief sie. »Bitte!«

Nach tausend Jahren oder vielleicht auch nur nach einem Herzschlag erreichte Ross den Geröllhügel. Er suchte festen Halt und kletterte hoch. Eine Hand vor die andere. Ein Fuß vor den anderen. Als er den Kopf hob, konnte er die Spitzen von Ethans schwarzen Turnschuhen sehen.

Eine Detonation krachte hinter ihm, und dann stürzte Ross auch schon – zusammen mit der Wand, an der er hochklettern wollte. Instinktiv rollte er sich nach links und hob die Arme über den Kopf, während es dicke Gesteinsbrocken regnete. Lucy weinte jetzt lauter, und er hörte Ethan und Meredith seinen Namen rufen. Er stand auf und blickte sich um.

Der Sims, auf dem Ethan und Lucy gestanden hatten, war noch da. Aber zwischen dem Sims und dem Felsen, auf dem Ross sich befand, klaffte jetzt ein Abgrund. Quer durch den gesamten Steinbruch verlief ein anderthalb Meter breiter und fast fünf Meter tiefer Graben, der die Kinder auf einer steinernen Insel gefangen hielt.

Ross schaute nach rechts und links, dann hinunter in diese neue Grube. Die Granitwände fielen senkrecht ab. Um zu den Kindern zu gelangen, müsste er an dem Spalt entlang bis zum Südende des Steinbruchs, dort zur Sicherheitsabsperrung hoch und dann auf der anderen Seite des Grabens wieder herunter. »He, ihr beiden«, rief Ross den Kindern zu. »Ihr müsst springen.«


Meredith hatte alles beobachtet – Ross’ Weg durch den bebenden Steinbuch und dass er schon fast bei Lucy und Ethan war, als der Berg unter seinen Füßen nachgab. Als er aus ihrem Gesichtsfeld verschwand, wollte sie sich drehen, um weiter nach ihm Ausschau halten zu können. Dabei jagte ihr ein so heftiger Schmerz durch das Bein, dass sie fast das Bewusstsein verloren hätte. Noch während sie dagegen ankämpfte, sah sie plötzlich, wie sich der Spalt auftat, der den Boden des Steinbruchs in zwei Hälften teilte, mit den Kindern auf der anderen Seite.

Ross würde es niemals bis zum Rand des Steinbruchs und von dort bis zu den Kindern schaffen, nicht vor der nächsten Explosion. Er hatte recht – die einzige Rettung für Lucy und Ethan war ein Sprung über den Spalt. Ethan würde tun, was sein Onkel ihm sagte. Aber Lucy – nein, Lucy würde nicht springen. Dazu war sie einfach nicht mutig genug.

Meredith traten Tränen in die Augen. »Lucy«, schrie sie, »spring!«

Sie würden hier sterben, sie und Lucy, unter Schutt begraben. Sie flehte innerlich um Mut und Furchtlosigkeit für ihre Tochter. Und als sie ihren ganzen Willen darauf konzentrierte, sah sie, wie Lucy Anlauf nahm und loslief und hoch in die Luft sprang.


Sie landete mit Schwung in Ross’ Armen und riss sie beide zu Boden. Und jetzt, da sie in Sicherheit war, konnte sie ihn einfach nicht mehr loslassen. Erleichtert, verwundert – er hatte nicht damit gerechnet, dass sie springen würde, noch dazu vor Ethan –, küsste Ross sie auf die Stirn. »Ich hab dich«, flüsterte er in ihr Haar, während sie an seiner Schulter schluchzte. »Alles in Ordnung.« Er schob die Kleine von sich weg. »Jetzt muss ich Ethan auffangen, okay?«

»Okay«, schniefte Lucy. Noch immer zitternd, schlang sie die Arme um die Knie und zog den Kopf ein.

Ross stand wieder auf. »Ethan, ich lass dich nicht fallen.« Er sah, wie sein Neffe nickte, loslief und sprang.


Ethan war Superman, und er flog, und nichts – nichts – konnte ihn davon abhalten, die Welt zu retten oder wenigstens sich selbst. Er hatte die Augen geschlossen, um nicht die zackigen Felsen auf dem Grund des Grabens sehen zu müssen oder wie weit es bis zu Onkel Ross war. Er streckte die Fingerspitzen so weit nach vorn wie möglich und sang lautlos: Ich bin ein Vogel, ich bin ein Flugzeug, ich bin schon da.

