NEUN
Eli Rochert konnte Ross gestohlen bleiben. Man musste einen Menschen nicht in Fleisch und Blut kennenlernen, um ihn zu kennen. Manchmal genügte es, ein Tagebuch zu lesen, um eine Seelenverwandtschaft zu spüren. Oder vergilbte Liebesbriefe, die eine Romanze wieder lebendig machten. Ross hatte Lia gekannt, und der Cop täuschte sich – wenn sie eine Affäre gehabt hätte, müsste er es wissen.
Denn sie hätte sie mit ihm gehabt.
Mit einem tiefen Knurren stand Ross vom Bett auf und lief in dem kleinen Zimmer auf und ab, ein Tiger im Käfig. Er hatte Lia gekannt, aber er hatte nicht gewusst, wie es war, ihren Körper ganz nah bei sich zu fühlen, zu spüren, wie sie ihre Fingernägel in seine Schultern grub, während die Nacht sich um sie beide herum bewegte wie etwas Lebendiges. Er hatte Lia gekannt, aber nicht genug.
Es gab Augenblicke, da glaubte Ross an Gott. Nicht an einen gütigen oder gerechten Gott, sondern einen Gott mit boshaftem Humor. Einen Gott, der jemanden bestrafte, der einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen hatte, indem er mit der Belohnung winkte, die derjenige unbedingt haben wollte, und sie dann wieder wegzog, damit derjenige aufs Gesicht fiel.
Die Wände rückten näher, und er hatte einen Knoten im Hals, der ihm die Luft abschnürte. Sein Schädel war zu eng für sein Gehirn.
»Okay«, sagte er zu niemandem. »Okay.«
Es geschah bereits – im Spiegel über der Kommode sah er eine potenzielle Waffe. Er spürte ein Jucken an den Handgelenken. Er stellte sich eine Welt vor, in der er nicht war.
Ross stürmte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und an Shelby vorbei. »Wohin …«, setzte sie an.
»Nach draußen.«
Er rannte an Ethan vorbei, der noch immer mit dem Mond wachte. Sein Wagen brauste die Zufahrt hinunter und dann über die gewundenen Straßen von Comtosook. Erst nach fünf Minuten merkte er, wohin er fuhr, und als er am Otter Creek Pass an der Absperrung hielt, war es um ihn herum völlig finster.
Die protestierenden Abenaki waren für die Nacht zurück ins Camp gegangen; die Handvoll Reporter, die von ihren Redaktionen noch nicht wieder abberufen worden waren, hatten sich im Best Western in Winooski einquartiert. Rod van Vleet war nirgends zu sehen, Gott sei Dank, und es trieben sich anscheinend auch keine Geistersucher mit Glöckchen und Trillerpfeifen herum. Die riesigen Bagger und Kräne schliefen mit ausgestreckten Hälsen.
Ross stieg über die Absperrung und ging bis zur Mitte des Grundstücks, wo das Haus noch teilweise stand, weil es sich wieder zusammengefügt hatte, nachdem es von Rod van Vleet abgerissen worden war. Der Plan, genau an der Stelle das Einkaufszentrum zu errichten, war verworfen worden. Gut hundert Meter weiter links hatten Bagger angefangen, den gefrorenen Boden auszuheben, um das Betonfundament zu gießen. Ross atmete tief ein: Hier hatte Lia einst am Abendbrottisch gesessen oder morgens eine Tasse Kaffee getrunken. Hier hatte sie an trägen Sonntagnachmittagen ein Schläfchen gehalten. Sie hatte Spencer Pikes Hand auf ihren Bauch gelegt und ihm gesagt, dass sie ein Kind erwartete.
»Lia!« Ihr Name drang beschwörend von seinen Lippen.
Er blieb einen Augenblick stehen. Auf dem alten Pike-Grundstück herrschte ungewöhnliche Stille, es regte sich kein Hauch von Leben.
Ross ging leise zum Wagen zurück. Sie war nicht da, sonst hätte er es gespürt.
Meredith hätte sich keinen schöneren Tag wünschen können – fünfundzwanzig Grad, strahlend blauer Himmel und das Einkaufzentrum nicht annähernd so voll, wie sie es im Monat August befürchtet hatte. Hinzu kam, dass ihre Tochter keine Medikamente mehr nahm. Es gab also reichlich Grund zum Feiern.
Sie gingen langsam, weil Ruby bei ihnen war, und auch wenn sie zu stolz war, über ihre schmerzenden Hüften zu klagen, war Meredith doch nicht entgangen, dass sie bei jedem Schritt das Gesicht leicht verzog. Sie hatten sich im Zoo die neuen Riesenpandas angesehen, hatten im Naturgeschichtlichen Museum den Hope-Diamanten bestaunt und im Luft- und Raumfahrtmuseum nach den Sternen gegriffen. Jetzt waren sie auf dem Weg zum Parkhaus, jede ein Softeis in der Hand.
»Ich bin ja davon überzeugt«, sagte Meredith, »dass die Straßen im Himmel mit Schokolade gepflastert sind.«
»Was bedeuten würde, dass es da oben nicht heiß und schwül sein kann«, bemerkte Ruby. »Als Urlaubsziel nicht zu verachten.«
»Mom?«, meldete Lucy sich zu Wort. Lucy stellte ihnen schon den ganzen Tag Fragen – zum Beispiel wie Dinosaurier aufs Klo gingen oder wo denn der Präsident blieb, wenn die ganzen Touristen das Weiße Haus besichtigten. »Wieso hast du nie geheiratet?«
Meredith blieb abrupt stehen. Sie hatte Lucy in ihrem Labor aufgeklärt, ihr lebende Spermien und ein richtiges Ei und dann den Embryo gezeigt, aus dem ein menschlicher Fetus wurde. Aus wissenschaftlicher Sicht hatte Liebe nichts mit Fortpflanzung zu tun. Ein Vater war lediglich ein Samenspender, und diese Sichtweise war Meredith nur recht.
Ruby warf Meredith über Lucys Kopf hinweg einen vielsagenden Blick zu.
»Na, ich musste doch nicht heiraten. Ich hatte ja dich.«
Lucy verdrehte die Augen. »Mom, ein Ehemann ist doch nicht nur dafür da, ein Baby zu machen. Vielleicht wärst du ja öfter zu Hause, wenn du einen hättest.«
»Du weißt genau, warum ich so viel arbeite …«
Lucy wandte sich um. »Es ist meinetwegen, nicht? Keiner wollte eine Frau heiraten, die schon ein Kind hat.«
»Lucy, nein. He.« Meredith fasste Lucy am Arm und hielt sie fest. »Schätzchen«, sagte sie, und plötzlich kreischte Lucy los.
»Nicht auf ihn draufsetzen!« Sie wich zurück, als Passanten sie anblickten. »Mommy, was ist mit dem Jungen da?«
Sie zeigte auf eine Stelle. Aber da war kein Junge. »Lucy, was hast du?«
Ihre Augen waren weit aufgerissen und wild. »Der Junge, der da hinten sitzt, mit den Gefängnissachen an, wie sie sie im Zeichentrickfilm anhaben. Und die Frau ohne Haare und die anderen Kinder, wie Skelette, aber sie bewegen sich trotzdem. Siehst du sie denn nicht?«
Ein Mann sprach Meredith an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Danke, alles in Ordnung«, sagte sie barsch. »Hol tief Luft, Lucy, und sag mir, was du siehst.«
Der Mann ließ sich nicht abwimmeln. »Ich hole schnell Hilfe«, sagte er und verschwand. Meredith blickte ihm nach und sah, wie er in das Gebäude vor ihnen lief: das Holocaust-Museum.
»Das sind die, die zurückgeblieben sind«, wimmerte Lucy.
Der Gerichtsbeschluss zur Exhumierung sterblicher Überreste auf dem Pike-Grundstück brannte wie Feuer in Elis Tasche, doch er ließ ihn, wo er war, wie ein Stück glühende Kohle dicht am Herzen, eine Erinnerung daran, was er vorhatte und warum. Frankies DNA-Analyse hatte seinen Ermittlungen eine unerwartete Wendung gegeben. Wenn Gray Wolf Cecelia Pikes leiblicher Vater gewesen war, dann hatten die beiden wohl kaum eine Affäre gehabt. Der Medizinbeutel und auch die Pfeife könnten Geschenke gewesen sein. Doch Eli hielt Pike nach wie vor für den Mörder. Gray Wolf war erst kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden und hatte augenblicklich die Tochter ausfindig gemacht, die er noch nie gesehen hatte. Falls Cecelia erfahren hatte, wer ihr wirklicher Vater war, könnte sie das ihrem Mann verschwiegen haben, sodass Spencer Pike vielleicht falsche Schlüsse gezogen hatte, als er seine Frau mit einem Indianer zusammen sah. Oder aber Pike hatte die Herkunft seiner Frau herausgefunden und dadurch seine Karriere gefährdet gesehen. Daher hatte er den Beweis einfach aus dem Weg geräumt.
Wie auch immer, der Protest der Abenaki wegen des Friedhofs war berechtigt gewesen.
