11. April 1930
Hotel Magnolia
Omaha, Nebraska
AN ALLE, DIE ES ANGEHT!
Mein Name ist Wilfred Leland James, und dies ist mein Geständnis. Im Juni 1922 habe ich meine Frau Arlette Christina Winters James ermordet und ihre Leiche versteckt, indem ich sie in einen alten Brunnen gekippt habe. Mein Sohn Henry Freeman James hat mir bei diesem Verbrechen geholfen, war aber mit 14 noch nicht strafmündig; ich habe ihn dazu verleitet, indem ich seine Ängste geschürt und seine verständlichen Einwände über einen Zeitraum von 2 Monaten hinweg niedergemacht habe. Das ist etwas, was ich aus Gründen, die dieses Schriftstück aufzeigen wird, sogar noch mehr bereue als mein Verbrechen.
Der Grund für mein Verbrechen und meine Verdammnis waren 40 Hektar gutes Land in Hemingford Home, Nebraska. Es wurde meiner Frau von ihrem Vater John Henry Winters vermacht. Ich wollte dieses Land unserer Farm zuschlagen, die im Jahr 1922 insgesamt 30 Hektar groß war. Meine Frau, die sich nie recht an das Leben auf einer Farm (oder als Farmersfrau) gewöhnen konnte, wollte es gegen bar an die Farrington Company verkaufen. Als ich sie fragte, ob sie wirklich im Windschatten eines Schweineschlachthauses von Farrington leben wolle, erklärte sie mir, wir könnten nicht nur das Land ihres Vaters, sondern gleich
»Ich werde niemals in Omaha leben«, sagte ich. »Städte sind was für Dummköpfe.«
Eine Ironie des Schicksals, wenn man bedenkt, wo ich jetzt lebe, aber ich werde nicht mehr lange hier leben; das weiß ich so gut, wie ich weiß, was die Geräusche macht, die ich in den Wänden höre. Und ich weiß, wo ich mich wiederfinden werde, wenn dieses irdische Leben abgeschlossen ist. Ich frage mich nur, ob die Hölle schlimmer sein kann als die Stadt Omaha. Vielleicht ist sie die Stadt Omaha, nur nicht von gutem Land umgeben, sondern von einer rauchenden, nach Schwefel stinkenden Leere voller verlorener Seelen wie meiner.
Im Winter und im Frühjahr 1922 stritten wir uns erbittert wegen dieser 40 Hektar. Henry geriet ins Kreuzfeuer, neigte jedoch mehr zu meiner Auffassung; er ähnelte seiner Mutter, was ihr Aussehen betraf, aber mir in seiner Liebe zum Land. Er war ein fügsamer Junge, der nichts von der Überheblichkeit seiner Mutter an sich hatte. Immer wieder erklärte er ihr, er wolle weder in Omaha noch in irgendeiner anderen Stadt leben und werde nur mitgehen, wenn sie und ich uns einigten, was aber nie der Fall war.
Ich überlegte, ob ich mich an die Justiz wenden sollte, weil ich davon überzeugt war, jedes Gericht des Landes werde mein Recht bestätigen, als Ehemann über die zweckmäßige Verwendung dieses Stück Landes zu entscheiden. Etwas hielt mich jedoch zurück. Es war nicht die Angst, die Nachbarn könnten tratschen, den ländlichen Klatsch fürchtete ich überhaupt nicht; es war etwas anderes. Ich hatte sie
Ich glaube, dass in jedem Mann ein weiterer Mann steckt: ein Fremder, ein hinterhältiger Kerl. Und ich glaube, dass der Hinterhältige in Farmer Wilfred James im März 1922, als der Himmel über der Hemingford County weiß und alle Felder mit Schnee gesprenkelte Schlammflächen waren, bereits sein Urteil über meine Frau gefällt und über ihr Schicksal entschieden hatte. Und es war ein Urteil von der Art, die unter schwarzen Baretten gesprochen wird. Bei Shakespeare heißt es, ein undankbares Kind nage schärfer als ein Schlangenzahn, aber eine nörgelnde und undankbare Ehefrau nagt noch viel schärfer.
Ich bin kein Ungeheuer; ich habe versucht, sie vor dem Hinterhältigen zu retten. Ich erklärte ihr, wenn wir uns nicht einigen könnten, solle sie zu ihrer Mutter nach Lincoln ziehen, das sechzig Meilen weiter westlich liegt - eine gute Entfernung für eine Trennung, die nicht ganz eine Scheidung ist, aber doch eine Auflösung der ehelichen Gemeinschaft signalisiert.
»Und dir das Land meines Vaters überlassen, meinst du?«, sagte sie und warf den Kopf zurück. Wie ich dieses kecke Kopfhochwerfen, das an ein schlecht dressiertes Pony erinnerte, und das Schnauben, von dem es stets begleitet wurde, hassen gelernt hatte! »Dazu kommt es nie, Wilf.«
Ich bot ihr an, ihr das Land abzukaufen, wenn sie darauf bestehe. Das würde einige Zeit dauern - acht Jahre, vielleicht zehn -, aber ich würde ihr jeden Cent zahlen.
»Kleine Einnahmen sind schlechter als gar keine«, antwortete sie (mit einem weiteren Schnauben und Kopfhochwerfen). »Das weiß jede Frau. Die Farrington Company zahlt alles auf einmal, und denen ihre Vorstellung von einem guten Preis ist bestimmt großzügiger als deine. Und in Lincoln will ich auf gar keinen Fall leben. Das ist keine
Begreifen Sie meine Situation? Verstehen Sie nicht, in welche »Klemme« sie mich gebracht hat? Darf ich nicht wenigstens auf etwas Sympathie von Ihrer Seite hoffen? Nein? Dann hören Sie sich Folgendes an.
Anfang April jenes Jahres - meines Wissens auf den Tag genau vor acht Jahren - kam sie ganz fröhlich und heiter zu mir. Sie hatte den größten Teil des Tages im »Schönheitssalon« in McCook verbracht, und ihr Haar hing auf beiden Seiten ihres Gesichts in dicken Locken herab, die mich an die Klopapierrollen erinnerten, die man in Hotels und Gaststätten findet. Sie sagte, sie habe eine Idee. Wir sollten nicht nur die 40 Hektar, sondern tatsächlich auch die Farm an die Farrington Company verkaufen. Ihrer Überzeugung nach würde die beides kaufen, nur um das Stück Land ihres Vaters zu bekommen, das in der Nähe der Bahnlinie lag (und damit hatte sie wahrscheinlich recht).
»Dann«, sagte dieses freche Weibsbild, »können wir uns das Geld teilen, uns scheiden lassen und jeder für sich ein neues Leben beginnen. Dass du das willst, wissen wir beide.« Als ob das nicht auch ihr Wunsch gewesen wäre.
»Mhm«, sagte ich (als dächte ich ernsthaft über diese Idee nach). »Und bei wem von uns bleibt der Junge?«
»Natürlich bei mir«, sagte sie mit großen Augen. »Ein vierzehnjähriger Junge gehört zu seiner Mutter.«
Gleich am selben Tag fing ich an, Henry zu »bearbeiten«, indem ich ihm den neuesten Plan seiner Mutter schilderte. Wir waren gerade im Heuschober. Ich setzte mein traurigstes Gesicht auf, sprach mit meiner traurigsten Stimme und malte ihm aus, wie sein Leben aussehen würde, wenn seine Mutter diesen Plan verwirklichten dürfte: wie er weder Farm noch Vater haben würde, wie er sich ohne seine Freunde (die meisten aus früher Kindheit) in einer viel
»Hier bei dir bleiben, Papa«, sagte er. Die Tränen liefen ihm nur so übers Gesicht. »Warum muss sie so ein … so ein …«
»Nur weiter«, sagte ich. »Wer die Wahrheit sagt, flucht nicht, mein Sohn.«
»So ein Miststück sein?«
»Weil die meisten Frauen so sind«, sagte ich. »Das ist ein tief sitzender Wesenszug von denen. Fragt sich nur, was wir dagegen tun wollen.«
Aber der Hinterhältige in mir hatte bereits an den alten Brunnen hinter dem Kuhstall gedacht, aus dem wir nur das Wasser fürs Vieh holten, weil er so seicht und schlammig war - bloß 7 Meter tief und kaum mehr als ein Siel. Es ging nur darum, Henry so weit zu bringen. Und ich musste es tun, das sehen Sie bestimmt ein; ich durfte zwar meine Frau umbringen, aber ich musste meinen wundervollen Sohn retten. Wozu nach 70 Hektar Land - oder tausend - streben, wenn man niemanden hat, mit dem man sie teilen, dem man sie vererben kann?
Ich gab vor, über Arlettes verrückten Plan nachzudenken, auf gutem Maisland ein Riesenschlachthaus für Schweine bauen zu lassen. Ich bat sie, mir Zeit zu geben, mich an ihn an eine ganz andere Vorstellung. Das war sogar leichter als gedacht; er hatte zwar das gute Aussehen seiner Mutter (das Aussehen einer Frau ist sozusagen der Honig, der Männer zum Bienenstock lockt, wo’s dann Stiche setzt), aber nicht ihre gottserbärmliche Sturheit geerbt. Es war lediglich nötig, ihm auszumalen, wie sein Leben in Omaha oder St. Louis aussehen würde. Ich sprach die Möglichkeit an, dass selbst diese beiden übervölkerten Ameisenhaufen sie vielleicht nicht befriedigen würden; sie könnte beschließen, nur Chicago sei gut genug. »Dann«, sagte ich, »könntest du erleben, dass du mit schwarzen Niggern auf die Highschool gehen musst.«
Das Verhältnis zu seiner Mutter kühlte zusehends ab; nach einigen Bemühungen, seine Zuneigung wiederzugewinnen - alle unbeholfen, alle zurückgewiesen -, reagierte sie ebenso kalt. Ich (oder vielmehr der Hinterhältige) frohlockte darüber. Anfang Juni teilte ich ihr mit, nach reiflicher Überlegung sei ich entschlossen, sie diese 40 Hektar nie kampflos verkaufen zu lassen; wenn es nicht anders gehe, würde ich uns eben alle in Armut und Ruin stürzen.
Sie blieb ruhig. Sie beschloss, selbst juristischen Rat einzuholen (denn wie wir wissen, ist die Justiz jedermanns Freund, der sie bezahlt). Das hatte ich vorausgesehen. Und lächelte darüber! Sie konnte solchen Rat nämlich nicht bezahlen. Unterdessen hatte ich die Hand auf dem wenigen Bargeld, das wir besaßen. Henry übergab mir sogar sein Sparschwein, als ich es verlangte, damit sie nichts daraus stehlen konnte, so kümmerlich diese Quelle auch sein mochte. Sie suchte natürlich die Farrington Company in Deland auf, weil sie sich (wie ich selbst) sicher war, dass diese Leute, die so viel zu gewinnen hatten, ihr die Anwaltskosten vorstrecken würden.
»Sie werden’s tun, und sie wird gewinnen«, erklärte ich Henry im Heuschober, in dem jetzt alle unsere Gespräche stattfanden. Ich war nicht völlig davon überzeugt, aber mein Entschluss, den ich noch nicht »einen Plan« nennen will, stand bereits fest.
»Aber das ist nicht fair, Papa!«, rief er aus. Wie er so im Heu saß, sah er sehr jung aus, eher wie 10 als 14.
»Das ist das Leben nie«, sagte ich. »Manchmal muss man sich einfach nehmen, was man haben muss. Auch wenn dabei jemand verletzt wird.« Ich machte eine Pause und musterte seinen Gesichtsausdruck. »Auch wenn dabei jemand stirbt.«
Er wurde leichenblass. »Papa!«
»Wäre sie weg«, sagte ich, »wäre wieder alles wie früher. Aller Streit würde aufhören. Wir könnten hier friedlich leben. Ich habe ihr alles Menschenmögliche geboten, damit sie geht, aber sie tut’s nicht. Es gibt nur noch eine Sache, die ich tun kann. Die wir tun können.«
»Aber ich liebe sie!«
»Ich liebe sie auch«, sagte ich. Was sogar stimmte, auch wenn Sie’s vielleicht nicht glauben werden. Der Hass, den ich im Jahr 1922 für sie empfand, war größer als der, den ein Mann für irgendeine Frau empfinden kann, wenn nicht Liebe im Spiel ist. Und obwohl Arlette verbittert und eigensinnig war, war sie von Natur aus warmherzig. Unsere »ehelichen Beziehungen« hatten nie aufgehört, obwohl unsere Handgemenge im Dunkeln seit dem Streit wegen der 40 Hektar immer mehr der Paarung brünstiger Tiere glichen.
»Es muss nicht wehtun«, sagte ich. »Und wenn’s vorbei ist … nun …«
Ich ging mit ihm hinter die Scheune und zeigte ihm den Brunnen, wo er in bittere Tränen ausbrach. »Nein, Papa. Das nicht. Auf keinen Fall.«
Als sie dann aus Deland zurückkam (Harlan Cotterie, unser nächster Nachbar, hatte sie das größte Stück hingefahren, so dass sie nur noch zwei Meilen hatte gehen müssen) und Henry sie anflehte, »aufzuhören, damit wir einfach wieder eine Familie sein können«, geriet sie in Wut, schlug ihm ins Gesicht und forderte ihn auf, nicht wie ein Hund zu winseln.
»Dein Vater hat dich mit seinem Kleinmut angesteckt. Noch schlimmer, er hat dich mit seiner Geldgier angesteckt.«
Als ob sie von dieser Sünde frei gewesen wäre!
»Der Anwalt versichert mir, dass ich mit meinem Land tun kann, was mir gefällt, und ich werde es verkaufen. Was euch zwei betrifft, könnt ihr hier hocken und abgesengte Schweineborsten riechen und euer Essen selbst kochen und eure Betten selbst machen. Du, mein Sohn, kannst den ganzen Tag pflügen und die ganze Nacht seine ewigen Bücher lesen. Ihm haben sie wenig genützt, aber vielleicht kommst du ja besser damit klar. Wer weiß?«
»Mama, das ist nicht fair!«
Sie sah ihren Sohn an, wie eine Frau einen Fremden ansehen würde, der sich herausgenommen hatte, sie am Arm zu berühren. Und wie mein Herz jubelte, als ich ihn ihren Blick ebenso kalt erwidern sah! »Ihr könnt zum Teufel gehen, alle beide. Was mich betrifft, ich gehe nach Omaha und mache da ein Modegeschäft auf. Das ist meine Vorstellung von fair.«
Dieses Gespräch fand in dem staubigen Hof zwischen Haus und Scheune statt, und ihre Idee von fair war das letzte Wort. Sie marschierte über den Hof, wobei sie mit ihren zierlichen Stadtschuhen kleine Staubwolken aufwirbelte, verschwand im Haus und knallte die Tür zu. Henry wandte sich mir zu. Er hatte Blut im Mundwinkel, und seine Unterlippe schwoll an. In seinem Blick lag die rohe,
Jener Schlag ins Gesicht war ihr Todesurteil.
Als Henry zwei Tage später im neuen Mais zu mir kam, sah ich, dass er wieder wankend geworden war. Ich war weder bestürzt noch überrascht; die Jahre zwischen Kindheit und Erwachsensein sind stürmische Jahre, und wer sie durchlebt, kreiselt wie die Wetterhähne, die manche Farmer im Mittleren Westen damals auf ihren Getreidesilos anbrachten.
»Wir dürfen nicht«, sagte er. »Papa, sie befindet sich im Irrtum. Und wer im Irrtum stirbt, kommt in die Hölle.«
Zum Teufel mit der Methodistenkirche und ihrem Jugendbund, dachte ich … aber der Hinterhältige lächelte nur. In den folgenden zehn Minuten theologisierten wir im grünen Mais, während die Frühsommerwolken - jene willkommenen Wolken, die wie Schoner schwimmen - langsam über uns hinwegsegelten und ihre Schatten wie Kielwasser hinter sich herzogen. Ich setzte ihm auseinander, dass wir Arlette keineswegs in die Hölle, sondern in den Himmel schicken würden. »Denn«, sagte ich, »ein Ermordeter oder eine Ermordete stirbt nicht auf Geheiß Gottes, sondern durch Menschenhand. Er … oder sie … wird aus dem Leben gerissen, bevor er … oder sie … alle Sünden wiedergutmachen kann. Also müssen alle Irrtümer vergeben werden. Wenn man die Sache so betrachtet, ist jeder Mörder eine Himmelspforte.«
»Aber was ist mit uns, Papa? Würden wir nicht in die Hölle kommen?«
Ich deutete auf die Felder, auf das schöne neue Wachstum. »Wie kannst du das sagen, wo du um uns herum
Er starrte mich beunruhigt an. Finster. Ich bedauerte es, das Wesen meines Sohns solcherart zu verfinstern, aber irgendwie glaubte ich damals - und tue es noch heute -, dass nicht ich ihm das antat, sondern sie.
»Und denk daran«, sagte ich. »Wenn sie nach Omaha geht, dann gräbt sie sich selbst einen noch tieferen Höllenpfuhl. Wenn sie dich mitnimmt, wirst du ein Stadtjunge …«
»Niemals!« Er rief das so laut, dass die Krähen vom Weidezaun aufflogen, um wie verkohltes Papier durch den blauen Himmel davonzuwirbeln.