Als seine Finger gegen etwas Festes stießen, riss er die Augen auf und sah, wie er in die offenen Arme seines Onkels flog. Er klammerte sich fest, und erst dann kamen die Tränen, so unvermittelt und haltlos, dass er nicht einmal mehr sprechen konnte. Seine Füße glitten an Ross’ Beinen hinunter und fanden festen Boden.

Der im selben Augenblick unter ihnen wegbrach.


Ross spürte, wie sie abrutschten, mit einer Gerölllawine in den tiefen Spalt hineinglitten, und er drehte seinen Körper im Fallen so, dass er die Wucht des Sturzes abfangen konnte. Ethan landete schmerzhaft auf ihm, und Steine bohrten sich ihm in Beine und Rücken. »Steh auf«, sagte Ross und schob seinen Neffen auf die Beine. »Geht’s?«

Ethan fand keine Worte, aber er nickte. Ross schaute nach oben. »Lucy!«, schrie er. »Wo bist du?«

Ein kleines, weißes Gesicht tauchte an der Felskante über ihnen auf. Tränen zogen Streifen durch den Staub auf ihren Wangen. Ross betrachtete die steilen Wände – es gab einige Stellen, wo er Halt finden konnte, um wieder nach oben zu klettern, aber niemals mit Ethan auf dem Rücken. Und Lucy war nicht stark genug, um sie hochzuziehen.

»Ethan, du musst mir helfen«, sagte Ross. »Du steigst auf meine Schultern und kletterst dann allein nach oben. Lucy!«, rief er. »Wenn Ethan nah genug ist, packst du seine Hand, okay?«

Es kam keine Antwort. Ross konnte Lucy auch nicht mehr sehen. Aber wenn sie warteten, ging vielleicht bald die nächste Sprengladung hoch, und dann würden sie hier nicht mehr herauskommen. »Los jetzt«, sagte er zu Ethan und ging in die Hocke, damit der Junge ihm auf die Schultern klettern konnte. »Wenn du oben ankommst, hilft Lucy dir bestimmt.«


Lucy zitterte so heftig, dass sie keine Luft mehr bekam. Sie hatte gesehen, wie die Welt in sich zusammenfiel – der Morgen grau wurde, der feste Boden verschwand, ihre Mutter gefangen. Ross und Ethan saßen unten in dem Graben fest, und sie war hier oben, und nichts war so, wie es sein sollte. Lucy wollte einfach die Augen zumachen.

»Lucy!« Das war Ross’ Stimme. Er wollte, dass sie Ethan nach oben half. Aber dazu müsste sie wieder ganz nah an den Abgrund, wo der Rand doch eben eingebrochen war. Und Lucy konnte sich einfach nicht dazu überwinden.

»He!« Ethans Hand tauchte über der Kante auf. »He, Lucy, wo bist du? Onkel Ross, sie kommt nicht!«

»Lucy!«

Lucy hielt sich die Ohren zu. Sie würden alle weggehen, das alles hier würde weggehen, einfach weggehen. Und dann drang ein Gedanke zu ihr durch, zart wie ein Sonnenstrahl: Auch wenn man Angst hatte, konnte man tun, was getan werden musste.

Sie kroch auf den Rand der Spalte zu, schluckte trocken, spähte über die Kante und sah Ethan, nur ein kleines Stück unterhalb von ihr, der wie eine Spinne an der Wand klebte.

Lucy legte sich auf den Bauch und presste die Wange auf den Boden. Dann streckte sie die rechte Hand aus. Sie spürte seine Finger, und dann umschloss er ihre Hand, hielt sich an ihr fest.

Weil sie sein Gewicht nicht hochziehen konnte, machte sie sich selbst zum Anker. Er zog sich an ihrem Arm hoch, Stückchen für Stückchen, packte ihre Schulter und hievte sich dann über den Rand.

Sie starrten einander keuchend an, atmeten die Atemluft des anderen. »Lucy«, sagte Ethan, und seine Stimme klang so heiser, dass man sich schon fast den Mann vorstellen konnte, der er vielleicht niemals werden würde.

Sie brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. »Wieso hast du denn so lange gebraucht?«, flüsterte sie.