Er fand Az Thompson im Morgengrauen am Ufer des Winooski beim Angeln. Die mageren Schultern des alten Mannes bewegten sich unter dem Stoff seines Hemdes, während er an der Kurbel drehte und den Köder auswarf. »Mein Großvater hat mal im Lake Champlain einen Stör gefangen«, sagte Eli, als er von hinten auf ihn zutrat.
»Die gibt’s da«, sagte Az.
»Meine Mutter hat mir erzählt, dass er das Biest an seinem Kanu festbinden und sich im Kreis herumziehen lassen musste, bis es müde wurde, dann erst konnte er es ins flache Wasser schleppen und hat es totgeschlagen.«
»Geduld ist das A und O«, pflichtete Az bei.
Eli sah zu, wie er einen weiteren Fisch in seinen Eimer warf. »Ich brauche Ihre Hilfe. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass Cecelia Pike eine Halb-Abenaki war.«
Az stockte nur eine Sekunde. »Abenaki«, wiederholte er leise. »Glauben Sie, die Morgendämmerung ist für Menschen, die nicht nach ihr benannt sind, genauso schön?«
Eli wusste, dass der Alte keine Antwort erwartete. »Ich weiß, es müsste eine Art – äh, ich meine, gibt es denn keine Zeremonie? Einen Ort, wohin sie und ihre Tochter gebracht werden können?«
Az blickte auf. »Was wird aus dem Grundstück?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Eli.
Der Alte schien sich mit der Antwort zu begnügen. »Ich kümmere mich um sie«, sagte er.
Als Cecelia Pike ermordet wurde, war Duley Wiggs zwanzig Jahre alt und erst seit acht Tagen Polizist. Jetzt hatte er Alzheimer im Anfangsstadium und lebte bei seiner Tochter Geraldine. »An manchen Tagen ist er fast normal«, sagte sie müde zu Eli, als sie mit ihm vor der Schiebetür zur Veranda stand, wo Duley in einem Rollstuhl saß. »Und dann gibt es Tage, an denen er nicht genau weiß, was er mit einem Löffel anfangen soll.«
»Danke, dass ich mit ihm reden darf.«
»Mit ihm reden ist kein Problem«, sagte Geraldine achselzuckend. »Aber er bringt vieles durcheinander. Nehmen Sie nicht alles, was er sagt, für bare Münze.«
Eli nickte und folgte ihr auf die Veranda. »Daddy? Daddy, hier ist jemand, der dich sprechen möchte. Detective Eli Rochert aus Comtosook. Du weißt doch noch, dass du mal in Comtosook gewohnt hast, nicht?«
»Ich hab mal in Comtosook gewohnt, wissen Sie«, sagte Duley. Er schüttelte Eli die Hand.
»Hallo, Duley.« Eli hatte seine Ausgehuniform angezogen, in der Hoffnung, den Erinnerungen des alten Mannes dadurch auf die Sprünge zu helfen. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Miranda, lass uns zwei bitte allein, ja?«, sagte Duley.
»Ich bin Geraldine, Daddy.« Sie seufzte und ging dann wieder ins Haus.
Eli setzte sich. »Erinnern Sie sich noch an irgendwelche Mordfälle in der Zeit, als Sie in Comtosook Polizist waren?«
»Mordfälle? Oh ja, sicher. Wir hatten jede Menge Mordfälle. Ach, nein, eigentlich waren das eher Einbrüche. Eine ganze Serie in den Vierzigerjahren. Die gingen auf das Konto von zwei Teenagern, die sich für Bonnie und Clyde hielten.«
»Aber die Mordfälle …«
»Einen gab es«, sagte Duley. »Das, was der armen Cissy Pike angetan wurde, kann man nicht vergessen. Ich kannte sie persönlich. Wir sind auf dieselbe Schule gegangen. Sie war zwei Jahre jünger als ich. Hübsches Ding und auch ein heller Kopf. Genau wie ihr Vater. Er war Astronaut.«
»Er war Professor, Duley.«
»Hab ich doch gesagt!« Der alte Mann blickte verärgert. »Hören Sie besser zu, ja?«
»Natürlich. Tut mir leid. Also … Sie wollten über den Mord an Cissy Pike sprechen …«
»Sie war mit einem hohen Tier von der Universität verheiratet. Pike. Die Leute im Ort hielten ihn für etwas scheinheilig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber er hat Cissy auf Händen getragen. Als wir bei ihnen zu Hause ankamen, nachdem er uns verständigt hatte – tja, ich hatte noch nie einen erwachsenen Mann so weinen sehen, wie ein Baby.« Er schüttelte den Kopf. »Und dass er dann die Pistole gegen sich gerichtet hat, direkt vor unseren Augen …«
»Duley«, sagte Eli sanft. »Spencer Pike hat nicht Selbstmord begangen.«
»Selbstmord? Ach ja, stimmt. Das war bei einer Geiselnahme in einem Postamt in den Fünfzigerjahren.« Er rieb sich die Stirn. »Manchmal … manchmal gerät hier oben alles ein bisschen durcheinander.«
»Ist nicht schlimm.« Eli drehte seine Mütze in der Hand. Vielleicht war das hier ja doch Zeitverschwendung.
»Der Gerichtsmediziner wollte damals das Baby obduzieren.«
Eli wurde hellhörig. »Ach ja?«
»Ja. Und Olivette – das war der Detective-Lieutnant – wollte nicht zulassen, dass das Grab wieder geöffnet wurde. Er hat gemeint, einem Mann wie Spencer Pike sollte man nicht mehr zumuten als unbedingt nötig.«
»Das Baby war also schon begraben, als ihr zum Tatort kamt.«
»Jawohl. Ein Stückchen weiter weg, im Wald. Frische Erde und sogar ein paar Blumen. Pike hat uns erzählt, dass das Kind tot zur Welt gekommen war und seine Frau einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Er sagte, er habe das Baby beerdigt, um es ihr nicht noch schwerer zu machen.«
»Mir hat Pike erzählt, er hätte seine Frau und sein Baby am selben Tag beerdigt.«
»Nein, das weiß ich genau. Ich war auf Cissy Pikes Beerdigung. Es waren nicht viele da – ich und Olivette und ihr Vater und Pike, gerade genug, um den Sarg hinabzulassen. Das Ganze war damals ein ziemlicher Skandal – er wollte sich nicht von den Frauen aus der Gemeinde bekochen lassen, obwohl sein Hausmädchen doch auf und davon war. Er hat Cissy gleich neben dem Grab beerdigt, in dem sein Baby lag.«
»Hat er gesagt, warum er die Polizei erst so spät verständigt hat?«, fragte Eli.
»Ach, das war gar nicht nötig. So wie der nach Alkohol gerochen hat. Hatte sich in der Nacht davor ordentlich volllaufen lassen.« Duley blickte zum Haus. »Ich habe drei Töchter, und ich kann mir nicht mal vorstellen, wie es für mich gewesen wäre, wenn sie tot auf die Welt gekommen wären. Ich denke, Pike wollte ein bisschen Trost in der Flasche suchen. Aber anscheinend hat er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken … hat nichts davon mitgekriegt, dass jemand ins Haus eingedrungen ist und seine Frau mitgenommen und das Haus demoliert hat. Und als er wieder zu sich kam, war der Vormittag schon halb um. Er hat uns kurz vor der Mittagspause angerufen, zum Glück für mich, weil ich deshalb weniger im Magen hatte, was ich auskotzen konnte, als ich Cissy sah.«
Laut Wesley musste Cecelias Leichnam sehr viel früher abgeschnitten worden sein.
Eli überlegte eine Weile, dann fragte er: »Was wissen Sie noch über Gray Wolf?«
»Gerissener Bursche. Er war ein Zigeuner, müssen Sie wissen – heute würde man sagen, amerikanischer Ureinwohner. Lügen, Klauen, das war für ihn ganz normal. Alle wussten über ihn Bescheid und über seine Familie, und er hatte wegen Mordes gesessen, war gerade erst aus dem Knast gekommen. Pike sagte, dass der Bursche Cissy in den Wochen davor belästigt hatte. Er war verdächtig, weil wir Sachen von ihm am Tatort gefunden hatten. Außerdem hatte sein Alibi eine Riesenlücke. Und als er dann verschwand, da sahen wir unseren Verdacht natürlich bestätigt.«
Eli kratzte sich am Kopf. »Ja, wie ist er denn eigentlich verschwunden?«
Röte stieg dem alten Mann am Hals hoch. »Tja, das … das war eindeutig meine Schuld. Ich war erst eine Woche im Dienst, und ich wollte den Helden spielen. Also bin ich mitten in der Nacht los, ich hab Gray Wolf in einer Kneipe entdeckt und ihn zum Verhör mit aufs Revier genommen. Aber Olivette hat getobt, wir hätten noch nicht genug gegen ihn in der Hand, und ihn aufs Revier zu schleppen würde ihn nur warnen. Wir haben ihn ein bisschen gepiesackt, wie das früher so üblich war, aber er hat nichts gestanden. Olivette hat mich dann beauftragt, ihn zu beschatten …« Duleys Blick glitt über den Garten. »Und er ist mir durch die Lappen gegangen. War von einer Minute zur anderen wie vom Erdboden verschluckt.« Er leckte sich die Lippen, beugte sich vor und flüsterte: »Ich hab ja so meine Theorie, was aus ihm geworden ist.«
»Da bin ich aber gespannt.« Eli ging ganz dicht an ihn heran.