»Du bist jung, und du wirst einer werden«, sagte ich. »Du wirst all das hier vergessen … du wirst das Stadtleben annehmen … und anfangen, deinen eigenen Höllenpfuhl zu graben.«
Hätte er erwidert, Mörder dürften nicht darauf hoffen, wie ihre Opfer in den Himmel zu kommen, wäre ich vermutlich um eine Antwort verlegen gewesen. Aber entweder reichte sein theologisches Verständnis nicht so weit oder er wollte nicht über solche Dinge nachdenken. Gibt es die Hölle überhaupt, oder erschaffen wir sie uns auf Erden selbst? Wenn ich an die letzten acht Jahre meines Lebens zurückdenke, plädiere ich für Letzteres.
»Wie?«, fragte er. »Wann?«
Ich sagte es ihm.
»Und wir können danach hier weiterleben?«
Ich bejahte es.
»Und es tut ihr nicht weh?«
»Nein«, sagte ich. »Es geht ganz schnell.«
Er wirkte zufrieden. Es hätte allerdings noch immer nicht passieren müssen, hätte Arlette sich anders verhalten.
Wir entschieden uns für einen Donnerstagabend ungefähr in der Mitte eines Junis, der zu den schönsten gehörte, an die ich mich erinnern kann. An Sommerabenden trank Arlette gern einmal ein Glas Wein, jedoch selten mehr. Aus gutem Grund. Sie gehörte zu den Menschen, die nie zwei Gläser trinken können, ohne vier, dann sechs, dann die ganze Flasche zu leeren. Und eine zweite Flasche, wenn eine da ist. »Ich muss sehr vorsichtig sein, Wilf. Der schmeckt mir zu gut. Zum Glück habe ich einen starken Willen.«
An jenem Abend saßen wir auf der Veranda, beobachteten den letzten Lichtschimmer über den Feldern und horchten auf das einschläfernde Zirpen der Grillen. Henry war in seinem Zimmer. Er hatte sein Abendessen kaum angerührt, und während Arlette und ich in unseren Schaukelstühlen saßen, deren Kissen passenderweise mit MA und PA bestickt waren, glaubte ich, ein leises Geräusch zu hören, so als müsste er sich übergeben. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass er im entscheidenden Moment wohl schlappmachen würde. Seine Mutter würde morgen früh verkatert aufwachen, ohne zu ahnen, wie nahe sie daran gewesen war, nie wieder einen Sonnenaufgang in Nebraska zu erleben. Trotzdem machte ich wie geplant weiter. Weil ich einer dieser russischen Matroschka-Puppen glich? Vielleicht. Vielleicht ist jeder Mann so. In mir steckte der Hinterhältige, aber in dem Hinterhältigen steckte wiederum der Hoffnungsvolle. Dieser Bursche starb irgendwann zwischen 1922 und 1930. Der Hinterhältige verschwand einfach, nachdem sein schändliches Werk getan war. Ohne seine ehrgeizigen, wiewohl unredlichen Pläne kam mir das Leben nur noch hohl vor.
Ich hatte die Flasche auf die Veranda mitgenommen, aber als ich Arlette nachschenken wollte, bedeckte sie ihr Glas mit der Hand. »Du brauchst mich nicht betrunken zu machen, um zu kriegen, was du willst. Ich will es ja auch.
Mich juckt es hier unten.« Sie machte die Beine breit und legte eine Hand in den Schritt, um mir zu zeigen, wo es sie juckte. In ihr steckte eine ordinäre Person - vielleicht sogar eine Hure -, die der Wein immer zum Vorschein brachte.
»Trink trotzdem noch ein Glas«, sagte ich. »Wir haben etwas zu feiern.«
Sie betrachtete mich misstrauisch. Schon von einem Glas Wein wurden ihre Augen feucht (als würde sie irgendwie um all den Wein, den sie wollte, aber nicht kriegte, Tränen vergießen), und im Widerschein des Sonnenuntergangs sahen sie so orangerot aus wie die Augen einer Kürbislaterne, in der eine brennende Kerze steht.
»Es wird keinen Prozess geben«, erklärte ich ihr, »und keine Scheidung. Wenn die Farrington Company es sich leisten kann, uns außer den 40 Hektar deines Vaters meine 30 abzukaufen, ist unser Streit beendet.«
Zum ersten und einzigen Mal in unserer unruhigen Ehe stand ihr buchstäblich der Mund offen. »Was sagst du da? Hab ich das richtig gehört? Versuch bloß nicht, mich zum Narren zu halten, Wilf!«
»Das tue ich nicht«, sagte der Hinterhältige. Er sprach mit aufrichtigem Ernst. »Henry und ich haben lange darüber gesprochen …«
»Ihr habt wie Pech und Schwefel zusammengehalten, das ist wahr«, sagte sie. Sie hatte die Hand von ihrem Glas genommen, und ich nutzte die Gelegenheit, um ihr nachzuschenken. »Habt ständig im Heuschober oder auf dem Holzstoß gehockt oder auf dem Feld die Köpfe zusammengesteckt. Ich dachte immer, es geht um die kleine Cotterie.« Ein Schnauben und ein Kopfhochwerfen. Aber ich glaubte, auch etwas Wehmut zu erkennen. Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem zweiten Glas Wein. Zwei weitere kleine Schlucke, dann würde sie das Glas noch abstellen und ins Bett gehen können. Vier weitere, dann konnte ich ihr genauso
»Nein«, sagte ich. »Wir haben nicht über Shannon geredet.« Allerdings hatte auch ich gesehen, wie Henry manchmal mit der kleinen Cotterie Händchen hielt, wenn sie die zwei Meilen zur Schule in Hemingford Home gingen. »Wir haben über Omaha gesprochen. Er will dorthin, schätze ich.« Ich durfte nicht zu dick auftragen, nicht nach einem einzigen Glas Wein und zwei kleinen Schlucken aus einem weiteren. Sie war von Natur aus misstrauisch, meine gute Arlette, stets auf der Suche nach einem verborgenen Motiv. Und in diesem Fall hatte ich natürlich eines. »Wenigstens mal einen Versuch damit machen. Und Omaha ist nicht allzu weit von Hemingford entfernt …«
»Nein, das ist es nicht. Wie ich euch beiden schon tausendmal gesagt habe.« Sie trank noch einen kleinen Schluck, aber statt das Glas wie zuvor abzustellen, behielt sie es nun in der Hand. Der orangerote Lichtschein am Horizont wurde zu einem unwirklichen dunklen Purpurgrün, das in dem Weinglas zu brennen schien.
»Wäre es St. Louis, wäre die Sache anders.«
»Den Gedanken habe ich aufgegeben«, sagte sie. Was natürlich bedeutete, dass sie diese Möglichkeit erkundet, aber problematisch gefunden hatte. Natürlich hinter meinem Rücken. Alles hinter meinem Rücken bis auf die Sache mit dem Firmenanwalt. Aber auch zu dem wäre sie heimlich gegangen, wenn sie ihn nicht als Druckmittel gegen mich hätte einsetzen wollen.
»Glaubst du, dass sie das ganze Stück kaufen werden?«, fragte ich. »Alle 70 Hektar?«
»Woher soll ich das wissen?« Wieder ein kleiner Schluck. Das zweite Glas war halb leer. Hätte ich jetzt gesagt, sie habe genug, und versucht, ihr das Glas wegzunehmen, hätte sie es nicht mehr hergegeben.
»Du weißt es bestimmt«, sagte ich. »Diese 70 Hektar sind wie St. Louis. Du hast dich sachkundig gemacht.«
Sie sah mich mit schlauem Blick von der Seite an … dann brach sie in raues Gelächter aus. »Vielleicht hab ich’s getan.«
»Ich finde, wir könnten uns ein Haus am Stadtrand suchen«, sagte ich. »Damit wir wenigstens Ausblick auf ein paar Felder haben.«
»Wo du den ganzen Tag im Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen und zur Abwechslung deine Frau die ganze Arbeit machen lassen kannst? Hier, schenk noch mal nach. Wenn wir feiern, dann richtig.«
Ich füllte beide Gläser. In meines kam nur ein Spritzer, weil ich bislang nur einen einzigen Schluck getrunken hatte.
»Ich könnte mir vielleicht Arbeit als Mechaniker suchen. Autos und Lastwagen und natürlich Landmaschinen. Wenn ich den alten Farmall-Traktor da in Schuss halten kann …« Ich deutete mit meinem Glas auf den dunklen Koloss neben der Scheune. »… kann ich vermutlich auch alles andere am Laufen halten.«
»Und Henry hat dich dazu überredet.«
»Er hat mich davon überzeugt, dass es besser ist, die Chance zu ergreifen, in der Stadt glücklich zu werden, als hier in sicherem Elend allein zu bleiben.«
»Der Junge beweist Vernunft, und der Mann hört auf ihn! Endlich! Halleluja!« Sie leerte ihr Glas und hielt es mir hin, um sich nachschenken zu lassen. Dabei umklammerte sie meinen Arm und lehnte sich so weit herüber, dass ich in ihrem Atem vergorene Trauben riechen konnte. »Vielleicht bekommst du heute Nacht diese Sache, die du so magst, Wilf.« Sie berührte die Mitte ihrer Oberlippe mit der purpurrot gefärbten Zungenspitze. »Diese garstige Sache.«
»Darauf freue ich mich schon«, sagte ich. Wenn es nach mir ginge, würde in dieser Nacht in dem Bett, das wir uns seit 15 Jahren teilten, etwas noch Garstigeres passieren.
»Henry soll herkommen«, sagte sie. Inzwischen sprach sie mit schwerer Zunge. »Ich will ihm dazu gratulieren, dass ihm endlich ein Licht aufgegangen ist.« (Habe ich erwähnt, dass das Verb danken nicht zum Wortschatz meiner Frau gehörte? Möglicherweise nicht. Vielleicht ist das inzwischen auch nicht mehr nötig.) Ihre Augen glänzten, weil ihr offenbar etwas einfiel. »Wir geben ihm ein Glas Wein! Er ist alt genug!« Sie stieß mich mit dem Ellbogen an wie einer der alten Männer, die man auf den Bänken vor dem Gerichtsgebäude sitzen sieht, wo sie sich schmutzige Witze erzählen. »Wenn wir seine Zunge ein bisschen lockern, erfahren wir vielleicht sogar, was er mit Shannon Cotterie treibt … ein kleines Flittchen, aber sie hat schönes Haar, das muss man ihr lassen.«
»Trink erst noch ein Glas Wein«, sagte der Hinterhältige.
Sie trank sogar zwei weitere, dann war die Flasche leer. (Die erste Flasche.) Inzwischen sang sie mit ihrer besten Minstrel-Stimme »Avalon« und gab ihr bestes Minstrel-Augenrollen. Es war schmerzlich anzusehen und noch schmerzlicher anzuhören.
Ich ging in die Küche, um eine weitere Flasche Wein zu holen, und hielt den Zeitpunkt für gekommen, Henry zu rufen. Obwohl ich mir, wie schon gesagt, keine großen Hoffnungen machte. Ich konnte es nur tun, wenn er mein williger Komplize war, und war im Grunde meines Herzens davon überzeugt, dass er vor der Tat zurückschrecken würde, wenn nicht mehr geredet, sondern gehandelt werden musste. In diesem Fall würden wir sie einfach zu Bett bringen. Am Morgen würde ich ihr sagen, dass ich das Land meines Vaters nun doch nicht verkaufen wolle.
Henry kam herbei, und nichts auf seinem blassen, kummervollen Gesicht machte mir Hoffnung auf Erfolg. »Papa, ich glaub nicht, dass ich das kann«, flüsterte er. »Es geht um Mama.«
»Wenn du nicht kannst, dann eben nicht«, sagte ich, und damit hatte der Hinterhältige nichts zu schaffen. Ich musste mich damit abfinden; es kommt eben, wie’s kommt. »Jedenfalls ist sie das erste Mal seit Monaten glücklich. Betrunken, aber glücklich.«
»Nicht nur beschwipst? Sie ist betrunken?«
»Sei nicht überrascht; ihren Willen zu bekommen ist das Einzige, was sie jemals glücklich macht. Das hätten deine 14 Jahre mit ihr dir längst zeigen müssen.«
Er horchte stirnrunzelnd auf die Veranda hinaus, weil die Frau, die ihn geboren hatte, gerade zu einer dissonanten, aber wortgetreuen Wiedergabe von »Dirty McGee« ansetzte. Henry runzelte über diese Barrelhouse-Ballade vielleicht wegen des Refrains (»She was willin’ to help him stick it in/For it was Dirty McGee again«) die Stirn, eher jedoch darüber, wie undeutlich sie die Wörter aussprach. Letztes Jahr am ersten Wochenende im September hatte Henry in einem Jugendlager der Methodisten das Gelöbnis abgelegt. Ich genoss seinen Schock weidlich. Drehen Jugendliche sich nicht wie Wetterfahnen in böigem Wind, sind sie steif wie Puritaner.
»Sie will, dass du uns Gesellschaft leistest und ein Glas Wein trinkst.«
»Papa, du weißt, dass ich dem Herrn versprochen habe, nie zu trinken.«
»Das musst du mit ihr ausmachen. Sie will heute feiern. Wir verkaufen und ziehen nach Omaha.«
»Nein!«
»Na … wir werden sehen. Eigentlich hängt das von dir ab, mein Sohn. Komm mit auf die Veranda.«
Seine Mutter stand schwankend auf, als sie ihn sah, umschlang ihn an den Hüften, drückte sich viel zu fest an ihn und bedeckte sein Gesicht übertrieben mit Küssen. Mit unangenehm riechenden, wie seine Grimasse zeigte. Der
»Endlich sind wir alle zusammen! Meine Männer haben Vernunft angenommen!« Sie hob ihr Glas zu einem Trinkspruch, kippte sich dabei aber einen guten Schuss Wein über den Busen. Sie blinzelte mir zu und lachte. »Wenn du brav bist, Wilf, darfst du ihn später aus dem Stoff saugen.«
Henry beobachtete sie mit verwirrtem Abscheu, als sie sich wieder in den Schaukelstuhl fallen ließ, den Rock etwas hochzog und ihn sich zwischen die Beine steckte. Sie sah seinen Blick und lachte.
»Sei bloß nicht so zimperlich. Ich hab dich mit Shannon Cotterie gesehen. Ein kleines Flittchen, aber sie hat schönes Haar und eine nette kleine Figur.« Sie kippte den Rest ihres Weins und rülpste. »Wenn du nichts davon abkriegst, bist du ein Dummkopf. Aber sei bloß vorsichtig! Mit vierzehn ist man nicht zu jung zum Heiraten. Hier draußen in der Mitte ist man mit vierzehn noch nicht mal zu jung, um die eigene Cousine zu heiraten.« Sie lachte nochmals und hielt mir ihr Glas hin. Ich schenkte aus der zweiten Flasche nach.
»Papa, sie hat genug«, sagte Henry so missbilligend wie ein Pastor. Über uns erschienen die ersten flimmernden Sterne über der ebenen weiten Leere, die ich mein Leben lang geliebt habe.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte ich. »In vino veritas, das sagt Plinius der Ältere … in einem dieser Bücher, über die deine Mutter immer spottet.«
»Hand den ganzen Tag am Pflug, Nase die ganze Nacht in einem Buch«, sagte Arlette. »Außer wenn er was anderes in mir hat.«
»Mama!«
»Mama!«, äffte sie ihn nach, dann hob sie ihr Glas in Richtung Harlan Cotteries Farm, die jedoch zu weit entfernt war, als dass wir ihre Lichter hätten sehen können.
Mein Sohn gab keine Antwort, aber was ich im Halbdunkel von seinem Gesicht ablesen konnte, ließ den Hinterhältigen frohlocken.
Sie wandte sich Henry zu, packte ihn am Arm und verschüttete dabei etwas Wein auf sein Handgelenk. Ohne auf sein angewidertes Maunzen zu achten, starrte sie ihn mit plötzlich grimmiger Miene an und sagte: »Aber wenn du mit ihr im Mais oder hinter der Scheune liegst, pass bloß auf, dass du kein Frühzünder bist.« Sie ballte die freie Hand zur Faust, reckte den Mittelfinger vor und benutzte ihn dazu, rasch einen Kreis um ihren Schritt zu steppen: linker Oberschenkel, rechter Oberschenkel, Bauch rechts, Nabel, Bauch links, dann zum linken Oberschenkel zurück. »Du darfst alles erforschen und mit deinem Johnny Mac daran herumreiben, bis er sich gut fühlt und spuckt, aber bleib vom Mittelpunkt weg, sonst findest du dich eines Tages lebenslänglich gefangen - genau wie deine Mama und dein Daddy.«
Er stand auf und ging, weiterhin wortlos, was ich ihm nicht verübeln konnte. Selbst für Arlette war das eine höchst ordinäre Vorstellung gewesen. Er musste gesehen haben, wie sie sich vor seinen Augen von seiner Mutter - eine schwierige, aber manchmal liebevolle Frau - in eine nach Fusel riechende Puffmutter verwandelte, die einem Freier, der noch grün hinter den Ohren war, Anweisungen gab. Alles schlimm genug, aber er liebte die kleine Cotterie, und das machte die Sache noch schlimmer. Sehr junge Männer müssen ihre erste Liebe einfach auf einen Sockel stellen,
Ich hörte, wie er seine Tür zuknallte. Und leises, aber unverkennbares Schluchzen.
»Du hast seine Gefühle verletzt«, sagte ich.
Sie äußerte die Ansicht, Gefühle seien wie Gefälligkeit ein letzter Ausweg von Feiglingen. Dann streckte sie mir ihr Glas hin. Ich schenkte ihr nach und wusste dabei, dass sie am Morgen (immer vorausgesetzt, dass sie noch da war, um den Morgen zu begrüßen) nicht mehr wissen würde, was sie gesagt hatte, und es vehement leugnen würde, wenn ich es ihr erzählte. Ich hatte sie schon früher betrunken erlebt, wenn auch seit Jahren nicht mehr so sehr.