Ross trug Lucy auf dem Rücken und dirigierte Ethan Schritt für Schritt durch die Gesteinstrümmer zur Leiter auf der anderen Seite. Mehrmals musste er die Richtung wechseln, weil eine weitere ferne Explosion die felsige Landschaft vor ihnen veränderte. Nicht ein einziges Mal kam ihm der Gedanke, dass sie es nicht schaffen würden.

Als sie die rostige Leiter erreichten, stellte er Lucy auf die untere Sprosse und sagte, sie solle nach oben klettern. Ethan folgte ihr. »Verständige die Polizei«, sagte Ross zu ihm. »Und wenn du dafür ins Büro einbrechen musst.«

Ethan nickte. »Kommst du nicht mit?«

Ross sah über die Schulter. »Noch nicht«, sagte er und drückte Ethans Wade. »Los jetzt.«

Dann ging er den Weg zurück, den er gekommen war, suchte verzweifelt nach der großen Steinplatte, unter der Meredith eingeklemmt war. Aber inzwischen lagen überall viele andere Granitplatten im Steinbruch, und er wusste nicht mehr genau, wo er Meredith gesehen hatte. Er suchte sich einen erhöhten Punkt, und plötzlich entdeckte er Meredith’ Arm.

»Meredith!« rief er, und sie kam zu sich.

»Lucy?«

»Alles in Ordnung. Sie ist raus.«

Sie konnte es nicht sehen, aber ihr Bein war grotesk verdreht. Die große Platte, die ihren Oberschenkel einklemmte, war doppelt so breit wie Ross und so dick wie sein Arm. Er konnte sie unmöglich anheben. »Hol Hilfe, Ross«, sagte Meredith unter Tränen.

»Ich bin hier, um dir zu helfen.« Er sah sich vergeblich nach irgendetwas um, womit er die Platte bewegen könnte. »Ich versuch jetzt, das Ding anzuheben.«

Sie zitterte, eine Mischung aus Schmerz und Todesangst. »Mach, dass du hier rauskommst.«

Ross schob sich unter die Platte und versuchte sie hochzustemmen, aber sie rührte sich nicht. In der Ferne kündigte ein gellendes Signal eine weitere Serie von Sprengungen an. Ross hielt hektisch Ausschau nach Dynamitstangen oder Sprengkapseln, dann fiel sein Blick auf Meredith, und plötzlich stand die Wahrheit deutlich zwischen ihnen: Er konnte ihr nicht helfen.

Er beugte sich vor und strich ihr die Haare aus der Stirn. »Schhh«, flüsterte er, und irgendwo links von ihnen ging eine Sprengladung los.

»Ross, geh. Bitte.« Sie weinte jetzt heftiger. »Ich muss wissen, dass du hier rausgekommen bist.«

Er zwang sich zu einem schiefen Grinsen. »Wie oft muss ich dir denn noch sagen, dass ich unsterblich bin?«

Sie griff nach seiner Hand, und Ross ging neben Meredith’ Kopf auf die Knie. Im selben Moment sahen sie beide den roten Stab, etwa einen Meter von ihnen entfernt.

Ross sprang auf, packte die Dynamitstange und rannte los. Er lief über gezacktes Granitgestein, über geborstene Felsen, tief in den Steinbruch hinein. Nichts zählte mehr, außer möglichst weit von Meredith wegzukommen, ehe die Computer das Dynamit zündeten.

Die Ladung zerbarst in seiner Hand. In dem Sekundenbruchteil, bevor er sie losließ, bevor eine Explosion heißer als tausend Sonnen die Stelle ausradierte, auf der er stand, erlebte Ross einen Augenblick, in dem alles kristallklar war. Er hatte Meredith gerettet, er hatte alle gerettet. Vielleicht reichte das ja sogar als Entschädigung für den Rest seines Lebens.

Die Wucht der Detonation riss ihn von den Beinen, und sein Kopf schlug mit voller Wucht auf einen gezackten Stein auf. Und als er gerade dachte, dass er endlich etwas gefunden hatte, wofür es sich zu leben lohnte, musste Ross erkennen, dass er doch nicht unbesiegbar war.


Als Eli und Shelby eintrafen, waren die ersten Rettungswagen bereits wieder abgefahren. Im Steinbruch wimmelte es von Polizisten, die aus Nachbargemeinden angefordert worden waren, um das ganze Gelände abzusperren. Ein anderer Detective sprach gerade mit den Besitzern des Angel-Steinbruchs, die herbeigeeilt waren, natürlich in Begleitung ihres Anwalts. Keiner wusste, wo Az Thompson, der Nachtwächter, war. Seine Abwesenheit machte es leicht, ihn zum Sündenbock abzustempeln.