»Ich glaube …« Duley legte seine fleckige Hand an Elis Ohr. »Ich glaube, Oswald war nicht allein, als er geschossen hat, da war noch ein zweiter Schütze.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Verstehen Sie?«
Eli seufzte. »Absolut.«
Als Ethan aufwachte, war es draußen noch hell. Er schloss die Jalousie wieder und machte die Augen zu, um, wie sein Onkel es ihm beigebracht hatte, zu erspüren, was im Haus los war.
Seine Mutter war bei der Arbeit, was ihm nur lieb war, weil sie in letzter Zeit eine ganz schöne Nervensäge war.
»Was ist eigentlich los mit dir?«, hatte Ross sie gestern Abend beim Frühstück gefragt. Und seine Mutter hatte seine Frage so angestrengt überhört, dass sie sich am Herd verbrannt hatte. Sie war in Tränen ausgebrochen und hatte geschrien: »Da siehst du’s, das ist nur deinetwegen passiert.«
Sie war wirklich nicht ganz normal.
Ethan schwang die Beine über die Bettkante. Er zog die Sachen von gestern an, die noch auf dem Boden lagen. Er öffnete leise die Tür und schlich über den Flur zum Zimmer seines Onkels. Die Tür war zu, wie die ganze Zeit schon. Er sollte eigentlich auf Ethan aufpassen, aber andererseits sollte Ethan eigentlich schlafen.
Unten zog sich Ethan Jacke und Mütze über, rieb Gesicht und Hände mit Sonnenmilch ein, weil man alte Gewohnheiten nun mal nicht so schnell ablegt. Dann ging er durch die Seitentür – die quietschte nämlich nicht – nach draußen.
Die Sonne war wie ein Kuss in den Nacken – unglaublich, wie hell ein Nachmittag sein konnte. Ethan nahm sein Skateboard und trug es unter dem Arm. Er ging die Zufahrt hinunter und bog nach rechts, stellte dann das Skateboard auf die Straße und rollte los. Ein Junge auf einem BMX-Rad überholte ihn, auf dem Kopf einen nach hinten gedrehten Mützenschirm. »Hi«, rief der Junge, als wäre Ethan ein ganz normales Kind.
»Hi«, erwiderte er, froh über die Begrüßung.
»Geiles Skateboard. Aber wieso hast du Winterklamotten an?«
Ethan zuckte die Achseln. »Wieso hast du so eine blöde Mütze auf?«
Der Junge fuhr einen engen Kreis. »Ich will zum Skateboard-Park. Kommst du mit?«
Ethan bemühte sich um eine möglichst ausdruckslose Miene, aber es fiel ihm schwer, so real, wie er sich fühlte. Man existierte erst dann richtig in dieser Welt, so wurde ihm jetzt klar, wenn man nach draußen konnte und die Welt von einem Notiz nahm. »Von mir aus«, sagte er gleichgültig und strahlte innerlich vor Freude. »Ich hab grad nichts Besseres vor.«
Und wenn sie ihn geküsst hätte?
Nach mittlerweile drei Tagen bekam Shelby die Frage nicht mehr aus dem Kopf, als hätte sie sich wie ein Dorn in ihren Gedanken verfangen. In allen quälenden Einzelheiten durchlebte sie erneut den Augenblick, in dem sie und Eli in einem zu kleinen Raum einander zu nah gewesen waren. Wie seine Haut gerochen hatte, die winzige Narbe, die sie hinter seinem rechten Ohr gesehen hatte. Im Bett liegend, hatte sie überlegt, woher sie wohl stammen mochte.
Frankie Martine. Bei einer Frau, die so aussah, spielte es keine Rolle, wenn sie einen Jungennamen hatte.
Eifersüchtig war sie aber ganz bestimmt nicht. Schließlich kannte sie Eli Rochert kaum. Außerdem war romantische Liebe etwas Egoistisches. Und sie hatte sich ohnehin ganz und gar Ethan verschrieben, da war sicherlich nichts mehr übrig, was sie einem anderen hätte geben können.
Ob Eli und Frankie Martine die letzten zweiundsiebzig Stunden zusammen verbracht hatten?
Shelby saß am Informationstisch, die Hände über der Computertastatur, als hätte ein Kunde sie nach einem Buch zu einem bestimmten Thema gefragt. Sie fand auf alles eine Antwort. Sie hatte bloß Angst, selbst Fragen zu stellen.
Aber es war Abendessenszeit, und der letzte Besucher hatte die Bücherei bereits vor zwei Stunden verlassen. Shelby musste noch bis sieben Uhr ausharren, obwohl ihrer Erfahrung nach jetzt niemand mehr kommen würde. Mit einem Seufzer legte sie den Kopf auf den Schreibtisch. Sie könnte ewig hier sitzen bleiben, und weder Eli noch Watson würde hereinkommen.
Als plötzlich die Glocke über der Eingangstür klingelte, fuhr Shelby in einem letzten Anflug von Hoffnung hoch. »Ach, du bist es«, sagte sie, als Lottie von der Stadtverwaltung mit einem großen, verstaubten Karton hereinschwankte.
»Na, das nenn ich eine freundliche Begrüßung!«, schnaubte Lottie und wischte sich die schmutzigen Hände an ihrem Rock ab.
»Tut mir leid … ich hatte bloß jemand anderen erwartet.«
»Diesen hinreißenden Cop?« Lottie grinste. »So was Köstliches und Kalorienfreies ist mir schon lange nicht mehr unter die Augen gekommen.«
Lachend half Shelby ihr, den Karton auf den Schreibtisch zu hieven. »Glaub mir, er ist trotzdem Gift für deinen Blutdruck. Was schleppst du denn da an?«
»Wir haben gestern einen neuen Heizkessel bekommen – und ich hab im Keller an die dreißig Kisten Akten gefunden, von deren Existenz kein Mensch was wusste … du kannst dir vorstellen, wie alt der Heizkessel war. Jedenfalls, da du nach irgendwas aus den Dreißigerjahren suchst, hab ich dir den Karton mit Unterlagen aus der Zeit mitgebracht. Vielleicht hast du ja Lust, sie mit deinem Detective zusammen durchzusehen.« Sie hob eine Augenbraue. »So was ist abendfüllend.«
Shelby öffnete den Deckel des Kartons und musste husten, als Staub aufflog. Drinnen waren Dutzende von Papierrollen. »Blaupausen?« Sie nahm eine heraus, entrollte sie und beschwerte die Enden mit Kriminalromanen.
Offenbar wurden die Verbindungen von Alkoholikern und Krüppeln und Sexualstraftätern und unehelichen Kindern und Straftätern schematisiert dargestellt. Shelby sah sich einige der Symbole genauer an. In Anstalt für Schwachsinnige. Schwachsinnig. Verdacht auf Schwachsinn. Die Darstellung erweckte den Anschein, als würden sich all diese gesellschaftlichen Übel mit nachfolgenden Generationen weiter ausbreiten und als wären sie mit den beiden Unglücklichen in der Mitte verwurzelt, die geheiratet und sich fortgepflanzt hatten. Auf einem zweiten Schaubild, einem Säulendiagramm, war die Familie nach »sozialen« und »unsozialen« Personen angeordnet. In der Erklärung hieß es: Sozial: wünschenswerte Bürger – gesetzestreu, wirtschaftlich unabhängig und sozial engagiert. Unsozial: Personen, die zwar keine der genannten Defekte erkennen lassen, aber offenbar keinerlei gesellschaftlich wünschenswerte Neigungen zeigen, sowie Personen, über die zu wenig bekannt ist, um eine Einschätzung abzugeben.
»Lottie«, sagte sie, »was hast du denn da gefunden?«
Sie entrollte eine zweite Karte über der ersten. AHNENTAFEL EINER ZIGEUNERFAMILIE, DIE DELACOURS. Ein handbeschriebenes Blatt schwebte zu Boden. »Mitteilung an Harry – Geschlechtsdefizit offenbar holandrisch. Tafeln in Anhörungen über Sterilisationsgesetz verwenden?« Das Blatt hatte einen Briefkopf: Spencer A. Pike, Professor für Anthropologie, University of Vermont.