Wir leerten die zweite Flasche (sie allein) und die Hälfte der dritten, bevor ihr das Kinn auf den weinfleckigen Busen sank und sie zu schnarchen begann. Die aus ihrer eingeengten Kehle kommenden Schnarchlaute klangen wie das Knurren eines gereizten Hundes.
Ich legte ihr einen Arm um die Schultern, hakte eine Hand unter ihre Achsel und zog sie hoch. Sie murmelte protestierend und schlug mit einer stinkenden Hand schwach nach mir. »La’ mich’n Ruh. Will jetz’ schlaf’m.«
»Das sollst du auch«, sagte ich. »Aber in deinem Bett, nicht auf der Veranda.«
Ich führte sie - wobei sie torkelte und schnaufte, ein Auge geschlossen, das andere trüb starrend aufgerissen - durchs Wohnzimmer. Henrys Tür öffnete sich. Er stand auf der Schwelle, sein Gesicht ausdruckslos und viel älter, als er in Wirklichkeit war. Er nickte mir zu. Nur ein einziges kurzes Senken des Kopfs, aber es sagte mir alles, was ich wissen musste.
Ich legte sie aufs Bett, zog ihr die Schuhe aus und ließ sie mit gespreizten Beinen und einer über den Matratzenrand
»Sie darf nicht solche Sachen über Shannon sagen«, flüsterte er.
»Aber sie wird’s tun«, sagte ich. »So ist sie eben, so hat der Herr sie geschaffen.«
»Und sie kann Shannon und mich schon gar nicht auseinanderbringen.«
»Doch, auch das wird sie tun«, sagte ich. »Wenn wir sie lassen.«
»Könntest du … Papa, könntest du dir nicht selbst einen Anwalt nehmen?«
»Glaubst du, dass irgendein Anwalt, den ich mir mit meinem bisschen Geld auf der Bank leisten könnte, den Anwälten gewachsen ist, die Farrington gegen uns aufbieten wird? Die schwingen hier in der Hemington County den Hammer; ich schwinge nur eine kleine Sichel, um Heu zu mähen. Die wollen diese 70 Hektar, und sie will sie denen verschaffen. Es gibt keinen anderen Ausweg, aber du musst mir helfen. Tust du’s?«
Er sagte lange nichts. Er senkte den Kopf, und ich sah Tränen aus seinen geschlossenen Augen auf den Häkelteppich tropfen. Dann flüsterte er: »Ja. Aber wenn ich zusehen muss … Ich weiß nicht, ob ich das kann …«
»Du kannst helfen, ohne zusehen zu müssen. Geh in den Schuppen und bring mir einen Rupfensack.«
Er tat, was ich verlangte. Ich ging in die Küche und holte ihr schärfstes Fleischermesser. Als er mit dem Sack zurückkam und das Messer sah, wurde er blass. »Muss es damit sein? Kannst du sie nicht … mit einem Kissen …«
»Das wäre zu langsam und zu qualvoll«, sagte ich. »Sie würde sich wehren.« Er akzeptierte das, als hätte ich vor
Wir standen im Licht der Petroleumlampen da - in Hemingford Home würde es außer durch Stromaggregate erzeugte Elektrizität erst 1928 geben - und starrten uns an, während die große Nachtstille, die dort draußen am Ende der Welt existiert, nur von ihrem hässlichen Schnarchlauten gestört wurde. Trotzdem war etwas Drittes im Raum anwesend: ihr unbarmherziger Wille, der unabhängig von der Frau selbst existierte (ich glaubte ihn damals zu spüren; heute, 8 Jahre später, bin ich mir dessen sicher). Dies ist eine Gespenstergeschichte, nur war der Geist schon da, bevor seine Besitzerin gestorben war.
»Also gut, Papa. Wir wollen … wir wollen sie in den Himmel schicken.« Henrys Miene hellte sich bei diesem Gedanken auf. Wie grässlich mir das jetzt erscheint, vor allem wenn ich bedenke, wie er später endete.
»Es geht schnell«, sagte ich. Als Junge und Mann hatte ich fünfzehn Dutzend Schweinen die Kehle durchgeschnitten und dachte deshalb, es würde schnell gehen. Aber ich irrte mich.
Ich will es kurz machen. In meinen schlaflosen Nächten - und davon gibt es viele - läuft alles immer wieder in quälender Langsamkeit vor mir ab, jedes Umsichschlagen und jedes Röcheln und jeder Tropfen Blut, deshalb will ich’s kurz machen.
Wir gingen ins Schlafzimmer, ich mit dem Fleischermesser in der Hand voraus, dann mein Sohn mit dem Rupfensack.
Bitte lass sie nicht stark bluten, dachte ich. Lass den Sack das Blut aufsaugen. Noch besser: Lass Henry jetzt, in letzter Minute, einen Rückzieher machen.
Aber das tat er nicht. Vielleicht dachte er, ich würde ihn dafür hassen; vielleicht hatte er sich damit abgefunden, sie in den Himmel befördern zu müssen; vielleicht dachte er an diesen obszönen Mittelfinger, der einen Kreis um ihren Schritt steppte. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er »Leb wohl, Mama« flüsterte und ihr den Rupfensack über den Kopf warf.
Sie schnaubte und versuchte sich wegzudrehen. Ich hatte vorgehabt, unter den Sack zu greifen, um meine Arbeit zu tun, aber Henry musste sich darüberbeugen, um sie festzuhalten, so dass ich das nicht konnte. Ich sah, wie ihre Nase sich unter dem Rupfen wie die Rückenflosse eines Hais abzeichnete. Ich sah auch die beginnende Panik auf seinem Gesicht und wusste, dass er nicht lange durchhalten würde.
Ich stemmte ein Knie aufs Bett und legte eine Hand auf ihre Schulter. Dann zerschnitt ich den Sack und die Kehle darunter. Blut quoll durch den Schlitz in dem groben Rupfen. Ihre Hände kamen hoch und fuchtelten ins Leere. Henry torkelte mit einem hohen, dünnen Aufschrei vom Bett weg. Ich bemühte mich, sie festzuhalten. Sie zerrte mit den Händen an dem Sack, aus dem weiter das Blut strömte,
Mit den ersten beiden Schnitten hatte ich ihr die Kehle aufgeschlitzt, beim ersten Mal tief genug, um den Knorpel der Luftröhre sichtbar werden zu lassen. Mit den letzten beiden hatte ich ihr Wange und Mund aufgeschnitten, Letzteren so tief, dass sie nun ein Clownsgrinsen trug. Es reichte von einem Ohr zum anderen und ließ die Zähne sehen. Sie stieß ein gutturales, gedämpftes Brüllen aus, wie es ein Löwe zur Fütterungszeit hören lassen könnte. Das Blut spritzte aus ihrer Kehle bis zum Fußende der Tagesdecke. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass es wie der Wein in dem Glas aussieht, das sie im letzten Tageslicht hochgehalten hatte.
Sie wollte vom Bett aufstehen. Ich war erst überrascht, dann aufgebracht. Sie hatte mir während unserer Ehe immer nur Ärger gemacht und machte auch jetzt, bei unserer blutigen Scheidung, nichts als Ärger. Aber was hatte ich anderes erwartet?
»O Papa, mach, dass sie aufhört!«, kreischte Henry. »Mach, dass sie aufhört, o Papa, mach um Himmels willen, dass sie aufhört!«
Ich stürzte mich wie ein feuriger Liebhaber auf sie und drückte sie in ihr blutgetränktes Kopfkissen zurück. Tief aus ihrer zerfleischten Kehle kamen weitere dumpfe Knurrlaute. Ihre in den Höhlen rollenden Augen vergossen Ströme von Tränen. Ich schlang ihr Haar um meine Hand, riss ihr den Kopf zurück und durchschnitt ihr nochmals die Kehle.
Dann machte ich die Tagesdecke auf meiner Seite des Betts frei und wickelte sie ihr um den Kopf - jedoch zu spät, um den ersten aus ihrer Halsschlagader spritzenden Blutstrahl auffangen zu können. Dieser Strahl war mir ins Gesicht gegangen, so dass mir jetzt heißes Blut von Kinn, Nase und Augenbrauen tropfte.
Hinter mir verstummten Henrys Schreie. Ich drehte mich um und sah, dass Gott Erbarmen mit ihm gehabt hatte (vorausgesetzt, dass Er sich nicht von uns abgewandt hatte, als Er sah, was wir vorhatten): Er war ohnmächtig geworden. Ihr Umsichschlagen wurde schwächer. Schließlich lag sie still da … aber ich blieb ausgestreckt auf ihr und drückte sie auf die Tagesdecke, die nun mit ihrem Blut getränkt war. Ich erinnerte mich daran, dass sie nie etwas bereitwillig getan hatte. Und ich behielt recht. Nach dreißig Sekunden (die blecherne Uhr aus dem Versandhandel zählte sie ab) bäumte sie sich noch einmal auf und wölbte das Rückgrat diesmal so kräftig, dass sie mich fast abwarf. Ride’em, Cowboy, dachte ich. Vielleicht sagte ich es auch laut. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, so wahr mir Gott helfe. An alles andere, aber nicht daran.
Sie sank erschöpft zusammen. Ich zählte weitere dreißig blecherne Ticklaute, dann noch einmal dreißig, um ganz sicherzugehen. Auf dem Fußboden bewegte Henry sich und stöhnte. Erst schien er sich aufsetzen zu wollen, überlegte sich die Sache dann aber wohl anders. Er kroch in die entfernteste Ecke des Zimmers und rollte sich dort zu einer Kugel zusammen.
»Henry?«, sagte ich.
Nichts von der zusammengerollten Gestalt in der Ecke.
»Henry, sie ist tot. Sie ist tot, und ich brauche Hilfe.«
Wieder nichts.
»Henry, für eine Umkehr ist es jetzt zu spät. Die Tat ist geschehen. Wenn du nicht ins Gefängnis willst - und dein
Er kam auf die Beine und torkelte in Richtung Bett. Die Haare waren ihm über die Brauen in die Augen gefallen; hinter den von Schweiß verklebten Locken glitzerten seine Augen wie die eines im Gebüsch lauernden Tieres. Er leckte sich immer wieder die Lippen.
»Tritt nicht in das Blut. Hier drinnen gibt’s viel mehr sauberzumachen, als ich wollte, aber das schaffen wir. Das heißt, wenn wir’s nicht im ganzen Haus verteilen.«
»Muss ich sie mir ansehen? Papa, muss ich sie mir ansehen?«
»Nein. Das muss keiner von uns.«
Wir wickelten sie ein und machten dadurch die Tagesdecke zu ihrem Leichentuch. Als wir damit fertig waren, wurde mir klar, dass wir sie so nicht aus dem Haus tragen konnten: In meinen unausgegorenen Plänen und Tagträumen hatte ich nicht mehr als einen dezenten Blutfaden an der Stelle der Tagesdecke gesehen, unter der ihre durchtrennte Kehle (ihre glatt durchtrennte Kehle) war. Die Wirklichkeit hatte ich nicht vorausgesehen, nicht einmal in Erwägung gezogen: In dem düsteren Raum war die weiße Tagesdecke schwärzlich purpurrot und leckte Blut, wie ein tropfnasser Schwamm Wasser abgibt.
Im Kleiderschrank lag ein Quilt. Ich musste unwillkürlich daran denken, was meine Mutter sagen würde, wenn sie sähe, wofür ihr liebevoll besticktes Hochzeitsgeschenk zweckentfremdet wurde. Ich breitete ihn auf dem Boden aus. Wir legten Arlette darauf. Dann wickelten wir sie ein.
»Schnell«, sagte ich. »Bevor auch der zu tropfen anfängt. Nein … warte … hol eine Lampe.«
Er blieb so lange fort, dass ich schon befürchtete, er wäre weggelaufen. Dann sah ich einen Lichtschein den kurzen Flur entlanghuschen, der an Henrys Zimmer vorbei in das hatten. Ich konnte die Tränen sehen, die ihm über das wachsbleiche Gesicht liefen.
»Stell sie auf die Kommode.«
Er stellte die Lampe neben das Buch, das ich gerade las: Hauptstraße von Sinclair Lewis. Ich habe es nie zu Ende gelesen; ich konnte es nicht ertragen, das zu tun. Im Lampenlicht zeigte ich ihm die Blutflecken auf dem Boden und die große Lache unmittelbar neben dem Bett.
»Aus dem Quilt tropft auch welches«, sagte er. »Hätte ich gewusst, wie viel Blut sie in sich hat …«
Ich zog meinen Kopfkissenbezug ab und streifte ihn über das untere Ende des Quilts wie einen Strumpf über ein blutendes Schienbein. »Nimm ihre Füße«, sagte ich. »Was jetzt kommt, müssen wir gleich erledigen. Und werd nicht wieder ohnmächtig, Henry, allein schaff ich’s nämlich nicht.«
»Ich wollte, das alles wäre nur ein Traum«, sagte er, aber er bückte sich und umschlang das Ende des Quilts mit den Armen. »Glaubst du, es könnte ein Traum sein, Papa?«
»Heute in einem Jahr, wenn alles hinter uns liegt, werden wir’s für einen halten.« Irgendwie glaubte ich das sogar. »Schnell jetzt. Bevor der Kissenbezug zu tropfen anfängt. Oder der restliche Quilt.«
Wie Möbelpacker, die ein in einen Teppich gewickeltes Möbelstück schleppten, trugen wir sie den Flur entlang, durchs Wohnzimmer und dann zur Haustür hinaus. Ich atmete auf, sobald wir die Verandatreppe hinunter waren; Blutspuren auf dem Hof ließen sich leichter beseitigen.
Henry hielt sich gut, bis wir um die Ecke des Kuhstalls bogen und der alte Brunnen in Sicht kam. Er war von eingerammten Zaunlatten umgeben, damit niemand versehentlich auf den Holzdeckel trat, mit dem er verschlossen war. Im Sternenschein wirkten diese Stecken trostlos grausig,
»Das ist kein Grab für eine Mam… ma…« Mehr brachte er nicht heraus, bevor er ohnmächtig in das hinter dem Stall wuchernde Gestrüpp sank. Plötzlich musste ich das ganze Gewicht meiner ermordeten Frau allein tragen. Ich überlegte kurz, ob ich das groteske Bündel so lange ablegen sollte - die Stofflagen waren verrutscht, und die zerschnittene Hand schaute heraus -, bis ich Henry wiederbelebt hatte. Wahrscheinlich war es barmherziger, ihn liegen zu lassen. Also schleifte ich sie allein an den Brunnenrand, legte sie ab und stemmte den Holzdeckel hoch. Als ich ihn an zwei Zaunlatten lehnte, atmete der Brunnen mir ins Gesicht: ein Pesthauch aus stehendem Wasser und verfaulendem Unkraut. Ich kämpfte gegen einen Brechreiz an und verlor. An zwei weitere Latten geklammert, um das Gleichgewicht zu halten, knickte ich den Oberkörper ab und gab mein Abendessen von mir und den wenigen Wein, den ich getrunken hatte. Vom schlammigen Wasser der Brunnensohle echote ein Platschen herauf. Wie der Gedanke Ride’em, Cowboy ist dieses Platschen in den vergangenen acht Jahren stets in Reichweite meiner Erinnerung geblieben. Ich wache mitten in der Nacht mit dem Echo im Kopf auf und spüre, wie sich mir die Splitter der Holzlatten in die Handflächen bohren, während ich sie umklammere, als ginge es um mein Leben.
Ich wich vom Brunnenrand zurück, fiel über das Bündel, das Arlette enthielt, und landete neben ihr. Die zerschnittene Hand hatte ich dicht vor Augen. Ich schob sie in den Quilt zurück und tätschelte sie dann, als wollte ich Arlette trösten. Henry lag weiterhin mit dem Kopf auf einem Arm gebettet im Gestrüpp. Er sah wie ein Kind aus, das nach einem anstrengenden Erntetag schläft. Über uns glitzerten die Sterne zu Tausenden und Abertausenden. Ich konnte Diese Nacht wird niemals enden. Und das stimmte. In gewisser Hinsicht hat sie das niemals getan.
Als ich das Bündel mit den Armen hochhob, zuckte es.
Ich erstarrte und hielt trotz meines hämmernden Herzens den Atem an. Das hast du gar nicht gespürt, dachte ich. Ich wartete, ob es sich wiederholte. Oder ob ihre Hand sich vielleicht aus dem Quilt stahl, um mit den zerschnittenen Fingern mein Handgelenk zu umklammern.
Es passierte jedoch nichts mehr. Ich hatte mir alles nur eingebildet. Bestimmt hatte ich das. Also kippte ich sie in den Brunnen. Ich sah, wie der Quilt an dem nicht vom Kissenbezug zusammengehaltenen Ende aufging, und dann kam das Platschen. Ein viel lauteres Platschen, als es mein Erbrochenes gemacht hatte, aber zugleich auch ein quatschender Aufprall. Ich hatte gewusst, dass das Wasser dort unten nicht tief war, aber gehofft, es würde tief genug sein, um sie zu bedecken. Dieser Aufprall sagte mir, dass das nicht der Fall war.
Hinter mir setzte ein hohes, sirenenartig schrilles Lachen ein: dem Wahnsinn so nahe, dass mir ein eisiger Schauder eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Henry war zu sich gekommen und hatte sich aufgerappelt. Nein, viel mehr als nur das. Er hüpfte hinter dem Kuhstall umher, schwenkte die Arme unter dem Sternenhimmel und lachte dabei.