Eli hastete zu den Sanitätern hinüber. »Die Kinder. Wo sind die Kinder?«

»Denen ist nichts passiert. Ein paar Schürfwunden und Prellungen. Sie sind auf dem Weg ins Krankenhaus.«

Er spürte, wie Shelby neben ihm in sich zusammensank, und er legte stützend den Arm um sie.

»Können wir hinfahren?«, fragte Shelby. »Sofort? Zum Krankenhaus?«

Doch bevor er antworten konnte, erregte etwas an der Absperrung seine Aufmerksamkeit. Drei Rettungshelfer hoben behutsam eine Trage über den Rand. Auf ihr festgeschnallt lag, ramponiert und blutverschmiert, Meredith.

»Um Gottes willen«, hauchte Shelby, während sie mit ansah, wie die ohnmächtige Meredith in einen Rettungswagen geschoben wurde. Und erst jetzt registrierte sie Ross’ Auto. Shelby hielt einen Sanitäter an der Jacke fest. »Wo ist mein Bruder. Wo ist mein Bruder?« Der Mann antwortete nicht, aber sie hielt ihn weiter fest. »Ross Wakeman«, sagte sie. »Er muss hier irgendwo sein.«

Stille breitete sich aus. Niemand wollte ihr antworten, und das war Antwort genug. »Nein«, schrie Shelby und sank auf die Knie. »Nein!«

Eli legte die Arme um sie. »Er ist im Krankenhaus«, sagte er mit Nachdruck. Dann sah er einen Sanitäter an. »Hab ich recht?«

»Ja, stimmt, er ist im Krankenhaus.«

»Siehst du?« Eli half Shelby hoch und führte sie zu seinem Wagen. »Wir fahren jetzt zu Ethan. Und zu Ross.«

»Okay.« Shelby nickte unter Tränen. »Okay.«

Eli machte die Tür zu. Als er auf die Fahrerseite ging, berührte der Sanitäter ihn an der Schulter. »Äh, Detective. Was den Mann betrifft … «

»Er ist im Krankenhaus«, wiederholte Eli.

»Ja, aber das war nur noch eine reine Formsache«, sagte der Sanitäter. »Er war schon tot, als wir ihn fanden.«


Ross fuhr, und Aimee saß auf dem Beifahrersitz. »Dänemark«, sagte er.

Sie überlegte einen Moment. »Kirgisistan.«

Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden, als hätte er sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, obwohl er wusste, dass das unmöglich der Fall sein konnte … sie waren nie länger als zweiundsiebzig Stunden voneinander getrennt, und das auch nur, wenn Aimee Nachtdienst im Krankenhaus hatte. Immer wieder schielte Ross hinüber, um die Kontur ihrer Wangenpartie zu betrachten, ihre Augen, die Stelle, wo der lange Zopf auf ihren Rücken fiel. »New York«, murmelte er.

Aimee verdrehte die Augen. »Ach, komm schon, Ross, schon wieder ein K?«

»Du hast fünfzehn Jahre Ausbildung hinter dir, da müsste so ein bisschen Geografie doch ein Kinderspiel sein.«

»Na schön, Kalamazoo.«

Er lächelte und blickte auf die Straße. Sie fuhren schnell, und draußen goss es in Strömen, trotzdem hätte er schwören können, dass er die Frau erkannt hatte, die da am Straßenrand entlangging – es war seine alte Kindergärtnerin. Sie trug einen gelben Kittel, an den Ross sich noch erinnern konnte. Er blickte in den Rückspiegel, aber sie war verschwunden. »Oshkosh«, erwiderte Ross.

Aimee hatte die Schuhe ausgezogen – wie immer bei längeren Autofahrten. »Himmel.«

»Der Himmel ist weder Land noch Stadt.«

»Aber ein Ort«, widersprach Aimee.

Ross zog die Stirn kraus. »Und da bist du dir ganz sicher.« Er blickte in den Seitenspiegel und wäre fast ins Schleudern gekommen, denn hinter ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite war seine Mutter. Sie trug einen Pullover mit kleinen Perlen um den Halsausschnitt. Er erinnerte sich, dass er als Kind auf ihrem Schoß die Perlen zwischen den Fingern gedreht hatte. Sie lächelte ihm zu und winkte.