Der Karton enthielt weitere Ahnentafeln und Korrespondenz und Karteikarten, die säuberlich mit der Hand beschriftet waren, offenbar Fallstudien von Personen, die den Erbforschern gut ins Konzept gepasst hatten: Mariette, ein sechzehnjähriges Mädchen in einer Besserungsanstalt, hatte eine Reihe kleinerer Diebstähle verübt, und sie hatte ein ungezügeltes Temperament. Oswald hatte dunkle Haut und unstete Augen, er neigte, wie sein Stamm, zum Vagabundenleben und hatte – als Ergebnis einer unehelichen Verbindung – in sieben Jahren sieben minderbegabte Kinder hervorgebracht. Shelby nahm den vierten Jahresbericht des Vermont Committee on Country Life aus dem Karton. Er klappte auf einer Seite mit Eselsohren auf. Dort stand ein Artikel, der von H. Beaumont und S.A. Pike verfasst worden war. »Entartungen lassen sich nicht wegzüchten«, las Shelby laut, »aber durch eine günstige Partnerwahl lassen sie sich eindämmen und abschwächen.«
»Eugenik«, las Lottie und hielt einen weiteren Jahresbericht hoch. »Was ist denn das?«
»Die Wissenschaft von der Verbesserung der Erbeigenschaften durch kontrollierte Fortpflanzung.«
»Wie beim Vieh?«
»Ja«, sagte Shelby, »aber hier geht es um Menschen.«
Eli hatte um neun Uhr Feierabend gemacht, doch statt direkt nach Hause zu fahren, entschied er sich, vorher rasch noch in der Stadt nach dem Rechten zu sehen.
Er fuhr ziellos die Zufahrtsstraße zum Steinbruch entlang, Watson neben sich. Wenn er den Fall löste, würde ihm das bestimmt keine Beförderung einbringen. Cissy Pike würde nicht wieder lebendig werden. Und die Staatsanwaltschaft würde einem Überneunzigjährigen mit schwerer Lebererkrankung mit Sicherheit nicht den Prozess machen. Warum also war ihm die Sache so wichtig?
Watson drehte sich um und stieß Eli gegen den Arm. »Es ist zu kalt draußen. Ich lasse dein Fenster nicht herunter.«
Die Antwort war: Cissy Pike hatte ihn ins Grübeln gebracht. Darüber, wie wichtig es war, einen Bezug im Leben zu haben – eine Familie, einen geliebten Menschen, eine Geschichte –, und wie hoch der Preis war, wenn man die Wahrheit verschwieg.
Eli wollte zu der Zeremonie gehen, die Az Thompson anlässlich der Umbettung von Cissy Pike und ihrem Kind plante. Nicht weil er als Cop mit dem Fall zu tun hatte, sondern weil er wie Cissy Halb-Abenaki war. Und weil er wusste, wie es einem dabei erging, wenn man diese Tatsache verschwieg.
Watson rutschte näher zu Eli, grub seine Schnauze hinten in Elis Hemdskragen. »Also gut«, gab er nach und öffnete das Fenster. Watson liebte es, bei offenem Fenster zu fahren, wenn ihm vom Wind die Lefzen flatterten. Plötzlich hob er die Nase und fing an zu heulen.
»Leise, Watson, die Leute wollen ihre Ruhe.«
Der Hund schlug bloß einen höheren Ton an, stand dann auf und wedelte seinen Schwanz genau vor Elis Gesicht. Um nicht von der Straße abzukommen, fuhr Eli rechts ran. Watson sprang aus dem Fenster, bevor der Wagen zum Stehen gekommen war, und lief zu dem Zaun, der die Ostwand des Steinbruchs umgab. Er bellte und stellte sich auf die Hinterbeine, als jemand auf der anderen Seite aus der Dunkelheit trat. Der Junge hatte Handschuhe an. Es war zwar kühl, aber nicht kalt. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Eli, das Gesicht unter dem Schirm der Baseballmütze zu erkennen, doch er sah nur die Haut, die so weiß schimmerte wie der Mond. »Ethan?«, rief er.
Der Kopf des Jungen hob sich. »Ach«, sagte er enttäuscht. »Sie sind’s.«
»Was machst du hier? Wer hat dich auf das Gelände gelassen?«
»Bin über den Zaun geklettert.«
»Weiß deine Mom, wo du bist?«
»Klar«, erwiderte Ethan.
Eli war darüber informiert, dass am nächsten Morgen bei Tagesanbruch im Steinbruch gesprengt wurde, und es behagte ihm gar nicht, dass Ethan sich in der Nähe von Sprengstoff aufhielt. »Kletter rüber.«
»Nein.«
»Ethan, ich kann dich auch holen.«
Ethan zögerte, dann warf er sein Skateboard zu Eli rüber, kletterte am Maschendrahtzaun hoch und hielt Eli die Handgelenke hin. »Na los. Legen Sie mir Handschellen an wegen unbefugten Betretens.«
Eli unterdrückte ein Lächeln. »Ich werde noch mal ein Auge zudrücken.« Er ging zum Wagen. »Wie bist du überhaupt hergekommen?«
»Ich bin einfach immer weitergegangen.«
Eli blickte wieder auf die Handschuhe, die Ethan trug.
»Hat sie Ihnen das nicht erzählt?«, sagte der Junge bitter. »Ich bin ein Freak.«
»Sie hat mir gar nichts erzählt«, erwiderte Eli, scheinbar desinteressiert; er ließ Ethans Skateboard fallen, ging zu seinem Wagen und pfiff Watson zu sich. »Also dann. Bis demnächst.«
»Wollen Sie mich hier stehen lassen?«
»Klar. Deine Mom weiß doch, wo du bist.«
Statt einer Antwort warf Ethan sein Skateboard hinten auf den Pick-up und stieg ein. Eli fuhr los. »Als ich geboren wurde, hatte ich Schwimmhäute zwischen den Fingern.« Er spürte, wie Ethan einen Blick auf seine Hände am Lenkrad warf. »Die Ärzte mussten sie auseinanderschneiden.«
»Ekelhaft«, sagte Ethan und wurde dann rot. »Tschuldigung.«
»Schon gut. Das war eben so. Ich hab trotzdem gemacht, was ich wollte.«
»Ich hab XP. Das ist so, als wäre ich allergisch gegen die Sonne. Und ich kann nicht machen, was ich will.«
»Was würdest du denn gern machen?«
»Schwimmen gehen und mich in der Sonne trocknen lassen.« Er warf Eli einen Blick zu. »Ich muss sterben.«
»Das müssen wir alle.«
»Ja, aber ich kriege Hautkrebs. Von der ganzen Zeit, die ich früher in der Sonne war, bevor klar war, was ich habe. Die meisten mit XP werden keine fünfundzwanzig Jahre alt.«
Eli spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. »Vielleicht bist du ja der Erste, der älter wird.«
Ethan blickte eine Weile zum Fenster hinaus, schweigend. Dann sagte er: »Ich bin früh wach geworden, und es war keiner da. Also bin ich nach draußen gegangen. Bin zum Skateboard-Park an der Schule. Aber dann mussten die anderen Kids nach Hause, ins Bett. Und ich war ja kein bisschen müde, weil ich den ganzen Tag geschlafen hatte. Ich bin einfach losmarschiert und hier gelandet. Ich bin ein Freak«, wiederholte er. »Auch wenn ich’s versuche, ich gehöre nirgendwo dazu.«
Eli blickte ihn an. »Und wieso meinst du, dass das bei den anderen anders ist?«
Ross war tatsächlich eingeschlafen. Als er wieder wach wurde, stand er auf und ging nach unten in die Küche, um sich ein Glas Orangensaft einzugießen. Plötzlich fiel ihm ein, dass er Ethan ganz vergessen hatte. Es war kurz vor Mitternacht – und sein Neffe musste schon seit Stunden auf sein.
»Eth?«, rief er, aber im Haus blieb es still.
Als er zum Fenster hinausblickte, sah er, dass Shelbys Wagen nicht in der Einfahrt stand. Auch das war merkwürdig – sie hätte spätestens um neun nach Hause kommen müssen. Dann sah er das blinkende Lämpchen am Anrufbeantworter. Er drückte den Knopf. »Ross, ich bin’s, Shel. Ich bin auf eine unglaubliche Sache gestoßen. Sag Ethan, ich komm bald nach Hause, und sei bitte auch da … ich hab dir einiges zu erzählen.«
Sie war also nicht mit Ethan irgendwohin gefahren. Ross ging nach draußen, aber der Junge war weder mit seinem Skateboard in der Einfahrt, noch trieb er sich im Garten herum. Wieder im Haus, lief er nach oben und sah in Ethans Zimmer nach. Das Bett war gemacht, Ethans Pyjama lag verschlungen auf dem Boden. Wo steckte der Junge bloß?
Allmählich geriet Ross in Panik. Jeder Neunjährige konnte in Schwierigkeiten geraten, aber für Ethan barg die Welt ganz andere Gefahren. »Ethan, das ist nicht lustig«, rief er. »Mach, dass du herkommst.«
Doch noch während er rief, wusste er, dass Ethan ihn nicht hören konnte. Er holte seine Autoschlüssel und eilte nach unten. Wenn er Ethan fand, bevor Shelby nach Hause kam, dann würde sie nichts von seinem Verschwinden erfahren müssen.