»Mama drunten im Brunnen, und mir ist’s egal!«, lautete sein Singsang. »Mama drunten im Brunnen, und mir ist’s egal, denn mein Meister ist fo-oort!«
Ich war mit drei Schritten bei ihm, schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht und hinterließ blutige Fingerabdrücke
Rex bellte einmal, zweimal, dreimal. Danach Stille. Wir standen da, wobei ich Henrys Schultern umklammerte und den Kopf leicht geneigt hielt. Der Schweiß lief mir ins Genick. Rex blaffte noch einmal, dann ließ er es bleiben. Falls einer der Cotteries davon aufgeschreckt worden war, würde er glauben, dass es einem Waschbären gegolten hatte. Das hoffte ich zumindest.
»Geh ins Haus«, sagte ich. »Das Schlimmste ist überstanden.«
»Wirklich, Papa?« Er sah mich ernst an. »Ist es das?«
»Ja. Alles in Ordnung mit dir? Wirst du noch mal ohnmächtig?«
»War ich das?«
»Ja.«
»Mir fehlt nichts. Ich bin nur … Ich weiß nicht, warum ich so gelacht habe. Ich war durcheinander. Wahrscheinlich aus Erleichterung. Es ist vorbei!« Ein Kichern entkam ihm, und er schlug sich wie ein kleiner Junge, der vor seiner Großmutter versehentlich ein schlimmes Wort gebraucht hat, beide Hände vor den Mund.
»Ja«, sagte ich. »Es ist vorbei. Wir bleiben hier. Deine Mutter ist nach St. Louis weggelaufen … vielleicht war es auch Chicago … aber wir bleiben hier.«
»Sie …?« Sein Blick irrlichterte zum Brunnen mit dem Holzdeckel hinüber, der von zwei Latten gestützt wurde, die im Sternenschein irgendwie trostlos grausig wirkten.
»Ja, Hank, das ist sie.« Seine Mutter hasste es, wenn ich ihn Hank nannte, weil es ihrer Meinung nach ordinär war, aber jetzt konnte sie nichts mehr dagegen machen. »Hat uns einfach sitzenlassen. Das tut uns natürlich leid, aber
»Und ich kann weiter … mit Shannon befreundet bleiben?«
»Natürlich«, sagte ich. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder, wie Arlettes Mittelfinger seinen lüsternen Kreis um ihren Schritt steppte. »Natürlich kannst du das. Aber solltest du jemals den Drang verspüren, Shannon alles zu gestehen…«
Auf seinem Gesicht erschien ein entsetzter Ausdruck. »Niemals!«
»Das glaubst du jetzt, und ich bin froh darüber. Aber solltest du ihn eines Tages doch verspüren, musst du eines wissen: Sie würde davonlaufen.«
»Klar würde sie das«, murmelte er.
»Geh jetzt ins Haus, und hol die beiden Wascheimer aus der Speisekammer. Am besten auch ein paar Milcheimer aus dem Stall. Füll sie an der Küchenpumpe, und schäum das Wasser mit dem Zeug auf, das sie in der Küche unter dem Ausguss hat.«
»Soll ich das Wasser heiß machen?«
Ich hörte meine Mutter sagen: Für Blut immer kaltes Wasser, Wilf. Denk daran.
»Nicht nötig«, sagte ich. »Ich komme nach, sobald ich den Deckel wieder geschlossen habe.«
Er wollte sich schon abwenden, packte mich aber stattdessen am Arm. Seine Hände waren erschreckend kalt. »Das darf nie jemand erfahren!«, flüsterte er mir heiser ins Gesicht. »Was wir getan haben, darf nie jemand erfahren!«
»Das erfährt auch niemand«, sagte ich, was weit kühner klang, als mir zumute war. Einiges war schon fehlgeschlagen, und ich erkannte allmählich, dass eine Tat etwas ganz anderes war, als sie nur zu erträumen.
»Sie kommt nicht zurück, stimmt’s?«
»Was?«
»Sie wird uns doch in Ruhe lassen, oder?« Nur sprach er lassen auf jene ländliche Weise aus, bei der Arlette den Kopf geschüttelt und die Augen verdreht hätte. Erst jetzt, acht Jahre später, fällt mir auf, wie sehr lassen wie hassen klingt.
»Ja«, sagte ich.
Aber ich irrte mich.
Ich sah in den Brunnen, und obwohl er nur 7 Meter tief war, konnte ich in jener Neumondnacht nur den blassen Fleck des Quilts ausmachen. Vielleicht war es auch der Kissenbezug. Ich schloss den Deckel wieder, rückte ihn etwas zurecht und ging dann ins Haus zurück. Ich versuchte, den gleichen Weg zu gehen, den wir mit unserem schrecklichen Bündel zurückgelegt hatten, und schlurfte absichtlich, um etwaige Blutspuren zu verwischen. Morgen früh würde ich bessere Arbeit leisten.
In jener Nacht fand ich etwas heraus, was die meisten Leute nie erfahren werden: Mord ist Sünde, Mord ist Verdammnis (ganz bestimmt für Geist und Verstand des Täters, selbst wenn die Atheisten recht haben und es kein Leben nach dem Tod gibt), aber Mord ist auch Arbeit. Wir schrubbten das Schlafzimmer, bis uns der Rücken wehtat, dann machten wir mit dem Flur, dem Wohnzimmer und zuletzt der Veranda weiter. Immer wenn wir glaubten, fertig zu sein, fand einer von uns einen weiteren Blutfleck. Als im Osten der Tag heraufdämmerte, war Henry im Schlafzimmer auf allen vieren, um die Ritzen zwischen den Fußbodenbrettern zu säubern, und ich war im Wohnzimmer auf den Knien dabei, Arlettes Häkelteppich Quadrat für Quadrat nach dem einen Tropfen Blut abzusuchen, der uns verraten konnte. Der Teppich war sauber - in diesem Punkt hatten wir Glück gehabt -, aber neben ihm entdeckte ich einen fingernagelgroßen Blutfleck. Ich wischte ihn weg und
»Ich kann heute nicht in die Schule gehen, Papa. Ich bin zu müde. Und … ich glaube, dass die Leute es auf meinem Gesicht sehen würden. Vor allem Shannon.«
Die Schule hatte ich völlig vergessen, was ein weiterer Beweis für halbgare Planung war. Für bescheuerte Planung. Ich hätte die Tat bis zu den Sommerferien der County School verschieben sollen. Das hätte lediglich bedeutet, eine Woche länger zu warten. »Du kannst bis Montag zu Hause bleiben; dann erzählst du der Lehrerin, dass du die Grippe hattest und nicht die ganze Klasse anstecken wolltest.«
»Ich hab zwar keine Grippe, aber ich bin wirklich krank.«
Das war ich auch.
Wir hatten ein sauberes Laken aus ihrem Wäscheschrank (so viele Dinge in diesem Haus gehörten ihr … aber das war einmal) ausgebreitet und das blutige Bettzeug darauf gestapelt. Auch die Matratze war natürlich blutig und musste weg. Im Schuppen gab es noch eine andere, nicht so gute. Ich machte ein Bündel aus der Bettwäsche, und Henry trug die Matratze. Wir gingen wieder zum Brunnen hinaus, kurz bevor die Sonne über dem Horizont erschien. Der Himmel über uns war wolkenlos. Für den Mais würde es ein guter Tag werden.
»Ich kann da nicht reinsehen, Papa.«
»Das brauchst du auch nicht«, sagte ich und stemmte den Holzdeckel wieder hoch. Ich überlegte mir, dass ich ihn gleich hätte offen lassen sollen - Vorausdenken spart Arbeit, hatte mein Papa immer gesagt -, und wusste gleichzeitig, dass ich das nie gekonnt hätte. Nicht nach dem letzten schwachen Zucken, das ich gespürt (oder mir eingebildet) hatte.
Jetzt konnte ich den Boden sehen, und was ich sah, war furchtbar. Sie war mit zerschmetterten Beinen unten aufgekommen und saß aufrecht kauernd da. Der Kissenbezug war aufgeplatzt und lag auf ihrem Schoß. Der Quilt und die Tagesdecke waren aufgegangen und nun wie ein raffinierter Überwurf um ihre Schultern drapiert. Der weiterhin an ihrem Kopf hängende Rupfensack, der ihr Haar wie ein Netz zusammenhielt, vervollständigte das Bild: Sie sah beinahe so aus, als hätte sie sich zum abendlichen Ausgehen in die Stadt feingemacht.
Ja! Ein Abend in der Stadt! Deshalb bin ich so glücklich! Deshalb grinse ich von einem Ohr zum anderen! Und fällt dir auf, wie rot mein Lippenstift ist, Wilf? Dieses Rot würde ich niemals in der Kirche tragen, nicht wahr? Nein, das ist die Art Lippenstift, die eine Frau trägt, die mit ihrem Mann diese garstige Sache machen will. Komm runter, Wilf, lass dich nicht lange bitten. Halt dich nicht mit der Leiter auf, spring einfach! Zeig mir, wie scharf du auf mich bist! Du hast mir eine garstige Sache angetan, jetzt lass mich dir eine antun!
»Papa?« Henry stand mit dem Gesicht zum Stall und hochgezogenen Schultern wie ein Junge da, der Prügel erwartete. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich warf das Bündel Bettzeug hinunter und hoffte, dass es auf sie fallen und dieses schreckliche nach oben gerichtete Grinsen verdecken würde, aber ein zufälliger Luftzug ließ es stattdessen auf ihrem Schoß landen. Jetzt schien es, als säße sie in einer seltsamen blutgetränkten Wolke.
»Ist sie zugedeckt? Ist sie zugedeckt, Papa?«
Ich packte die Matratze und kippte sie hinein. Sie landete stehend in dem schlammigen Wasser, fiel dann gegen die rund gemauerte Brunnenwand und bildete ein kleines schräges Schutzdach über ihr, das wenigstens den zurückgeworfenen Kopf und das blutige Grinsen verbarg.
»Jetzt ist sie’s.« Ich legte den alten Holzdeckel an seinen Platz zurück und wusste, dass hier weitere Arbeit wartete: Der Brunnen musste aufgefüllt werden. Ach, aber das war ohnehin längst überfällig. Der baufällige alte Brunnen stellte eine Gefahr dar, weshalb ich ja auch ringsum die Holzlatten eingerammt hatte. »Komm, wir gehen ins Haus und frühstücken.«
»Ich kann keinen einzigen Bissen runterkriegen!«
Aber er konnte. Wir konnten es beide. Ich briet Eier, Speck und Kartoffeln, und wir aßen alles auf. Schwere Arbeit macht hungrig, wie jedermann weiß.
Henry schlief bis spätnachmittags. Ich blieb wach. Einige dieser Stunden verbrachte ich am Küchentisch, wo ich eine Tasse schwarzen Kaffee nach der anderen trank. Ein paar Stunden verbrachte ich auch damit, durch den Mais zu gehen, eine Reihe hinauf, die nächste hinunter, und den schwertförmigen Blätter zu lauschen, wie sie in der leichten Brise raschelten. Wenn es Juni ist und der Mais herauskommt, scheint er fast zu reden. Das beunruhigt manche Leute (und es gibt Dummköpfe, die behaupten, es sei das Geräusch, mit dem der Mais wachse), aber ich habe dieses sanfte Rascheln immer als tröstlich empfunden. Es half mir, klar zu denken. Jetzt, wo ich in diesem Hotelzimmer in der Stadt sitze, fehlt es mir. Das Stadtleben ist kein Leben für einen Farmer; für solch einen Mann ist dieses Leben eine Art Verdammnis an sich.
Beichten, finde ich, ist auch harte Arbeit.
Ich schritt die Reihen ab, ich lauschte dem Mais, ich versuchte, einen Plan auszuhecken, und schließlich hatte ich einen. Das war auch nötig, nicht nur für mich selbst.
Es hatte eine Zeit gegeben, die noch keine 20 Jahre zurücklag, in der ein Mann in meiner Position sich keine Sorgen hätte zu machen brauchen; in jenen Tagen gingen die Angelegenheiten eines Mannes nur ihn selbst etwas an, vor allem wenn er ein geachteter Farmer war: ein Mann, der seine Steuern zahlte, sonntags in die Kirche ging, das Baseballteam Hemingford Stars unterstützte und zuverlässig die Republikaner wählte. Ich glaube, dass in jenen Tagen auf Farmen in unserem Gebiet, das wir »die Mitte« nannten, alle möglichen Dinge passierten. Dinge, die unkommentiert blieben und erst recht nicht angezeigt wurden. Damals galt die Ehefrau eines Mannes als dessen Angelegenheit, und wenn sie verschwand, war der Fall damit erledigt.
Aber diese Zeiten waren vorbei, und auch wenn sie es nicht gewesen wären, blieb die Sache mit dem Land. Mit den 70 Hektar. Die Farrington Company wollte das Land für ihren gottverdammten Schweineschlachthof. Arlette hatte sie in diesem Vorhaben bestärkt. Das bedeutete Gefahr, und Gefahr bedeutete, dass Tagträume und unausgegorene Pläne nicht länger genügen würden.
Als ich am frühen Nachmittag ins Haus zurückkehrte, war ich müde, aber endlich wieder ruhig und besonnen. Unsere wenigen Kühe muhten laut, weil ihre morgendliche Melkzeit weit überschritten war. Ich erledigte diese Arbeit und trieb sie dann auf ihre Weide hinaus, auf der ich sie bis Sonnenuntergang lassen würde, statt sie gleich nach dem Abendessen zum zweiten Melken wieder in den Stall zu holen. Ihnen war das egal; Kühe akzeptieren das, was ist. Wäre Arlette mehr wie unsere Kühe gewesen, überlegte ich mir, würde sie noch leben und mir zusetzen, ihr eine neue Waschmaschine aus dem Katalog von Monkey Ward zu
Henry schlief noch. In den folgenden Wochen schlief er viel, und ich ließ ihn, obwohl ich in einem normalen Sommer jeden Tag genug Arbeit für ihn gehabt hätte, sobald die Ferien begannen. Und er hätte seine Abende damit verbracht, den Cotteries drüben einen Besuch abzustatten oder mit Shannon auf unserer unbefestigten Straße auf und ab zu spazieren: Hand in Hand, während sie den aufgehenden Mond beobachteten. Das heißt, wenn sie sich nicht küssten. Ich hoffte zwar, dass unsere Tat ihm einen solch angenehmen Zeitvertreib nicht verdorben hatte, befürchtete aber, dass dem so war. Dass ich ihn ihm verdorben hatte. Und ich hatte natürlich recht.
Ich verscheuchte solche Gedanken, indem ich mir sagte, vorerst genüge es, wenn er schlafen konnte. Ich musste noch einmal zum Brunnen hinaus, und das tat ich am besten allein. Unser abgezogenes Bett schien Mord zu schreien. Ich trat an den Kleiderschrank und begutachtete ihre Sachen. Und Frauen besitzen davon üblicherweise nicht wenig. Röcke und Kleider und Blusen und Pullover und Unterwäsche - Letztere zum Teil so kompliziert und seltsam, dass man als Mann nicht einmal weiß, wo hinten und vorn ist. Alles einzupacken wäre ein Fehler gewesen, weil unser Lastwagen noch in der Scheune und der Model T unter der Ulme stand. Sie war zu Fuß weggegangen und hatte nur mitgenommen, was sie tragen konnte. Warum hatte sie nicht den T genommen? Weil ich ihn anspringen gehört und sie am Wegfahren gehindert hätte. Das klang durchaus glaubwürdig. Also … ein einzelner Handkoffer.
Ich packte hinein, was eine Frau meiner Meinung nach brauchen und was sie nicht zurücklassen wollen würde. Ich
Henry schlief noch immer, aber jetzt warf er sich von einer Seite zur anderen, als setzten ihm schlechte Träume zu. Ich beeilte mich, so gut ich konnte, weil ich im Haus sein wollte, wenn er aufwachte. Ich ging um den Stall herum zum Brunnen, stellte den Koffer ab und hob den splittrigen Deckel zum dritten Mal hoch. Gott sei Dank, dass Henry nicht neben mir stand. Gott sei Dank, dass er nicht sehen musste, was ich sah. Ich glaube, es hätte ihn in den Wahnsinn getrieben. Es trieb mich fast in den Wahnsinn.
Die Matratze war zur Seite geschoben worden. Mein erster Gedanke war, sie hätte sie fortgeschoben, um dann herauszuklettern. Weil sie noch lebte. Noch atmete. Jedenfalls erschien es mir zunächst so. Als mein logisches Denkvermögen eben meinen anfänglichen Schock überwand - als ich anfing, mich zu fragen, welche Art Atmung bewirken konnte, dass das Kleid einer Frau sich nicht nur am Busen, sondern vom Ausschnitt bis zum Saum hob und senkte -, begann ihr Unterkiefer sich zu bewegen, als mühte sie sich verzweifelt ab, etwas zu sagen. Es waren jedoch keine Wörter, die aus ihrem grausig vergrößerten Mund kamen, vielmehr war es eine Ratte, die sich an ihrer Zunge gütlich getan hatte. Zuerst erschien ihr Schwanz. Dann klappte der Unterkiefer weiter auf, und das Tier schob sich rückwärts heraus, wobei es die Krallen der Hinterfüße in Arlettes Kinn grub, um mehr Halt zu haben.