Seine Mutter war seit 1996 tot. Seine Kindergärtnerin noch viel länger. Und Kirgisistan gehörte noch zur UdSSR, als Aimee starb.

Der Himmel ist kein Ort.

Die Straße machte eine Biegung, und plötzlich kam ihnen ein Sattelschlepper entgegen, auf ihrer Fahrspur. »Ross!«, schrie Aimee, und er riss das Lenkrad nach links, auf die Gegenspur. Zu spät bemerkte er den Kleinwagen, der durch den massigen Sattelschlepper verdeckt gewesen war und jetzt auf sie zuraste.

Reifen quietschten entsetzlich auf nasser Straße, und dann kam der jähe, wuchtige Aufprall von Blech auf Blech. Ross fand sich ausgestreckt neben dem umgestürzten Wagen wieder. Er riss die Beifahrertür auf, griff ins Wageninnere und löste Aimees Sicherheitsgurt.

Sie war an der Schulter verletzt, und Blut durchtränkte ihre Bluse, doch ihr Gesicht, es war herzförmig, unversehrt und wunderschön. Der dicke Mozartzopf hatte sich gelöst, und ihr Haar lag aufgefächert auf der Brust wie ein Seidenschal. »Aimee«, sagt er leise. »Gott.«

Er setzte sich und zog sie auf seinen Schoß, weinte, als die volle Wucht seiner Erinnerungen ihn traf wie ein Faustschlag. Er strich ihr das regennasse Haar aus dem Gesicht. »Ich lass dich nicht allein. Ich bleib bei dir.«

Aimee blinzelte und sah ihn an. »Ross«, sagte sie und blickte über seine Schulter. »Du musst gehen.«

In all den Jahren hatte er sich nicht mehr an diese Worte erinnert, an Aimees Aufforderung, die ihn von der Schuld befreite, nicht an ihrer Seite gewesen zu sein, als sie starb. Er schloss die Arme noch enger um sie und neigte sich vor, aber plötzlich stand jemand neben ihm und versuchte, ihn ebenso entschlossen zum Aufstehen zu bewegen, wie er bleiben wollte.

Wütend fuhr er herum und sah Lia.

Aimee lag in seinen Armen, Lia war hinter ihm, und er erstarrte. Er litt Höllenqualen, war mitten in einem Albtraum. Beide Frauen brauchten ihn, jede besaß die Hälfte seines Herzens. Zu welcher gehe ich?, dachte er. Und welche verliere ich?

Lia zog ihn hoch, zu dem anderen Unfallwagen, der auf der Seite lag, direkt vor der Leitplanke. Ross wollte sich von ihr losreißen und zurück zu Aimee, war sicher, dass es ein Test war, den er diesmal bestehen musste.

Aber jetzt konnte er Aimee gar nicht mehr sehen, weil das andere Auto zwischen ihnen war. Frustriert schüttelte Ross Lias Hand ab und riss die Tür des völlig zerstörten grünen Honda auf. Ein Körper lag zusammengesackt und zur Seite gesunken hinter dem Lenkrad. Ross roch Benzin und wusste, der Wagen würde jede Sekunde in Brand geraten.

Er tastete nach dem Sicherheitsgurt, der sich verklemmt hatte. »Aimee« schrie er über die Schulter, »ich bin gleich wieder da. Halte durch.« Wieder drückte er auf den Knopf, und diesmal löste sich der Gurt. Mit beiden Händen zog Ross die bewusstlose Fahrerin aus dem Wrack. Er schleifte sie über den Boden, bis zum Waldrand, und dann ging der Wagen in Flammen auf.

Sirenen näherten sich, Wasser aus einem Feuerwehrschlauch wurde gegen das Auto gespritzt. Als ein Sanitäter angelaufen kam, hielt Ross ihn fest. »Bei dem anderen Auto liegt eine Frau, die Hilfe braucht«, schrie er ihn an.

»Um die kümmert sich schon jemand.« Der Sanitäter ging neben Ross in die Knie. »Wie heißt die Frau hier?«

Ross wusste es nicht. Sie war eine Fremde. Er blickte nach unten auf den von Flammen erhellten, ausgestreckten Körper, so wie er es neun Jahre zuvor getan hatte. Genau wie damals hatte die Fahrerin eine klaffende Wunde am Haaransatz, und Blut bedeckte ihr Gesicht und das schwarze Kleid. Aber diesmal nahm er ihr Gesicht wahr – richtig wahr –, und alles war anders. Mein Gott. »Sie heißt Meredith«, sagte Ross tonlos.