Er war gerade in seinen Wagen gestiegen, als hinter ihm ein Pick-up hielt. Eli Rocherts Hund sprang heraus, als wäre er hier zu Hause, und dann stieg Ethan aus. Ross schaute von Ethan zu Eli, der die Arme verschränkte, aber kein Wort sagte. »Darf ich erfahren, wo du warst?«
Noch ehe Ethan antworten konnte, bog Shelby in die Einfahrt. Hinten in ihrem Wagen stand eine große Kiste. »Was ist denn hier los?«, fragte sie.
»Nichts«, sagten alle drei wie aus einem Munde.
»Was hat dann ein Polizeibeamter um Mitternacht vor meinem Haus zu suchen?«
Eli trat vor. »Ich, ähm, wollte Sie besuchen, weil ich wusste, dass Sie bestimmt noch auf sind. Mit Ethan. Aber als ich herkam, waren Sie’s doch nicht. Nicht hier, meine ich.«
Shelby reagierte unterkühlt. »Brauchen Sie wieder meine Hilfe bei Ihren Recherchen?«
»Nein, ich wollte fragen, ob ich Sie zum Essen einladen darf.« Das kam offenbar selbst für Eli überraschend.
Dass Eli Ethan nicht bei seiner Mutter anschwärzte, rang Ross Respekt ab.
Shelby wurde rot, blickte kurz weg und dann in Elis Augen. »Sehr gern«, sagte sie.
Ethan schnaubte.
Shelby räusperte sich, öffnete dann die Heckklappe ihres Wagens. »Tragt ihr das bitte für mich rein?«
»Was ist das denn?«, fragte Ross, als er den enorm schweren Karton hochhob.
Shelby wischte sich die staubigen Finger an der Hose ab. »Geschichte.«
»Es nannte sich Gesetz für menschliche Verbesserung durch freiwillige Sterilisation«, erklärte Shelby, »und es wurde am 31. März 1931 verabschiedet. Vermont war der vierundzwanzigste Staat von dreiunddreißig, die ein Sterilisationsgesetz hatten. Nach dem, was ich ausgraben konnte, gingen die genealogischen Untersuchungen von Familien, die man für eine Belastung der Steuerzahler hielt, auf das Konto von Henry Perkins … und Spencer Pike und Harry Beaumont waren seine Handlanger.«
Sie hatten einige von den Stammbaumkarten auf dem Küchenboden ausgebreitet und saßen im Schneidersitz drum herum. »Sie hielten Kriminalität und Degeneriertheit für erblich, so wie Augenfarbe oder Körpergröße. Und um aus Vermont einen Paradestaat zu machen, wollten sie für einen möglichst starken Genpool sorgen. Das hieß nach deren Logik, es musste verhindert werden, dass die Menschen, die die Erbmasse verwässerten, sich weiter fortpflanzten.«
»Wieso hat man ihnen den Quatsch überhaupt abgekauft?«
»Weil die Eugeniker der Dreißigerjahre angesehene Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Richter waren. Sie glaubten fest daran, dass das, was sie taten, auf lange Sicht für alle das Beste war.« Shelby holte Unterlagen der Jugendstrafanstalt von Vermont, der Waterbury-Klinik für Geisteskranke, des Zuchthauses hervor. »Zuerst nahmen sie sich Familien vor, von denen immer mal wieder jemand in eine Institution eingewiesen wurde. Die Chorea-Familie wurde wegen einer wiederholt auftretenden neurologischen Störung ausgewählt. Die bitterarme Piraten-Familie lebte auf Hausbooten und in Hütten an der Küste. Die Zigeuner-Familie war nicht sesshaft und geriet häufig mit dem Gesetz in Konflikt … und es waren so viele. Sie waren nicht einmal unbedingt verwandt – die Eugeniker nannten sie ›Familien‹, um so eine Nähe zu erzeugen, die nicht immer gegeben war. Jedenfalls, Ende der Zwanzigerjahre waren durch die Erhebung sechstausend Menschen registriert worden, die man in zweiundsechzig fragwürdige Abstammungslinien eingeteilt hatte. Diese Leute sollten sterilisiert werden.«
»Wieso haben die Familien überhaupt mit denen geredet? Sie hätten sich doch denken können, was die im Schilde führten«, sagte Ross.
»Wenn du bitterarm bist, in einem Zelt lebst und zehn Kinder hast, und eines Tages taucht eine elegante weiße Frau auf, die mit dir reden möchte, da lässt du sie vor lauter Überraschung rein. Und wenn sie Fotos von den Kindern sehen will, zeigst du sie ihr aus Stolz. Und wenn sie nach Verwandten fragt, erzählst du ihr ein paar Familiengeschichten. Und du hast keine Ahnung, dass deine Besucherin sich notiert, in welchen heruntergekommenen Verhältnissen du haust und wie dumm du bist, weil du Fehler machst beim Sprechen.«
Eli hatte Ross und Shelby erzählt, was er von Frankie erfahren hatte – Ahnenforschung einer anderen Art. Shelbys Entdeckung war das fehlende Glied gewesen, der Grund, warum Gray Wolf und Cecelia Pikes Verwandtschaft möglicherweise zu Cecelias Tod geführt hatte. Es war naheliegend, dass Pike angesichts seiner eugenischen Überzeugungen extrem aufgebracht reagiert hatte. Aber wäre er zu einem Mord fähig gewesen?
Eli sah sich eine der Stammbaumkarten an. Sie war schwer zu entziffern, aber leicht zu verstehen – von Generation zu Generation waren sämtliche Makel aufgeführt, die dieses Verwandtschaftsnetz für die Eugeniker interessant gemacht hatten. Ganz am Ende standen die Namen von Männern und Frauen, die Eli noch kannte und von denen die meisten ein über Gebühr schweres Leben gehabt hatten. »Wie viele Leute wurden sterilisiert?«, fragte Eli.
Shelby schüttelte den Kopf. »Darüber konnte ich keine genauen Informationen finden. Bis 1951 wurden in Vermont 210 Sterilisationen registriert – die meisten in sogenannten Anstalten für Schwachsinnige oder Heilanstalten oder im Gefängnis. Dabei waren die Leute vor allem deshalb in diesen Anstalten, weil sie nicht im Sinne der Gesellschaft lebten: Ihre Ehen zum Beispiel waren nach Vermonter Recht ungültig … also konnte das Jugendamt die Kinder in eine Besserungsanstalt stecken, die Ehefrau wegen loser Moral in eine Nervenklinik und den Ehemann als Sexualtäter ins Gefängnis.«
»Aber die Operationen waren freiwillig«, sagte Ross.
»Theoretisch. Manchmal bedurfte es lediglich der Zustimmung zweier Ärzte.«
Eli spürte einen pochenden Schmerz hinter seinem linken Auge. Er lebte schon so viele Jahre in dieser Stadt, aber noch nie hatte er von diesem Eugenik-Projekt gehört. In dem Haus, wo das Büro war, das die statistische Erhebung durchgeführt hatte, Church Street 138, war jetzt ein Laden, der Räucherstäbchen und Kerzen verkaufte.
Er dachte an die alte Tula Patou, die unten am Fluss wohnte und sechzig Jahre verheiratet war, kinderlos. An manche seiner Onkel und Tanten, die keine Kinder bekommen hatten, obwohl sie gern welche gehabt hätten. Waren sie sterilisiert worden? Wussten sie es überhaupt?
Bestimmt gab es noch Leute in Comtosook, die von der Erinnerung an das, was in den Dreißigerjahren geschehen war, verfolgt wurden. Leute, die damals nicht gewusst hatten, was sie davon halten sollten. Opfer, die aus Angst nicht darüber sprachen. Und Befürworter, die aus schlechtem Gewissen schwiegen.
Diese Entdeckung war ein Brandsatz.
Plötzlich fiel Eli wieder ein, wie er als kleiner Junge mit seiner Mutter bei der Schulanmeldung in der Schlange vor dem Sekretariat gestanden hatte. Seine Mutter hielt ihn an der Hand, wie alle anderen Mütter ihre Kinder, doch als sie fast an der Reihe waren, gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und sagte, sie würde draußen auf ihn warten. Er erinnerte sich an ihre rätselhafte Bemerkung, als er hinterher wieder zu ihr lief: »So wie du aussiehst, nehmen sie dich.«
Die Abenaki hatten die Zeit nicht vergessen, als man sie fälschlicherweise Zigeuner nannte. Sie erinnerten sich nur allzu gut daran.
Eli beugte sich über eine weitere Ahnentafel. »Was, wenn Pike es nicht gewusst hat? Was, wenn seine geliebte Frau … ein Baby zur Welt brachte, dessen Haut eine Spur zu dunkel war?«
»Und wenn sie Zeit mit Gray Wolf verbracht hatte, weil sie herausgefunden hatte, dass er ihr leiblicher Vater war …«, warf Ross ein.
»Und Pike hat fälschlicherweise angenommen, das Baby wäre von Gray Wolf.«
Für einen Mann, der so viel Mühe darauf verwandt hatte, die genetische Minderwertigkeit der Abenaki nachzuweisen, musste das ein Schock gewesen sein. Es erklärte, warum Pike das tot geborene Kind vielleicht begraben hatte, bevor die Polizei das Gesicht der Kleinen sehen konnte. Und es erklärte möglicherweise auch, warum er seine Frau getötet hatte.