Die Ratte plumpste in ihren Schoß, worauf eine große Flut ihrer Brüder und Schwestern unter dem Kleid hervorströmte. Eines der Tiere hatte etwas Weißes in den Schnurrbarthaaren - einen kleinen Fetzen von ihrem Schlüpfer, vielleicht auch ihrem Büstenhalter. Ich warf den Koffer nach ihnen. Ich dachte nicht lange darüber nach - mein Verstand toste vor Abscheu und Entsetzen -, sondern tat es einfach. Er landete auf ihren Beinen. Die meisten Nager - möglicherweise alle - wichen ihm mühelos aus. Dann strömten sie in ein rundes schwarzes Loch zurück, das die Matratze (die sie allein durch ihr Gewicht zur Seite geschoben haben mussten) verdeckt hatte, und waren im Nu verschwunden. Ich wusste recht gut, was dieses Loch war: die Öffnung der Rohrleitung, die unsere Viehtränken im Stall mit Wasser versorgt hatte, bis das Sinken des Wasserspiegels sie nutzlos gemacht hatte.
Ihr Kleid fiel um sie herum zusammen. Die vermeintliche Atmung hörte auf. Aber sie starrte mich an, und was mir anfangs wie ein Clownsgrinsen vorgekommen war, erschien mir jetzt wie ein finsterer Medusenblick. Ich konnte Rattenbisse an den Wangen sehen, und es fehlte eines der Ohrläppchen.
»Du lieber Gott«, flüsterte ich. »Arlette, es tut mir so leid.«
Deine Entschuldigung wird nicht angenommen, schien ihr Starren zu sagen. Und wenn ich so aufgefunden werde, mit Rattenbissen im toten Gesicht und der unter dem Kleid weggefressenen Unterwäsche, kommst du garantiert drüben in Lincoln auf den Stuhl. Und als Letztes wirst du mein Gesicht sehen. Du wirst mich sehen, wenn dir der Starkstrom die Leber brät und das Herz in Brand setzt, und ich werde grinsen.
Ich ließ den Deckel herunter und stolperte bis zur Stallwand, wo meine Knie nachgaben. Wäre ich in der Sonne gewesen, wäre ich bestimmt wie Henry in der Nacht zuvor
Ich ging zum Haus zurück und hatte die Verandatreppe erreicht, bevor ein Gedanke mich ruckartig stehen bleiben ließ: Was war mit dem Zucken? Was war, wenn sie noch gelebt hatte, als ich sie in den Brunnen geworfen hatte? Was war, wenn sie noch immer gelebt hatte, gelähmt und außerstande, auch nur einen ihrer zerschnittenen Finger zu bewegen, als die Ratten aus dem Rohr kamen und mit ihren Verwüstungen begannen? Was war, wenn sie die eine gespürt hatte, die in ihren praktischerweise vergrößerten Mund gekrochen war und angefangen hatte, ihre…?
»Nein«, flüsterte ich. »Sie hat nichts gespürt, weil sie nicht gezuckt hat. Bestimmt nicht. Sie war tot, als ich sie reingeworfen habe.«
»Papa?«, rief Henry mit schlaftrunkener Stimme. »Bist du das, Paps?«
»Ja.«
»Mit wem redest du?«
»Niemand. Mit mir selbst.«
Ich ging hinein. Er saß in Unterwäsche am Küchentisch, sah benommen und unglücklich aus. Sein Haar, das in widerspenstigen
»Ich wollte, wir hätten es nicht getan«, sagte er, als ich mich ihm gegenübersetzte.
»Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen«, sagte ich. »Wie oft habe ich dir das schon erklärt, Junge?«
»Ungefähr eine Million Mal.« Er ließ einige Sekunden lang den Kopf hängen, dann sah er zu mir auf. Seine rot geränderten Augen waren blutunterlaufen. »Werden wir geschnappt? Müssen wir ins Gefängnis? Oder…«
»Nein. Ich habe einen Plan.«
»Du hattest einen Plan, dass sie keine Schmerzen haben sollte! Du siehst ja, wie der ausgegangen ist!«
Mich juckte es in der Hand, ihn dafür zu ohrfeigen, deshalb hielt ich sie mit der anderen fest. Jetzt war nicht der richtige Augenblick für gegenseitige Vorwürfe. Außerdem hatte er recht. Was schiefgegangen war, war alles meine Schuld. Bis auf die Ratten, dachte ich. Für die kann ich nichts. Konnte ich doch. Natürlich konnte ich was dafür. Wäre ich nicht gewesen, hätte Arlette jetzt am Herd gestanden, um das Abendessen zu kochen. Vermutlich hätte sie mir dauernd wegen der 70 Hektar zugesetzt, wäre aber gesund und munter gewesen, statt im Brunnen zu liegen.
Die Ratten sind bestimmt schon wieder da, flüsterte eine Stimme tief in meinem Kopf. Um weiter an ihr zu fressen. Erst verzehren sie die besten Stücke, die leckeren Stücke, die Delikatessen, und dann …
Henry griff über den Tisch und berührte meine verkrampften Hände. Ich fuhr zusammen.
»Tut mir leid«, sagte er. »Wir sitzen im selben Boot.«
Ich liebte ihn dafür.
»Wir kommen zurecht, Hank; wenn wir einen kühlen Kopf bewahren, kann uns nichts passieren. Hör mir jetzt zu.«
Er hörte zu. Irgendwann begann er zu nicken. Als ich fertig war, stellte er eine Frage: Wann würden wir den Brunnen zuschütten?
»Noch nicht«, sagte ich.
»Ist das nicht riskant?«
»Ja«, sagte ich.
Zwei Tage später, als ich ungefähr eine Viertelmeile von der Farm entfernt ein Stück Zaun ausbesserte, sah ich eine große Staubwolke, die sich vom Highway Omaha-Lincoln her auf unserer Straße näherte. Wir würden Besuch aus der Welt bekommen, der Arlette so unbedingt hatte angehören wollen. Ich stapfte zum Haus zurück, meinen Hammer durch eine Gürtelschlaufe gesteckt und mit umgebundener Zimmererschürze, in deren langer Tasche bei jedem Schritt die Nägel klirrten. Henry war nirgends zu sehen. Vielleicht war er zum Baden zur Quelle runtergegangen; vielleicht schlief er auch in seinem Zimmer.
Bis ich den Hof erreicht hatte und auf dem Hackklotz saß, hatte ich das Fahrzeug erkannt, das die lange Staubfahne hinter sich herzog: Lars Olsens Red Baby, sein Lieferwagen. Lars war der Schmied von Hemingford Home und zugleich der Milchmann des Dorfs. Gegen Bezahlung fungierte er auch als eine Art Chauffeur, und in dieser Eigenschaft war er an diesem Juninachmittag unterwegs. Der Lieferwagen kam auf den Hof gerattert und trieb George und seinen kleinen Hühnerharem in die Flucht. Noch bevor der Motor sich ganz totgekeucht hatte, stieg auf der Beifahrerseite ein dicklicher Mann in einem wallenden grauen Staubmantel aus. Als er seine Schutzbrille abnahm, waren um die Augen große (und komische) weiße Kreise zu sehen.
»Wilfred James?«
»Zu Diensten«, sagte ich und stand auf. Ich fühlte mich ganz ruhig. Weniger ruhig wäre ich vermutlich gewesen, wenn er in dem County-Ford mit dem Stern auf der Seite herausgekommen wäre. »Sie sind?«
»Andrew Lester«, sagte er. »Rechtsanwalt.«
Er streckte die Hand aus. Ich betrachtete sie.
»Bevor ich die schüttele, sollten Sie mir lieber sagen, wessen Anwalt Sie sind, Mr. Lester.«
»Gegenwärtig bin ich als Anwalt für die Farrington Livestock Company in Chicago, Omaha und Des Moines tätig.«
Ja, dachte ich, das bezweifle ich nicht. Aber ich möchte wetten, dass dein Name nicht einmal an der Tür steht. Die Bonzen in Omaha brauchen keine staubige Autofahrt auf sich zu nehmen, um sich ihr täglich Brot zu verdienen, nicht wahr? Die Bonzen legen die Füße auf den Schreibtisch, trinken Kaffee und bewundern die hübschen Fesseln ihrer Sekretärinnen.
»In diesem Fall, Sir«, sagte ich, »schlage ich vor, dass Sie die Hand einfach wegtun. Nichts für ungut.«
Genau das tat er mit einem Anwaltslächeln. Schweißbäche zogen helle Linien über seine Pausbacken, und sein Haar war von der Fahrt ganz zerzaust und verfilzt. Ich ging an ihm vorbei zu Lars hinüber, der eine Seite der Motorhaube hochgeklappt hatte und darunter an etwas herumfummelte. Er pfiff vor sich hin und schien fröhlich wie ein Vogel auf einer Telegrafenleitung zu sein. Darum beneidete ich ihn. Ich hoffte, dass Henry und ich wieder fröhliche Tage erleben würden - auf einer so vielfältigen Welt wie der unseren ist alles möglich -, aber das würde nicht im Sommer 1922 sein. Oder im Herbst.
Ich schüttelte Lars die Hand und erkundigte mich, wie es ihm gehe.
»Leidlich gut«, sagte er, »aber ausgetrocknet. Ich könnte einen Schluck vertragen.«
Ich nickte zur Ostseite des Hauses hinüber. »Du weißt, wo die Pumpe ist.«
»Klar doch«, sagte er und knallte die Motorhaube mit einem metallischen Scheppern zu, das die Hühner, die langsam zurückgekommen waren, erneut flüchten ließ. »Süß und kalt wie immer, was?«
»Das würde ich sagen«, stimmte ich zu, während ich dachte: Aber könntest du noch aus dem anderen Brunnen pumpen, Lars, würde dir der Geschmack kaum zusagen, glaub ich. »Überzeug dich selbst davon.«
Er machte sich auf den Weg zur schattigen Seite des Hauses, wo die Wasserpumpe unter dem kleinen Schutzdach stand. Mr. Lester sah ihm nach, dann wandte er sich wieder mir zu. Er hatte seinen Staubmantel aufgeknöpft. Der Anzug darunter würde in die Reinigung müssen, wenn er nach Lincoln, Omaha, Deland oder sonst wohin zurückkam, wo er wohnte, wenn er nicht in Cole Farringtons Geschäften unterwegs war.
»Ich könnte selbst einen Schluck brauchen, Mr. James.«
»Ich auch. Zäune reparieren ist heiße Arbeit.« Ich betrachtete ihn von oben bis unten. »Aber nicht so heiß, wie zwanzig Meilen in Lars’ Wagen zu fahren, möchte ich wetten.«
Er rieb sich den Hintern und lächelte sein Anwaltslächeln. Diesmal wirkte es eher so, als würde er den Tag verwünschen. Ich konnte allerdings sehen, wie sein Blick gehetzt in alle Richtungen flitzte. Man durfte diesen Mann nicht unterschätzen, nur weil er angewiesen worden war, an einem heißen Sommertag zwanzig Meilen weit aufs Land hinauszurattern. »Davon erholt meine Sitzfläche sich vielleicht nie wieder.«
An einer Stütze des Schutzdachs hing an einer Kette eine Schöpfkelle. Lars pumpte sie voll, trank sie aus, wobei sein Adamsapfel in seinem dürren, von der Sonne verbrannten
»Klar«, stimmte ich zu, »aber ich würde Sie so wenig ins Haus einladen, wie ich Ihnen die Hand schüttele.«
Lars Olsen merkte, woher der Wind blies, und sah zu, dass er zu seinem Lieferwagen zurückkam. Aber zuvor gab er Lester die Schöpfkelle. Mein Besucher trank nicht mit gierigen Zügen wie Lars, sondern mit affektierten kleinen Schlucken. Mit anderen Worten wie ein Anwalt - aber er hörte nicht auf, bevor die Schöpfkelle leer war, und auch das sah einem Anwalt ähnlich. Dann knallte die Fliegengittertür, und Henry, der seine Latzhose trug, kam barfuß aus dem Haus. Sein Blick streifte uns scheinbar völlig desinteressiert - guter Junge! -, dann tat er, was jeder aufgeweckte Farmerjunge gemacht hätte: Er sah zu, wie Lars an seinem Lieferwagen arbeitete, um mit etwas Glück in die Mysterien des Motors eingeweiht zu werden.
Ich setzte mich auf den Holzstoß, den wir vor dem Haus aufgestapelt hatten. »Ich nehme an, dass Sie geschäftlich hier sind. In Sachen meiner Frau.«
»Ganz recht.«
»Na ja, Sie haben eine Erfrischung bekommen, also sollten wir uns jetzt dranmachen. Ich habe noch viel Arbeit vor mir, und es ist schon drei Uhr nachmittags.«
»Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Das Farmerleben ist schwer.« Er seufzte, als würde er sich da auskennen.
»Stimmt, und eine schwierige Frau kann es noch schwerer machen. Sie kommen vermutlich von ihr, aber ich weiß nicht, warum - wenn es nur um irgendwelchen juristischen Papierkram geht, wäre wohl ein Deputy Sheriff rausgekommen und hätte ihn mir zugestellt.«
Er sah mich überrascht an. »Ihre Frau hat mich nicht hergeschickt, Mr. James. Eigentlich bin ich rausgekommen, um sie hier anzutreffen.«
Das Ganze glich einem Bühnenstück, und das war mein Stichwort, den Überraschten zu spielen. Und dann glucksend zu lachen, weil in der Regieanweisung als Nächstes glucksendes Lachen stand. »Das ist der beste Beweis.«
»Wofür?«
»In meiner Kindheit hatten wir einen Nachbarn, einen widerlichen alten Kerl namens Bradlee. Alle Leute haben ihn Paps Bradlee genannt.«
»Mr. James …«
»Mein Vater, der manchmal geschäftlich mit ihm zu tun hatte, hat mich ein paarmal mitgenommen. Mit Pferd und Wagen, wie’s noch üblich war. Bei ihren Geschäften ist es um Saatmais gegangen, zumindest im Frühjahr, aber manchmal haben sie auch Werkzeug getauscht. Damals hat es noch keinen Versandhandel gegeben, und ein gutes Werkzeug konnte die Runde durch die ganze County machen, bevor es wieder heimfand.«
»Mr. James, ich sehe nicht ganz …«
»Und immer wenn wir zu dem alten Kerl gefahren sind, hat meine Mama mich aufgefordert, wegzuhören, weil jedes zweite Wort aus Paps Bradlees Mund ein Fluch oder eine Zote war.« Diese Sache fing an, mir auf säuerliche Weise Spaß zu machen. »Also habe ich natürlich umso aufmerksamer zugehört. Einen von Paps Bradlees Lieblingssprüchen weiß ich noch gut: ›Besteig keine Stute ohne Zügel, denn man weiß nie, wohin das Miststück rennt.‹«
»Erwarten Sie von mir, dass ich das verstehe?«
»Wohin, glauben Sie denn, ist mein Miststück gerannt, Mr. Lester?«
»Soll das heißen, dass Ihre Frau …?«
»Sie ist abgehauen, Mr. Lester. Hat sich aus dem Staub gemacht. Sich französisch empfohlen. Die Fliege gemacht. Als eifriger Leser, der sich für amerikanische Umgangssprache interessiert, fallen mir jede Menge solcher Ausdrücke ein. Lars jedoch - wie die meisten anderen Hemingforder - würde nur sagen: ›Sie ist weggelaufen und hat ihn sitzenlassen‹, wenn die Nachricht die Runde macht. Oder ihn und den Jungen, um genau zu sein. Ich dachte natürlich, sie würde zu ihren tierlieben Freunden bei der Farrington Company gehen, und ich würde als Nächstes die Mitteilung erhalten, dass sie das Land ihres Vaters verkaufen will.«
»Das will sie allerdings.«
»Hat sie den Vertrag schon unterschrieben? Dann müsste ich wohl vor Gericht gehen.«
»Das hat sie noch nicht getan. Sollte sie das jedoch, möchte ich Ihnen schon jetzt davon abraten, einen teuren Prozess anzustrengen, den Sie bestimmt verlieren würden.«
Ich stand auf. Ein Träger meiner Latzhose war mir von der Schulter gerutscht, und ich hakte ihn mit einem Daumen wieder hoch. »Tja, da sie nicht hier ist, ist das eine ›hypothetische Frage‹, wie die Juristen sagen, finden Sie nicht auch? An Ihrer Stelle würde ich sie in Omaha suchen.« Ich lächelte. »Oder in Saint Louis. Sie hat immer von Sain’-Loo geredet. Mir kommt’s vor, als hätte sie Farrington ebenso satt wie mich und den Sohn, den sie geboren hat. Jetzt ist sie uns Gott sei Dank los. ›Zum Teufel eure Häuser!‹ Das ist übrigens von Shakespeare. Romeo und Julia. Ein Liebesdrama.«
»Sie werden entschuldigen, wenn ich das sage, aber das alles erscheint mir höchst befremdlich, Mr. James.« Aus einer inneren Anzugtasche - reisende Anwälte wie er hatten bestimmt jede Menge Taschen - hatte er ein Seidentaschentuch gezogen, mit dem er sich nun das Gesicht abtupfte. Seine Wangen waren jetzt nicht nur gerötet, sondern
»Auch ich werde mich erst daran gewöhnen müssen, aber ich bin Ihnen gegenüber im Vorteil.«
»Ja?«
»Ich kenne sie. Ich bin mir sicher, dass Sie und Ihre Mandanten geglaubt haben, das Geschäft sei perfekt, aber Arlette James … Na ja, sie auf etwas festnageln zu wollen ist nicht anders, als wollte man einen Wackelpudding an die Wand nageln. Wir sollten nicht vergessen, was Paps Bradlee gesagt hat, Mr. Lester. Jaja, der Mann war ein echtes ländliches Genie!«
»Dürfte ich im Haus nachsehen?«
Ich lachte nochmals, und diesmal brauchte ich mich nicht dazu zu zwingen. Der Mann hatte Nerven, das musste man ihm lassen, und dass er nicht mit leeren Händen abziehen wollte, war verständlich. Er war zwanzig Meilen weit in einem staubigen Lieferwagen ohne Türen gefahren, er musste sich weitere zwanzig Meilen durchrütteln lassen, bevor er nach Hemingford City zurückkam (von wo aus er bestimmt mit dem Zug weiterfahren musste), er hatte einen wunden Hintern, und die Leute, die ihn losgeschickt hatten, würden über seinen Bericht, den er nach all diesen Strapazen erstatten konnte, nicht erfreut sein. Armer Kerl!