F. Juniper Smugg war seit genau siebenundzwanzig Tagen Assistenzarzt im Fletcher Allen Hospital in Burlington. Zurzeit arbeitete er in der Notaufnahme, aber irgendwann wollte er in die Dermatologie oder die plastische Chirurgie, wo es nicht ständig um Leben und Tod ging, irgendwann wollte er eine eigene Praxis aufmachen und sich nicht mit den Unvorhersehbarkeiten eines Provinzkrankenhauses herumschlagen müssen. Aber solange er hier war, würde er natürlich seine Pflicht tun. Deshalb machte es ihm auch nichts aus, den Toten runter in die Leichenhalle zu bringen. Immer noch besser als das, was sie mit dem Kerl angestellt hatten, als er eingeliefert wurde – Elektroschocks und Intubation, wo doch jeder Laie hätte sehen können, dass der Patient mausetot war.

Er war allein im Fahrstuhl. Er drückte auf den Knopf, wartete, bis die Tür geschlossen war, und fing an, einen ABBA-Song zu schmettern, wobei er sich in der verspiegelten Wand beobachtete. Er war gerade beim Refrain von Dancing Queen, als eine Hand seinen Arm packte.

Der Tote auf der Trage richtete sich auf. »Das ist ja nicht zum Aushalten«, sagte er heiser.

Als die Fahrstuhltür sich öffnete, stand der Tote, und der Assistenzarzt hing quer über der schmalen Trage. »Kann mir mal jemand helfen?«, fragte Ross die schockierten Mitarbeiter von der Leichenhalle. »Der Kerl hier ist völlig weggetreten.«


Als Az Thompsons Leiche an das Ufer vom Lake Champlain geschwemmt wurde, machte man den Körper nach indianischer Tradition innerhalb von vierundzwanzig Stunden für die Bestattung bereit. Winks Champigny, der als Sprecher für die Abenaki fungierte, schlug vor, Az Thompsons sterbliche Überreste auf dem jüngst erworbenen Besitz an der Kreuzung von Otter Creek Pass und Montgomery Road zur letzten Ruhe zu betten. Er wurde mit dem Gesicht gen Osten beerdigt, auf der Seite, mit Blick auf den Sonnenaufgang.


Fast wäre Eli in der Nacht gar nicht mehr nach Hause gekommen. Der Papierkram und die Beschwichtigungsverhandlungen mit den Steinbruchbesitzern zogen sich endlos hin, und er wollte sich nur noch neben Shelby aufs Bett fallen lassen und erst im nächsten Jahrtausend wieder aufwachen.

Er wusste nur nicht, ob Shelby im Augenblick danach war, ihn oder irgendwen sonst zu sehen.

Er hatte sie im Arm gehalten, während sie im Krankenhaus weinte, bis sie nach Hause hatte gehen wollen, um sich um alles zu kümmern. Eli hatte gespürt, wie sie eine unsichtbare Wand aufbaute und von niemandem Hilfe annehmen wollte, und das hatte ihn völlig fertiggemacht. Er würde jetzt duschen und dann zu ihr fahren, ob ihr das recht war oder nicht.

Als er den Schlüssel in seine Haustür stecken wollte, merkte er, dass sie offen war. Als sie nach innen aufschwang, ging er in Alarmbereitschaft. Aber es war kein Dieb in seiner Küche. Nur Shelby, die Hände in einer Schüssel mit Mehl.