»Was ist aus dem Projekt geworden? Warum wurde es eingestellt?«, fragte Ross.
Shelby begann, die Dokumente wieder einzupacken. »Weil kein Geld mehr da war«, antwortete sie. »Und dann kam Hitler. Für das Nazi-Gesetz zur Verhütung ›erbkranken Nachwuchses‹ stand das amerikanische Sterilisationsgesetz Pate.«
»Und wann wurde das Gesetz in Vermont aufgehoben?«
»Jetzt haltet euch fest«, sagte Shelby. »Gar nicht, jedenfalls nicht ganz. Die Bürgerrechtsorganisationen haben es in den Siebzigerjahren angefochten … mit dem Ergebnis, dass es umformuliert wurde … aber Tatsache ist, es gibt noch heute ein Sterilisationsgesetz.«
Plötzlich sprang Eli ein Name ins Auge. Pial Sommers, verheiratet mit Isobel DuChamps, die als schwachsinnig eingestuft worden war. Ihre Kinder: Winona, Ella und Sopi, die mit sieben Jahren gestorben war. Ella Sommers hatte einen Mann geheiratet, den sie kennengelernt hatte, als sie Kellnerin in Burlington war. Er hieß Robert Rochert, und er war Elis Vater gewesen.
Pial Sommers hatte sechs Geschwister gehabt, und er war der Einzige gewesen, der laut dieser Tafel weder geisteskrank noch kriminell, noch pervers gewesen war. Eine kurze gepunktete Linie trennte ihn von der mütterlichen Seite der Familie und zehn Cousins und Cousinen, von denen der jüngste John »Gray Wolf« Delacour hieß.
Als Eli Shelbys Haus und diese neue geballte Ladung von Albträumen verließ, war es nach drei Uhr morgens. Als es um halb sieben an seiner Tür klingelte, zog er sich zunächst ein Kissen über den Kopf, um sich dann doch in seinen Boxershorts aus dem Bett zu quälen.
Frankie stürmte in die Wohnung, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte sie und steuerte schnurstracks in die Küche, wo sie mit einem vorwurfsvollen Blick die leere Kaffeekanne hochhielt. »Ich habe den Fleck am Nachthemd für dich getestet.«
»Frankie …«
»Das Zeug, das du für Blut gehalten hast.«
»Ich weiß.«
»Tja, es war keins. Bewahrst du deinen Kaffee nicht in der Tiefkühltruhe auf wie der Rest der modernen Menschheit?« Sie drehte sich um, die Kaffeekanne noch immer in der Hand. »Du bist ja fast nackt, Mensch.«
»Ich trage eine Unterhose, wie du siehst.«
»Du hättest dir ruhig einen Bademantel überziehen können.«
»Frankie«, sagte Eli seufzend. »Ich habe höchstens drei Stunden geschlafen.«
Sie fand den Kaffee auf dem Kühlschrank und füllte ein paar Löffel in den Filter. »Es ist Mekonium.«
»Und was ist das bitte schön? Was Radioaktives?«
»Es ist Kot. Kindspech.«
»Na und? Wir wissen doch, dass die Frau in der Nacht entbunden hat.«
Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln. »Du hast gesagt, die Frau hat ein totes Baby geboren. Tote Babys scheiden kein Kindspech aus.«
Der letzte Satz bahnte sich einen Weg zu Elis Verstand und riss ihn aus seinem Nebel. »Moment mal …«
»Guten Morgen«, sagte Frankie. »Das Baby hat gelebt.«
Heute war Bingo-Tag, und obwohl Eli nicht vorhatte zu spielen, hatte ein wohlmeinender Mitarbeiter des Pflegeheims eine Karte vor ihn hingelegt. »B-11«, sagte die Spielleiterin, eine kräftige Frau in einem Overall. »B-11!«
Er sah Spencer Pike, bevor der alte Mann ihn sah, und sprach den Pfleger an, der den Rollstuhl schob. »Ich mach das schon«, sagte Eli, packte die Griffe und manövrierte den Stuhl in eine Ecke, weg von den krächzenden Lautsprechern der Bingo-Spielleiterin.
Plötzlich und unerwartet wurde Eli von einer Hasswelle erfasst. Das war der Mann, der seine Familie hatte auslöschen wollen. Das war der Mann, der sich die Entscheidung angemaßt hatte, welches Leben lebenswert war. Das war der Mann, der Gott gespielt hatte.
»Gehen Sie«, sagte Spencer Pike mit Nachdruck.
Eli fasste Pikes Schultern und drückte sie gegen die Rückenlehne. »Sie haben mich belogen, Spencer.«
»Ich weiß nicht mal, wer Sie sind.«
»Reden Sie keinen Quatsch. Ihr Verstand funktioniert noch ausgezeichnet. Ich wette, Sie können sich noch an alles erinnern, was Sie in Ihrem Leben gemacht haben. Ich wette, Sie können sich sogar an ihre Namen erinnern.«
»Wessen Namen?«
»O-75«, zwitscherte die Spielleiterin. »Sagt jemand Bingo?«
»Sie haben sich für verdammt schlau gehalten, als Sie den Cops erzählt haben, Sie hätten die Leiche Ihrer Frau gerade erst abgeschnitten. Aber Sie hatten das schon Stunden vorher getan, lange vor Ihrem Anruf bei der Polizei.«
Eine Ader pochte an der Schläfe des alten Mannes. »Das ist lächerlich.«
»Ach ja? Schon mal was von Forensik gehört, Spencer? Wissen Sie, wie viel uns ein toter Körper heutzutage erzählen kann? Zum Beispiel wann und wie ein Mensch getötet wurde und wer so blöd war, Spuren zu hinterlassen.«
Spencer versuchte vergeblich, ihn wegzustoßen. »Lassen Sie mich in Frieden.«
»Wen haben Sie zuerst getötet, Spencer? Das Baby oder Ihre Frau?«
»Pfleger!«
»Es hat Sie bestimmt verrückt gemacht zu merken, dass Sie so eine geheiratet hatten. Dass sogar Ihre Tochter so eine war.«
Pike war weiß im Gesicht geworden. »Eine was?«
»Eine Zigeunerin«, erwiderte Eli.
Fast im selben Moment hievte Pike sich mit Mühe halb aus dem Rollstuhl. Seine Haut wurde dunkel, und er starrte Eli mit glasigen Augen an. »Sie … Sie …«, keuchte er und tastete nach den Armlehnen, griff aber daneben und kippte auf den Boden. Sofort kamen zwei Pfleger auf sie zugelaufen. Eli beugte sich tief zu Pike hinunter. »Was ist das für ein Gefühl, sich nicht wehren zu können?«, flüsterte er.
Eli stand blinzelnd neben seinem Chef, der in die Kameras lächelte. Eli achtete jedoch kaum auf das eigentliche Ereignis – wie Chief Follensbee Az Thompson den Gerichtsbeschluss überreichte, der jedes Bauvorhaben auf dem Pike-Grundstück stoppte, bis sämtliche Abenaki-Gebeine umgebettet waren. Stattdessen suchte Eli die Gesichter der versammelten Menschen ab – Menschen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte und die für ihn plötzlich ganz anders aussahen.
Winks zum Beispiel hatte ein Alkoholproblem, und seine Frau hatte ihn verlassen. Doch heute strahlte er übers ganze Gesicht. Der alte Charlie Rope hatte sich diesen Augenblick auch nicht entgehen lassen wollen und hatte seine kleine Enkelin mitgebracht. Sie saß auf seinen Schultern, und Eli hörte den alten Mann zu ihr sagen: »Pass genau auf. An das hier müssen wir uns immer erinnern.«
Sogar der stoische Az Thompson, der inoffizielle Abenaki-Sprecher, war sichtlich bewegt. Das hier war ein Sieg, und davon hatte es nur wenige gegeben. Jedes Mal, wenn die Abenaki Land kaufen oder das Recht zum Fischen erwerben wollten, waren sie daran gescheitert, dass sie kein vom Staat anerkannter Stamm waren und daher keine nennenswerten Rechte besaßen. Die Indianerbehörde schrieb vor, dass eine Gruppe von Ureinwohnern nur dann als Stamm gelten könne, wenn sie eine jahrhundertealte Kulturgeschichte nachweisen konnte.
Bei den Abenaki klaffte seit den Dreißigerjahren ein Loch.
Eli hatte immer den Grund darin vermutet, dass es den Abenaki an Struktur oder Elan oder beidem fehlte. Doch jetzt fragte er sich, ob sie sich nicht selbst in eine verhängnisvolle Zwickmühle gebracht hatten. Wie Shelby am Abend zuvor erklärt hatte, waren die Abenaki, um nicht ins Visier der Eugeniker zu geraten, Mischehen eingegangen, hatten die Namen von Weißen angenommen und in typisch weißen Berufen gearbeitet. Einige hatten Vermont verlassen und sich anderen Stämmen angeschlossen. Sie hatten ihre eigenen Traditionen hinter verschlossenen Türen versteckt, um sie nicht ganz zu verlieren. Und jetzt wurden sie dafür bestraft.