»Ich will meinerseits etwas fragen: Würden Sie die Hose runterlassen, damit ich mir Ihre Kronjuwelen ansehen kann?«
»Das finde ich ungehörig.«
»Kann ich Ihnen nicht verübeln. Sie müssen es als einen … nein, nicht als einen Vergleich, das ist nicht richtig, sondern als eine Art Parabel sehen.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Na ja, Sie haben auf der Rückfahrt in die Stadt eine Stunde Zeit, um darüber nachzudenken … zwei, wenn Lars’ Red Baby eine Reifenpanne hat. Und ich kann Ihnen versichern, Mr. Lester, wenn ich Sie in meinem Haus - in meinem Privatbesitz, meiner Burg, meinen Kronjuwelen - herumschnüffeln ließe, würden Sie meine Frau nicht tot im Kleiderschrank oder …« Dann kam ein schrecklicher Augenblick, in dem ich beinahe oder im Brunnen liegend sagte. Ich spürte, dass ich plötzlich Schweißperlen auf der Stirn hatte. »Oder unter dem Bett auffinden.«
»Ich habe nie behauptet …«
»Henry!«, rief ich. »Komm einen Augenblick her!«
Henry kam mit gesenktem Kopf durch den Staub geschlurft. Er wirkte besorgt, vielleicht sogar schuldbewusst, aber das war in Ordnung. »Ja, Sir?«
»Erzähl diesem Mann, wo deine Mama ist.«
»Das weiß ich nicht. Als du mich am Freitagmorgen zum Frühstück gerufen hast, war sie fort. Zusammengepackt und fort.«
Lester starrte ihn durchdringend an. »Sohn, ist das die Wahrheit?«
»Ja, Sir.«
»Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr dir Gott helfe?«
»Papa, kann ich wieder ins Haus? Ich muss doch Hausaufgaben nachmachen, weil ich krank war.«
»Gut, dann geh«, sagte ich, »aber trödele nicht. Denk daran, dass du heute mit dem Melken dran bist.«
»Ja, Sir.«
Er stapfte die Stufen der Veranda hinauf und verschwand im Haus. Lester sah ihm nach, dann wandte er sich wieder an mich. »Da steckt mehr dahinter.«
»Ich sehe, dass Sie keinen Ehering tragen, Mr. Lester. Wenn Sie erst mal einen so lange getragen haben wie ich,
Er stand auf. »Diese Sache ist noch nicht erledigt.«
»Doch, das ist sie«, sagte ich. Obwohl ich wusste, dass sie es nicht war. Aber wenn alles klappte, waren wir dem Ende ein Stück näher als zuvor. Wenn.
Er ging über den Hof davon, dann drehte er sich noch mal um. Er benutzte sein Seidentaschentuch, um sich abermals das Gesicht abzuwischen, dann sagte er: »Wenn Sie glauben, dass die 70 Hektar Ihnen gehören, nur weil Sie Ihre Frau vertrieben haben … sie zu ihrer Tante in Des Moines oder einer Schwester in Minnesota fortgejagt haben …«
»Suchen Sie sie in Omaha«, sagte ich lächelnd. »Oder in Sain’-Loo. Mit ihrer Verwandtschaft konnte sie nie viel anfangen, aber sie war verrückt danach, in Sain’-Loo zu leben. Gott weiß, warum.«
»Wenn Sie glauben, dort draußen säen und ernten zu können, irren Sie sich gewaltig. Wenn Sie auch nur ein einziges Saatkorn ausbringen, sehen wir uns vor Gericht wieder.«
»Ich bin mir sicher, dass Sie von ihr hören werden, sobald sie abgebrannt ist«, sagte ich.
In Wirklichkeit wollte ich sagen: Nein, das Land gehört nicht mir … aber auch nicht Ihnen. Es wird einfach dort draußen liegen. Und das ist in Ordnung, denn in sieben Jahren wird es mir gehören, wenn ich zum Gericht gehe, um sie amtlich für tot erklären zu lassen. Ich kann warten. Sieben Jahre, ohne Schweinemist zu riechen, wenn der Wind aus Westen kommt? Sieben Jahre, ohne die Schreie verendender Schweine (die den Schreien einer Sterbenden so ähnlich sind) zu hören oder ihre Eingeweide einen von ihrem Blut roten Bach hinabtreiben zu sehen? Das kommt mir wie sieben wundervolle Jahre vor.
»Noch einen schönen Tag, Mr. Lester, und nehmen Sie sich auf der Rückfahrt vor der Sonne in Acht. Sie brennt am Spätnachmittag ziemlich herunter, und Sie haben sie genau im Gesicht.«
Er stieg wortlos in den Lieferwagen. Lars winkte mir zu, und Lester blaffte ihn an. Lars bedachte ihn mit einem Blick, der zu sagen schien: Du kannst knurren und fauchen, so viel du willst, nach Hemingford City zurück sind’s trotzdem zwanzig Meilen.
Als von ihnen nur noch eine Staubfahne zu sehen war, kam Henry wieder auf die Veranda heraus. Er sah älter aus, wie ein junger Mann statt eines Jungen. »Hab ich es richtig gemacht, Papa?«
Ich ergriff sein Handgelenk, drückte es und tat so, als merkte ich nicht, wie das Fleisch unter meiner Hand sich vorübergehend versteifte, als müsste er den Impuls unterdrücken, es mir zu entziehen. »Genau richtig. Perfekt.«
»Füllen wir den Brunnen morgen auf?«
Ich dachte sorgfältig darüber nach, weil unser Leben davon abhängen konnte, wie ich mich entschied. Sheriff Jones wurde allmählich älter und schwergewichtiger. Er war nicht faul, aber es war schwierig, ihn ohne guten Grund dazu zu bringen, sich in Bewegung zu setzen. Lester würde Jones irgendwann davon überzeugen, dass er zu uns hinausfahren müsse, aber vermutlich nicht, bevor Lester dafür sorgte, dass einer der beiden quirligen Söhne Cole Farringtons den Sheriff anrief und ihn daran erinnerte, welche Firma der größte Steuerzahler in der Hemingford County war (von den benachbarten Countys Clay, Fillmore, York und Seward ganz zu schweigen). Trotzdem glaubte ich, dass uns noch mindestens zwei Tage blieben.
»Nicht morgen«, sagte ich. »Übermorgen.«
»Warum erst dann, Papa?«
»Weil der Sheriff rauskommen wird. Sheriff Jones ist zwar alt, aber nicht dumm. Ein bereits aufgefüllter Brunnen könnte ihn neugierig machen, warum er erst kürzlich aufgefüllt wurde und so. Aber einer, der gerade erst aufgefüllt wird … und das noch aus gutem Grund …«
»Welcher Grund? Sag schon!«
»Bald«, sagte ich. »Bald.«
Den ganzen nächsten Tag warteten wir auf eine auf unserer Straße heranbrodelnde Staubwolke, die nicht von Lars Olsens Lieferwagen, sondern vom Dienstwagen des County Sheriffs stammte. Aber sie kam nicht. Stattdessen kam Shannon Cotterie vorbei - die in ihrer Baumwollbluse und dem karierten Rock recht hübsch aussah -, um zu fragen, ob Henry wieder gesund sei und ob er mit ihr und ihrer Mama und ihrem Papa zu Abend essen könne, wenn er’s sei.
Henry sagte, er fühle sich wohl, und ich beobachtete mit großer Sorge, wie sie Hand in Hand die Straße entlang davongingen. Er hütete ein schreckliches Geheimnis, und schreckliche Geheimnisse wiegen schwer. Sie mit anderen teilen zu wollen ist die natürlichste Sache der Welt. Und er liebte das Mädchen (oder glaubte sie zu lieben, was aufs Gleiche herauskommt, wenn man noch keine 15 ist). Zu allem Übel musste er eine Lüge erzählen, und sie würde vielleicht erkennen, dass es eine Lüge war. Liebende Augen sind angeblich blind, aber das ist eine törichte Annahme. Manchmal sehen sie viel zu viel.
Ich jätete im Garten (und zog mehr Erbsen heraus als Unkraut), dann setzte ich mich auf die Veranda, rauchte eine Pfeife und wartete darauf, dass er zurückkam. Was kurz vor Mondaufgang der Fall war. Sein Kopf war gesenkt, seine Schultern hingen herab, und er schlurfte mehr, als er ging. Es tat mir weh, ihn so zu sehen, aber ich war
»Du hast es so erzählt, wie wir es beschlossen haben?«, fragte ich ihn, als er sich setzte.
»Wie du es beschlossen hast. Ja.«
»Und sie hat versprochen, ihren Eltern nichts zu sagen?«
»Ja.«
»Aber wird sie’s tun?«
Er seufzte. »Wahrscheinlich, ja. Sie liebt ihre Eltern, und die lieben sie. Sie werden etwas auf ihrem Gesicht sehen, schätze ich, und es aus ihr rauskriegen. Und selbst wenn sie’s nicht tun, wird sie’s vermutlich dem Sheriff erzählen. Das heißt, wenn er sich überhaupt die Mühe macht, mit den Cotteries zu reden.«
»Lester wird dafür sorgen, dass er das tut. Er wird Sheriff Jones ankläffen, weil seine Bosse in Omaha ihn ankläffen. So geht’s rundum im Kreis weiter, und wo alles endet, weiß niemand.«
»Wir hätten es nie tun sollen.« Er überlegte, dann wiederholte er den Satz, wobei er grimmig flüsterte.
Ich sagte nichts. Eine Zeit lang schwieg auch er. Wir beobachteten, wie der Mond rot und schwanger aus dem Mais aufstieg.
»Papa? Kann ich ein Glas Bier haben?«
Ich sah ihn an - überrascht und doch nicht überrascht. Dann stand ich auf, ging hinein und schenkte uns beiden ein Glas Bier ein. Ich gab ihm eines davon und sagte dabei: »Morgen oder übermorgen gibt’s keins, merk dir das.«
»Ist gut.« Er nippte, verzog das Gesicht und nahm dann einen kleinen Schluck. »Ich hab’s gehasst, Shan anzulügen, Papa. An der Sache ist alles schmutzig.«
»Schmutz lässt sich abwaschen.«
»Der nicht«, sagte er und nahm noch einen Schluck. Diesmal verzog er das Gesicht nicht mehr.
Kurze Zeit später, nachdem der Mond silbern geworden war, ging ich ums Haus, um den Abort zu benutzen und darauf zu horchen, wie der Mais und die Nachtbrise einander die alten Geheimnisse der Erde erzählten. Als ich auf die Veranda zurückkam, war Henry verschwunden. Sein Bierglas stand halb leer auf dem Geländer an der Treppe. Dann hörte ich ihn im Stall sagen: »Braves Mädchen. Brav.«
Ich ging hinüber, um nach ihm zu sehen. Er hatte die Arme um Elpis’ Hals geschlungen und streichelte sie. Ich glaubte zu sehen, dass er weinte. Ich beobachtete ihn eine Weile, sagte dann aber doch nichts. Ich ging ins Haus zurück, zog mich aus und legte mich in das Bett, in dem ich meiner Frau die Kehle durchgeschnitten hatte. Es dauerte lange, bis ich Schlaf fand. Und wenn Sie nicht den Grund verstehen, weshalb - alle Gründe, weshalb -, hat es keinen Zweck, dass Sie weiterlesen.
Ich hatte allen unseren Kühen die Namen griechischer Nebengöttinnen gegeben, aber Elpis erwies sich als schlechte Wahl - beziehungsweise eine Ironie des Schicksals. Sollte Ihnen entfallen sein, wie das Böse auf unsere traurige alte Welt gekommen ist, will ich es Ihnen ins Gedächtnis zurückrufen: Alles Böse entwich, als Pandora ihrer Neugier nachgab und die ihr zur Aufbewahrung anvertraute Büchse öffnete. Als sie so weit zu sich kam, dass sie den Deckel wieder schloss, befand sich nur noch Elpis, die Göttin der Hoffnung, in der Büchse. Aber in jenem Sommer 1922 gab es für unsere Elpis keine Hoffnung mehr. Sie war alt und griesgrämig, sie gab nicht mehr viel Milch, und wir hatten es fast aufgegeben, dieses bisschen zu melken, denn sobald
»Und sie wäre zäh«, hatte Arlette gesagt (die eine heimliche Zuneigung für Elpis empfunden hatte, vielleicht weil sie sie nie hatte melken müssen). »Lassen wir sie einfach friedlich weiterleben.« Aber nun hatten wir eine Verwendung für Elpis, und ihr Tod konnte einen weit nützlicheren Zweck erfüllen, als ein paar zähe Steaks zu liefern.
Zwei Tage nach Lesters Besuch legten mein Sohn und ich ihr ein Halfter an und führten sie um den Stall herum. Auf halbem Weg zum Brunnen blieb Henry stehen. Seine Augen glitzerten vor Verzweiflung. »Papa! Ich rieche sie!«
»Lauf ins Haus, und hol dir ein paar Wattebäusche für die Nase. Sie sind auf ihrer Kommode.«
Obwohl er den Kopf gesenkt hielt, sah ich seinen raschen Blick aus den Augenwinkeln heraus, bevor er wegtrabte. Das ist alles deine Schuld, besagte dieser Blick. Alles deine Schuld, weil du nicht loslassen konntest.
Trotzdem bezweifelte ich nicht, dass er mir bei der vor uns liegenden Arbeit helfen würde. Unabhängig davon, was er von mir dachte, war jetzt auch sein Mädchen involviert, und er wollte nicht, dass Shan erfuhr, was er gemacht hatte. Zwar war ich es, der ihn dazu gezwungen hatte, aber das würde sie niemals verstehen.
Wir führten Elpis zu dem Holzdeckel, vor dem sie begreiflicherweise zurückscheute. Also gingen wir auf die andere Seite hinüber, spannten die Zaumriemen wie Bänder beim Maibaumtanz und zerrten sie mit Gewalt auf das morsche Holz. Der Deckel knackte unter ihrem Gewicht … bog sich durch … hielt aber. Die alte Kuh stand mit hängendem
»Was jetzt?«, fragte Henry.
Just als ich sagen wollte, das wisse ich auch nicht, zerbrach der Holzdeckel mit einem lauten, spröden Knall in zwei Teile. Wir ließen die Halfterriemen nicht los, obwohl ich einen Augenblick lang glaubte, wir würden mit ausgerenkten Armen in diesen verdammten Brunnen gezogen werden. Dann löste der Zaum sich und kam nach oben geschnellt. Er war auf beiden Seiten gerissen. Unten begann Elpis vor Schmerzen zu muhen und mit den Hufen an die gemauerte Brunnenwand zu trommeln.
»Papa!«, kreischte Henry. Er hatte die Fäuste so fest gegen den Mund gepresst, dass sich die Fingerknöchel in die Oberlippe gruben. »Mach, dass sie aufhört!«
Elpis stieß ein lange nachhallendes Stöhnen aus und trommelte weiter mit den Hufen gegen den Stein.
Ich packte Henry am Arm und zerrte den Stolpernden ins Haus zurück. Dort stieß ich ihn auf Arlettes Versandhaussofa und wies ihn an, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis ich ihn holen käme. »Und denk daran, dass die ganze Sache fast vorbei ist.«
»Die ist nie vorbei«, sagte er und wälzte sich auf dem Sofa auf den Bauch. Er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, obwohl Elpis hier drinnen nicht zu hören war. Sicherlich hörte Henry sie dennoch weiter, ich tat das nämlich immer noch.
Ich holte mein Gewehr zur Schädlingsbekämpfung von der Anrichte. Es war nur ein Kaliber.22, aber es würde genügen. Und wenn Harlan Schüsse hörte, die über die Felder zwischen seiner Farm und meiner hallten? Auch die würden zu unserer Geschichte passen. Das heißt, wenn Henry sich lange genug zusammenreißen konnte, um sie zu erzählen.
Nun etwas, was ich aus dem Jahr 1922 gelernt habe: Es erwarten uns stets schlimmere Dinge. Man glaubt, das Allerschlimmste gesehen zu haben: diese eine Sache, die alle Albträume, die man je gehabt hat, zu einem grotesken Horror vereinigt, der tatsächlich existiert, und der einzige Trost ist, dass es nichts Schlimmeres geben kann. Auch wenn es etwas gäbe, würde man bei seinem Anblick überschnappen und nichts mehr davon wahrnehmen. Aber es gibt Schlimmeres, und trotzdem schnappt man nicht über und macht irgendwie weiter. Man begreift vielleicht, dass es für einen auf dieser Welt nie wieder Freude geben wird, dass durch die eigene Tat alles, was man zu gewinnen hoffte, unerreichbar geworden ist, und wünscht sich vielleicht, man wäre selbst tot - aber man macht weiter. Man erkennt, dass man in einer selbst geschaffenen Hölle ist, aber man macht trotzdem weiter. Weil einem nichts anderes übrigbleibt.