»Ich bin eingebrochen«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Bei einem Polizisten.«

Eli zog sie an sich, küsste sie auf den Scheitel. »Es tut mir so leid. Es tut mir so furchtbar leid.«

Sie weinte, und als sie sich das Gesicht abwischte, hinterließen ihre Finger feine weiße Streifen. »Ich konnte nicht zu Hause bleiben. Ich hab auch noch kein … Bestattungsunternehmen angerufen. Das Telefon stand nicht mehr still, ständig irgendwelche Reporter, ich bin irgendwann gar nicht mehr rangegangen. Die Ärzte im Krankenhaus haben mir für Ethan und Lucy was mitgegeben, damit sie schlafen. Ich hab die beiden oben in dein Bett gepackt. Ich hab Suppe gekocht. Und Brot gebacken. Das Telefon hat einmal geklingelt, aber ich bin nicht … Ich hab den Hund für dich gefüttert.«

Sie sprach völlig wirr, und doch verstand Eli jedes Wort. Er wiegte sie in seiner Umarmung und stellte sich ihre kleinen weißen Handabdrücke hinten auf seinem Jackett vor, so geisterhaft wie die in dem Badezimmerspiegel im alten Pike-Haus. Shelby wischte sich die Nase an seinem Hemd ab. »Ich geh wieder, wenn du willst.«

»Geh nicht«, flüsterte er, »nie mehr.«


Meredith sah ganz anders aus als Lia. Ross verstand überhaupt nicht, wieso er jemals eine Ähnlichkeit zwischen den beiden gesehen hatte.

Sie lag in einem Streckverband. Man hatte das gebrochene Bein gerichtet und fixiert. Außerdem war sie vollgepumpt mit Schmerzmitteln. Man hatte Ross nur deshalb erlaubt, zu ihr zu gehen, weil keiner einem Mann etwas abschlagen wollte, der noch Stunden zuvor tot gewesen war.

Er hatte zuerst nach Shelby und Ethan gesucht, aber sie waren schon entlassen worden und hatten Lucy mitgenommen. Doch als Ross bei ihr zu Hause anrief, meldete sich niemand, und der Anrufbeantworter war abgeschaltet. Er hätte bei Eli angerufen, aber ihm fiel die Privatnummer nicht ein, falls er sie überhaupt je gewusst hatte. Der Neurologe, der Ross untersucht hatte, nachdem seine Kopfverletzungen genäht worden waren, hatte ihm gesagt, dass er mit Gedächtnislücken rechnen müsse und dass es ungewiss sei, ob sich das irgendwann wieder geben würde. So konnte er sich beispielsweise absolut nicht erinnern, was er alles getan hatte, bevor er nach Hause gekommen war und Meredith in der Küche angetroffen hatte, während sie verzweifelt versuchte, Shelby zu erreichen. Er wusste nicht, woher die dünnen, weißen Narben an seinem Handgelenk stammten.

Aber an Lias Gesicht erinnerte er sich. Er hätte dafür sterben können, es wiederzusehen, und anscheinend war er auch dafür gestorben. Er konnte ihr Bild heraufbeschwören, das von ihr und das von Aimee, als stünden die beiden nur einen Meter von ihm entfernt. Ross wusste, dass er dort hätte bleiben können – wo immer er gewesen war. Aber noch größer als der Wunsch, Aimee in seinen Armen zu halten, Lia überallhin zu folgen, wohin sie ihn führte … war der Wunsch gewesen, bei seiner Schwester zu bleiben. Seinem Neffen. Vielleicht Meredith.

Ross hatte so viele Jahre nach irgendetwas gesucht, und nie zuvor war ihm klar gewesen, dass das Finden vielleicht nicht so wichtig war wie die Suche. Ein Leben wurde nicht durch den Augenblick des Todes bestimmt, sondern durch all die anderen Augenblicke, die man gelebt hatte.

Während er noch Meredith’ Gesicht betrachtete, rann plötzlich eine Träne über ihre Wange. Ihre Augen öffneten sich einen Spalt, und sie sah Ross an. »Lucy«, flüsterte sie.

»Es geht ihr gut.«

Als Meredith klar wurde, wo sie war, fuhr sie erschrocken zusammen. »Du bist ein Geist.«

Er musste lächeln. »Nicht mehr.«

»Das Dynamit ist in deiner Hand explodiert. Ich hab’s gesehen«, sagte sie. Und dann fügte sie leiser hinzu: »Die haben mir gesagt, dass du tot bist.« Sie wollte sich aufrecht hinsetzen, doch als sie ihr Bein dabei leicht bewegte, verdrehte sie vor Schmerzen die Augen.