Eli sah, wie einige Abenaki zu der großen Trommel gingen, die sie mitgebracht hatten. Ihre Stimmen, tief und eindringlich, verschmolzen zu einer erstaunlichen Melodie. Indiandergesänge folgten keinem vorgegebenen Verlauf. Sie waren eher wie Flüsse, die sich selbst ihren Weg suchten. Eli konnte sich noch erinnern, wie diese Musik abends ins Zelt drang und ihn in den Schlaf trug, wenn er als Kind den Sommer bei der Familie seiner Mutter am Ufer des Sees verbracht hatte.
Dieser Gesang war ihre Geschichte. Mündlich überliefert wie alle Abenaki-Erinnerungen. Eli fragte sich, wie viele von diesen Männern und Frauen sich wohl daran erinnern konnten, was in Comtosook unter der Regie von Spencer Pike geschehen war. Allein die Tatsache, dass so auffällig geschwiegen worden war, war aufschlussreich – aus irgendeinem Grund war es nicht überliefert worden. Diese Geschichte, so wurde Eli jetzt klar, war umso bedeutender, weil man den Mantel des Schweigens darübergebreitet hatte. Er schob die Hände in die Taschen und ging auf die Gruppe singender Abenaki zu. Worte stiegen in ihm auf, von denen er geglaubt hatte, er hätte sie längst vergessen.
Die Veränderungen geschahen ganz allmählich, doch weil die Menschen in Comtosook sie diesmal erwartet hatten, nahmen sie sie wahr. Wenn Klebeband nicht haftete, lächelten sie wissend. Als die Melonen in Abes Laden so reif wurden, dass es bis draußen auf der Straße nach Sommer roch, wunderte sich niemand. Die Menschen fanden vierblättrige Kleeblätter in ihren Brieftaschen zwischen den größten Scheinen. Sie hörten Rotluchse in den Bergen schluchzen. Sie fanden ihre Kopfkissen in der Nacht zu weich – alles Dinge, die die unterschiedlichsten Gründe gehabt haben könnten, die sie aber ihrem Geist zuschrieben.
Und so kam es, dass Ross, als er auf Shelbys Veranda trat, sofort das Besondere spürte. Das, was er da sah, hätte das Zufallswerk von Eichhörnchen sein können oder eine Spielerei von Kindern aus der Nachbarschaft. Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes gewesen, das da fein säuberlich siebzehn kleine Steine in Form eines Herzens arrangiert hatte.
Das da war nie und nimmer seine Mutter. Ethan saß auf dem Bett und beobachtete diese Frau, die sich für ihre Verabredung fein machte, vor sich hin summte, während sie ihre besten Ohrringe anlegte, sich etwas auf die Wimpern schmierte und Parfüm auf die seltsamsten Stellen tupfte – in die Kniekehlen, in den Bauchnabel.
»Wollt ihr beide in die Kiste?«, fragte Ethan.
»In die Kiste?«
»Na, du weißt schon. Sex und so.«
Seine Mutter, die gerade in einen hochhackigen Schuh schlüpfen wollte, geriet aus dem Gleichgewicht. »Was ist das denn für eine Frage?«
Er überlegte kurz. »Eine clevere.«
»Tja«, sagte sie. »Ich weiß noch nicht.«
Ethan zupfte an einem Faden der Bettdecke. »An deiner Stelle würd ich’s machen. Aber nur, wenn er dich mal mit seiner Knarre schießen lässt.«
Seine Mutter bekam diesen Blick, den sie immer bekam, wenn sie mit Mühe versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich sag ihm, was du als Bedingung vorgeschlagen hast.«
Ethan überlegte, was er über Sex wusste – es kam ihm alles so ekelig vor. »Aber ich glaub eigentlich nicht, dass es sich lohnt.«
Sie zog ihm die Mütze nach hinten. »Darüber reden wir noch mal, wenn du älter bist.«
»Ich werde nie ein Mädchen küssen.« Ethan sah, wie sie sich prüfend im Spiegel betrachtete. Er musste zugeben, dass sie hübsch aussah. Und irgendwas daran gab ihm das Gefühl, als würde das Zimmer sich drehen.
»Glaub mir … es kommt, wie es kommt. Irgendwann wirst du dir das mehr wünschen als alles andere auf der Welt.«
»Und wer«, fragte Ethan, »wird mich küssen wollen?«
Seine Mutter hielt inne, setzte sich dann neben ihn aufs Bett. Sie berührte sein Gesicht, als wäre es das Schönste, was sie je gesehen hatte, und nicht die kreidebleiche Maske eines Monsters. »Viele, viele kluge Frauen«, antwortete sie und sah ihm dabei in die Augen.
»Gar nicht«, entgegnete Ethan und drehte sich weg, obwohl er eigentlich meinte: Ich hoffe, ich erlebe es noch.
Sie schloss ihn in die Arme, und aus irgendeinem Grund ließ er es zu, obwohl er das Geschmuse schon seit einem Jahr nicht mehr wollte. In ihren Augen leuchtete eine Welt, die Ethan nicht mit einschloss. Und weil es früher oder später ohnehin so sein würde, fand er die Kraft, sie gehen zu lassen.
Manchmal zahlte es sich doch aus, bei der Polizei zu sein. So wie heute Nacht. Eli hatte Shelby zu ihrer ersten Verabredung etwas Besonderes bieten wollen – eine Einladung zum Essen um zwei Uhr morgens, wenn alles schon zuhatte. Er schloss die Tür des italienischen Restaurants auf und hielt sie offen, damit Shelby eintreten konnte. Sie roch Oregano und Knoblauch aus der Küche. »Verdienen Sie sich als Koch was dazu?«
»Nein … ich kenne bloß die richtigen Leute.« Er führte Shelby zu einem gedeckten Tisch. Eine Flasche Rotwein stand neben einer einzigen Kerze. Quer über einem Teller lag eine Rose.
Eddie Montero hatte Eli vor einem Monat um Hilfe gebeten, weil er eine Mitarbeiterin verdächtigte, in die Kasse zu greifen. Ein paar Überwachungskameras hatten die Täterin überführt, und Eddie war gern bereit gewesen, Eli sein Restaurant nach Geschäftsschluss zur Verfügung zu stellen, und er hatte sogar für ihn das Essen zubereitet, das jetzt warm gestellt auf sie wartete.
»Wirklich«, sagte Shelby, als er sie zu ihrem Stuhl geleitete, »ich hätte auch zur normalen Geschäftszeit gekonnt.«
»Aber dann wäre ich nicht der einzige Mann, der Sie anschaut.« In Pumps und einem engen schwarzen Kleid sah Shelby Wakeman ganz und gar nicht aus wie die graue Maus, als die sie sich in der Bibliothek gab, und auch nicht wie die erschöpfte Mutter, die sie in Wahrheit war. Sie hatte sich die Haare hochgesteckt, was ihre Augen noch leuchtender und ihren Mund noch weicher machte. Eli hatte sich schon vorher von ihr angezogen gefühlt, jetzt aber war er rettungslos verloren.
Er servierte den Salat und die Antipasti und schenkte den Wein ein. »Eddie hat den Tropfen ausgewählt«, sagte Eli und stieß mit Shelby an, lauschte dem hellen Klang nach. »Auf alle ersten Rendezvous«, sagte er.
Shelby schüttelte den Kopf. »Darauf kann ich nicht trinken.«
Eli war enttäuscht. »Nein?«
»Nein. Ich hab darüber nachgedacht, und ich möchte kein erstes Rendezvous. Die sind doch immer furchtbar, oder?«
Eli brauchte eine Sekunde. »Und was soll das hier dann sein?«
Shelby lächelte. »Unser zweites Rendezvous.«
»Das würde aber doch bedeuten, dass wir das erste schon hinter uns haben?«
»Stimmt, und dass wir schon einiges übereinander wissen.«
»Was nicht der Fall ist …«
»Immerhin genug, um jetzt hier zusammenzusitzen.«
Ein Lächeln breitete sich auf Elis Gesicht aus. »Was hat er angestellt … Ihnen ein Glas Rotwein übers Kleid geschüttet? Gesagt, Ihre Augen würden ihn an seine Ex erinnern?«
»Wer?«
»Der Typ, der Ihnen die Freude an ersten Rendezvous verdorben hat.«
Shelby faltete ihre Serviette. »Ehrlich gesagt, das hier ist mein erstes Rendezvous. Ich stütze mich da nur auf Hörensagen.«
»Das kann ich nicht glauben.«
»Oh, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, die …«
»Nein«, fiel Eli ihr ins Wort. »Ich meine, ich kann nicht glauben, dass das hier Ihr erstes Rendezvous ist.«
»Ich meinte, seit ich Ethan habe.«
Eli gab sich unbekümmert. »Was ist aus Ethans Dad geworden?«
»Als ich zuletzt was von ihm gehört habe, wohnte er in Seattle. Wir haben kaum Kontakt.« Shelby schob ihr Essen auf dem Teller herum. »Er hat sich nach Ethans Geburt von mir scheiden lassen. Er kam nicht klar damit, dass sein Kind XP hat.«
»XP«, wiederholte er.