Elpis war auf die Leiche meiner Frau gestürzt, aber Arlettes grinsendes Gesicht war weiter ganz deutlich zu sehen, war weiter der sonnenhellen Welt zugekehrt, schien mich weiter anzusehen. Und die Ratten waren zurückgekommen. Die in ihre Welt stürzende Kuh hatte sie zweifellos in das Rohr zurückgetrieben, das ich später für mich Rattenboulevard nennen würde, aber dann hatten sie frisches Fleisch gewittert und waren eilig zur Erkundung herausgekommen. Sie nagten bereits an der armen alten Elpis, während sie noch muhte und ausschlug (nun schon schwächer), und eine saß auf dem Kopf meiner toten Frau wie eine schaurige Krone. Mit ihren geschickten Pfoten hatte sie ein Loch in den Rupfensack gerissen und ein Haarbüschel herausgezupft. Arlettes Wangen, einst so voll und hübsch, hingen in Fetzen herab.
Nichts kann schlimmer sein als das hier, dachte ich. Damit muss ich am Ende aller Schrecken angelangt sein.
Aber uns erwarten eben stets noch schlimmere Dinge. Während ich von Entsetzen und Abscheu gelähmt in den Brunnen starrte, schlug Elpis wieder aus und traf mit einem ihrer Hufe die Überreste von Arlettes Gesicht. Der Unterkiefer meiner Frau brach mit einem lauten Knacken, und alles unterhalb der Nase wurde wie an einem Scharnier hängend nach links verschoben. Trotzdem blieb ihr Grinsen von einem Ohr zum anderen erhalten. Die Tatsache, dass es nicht mehr zur Augenpartie passte, machte alles noch schlimmer. Statt nur einem Gesicht, das mich verfolgen konnte, schien sie jetzt zwei zu haben. Ihr Körper sank gegen die Matratze, die dadurch seitlich wegrutschte. Die Ratte auf ihrem Kopf flitzte dahinter. Elpis muhte nochmals. Wenn Henry jetzt zurückkäme und in den Brunnen sähe, stellte ich mir vor, würde er mich umbringen, weil ich ihn in diese Sache hineingezogen hatte. Ich hatte vermutlich den Tod verdient. Aber dann wäre er allein zurückgeblieben, und allein wäre er wehrlos gewesen.
Ein Teil des Holzdeckels war in den Brunnen gefallen; der Rest hing noch herab. Ich lud das Gewehr, legte es auf diese Schräge und zielte auf Elpis, die mit gebrochenen Halswirbeln und an die Brunnenwand gedrücktem Schädel dalag. Ich wartete, bis meine Hände nicht mehr zitterten, dann drückte ich ab.
Ein Schuss genügte.
Als ich ins Haus zurückkam, fand ich Henry auf dem Sofa eingeschlafen vor. Ich stand selbst zu sehr unter Schock, um das eigenartig zu finden. In diesem Augenblick erschien er mir als der einzige wahre Lichtblick auf dieser Welt: beschmutzt, aber nicht so schmutzig, dass er nie wieder sauber werden konnte. Ich beugte mich über ihn und küsste ihn auf die Wange. Er stöhnte auf und drehte den Kopf weg. Ich ließ ihn dort liegen und ging in die Scheune hinaus,
»Ich helfe dir«, sagte er ausdruckslos.
»Gut. Nimm den Lastwagen und fahr damit zu dem Erdhaufen am Westzaun …«
»Allein?« Er klang nur andeutungsweise ungläubig, aber es war ermutigend, überhaupt irgendeine Gefühlsregung zu hören.
»Du kennst alle Vorwärtsgänge und kannst den Rückwärtsgang finden, stimmt’s?«
»Ja …«
»Dann kommst du zurecht. Ich habe bis dahin genug zu tun, und wenn du zurückkommst, ist das Schlimmste vorbei.«
Ich wartete darauf, dass er mir nochmals erklären würde, das Schlimmste werde nie vorbei sein, aber das tat er nicht. Ich schaufelte weiter. Ich konnte noch immer Arlettes Kopf und den Rupfensack mit dem grässlichen herausgezogenen Haarbüschel darüber sehen. Irgendwo dort unten gab es vielleicht schon einen Wurf neugeborener Ratten in ihrer Wiege zwischen den Schenkeln meiner toten Frau.
Ich hörte den Motor des Lastwagens kurz stottern, dann noch einmal. Ich hoffte, dass die Kurbel nicht zurückschlagen und Henry den Arm brechen würde.
Beim dritten Versuch sprang unser alter Lastwagen schließlich röhrend an. Henry stellte die Zündung zurück, gab ein paarmal Gas und fuhr davon. Er blieb fast eine Stunde weg, aber als er zurückkam, war die Ladefläche voller Erde und Steine. Er stieß rückwärts an den Brunnenrand heran, stellte den Motor ab und stieg aus. Er hatte das Hemd ausgezogen, und sein schweißnasser Oberkörper war viel zu mager; ich konnte seine Rippen zählen. Ich überlegte, wann
Ich werde dafür sorgen, dass er heute ein gutes Abendessen bekommt, dachte ich. Ich werde dafür sorgen, dass wir beide eines bekommen. Zwar kein Rindfleisch, aber im Eisschrank liegt etwas Schweinefleisch …
Auf einmal sah ich eine lange Staubfahne näher kommen. Ich warf einen Blick in den Brunnen. Unsere bisherige Arbeit reichte nicht aus. Elpis war erst zur Hälfte mit Erde bedeckt. Das war natürlich in Ordnung, aber auch eine Ecke der blutigen Matratze ragte noch aus dem Erdreich.
»Hilf mir«, sagte ich.
»Reicht uns die Zeit, Papa?« Das klang nur mäßig interessiert.
»Das weiß ich nicht. Vielleicht. Steh nicht herum, hilf mir!«
Die zweite Schaufel lehnte neben den zersplitterten Resten der alten Brunnenabdeckung an der Stallwand. Henry ergriff sie, und wir machten uns daran, Erde und Steine von der Ladefläche des Lastwagens zu schaufeln, so schnell wir nur konnten.
Als der Wagen des County Sheriffs mit dem goldenen Stern auf der Tür und dem Suchscheinwerfer auf dem Dach vor dem Hackklotz hielt (und George und die Hühner wieder einmal in die Flucht trieb), saßen Henry und ich ohne Hemd auf den Verandastufen und teilten uns das Letzte, was Arlette James in ihrem Leben zubereitet hatte: einen Krug Limonade. Sheriff Jones stieg aus, ruckte seinen Gürtel hoch, nahm den Stetson ab, fuhr sich über sein ergrauendes Haar und setzte den Hut wieder entlang der Linie auf, an der die
»Guten Tag, Gents.« Er musterte unsere nackten Oberköper, schmutzigen Hände und schweißnassen Gesichter. »Heute Nachmittag wird schwer gearbeitet, was?«
Ich spuckte aus. »Meine eigene verdammte Schuld.«
»Ach, tatsächlich?«
»Eine von unseren Kühe ist in den alten Tränkbrunnen gefallen«, sagte Henry.
»Ach, tatsächlich?«, sagte Jones
»Genau«, sagte ich. »Wollen Sie ein Glas Limonade, Sheriff? Die ist von Arlette.«
»Von Arlette, was? Sie hat beschlossen, zurückzukommen, wie?«
»Nein«, sagte ich. »Sie hat ihre liebsten Klamotten mitgenommen, aber die Limonade dagelassen. Trinken Sie ein Glas mit.«
»Das tue ich. Aber erst muss ich den Abort benutzen. Seit ich Mitte fünfzig bin, kommt’s mir vor, als müsste ich an jeden Busch pinkeln. Das ist gottverdammt lästig.«
»Der Abort ist hinter dem Haus. Sie müssen nur dem Trampelpfad folgen und Ausschau nach dem Halbmond in der Tür halten.«
Er lachte, als wäre dies der beste Witz, den er letztens gehört hatte, und ging nach hinten. Würde er unterwegs stehen bleiben, um durch die Fenster ins Haus zu spähen? Das würde er tun, wenn er seinen Job verstand, und soviel ich gehört hatte, tat er das. Zumindest hatte er sich in jüngeren Jahren darauf verstanden.
»Papa«, sagte Henry. Er sprach mit leiser Stimme.
Ich sah ihn an.
»Wenn er’s rauskriegt, will ich es nicht noch schlimmer machen. Ich kann lügen, aber es darf keinen weiteren Mord geben.«
»Ist recht«, sagte ich. Es war ein kurzes Gespräch, aber eines, über das ich in den vergangenen acht Jahren oft nachgedacht habe.
Sheriff Jones kam zurück und knöpfte dabei den Hosenschlitz zu.
»Geh rein und hol dem Sheriff ein Glas«, wies ich Henry an.
Henry ging hinein. Jones war mit den Knöpfen fertig, nahm seinen Hut ab, fuhr sich abermals übers Haar und setzte den Stetson wieder auf. Der Stern an seiner Brusttasche glänzte in der Nachmittagssonne. Der Revolver an seiner Hüfte war großkalibrig, und obwohl Jones zu alt war, um im Großen Krieg gekämpft zu haben, schien das Holster aus Beständen des Amerikanischen Expeditionskorps zu stammen. Vielleicht hatte es seinem Sohn gehört. Sein Sohn war drüben gefallen.
»Gut riechender Abort«, sagte er. »An heißen Tagen immer schön.«
»Arlette hat ziemlich regelmäßig ungelöschten Kalk reingestreut«, sagte ich. »Wenn sie nicht wiederkommt, will ich versuchen, das selbst zu tun. Kommen Sie auf die Veranda, dann können wir im Schatten sitzen.«
»Schatten klingt gut, aber ich glaube, ich stehe lieber. Muss mein Rückgrat strecken.«
Wir gingen nach oben auf die Veranda. Ich setzte mich, und er stand neben mir und sah auf mich herab. Mir gefiel es nicht, in dieser Position zu sein, aber ich bemühte mich, das Ganze geduldig zu ertragen. Henry kam mit einem Glas zurück. Sheriff Jones schenkte sich selbst ein, kostete die Limonade, stürzte sie dann größtenteils in einem Zug hinunter und schmatzte anerkennend mit den Lippen.
»Ah, ist das gut, nicht wahr? Nicht zu sauer, nicht zu süß, gerade richtig.« Er lachte. »Ich rede wie Goldlöckchen,
»Haben Sie Ihre Dienststelle verlegt?«, fragte ich. »Ich dachte, Sie sind gleich drüben in Home.«
»Das bin ich auch! Der Tag, an dem sie mich dazu zwingen, das Sheriff’s Office in die Kreisstadt zu verlegen, ist der Tag, an dem ich kündige und meinen Job Hap Birdwell überlasse, der schon scharf darauf ist. Nein, nein, ich muss nur zu einer gerichtlichen Anhörung in die City. Eigentlich bloß Papierkram, aber was will man machen? Und Sie wissen ja, wie Richter Cripps ist … oder nein, vermutlich nicht, weil Sie ein gesetzestreuer Bürger sind. Er ist ein übellauniger Zeitgenosse, und seine Laune wird noch schlechter, wenn man sich mal verspätet. Jedenfalls muss ich mich hier draußen ein bisschen beeilen, obwohl es in der City bloß darum geht, ›so wahr mir Gott helfe‹ zu sagen und dann einen Stapel Schriftstücke zu unterschreiben, nicht wahr? Hoffentlich hält mein gottverdammter Maxie auf der Rückfahrt durch.«
Ich äußerte mich nicht dazu. Er redete irgendwie nicht wie jemand, der es eilig hat, aber vielleicht war das nur seine Art.
Er nahm den Hut ab und fuhr sich erneut übers Haar, aber diesmal setzte er den Hut nicht wieder auf. Er betrachtete mich ernst, dann Henry, dann wieder mich. »Sie wissen wahrscheinlich, dass ich nicht aus eigenem Antrieb hergekommen bin. Was sich zwischen einem Mann und einer Frau abspielt, ist denen ihre Angelegenheit, finde ich. So muss es sein, nicht wahr? Das Weib sei dem Manne untertan, steht in der Bibel, und wenn sie etwas lernen soll, dann soll der Mann zu Hause ihr Lehrer sein. Korintherbrief.
»Mich überrascht, dass Mr. Lester nicht mitgekommen ist«, sagte ich.
»Oh, er wollte mitkommen, aber das habe ich gleich unterbunden. Er wollte auch, dass ich einen Durchsuchungsbefehl beantrage, aber ich habe ihm gesagt, dass ich keinen brauche. Ich habe gesagt, Sie würden zulassen, dass ich mich hier umsehe, oder eben nicht.« Er zuckte mit den Achseln. Zwar hatte er einen gelassenen Gesichtsausdruck aufgesetzt, aber die Augen in diesem freundlichen Gesicht waren scharf und unablässig in Bewegung: spähen und wittern, wittern und spähen.
Auf Henrys Frage nach dem Brunnen hatte ich gesagt: Wir beobachten ihn und stellen fest, wie clever er ist. Wenn er clever ist, zeigen wir ihm alles von uns aus. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als hätten wir etwas zu verbergen. Wenn ich den Daumen kurz hochschnellen lasse, heißt das, dass wir es riskieren sollten. Aber wir sollten uns einig sein, Hank. Wenn du mit keinem ähnlichen Zeichen antwortest, halte ich den Mund.
Ich hob mein Limonadenglas und trank es aus. Als ich sah, dass Henry mich beobachtete, ließ ich kurz den Daumen hochschnellen. Nur ganz wenig. Es hätte auch ein Muskelzucken sein können.
»Was glaubt dieser Lester eigentlich?«, sagte Henry empört. »Dass wir sie gefesselt im Keller gefangen halten?« Er ließ die Hände dabei reglos an den Seiten hängen.
Sheriff Jones lachte so herzhaft, dass der Wanst hinter seinem Gürtel schwabbelte. »Woher soll ich wissen, was er denkt? Das ist mir auch ziemlich egal. Anwälte sind Flöhe im Fell der menschlichen Natur. Das kann ich behaupten, weil ich schon mein ganzes Erwachsenenleben für die gearbeitet ihn nicht ins Haus gelassen haben. Er ist ziemlich aufgebracht deswegen.«
Henry kratzte sich am Arm. Dabei ließ er den Daumen zweimal kurz hochschnellen.
»Ich habe ihn nicht reingelassen, weil er mir nicht sympathisch war«, sagte ich. »Allerdings muss ich ehrlicherweise sagen, dass ich vermutlich auch gegen den Apostel Johannes voreingenommen gewesen wäre, wenn er hier für Cole Farrington angetreten wäre.«
Darüber musste Sheriff Jones schallend laut lachen: Ha, ha, ha! Nur dass seine Augen nicht lachten.
Ich stand auf. Es war eine Erleichterung, auf den Beinen zu sein. Stehend war ich eine Handbreit größer als Jones. »Sie können sich umsehen, so viel Sie wollen.«
»Das weiß ich zu schätzen. Es erleichtert mir das Leben nämlich ungemein, nicht wahr? Wenn ich zurückkehre, muss ich Richter Cripps aushalten, und das ist schon schwierig genug. Keiner von Farringtons Anwälten soll mich ankläffen, nicht wenn ich’s vermeiden kann.«
Wir gingen ins Haus, ich voraus, Henry als Nachhut. Nach einigen anerkennenden Bemerkungen darüber, wie aufgeräumt das Wohnzimmer und wie blitzsauber die Küche sei, gingen wir durch den Flur. Sheriff Jones warf einen flüchtigen Blick in Henrys Zimmer, dann kam die Hauptattraktion. Ich stieß unsere Schlafzimmertür mit der verrückten Gewissheit auf, dass das Blut wieder da sein würde. Es würde in Lachen auf dem Boden stehen, an die Wände gespritzt sein, die Matratze getränkt haben. Sheriff Jones wurde sich das alles ansehen. Dann würde er sich mir zuwenden, die Handschellen von der fleischigen Hüfte gegenüber dem Revolver loshaken und sagen: Ich verhafte Sie wegen Mordes an Arlette James, nicht wahr?
Es gab kein Blut, auch keinen Blutgeruch, weil das Zimmer tagelang gelüftet worden war. Das Bett war gemacht, jedoch nicht so, wie Arlette es gemacht hätte; meine Art war eher der Militärstil, obwohl meine Füße mich vor dem Krieg bewahrt hatten, in dem der Sohn des Sheriffs gefallen war. Mit Plattfüßen kann man nicht losziehen und Krauts umlegen. Männer mit Plattfüßen können nur ihre Frauen umbringen.
»Hübsches Zimmer«, bemerkte Sheriff Jones. »Bekommt Morgensonne, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich. »Und bleibt auch im Sommer nachmittags kühl, weil die Sonne drüben auf der anderen Seite steht.« Ich trat an den Kleiderschrank und öffnete ihn. Die vorige Gewissheit kehrte noch stärker zurück. Wo ist der Quilt?, würde er fragen. Der eine, der hier in die Mitte des obersten Fachs gehört.
Das tat er natürlich nicht, aber er trat gleich vor, als ich ihn dazu aufforderte. Seine scharfen Augen - leuchtend grün, fast katzenartig - sahen hierhin, dorthin, überallhin. »Reichlich viele Klamotten«, sagte er.