»Bleib ganz ruhig liegen.« Er betrachtete ihr Gesicht, die feine Narbe am Haaransatz, die er zuvor nicht bemerkt hatte. »Du hast dir das Bein gebrochen, das du dir schon mal gebrochen hattest, bei einem Autounfall. An sechs Stellen. Wadenbein und Schienbein waren zertrümmert und wurden genagelt.«

»Ich hab dir nie erzählt«, sagte Meredith argwöhnisch, »dass ich mal einen Autounfall hatte.«

Er setzte sich auf die Bettkante. »Du saßest in einem grünen Honda und hattest ein schwarzes Kleid an«, sagte Ross leise. »Du hattest da eine Wunde.« Er berührte die Stelle an ihrer Stirn. »Deine Schuhe sind nie gefunden worden.«

»Du willst mir doch hoffentlich nicht erzählen, dass du auch übersinnliche Fähigkeiten hast«, sagte Meredith schwach.

»Nein«, erwiderte Ross. »Ich will dir erzählen, dass ich dabei war.«

Er blickte sie an, bis ihre Augen sich kaum merklich weiteten. »Zwei Mal«, sagte sie benommen und griff nach seiner Hand. Ihre Lider senkten sich. »Supermann.«

Er wartete, bis Meredith’ Atem ruhig und gleichmäßig ging, dann schlossen sich seine Finger um ihre. »Vielleicht«, gab er zu.


In den letzten vier Wochen war Lucy eine richtige Draufgängerin geworden. Andauernd kletterte sie auf irgendwelche Dächer, streckte während der Fahrt den Kopf zum Autofenster hinaus und fürchtete sich auch nicht vor Gruselfilmen. Ethan wusste, dass es seine Schuld war. Der Psychoonkel, der sie beide wegen etwas behandelte, das sich Posttraumatische Belastungsstörung nannte, meinte, das sei nur eine Reaktion auf ein Sterbeerlebnis. Aber Ethan wusste es besser.

Er zog die langen Ärmel seines Sweatshirts nach unten und die Baseballmütze tiefer ins Gesicht. Hier vor dem Krankenhaus fühlte er sich nicht wie ein Mutant, weil andere Leute mit allen möglichen Schläuchen und Beuteln am Leib herumliefen. Außerdem war er sowieso nicht mehr die Hauptattraktion der Familie. Diese Ehre gebührte jetzt seinem Onkel Ross, den man für klinisch tot erklärt hatte und der aller Welt davon erzählen konnte.

Es ging ihm gut, das hatte er zumindest per Liveschaltung aus seinem Krankenhauszimmer in allen möglichen Talkshows erzählt. Er war einen Monat lang medizinisch beobachtet und untersucht worden und wurde heute entlassen. Genau wie Meredith. Seine Mom und Eli waren reingegangen, um die beiden abzuholen.

Ethan hatte seinen Onkel oft im Krankenhaus besucht, und sie hatten manchmal lange miteinander geredet, denn auch wenn Ethan sich nicht zu große Hoffnungen machen wollte, irgendwie fragte er sich doch unwillkürlich, ob diese Art von Glück etwas Einmaliges war. Oder ob es vielleicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werden konnte.

Bei seinem letzten Besuch durfte er den ganzen Waldmeisterpudding und die Nudelsuppe von seinem Onkel aufessen, und dann waren sie zusammen in Meredith’ Zimmer gegangen. Sie hatte Ethan erklärt, dass seine DNA sich zwar nicht selbst reparieren könne, dass aber irgendwelche Wissenschaftler in New York eine Salbe erfunden hätten, mit der sich der bereits entstandene Schaden an der DNA beheben ließe. Und in ihrem eigenen Labor waren Leute dabei, eine Gen-Ersatz-Therapie zu entwickeln, mit der XP sogar dauerhaft geheilt werden könnte.

Ethan wäre der Letzte, der behaupten würde, dass es nicht doppelte Wunder gab. Lag ja schließlich in der Familie.

»He, guck mal.« Lucy stieß ihm den Ellbogen in die Seite und zeigte zum Himmel. »Irre, was?«

Es war ein doppelter Regenbogen, einer unter dem anderen. Aber man konnte nur die linke Hälfte sehen, die sich bis zur Mitte des Himmels wölbte und dann in einem schmuddeligen Blau verschwand.

Ethan wusste, dass die rechte Seite des Regenbogens da war, auch wenn er und Lucy sie nicht sehen konnten. Das war kein Wunschdenken oder Zauberei, sondern ein einfaches Naturgesetz. Wenn man nämlich weiß, dass ein Teil von etwas existiert, liegt es doch wohl auf der Hand, dass der Rest davon auch irgendwo sein muss.

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