»So heißt Ethans Krankheit … er darf keinem Sonnenlicht ausgesetzt sein. Es ist eine genetisch bedingte Hautkrankheit – sehr selten.«
Eli hatte kurz mit Ethan darüber gesprochen. Er konnte sich nur noch erinnern, dass der Junge gesagt hatte, er würde nicht lange leben. »Wird er … wird er wieder gesund?«
»Nein«, sagte Shelby leise. »Das wird er nicht.«
Eli legte seine Gabel hin. »Die Ärzte können nichts tun?«
»Nein.«
Eli und seine Frau hatten keine Kinder bekommen. Er fragte sich jetzt, was er getan hätte, wenn sie ihn nicht nur verlassen, sondern auch sein Kind mitgenommen hätte.
»Ethan ist ein toller Junge«, sagte Eli.
Sie lächelte. »Er hat mir heute Abend einen Ratschlag mit auf den Weg gegeben. Ross auch.«
»Ach ja?«
»Ross hat gesagt, ich sollte keinem Mann trauen, der sein Geld damit verdient, andere Leute zu einem Geständnis zu bringen.«
»Und Ethan?«
»Seine weisen Worte behalte ich vielleicht besser für mich«, sagte Shelby lachend.
Eli lehnte sich zurück. »Ihr Bruder ist ein interessanter Mann.«
»Das haben Sie aber nett gesagt«, erwiderte Shelby und strich etwas Butter auf ein Stück Brot. »Die meistens halten ihn für einen ziellosen Vagabunden und Versager.«
»Aber Sie doch wohl nicht.«
»Nein. Ich glaube, er hat sich verirrt. Und das ist ein Zustand, der nur so lange andauert, bis man von jemandem gefunden wird.« Eine Strähne löste sich aus ihrem hochgesteckten Haar; sie schob sie sich hinters Ohr. »Das Glück fällt manchen Menschen leichter zu als anderen. Ross möchte glücklich sein, mehr als sonst jemand, den ich kenne. Aber es gelingt ihm einfach nicht.«
»Und Sie?«, fragte er. »Wer ist für Sie da?«
Eli griff nach Shelbys Hand, mit der sie fest den Stiel ihres Weinglases umklammerte. Er sah, wie ihr Mund sich entspannte, doch dann entzog sie ihm ihre Hand wieder. »Was mache ich denn, fabuliere hier so vor mich hin …«
»Warum tun Sie das?«, fragte er.
»Was?«
»Warum benutzen Sie dauernd diese Fremdwörter?«
»Fabulieren? Aber das bedeutet …«
»Ich möchte bloß wissen, warum Sie nie sagen, was Sie wirklich meinen.«
Eli dachte, sie würde der Frage ausweichen, aber sie blickte ihm direkt in die Augen. »Bei Wörtern weiß ich, was ich habe. Wenn ich die richtigen wähle, gibt es keine Überraschungen.«
Er beugte sich ein wenig vor. »Na los. Wagen Sie einen Vorstoß.«
Sie zögerte, senkte dann die Stimme, als wären noch andere Leute da. »Wieso gerade ich, Eli?«
Er stand auf und zog sie an sich, als wäre das die Antwort auf ihre Frage.
»Wieso?«, wiederholte Shelby.
»Weil beim zweiten Rendezvous nun mal getanzt wird«, sagte Eli, als hätte er sie missverstanden. Er zog sie enger an sich, spürte ihren Kopf unter seinem Kinn, ihre Wange an seinem Schlüsselbein.
»Wir haben keine Musik.«
»Glaubst du?«, sagte Eli leise und wiegte Shelby weiter in den Armen, bis auch sie den silbernen Klang von gar nichts hörte.
Ross stand an der höchsten Stelle der Granitwand im Steinbruch und sah zu, wie sein Neffe über riesige Felsbrocken kletterte. Er war überrascht, dass es ihn, wo er doch immer so leichtsinnig mit seinem Leben umgegangen war, so nervös machte zuzusehen, wie jemand, den er liebte, ein Risiko einging. Aber Ethan hatte sich eine abenteuerliche Nacht gewünscht. Und Ross hatte ihm den Wunsch unbedingt erfüllen wollen.
Er hatte sich die Erlaubnis vom Wachmann geholt, von Az Thompson. Da Shelby zu ihrem nächtlichen Rendezvous gegangen war, wusste Ross, dass er für den Ausflug mit Ethan ein paar Stunden Zeit hatte. Az stand neben Ross und schaute zu, wie Ethan ein langes, rosafarbenes Granitstück hinabrutschte. »Sie kriegen doch hoffentlich keinen Ärger deswegen, oder?«, fragte Ross.
»Nur wenn dem Jungen was passiert.«
»Der soll sich hüten.«
»Kriegen Sie denn Ärger?«, fragte Az.
»Wahrscheinlich«, gab Ross zu. »Ich soll schließlich auf ihn aufpassen.« Er trat gegen einen Kieselstein, der über den Rand der Wand in die Tiefe fiel. »Übrigens, ich hab mich noch gar nicht wegen neulich bedankt.«
»Nicht der Rede wert.«
Ross schüttelte den Kopf. »Ich … also, es war eine Menge passiert, kurz bevor Sie aufgetaucht sind. Ich hab meinen Geist gefunden.«
»Hab ich gehört.«
»Sie klingen nicht überrascht.«
»Mich musste man ja auch nicht mehr überzeugen«, erwiderte Az.
»Eli Rochert hat gesagt, Sie haben eine Art Zeremonie vor.«
»Freitag, im Morgengrauen. Kommen Sie?«
Ross verschlug es die Sprache. Eli hatte gesagt, an dem Ritual sollten nur die für die Exhumierung der sterblichen Überreste erforderlichen Vertreter der entsprechenden Behörden sowie die spirituellen Führer der Abenaki teilnehmen, weshalb Ross sich keine Illusionen gemacht hatte, eingeladen zu werden. Und er hatte sich eingeredet, wenn er die Gebeine der Frau sehen würde, die nur für ihn wieder lebendig geworden war, wäre das, als würde er sie ein zweites Mal verlieren.
Aber andererseits wünschte er sich sehnlichst, dabei zu sein. Denn es bestand die Möglichkeit, dass Lias Geist Zeuge sein wollte, wenn Lias Körper zur letzten Ruhe gebettet wurde. Und wenn sie Ross sähe, würde sie diesmal vielleicht nicht wieder gehen.
»Ich komme«, sagte Ross leise.
Az verschränkte die Arme vor der Brust. »Statt dieses Grab zu öffnen, sollten sie lieber Spencer Pike lebendig begraben.«
Ross blickte Az forschend an. Az, der gegen das Bauprojekt auf dem Pike-Grundstück schon protestiert hatte, bevor konkrete Beweise vorlagen. Az, der so alt war, dass er von Spencer Pikes Feldzug für die Sterilisation gehört haben musste. Eli hatte ihm erzählt, dass der alte Mann in den Siebzigerjahren aus dem Mittleren Westen nach Comtosook gezogen war. Aber Shelby hatte gesagt, dass einige Abenaki in den Dreißigerjahren vor den Geschehnissen in Vermont geflüchtet waren – zum Stamme der Ojibway in Michigan und Minnesota und Wisconsin. Sie hatten ihre Geschichten mitgenommen. Und Az hatte sie sicherlich gehört.
»Wie viel haben Sie gewusst?«, fragte Ross.
Az zuckte die Achseln. »Genug.«
»Aber Sie haben es niemandem gesagt. Sie hätten Eli doch die Sache mit Spencer Pike und den Eugenikern direkt erzählen können.«
»Was nützt es, alte Wunden aufzureißen, wenn sich daraufhin doch nichts verändert?«
»Doch. Es verhindert, dass so etwas noch einmal passiert.«
Az blickte skeptisch. »Glauben Sie das wirklich?«
Ross wollte schon nicken, doch dann wurde ihm klar, dass es eine Lüge wäre. Die Wahrheit war, dass Geschichte sich Tag für Tag wiederholte, dass die gleichen Fehler immer wieder gemacht wurden. Die Menschen wurden genauso von ihren Taten verfolgt wie von dem, was sie nicht mehr hatten tun können. »Gray Wolf«, sagte er unvermittelt. »Sie wissen, was aus ihm geworden ist, nicht?«
Der alte Mann blickte hinauf zu dem gelben Auge des Mondes. »Dort, wo ich gelebt habe, ging alle paar Jahre das Gerücht, dass irgendwer ihn gesehen hatte. In der Warteschlange in der Bank oder hinten im Bus oder beim Blackjack in einem Casino.«
»Wie Elvis.« Ross lächelte. Er hätte es sich denken können. Die Wirklichkeit wurde manchmal zur Legende, aber umgekehrt funktionierte es nie. »Na ja, ist wahrscheinlich sowieso egal. Der Mann muss ja längst tot sein.«
»Ich bin hundertzwei«, sagte Az leise, »aber wer zählt da noch mit.«