»Ja«, gab ich zu. »Arlette mag Kleider gern, und sie mag Versandhauskataloge. Aber weil sie nur einen Koffer mitgenommen hat - wir haben zwei, und der andere ist noch hier, sehen Sie ihn dort hinten in der Ecke? -, würde ich sagen, dass sie nur ihre liebsten Sachen mitgenommen hat. Und solche, die praktisch waren, denke ich. Sie hat zwei Gabardinehosen und eine Jeans, und die sind alle drei weg, obwohl sie sich nichts aus Hosen gemacht hat.«
»Hosen taugen fürs Reisen, nicht wahr? Ob Mann oder Frau, Hosen sind praktische Reisekleidung.«
»Das stimmt wohl.«
»Sie hat auch ihren guten Schmuck und ihr Photo von Oma und Opa mitgenommen«, sagte Henry hinter uns. Ich
»Hat sie das? Na, das war wohl zu erwarten.«
Er schob ein paar Kleiderbügel hin und her, dann schloss er die Schranktür. »Hübsches Zimmer«, sagte er, als er sich mit dem Stetson in der Hand abwandte. »Hübsches Haus. Eine Frau, die ein hübsches Zimmer und so ein hübsches Haus wie das hier verlässt, muss verrückt sein.«
»Mama hat viel von der Stadt geredet«, sagte Henry und seufzte. »Sie wollte da irgendein Geschäft aufmachen.«
»Wollte sie das?« Sheriff Jones betrachtete ihn mit grün funkelnden Katzenaugen. »Aha! Aber dafür braucht man etwas Geld, nicht wahr?«
»Sie hat doch Land von ihrem Vater geerbt.«
»Ja, ja.« Er sagte das mit einem verlegenen Lächeln, als hätte er das Land kurzfristig vergessen. »Und vielleicht ist es auch besser so. ›Es ist besser, wohnen in wüstem Lande denn bei einem zänkischen und zornigen Weibe.‹ Sprüche Salomos. Bist du froh, dass sie fort ist, Sohn?«
»Nein«, sagte Henry und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Ich segnete jede einzelne davon.
»Na, komm!«, sagte Sheriff Jones. Nach diesem oberflächlichen Trost bückte er sich, indem er sich mit beiden Händen auf den pummeligen Knien abstützte, und sah unters Bett. »Dort scheint ein Paar Damenschuhe zu stehen. Gut eingelaufen. Genau richtig, wenn man weit zu gehen hat. Sie glauben wohl nicht, dass sie barfuß weggelaufen ist, stimmt’s?«
»Sie hat ihre Leinenschuhe getragen«, sagte ich. »Die sind jedenfalls nicht mehr da.«
»Aha!«, sagte er. »Ein weiteres Rätsel gelöst.« Er zog eine versilberte Uhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf. »Tja, ich muss leider weiter. Tempus fugitiert wieder mal.«
Wir gingen durchs Haus zurück. Henry bildete wieder die Nachhut, vielleicht damit er sich unbeobachtet die Tränen aus den Augen wischen konnte. Wir begleiteten den Sheriff zu seinem viertürigen Maxwell mit dem Stern auf der Tür. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er auch den Brunnen sehen wolle - ich wusste sogar, wie ich ihn bezeichnen würde -, da machte er halt und bedachte meinen Sohn mit einem erschreckend freundlichen Blick.
»Ich bin bei den Cotteries vorbeigefahren«, sagte er.
»Oh?«, sagte Henry. »Wirklich?«
»Hab euch ja erzählt, dass ich ungefähr jeden Busch bewässern muss, aber ich benutze lieber einen Abort, wenn gerade einer in der Nähe ist und die Leute ihn sauber halten. Da brauche ich mir keine Sorgen wegen Wespen zu machen, während ich darauf warte, dass aus meinem Dings ein bisschen Wasser tröpfelt. Und die Cotteries sind saubere Leute. Mit’ner hübschen Tochter. Ziemlich genau in deinem Alter, nicht wahr?«
»Ja, Sir«, sagte Henry und hob die Stimme bei dem Sir ganz leicht zu einer angedeuteten Frage.
»Du hast sie gern, nicht wahr? Und sie dich auch, wie ihre Mama sagt.«
»Hat sie das gesagt?«, fragte Henry überrascht, aber auch erfreut.
»Ja. Mrs. Cotterie hat gesagt, dass du dir Sorgen wegen deiner Mama machst und Shannon ihr etwas erzählt hat, was du zu diesem Thema gesagt hast. Als ich wissen wollte, was das war, hat sie gesagt, darüber darf sie nicht sprechen, aber ich könnte Shannon selbst fragen. Also hab ich’s getan.«
Henry starrte seine Stiefel an. »Ich hab sie gebeten, das für sich zu behalten.«
»Du wirst ihr’s doch nicht verübeln, oder?«, sagte Sheriff Jones. »Ich meine, wenn ein großer Kerl wie ich mit muss praktisch auspacken, hab ich recht?«
»Weiß ich nicht«, sagte Henry, der noch immer den Kopf gesenkt hielt. »Wahrscheinlich.« Er spielte den Unglücklichen nicht nur; er war unglücklich. Obwohl alles so lief, wie wir gehofft hatten.
»Shannon sagt, dass deine Ma und dein Paps einen Riesenkrach wegen dem Verkauf von diesen 70 Hektar hatten, und als du dich auf die Seite deines Papas geschlagen hast, hat Missus James dir ordentlich eine geknallt.«
»Stimmt«, sagte Henry ausdruckslos. »Sie hatte zu viel getrunken.«
Sheriff Jones wandte sich an mich. »War sie betrunken oder nur beschwipst?«
»Irgendwo zwischendrin«, sagte ich. »Wenn sie richtig betrunken gewesen wäre, hätte sie die ganze Nacht geschlafen, statt aufzustehen, den Koffer zu packen und sich wie ein Dieb aus dem Haus zu schleichen.«
»Sie dachten, sie würde zurückkommen, sobald sie wieder nüchtern war, nicht wahr?«
»Genau. Bis zur Asphaltstraße sind es vier Meilen. Ich hab damit gerechnet, dass sie zurückkommt. Aber jemand muss angehalten und sie mitgenommen haben, bevor sie wieder bei klarem Verstand war. Ich tippe auf einen Fernfahrer auf der Fahrt von Lincoln nach Omaha.«
»Ja, ja, das denke ich auch. Sie hören bestimmt von ihr, wenn sie sich bei Mr. Lester meldet. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hat, weiter allein zu bleiben, wird sie Geld brauchen.«
Auf den Trichter war er also auch schon gekommen.
Sein Blick wurde schärfer. »Hatte sie überhaupt irgendwelches Geld in der Tasche, Mr. James?«
»Na ja …«
»Nicht schüchtern sein. Beichten tut der Seele gut. Damit haben die Katholiken mal recht, nicht wahr?«
»In meiner Kommode steht eine Blechdose. In der waren 200 Dollar - für die Wanderarbeiter, wenn sie nächsten Monat anfangen.«
»Und für Mr. Cotterie«, erinnerte Henry mich. Und zu Sheriff Jones sagte er: »Mr. Cotterie hat einen Mähdrescher für den Mais. Einen Harris Giant. Fast neu. Der ist eine Wucht.«
»Ja, ja, ich hab ihn auf seinem Hof stehen sehen. Ein Riesenbastard, was?’tschuldigung. Das ganze Geld aus der Dose war verschwunden, nehme ich mal an.«
Ich lächelte säuerlich - nur war es eigentlich nicht ich, der hier lächelte; der Hinterhältige hatte die Leitung übernommen, seit Sheriff Jones am Hackklotz gehalten hatte. »Sie hat zwanzig dagelassen. Sehr großzügig von ihr. Aber mehr als zwanzig nimmt Harlan Cotterie nie als Miete für seinen Mähdrescher, also ist das in Ordnung. Und was die Landarbeiter betrifft, gewährt mir Stoppenhauser von der Bank hoffentlich einen Kurzkredit. Das heißt, wenn er nicht der Farrington Company verpflichtet ist. Jedenfalls habe ich meinen besten Landarbeiter gleich hier bei mir.«
Ich wollte Henry freundlich das Haar zerzausen. Er duckte sich verlegen weg.
»So, nun habe ich reichlich Nachrichten für Mr. Lester, nicht wahr? Gefallen wird ihm keine davon, aber wenn er so clever ist, wie ich denke, wird er wissen, dass er Ihre Frau in seinem Büro erwarten kann - und das eher früher als später. Leute tauchen meist ziemlich schnell wieder auf, wenn ihnen das Kleingeld ausgeht, nicht wahr?«
»Das ist auch meine Erfahrung«, sagte ich. »Wenn wir hier fertig sind, Sheriff, sollten mein Junge und ich uns wieder an die Arbeit machen. Wir haben da so einen nutzlosen
»Elpis.« Henry sprach wie im Traum. »Sie hat Elpis geheißen.«
»Elpis«, bestätigte ich. »Sie hat sich im Stall losgerissen, um einen Hofspaziergang zu machen, und ist auf die Abdeckung geraten, die prompt unter ihr nachgegeben hat. Hatte nicht mal so viel Anstand, von selbst zu verenden. Ich hab sie erschießen müssen. Wenn Sie mit mir hinter den Stall kommen, zeige ich Ihnen den Lohn der Faulheit, wie er seine verdammten Beine in die Luft streckt. Wir werden sie begraben, wo sie liegt, und zukünftig heißt dieser alte Brunnen bei mir Wilfreds Narretei.«
»Na, das täte ich gern, nicht wahr? Weil das bestimmt sehenswert ist. Aber ich muss diesen übellaunigen alten Richter ruhigstellen. Also ein andermal.« Er wuchtete sich ächzend in den Wagen. »Danke für die Limonade und dass Sie so umgänglich waren. Wenn man bedenkt, wer mich hergeschickt hat, hätten Sie viel unfreundlicher sein können.«
»Schon in Ordnung«, sagte ich. »Wir haben alle unsere Arbeit zu tun.«
»Und unser Kreuz zu tragen.« Sein scharfer Blick war wieder auf Henry gerichtet. »Sohn, Mr. Lester hat mir erzählt, dass du etwas verheimlichst. Er war sich seiner Sache ziemlich sicher. Und das hast du auch getan, nicht wahr?«
»Ja, Sir«, sagte Henry mit seiner tonlosen und irgendwie schrecklichen Stimme. Als ob alle seine Gefühlsregungen weggeflogen wären - wie die Dinge aus der geöffneten Büchse der Pandora. Für Henry und mich gab es jedoch keine Elpis; unsere Elpis lag tot im Brunnen.
»Wenn er mich darauf anspricht, sage ich ihm, dass er sich da getäuscht hat«, sagte Sheriff Jones. »Ein Firmenanwalt braucht nicht zu wissen, dass die Mutter eines Jungen
»Ja, Sir, sehr gern.« Henry nahm die Kurbel und ging damit zum Kühler des Maxwells.
»Pass auf dein Handgelenk auf!«, rief Jones nach vorn. »Die Kurbel schlägt aus wie ein Pferd.« Dann wandte er sich mir zu. Das forschende Glitzern war aus seinen Augen verschwunden. Auch das Grün. Sie waren glanzlos und grau und hart und erinnerten an das Wasser eines Sees unter bewölktem Himmel. Es war das Gesicht eines Mannes, der einen Landstreicher, der mit Güterzügen unterwegs war, halb totschlagen konnte, ohne deshalb auch nur eine Minute schlecht zu schlafen. »Mr. James«, sagte er. »Ich muss Sie etwas fragen. Unter uns Männern.«
»Nur zu«, sagte ich und bereitete mich auf die Frage vor, die bestimmt kommen würde: Liegt in Ihrem Brunnen eine weitere Kuh? Eine namens Arlette? Aber ich hatte mich getäuscht.
»Ich kann ihren Namen und ihre Personenbeschreibung telegrafisch verbreiten, wenn Sie wollen. Sie ist bestimmt nicht weiter als bis nach Omaha gekommen, nicht wahr? Nicht mit nur hundertachtzig Scheinchen. Und eine Frau, die zeitlebens nur Hausfrau war, hat keine Ahnung, wie man sich versteckt. Sie ist wahrscheinlich in einer Pension im Osten der Stadt, wo sie billig sind. Ich könnte sie zurückholen lassen. An den Haaren zurückzerren lassen, wenn Sie wollen.«
»Das ist ein großzügiges Angebot, aber …«
Die glanzlosen Augen musterten mich. »Denken Sie darüber nach, bevor Sie Ja oder Nein sagen. Manchmal braucht ein Mädel handfesten Zuspruch, wenn Sie wissen, was ich
»Das tue ich.«
Der Motor des Maxwells sprang knatternd an. Ich streckte die Hand aus - die rechte, mit der ich ihr die Kehle durchgeschnitten hatte -, aber Sheriff Jones sah sie nicht. Er war damit beschäftigt, die Zündung zurückzustellen und das Handgas zu regulieren.
Zwei Minuten später war er nur noch eine Staubwolke auf der Landstraße.
»Er hat nicht mal reinschauen wollen«, stellte Henry verwundert fest.
»Nein.«
Und das sollte sich als sehr gute Sache erweisen.
Wir hatten so eifrig und schnell geschaufelt, als die Staubfahne näher gekommen war, dass von Elpis nur noch ein halbes Bein aus der Erde ragte. Der Huf befand sich ungefähr anderthalb Meter unter dem Brunnenrand. Eine ganze Fliegenwolke umkreiste ihn. Darüber hätte der Sheriff sich bestimmt gewundert, und er hätte sich noch mehr gewundert, dass das Erdreich vor dem herausragenden Huf auf und ab pulsierte.
Henry ließ seine Schaufel fallen und packte mich am Arm. Es war ein heißer Nachmittag, aber er hatte eine eiskalte Hand. »Das ist sie!«, hauchte er. Sein Gesicht schien nur noch aus Augen zu bestehen. »Sie versucht rauszukommen!«
»Sei kein so gottverdammter Dämlack«, sagte ich, aber auch ich konnte den Blick nicht von diesem Kreis aus pulsierender Erde wenden. Als ob der Brunnen lebendig wäre und wir das Schlagen seines verborgenen Herzens sähen.
Dann flogen Erdbrocken und Kieselsteine nach allen Seiten, und eine Ratte tauchte auf. Glänzend jettschwarze Augen blinzelten im Sonnenschein. Sie war fast so groß wie eine ausgewachsene Katze. In ihren Schnurrbarthaaren hatte sich ein blutbefleckter Fetzen Sackrupfen verfangen.
»O du Wichser!«, brüllte Henry.
Etwas zischte haarscharf an meinem Ohr vorbei, dann spaltete die Kante von Henrys Schaufel der Ratte den Schädel, während sie noch ins Helle blinzelte.
»Sie hat sie geschickt«, sagte Henry. Er grinste. »Die Ratten gehorchen jetzt ihr.«
»Ausgeschlossen. Du bist nur durcheinander.«
Er ließ die Schaufel fallen und ging zu dem Haufen mit großen Steinen, die wir aussortiert hatten, um sie als letzte Füllschicht zu verwenden. Er setzte sich und starrte mich gespannt an. »Weißt du das bestimmt? Weißt du bestimmt, dass sie uns nicht heimsucht? Die Leute sagen, dass Ermordete zurückkommen, um die zu verfolgen, die …«
»Die Leute sagen alles Mögliche. Dass der Blitz nie zweimal an derselben Stelle einschlägt, dass ein zerbrochener Spiegel sieben Jahre Unglück bringt, dass ein Ziegenmelkerschrei um Mitternacht einen Todesfall in der Familie ankündigt.« Ich bemühte mich, vernünftig zu sprechen, aber ich musste weiter die Ratte anstarren, die Henry mit seiner Schaufel halbiert hatte. Und den blutbefleckten Fetzen Sackrupfen. Von ihrem Haarnetz. Sie trug es dort unten im Dunkel weiter, nur hatte es jetzt ein Loch, aus dem ein Haarbüschel ragte. Das ist in diesem Sommer bei toten Frauen der letzte Schrei, dachte ich.
»Als kleiner Junge hab ich echt geglaubt, dass man, wenn die Uhr schlägt, keine Grimasse schneiden darf, weil man sie sonst nicht mehr wegkriegt«, sagte Henry nachdenklich.
»Da - siehst du?«
Er stand auf, klopfte sich den Steinstaub vom Hosenboden und stellte sich neben mich. »Aber ich hab ihn erwischt - ich hab den Wichser erwischt, oder?«
»Und ob!« Und weil mir nicht gefiel, wie er sprach - wirklich nicht -, gab ich ihm einen Klaps auf die Schulter.
Henry grinste noch immer. »Wenn der Sheriff sich den Brunnen angeguckt hätte, wie du’s ihm angeboten hast, und er hätte dann die Ratte aus der Erde kommen sehen, wären ihm bestimmt noch ein paar Fragen eingefallen, glaubst du nicht auch?«
Irgendetwas an dieser Vorstellung ließ Henry in ein hysterisches Lachen ausbrechen. Er brauchte mindestens fünf Minuten, um sich auszulachen, und scheuchte damit einen Schwarm Krähen von dem Zaun auf, der die Kühe vom Mais fernhielt, aber dann beruhigte er sich wieder. Als wir mit der Arbeit fertig waren, war die Sonne bereits untergegangen, und wir konnten die leisen Schreie hören, mit denen die Eulen vom Heuboden aus zur Jagd vor Mondaufgang losflogen. Die oberste Steinschicht in dem aufgefüllten Brunnen war gut verdichtet, und ich bezweifelte, dass es weiteren Ratten gelingen würde, sich hindurchzuwühlen. Wir machten uns nicht die Mühe, den zersplitterten Holzdeckel zu ersetzen; eine Abdeckung war nicht mehr nötig. Henry benahm sich fast wieder normal, und ich hoffte, wir würden beide gut schlafen.
»Was sagst du zu Wurst, Bohnen und Maisbrot?«, fragte ich ihn.
»Darf ich den Generator anschmeißen und mir im Radio die Hayride Party anhören?«
»Jawohl, das darfst du.«
Daraufhin lächelte er sein gutes altes Lächeln. »Danke, Papa.«
Ich kochte genug für vier Landarbeiter, und wir aßen alles auf.
Zwei Stunden später, als ich im Wohnzimmer in meinem Sessel vergraben Silas Marner las und dabei mehrmals wegdöste, kam Henry nur mit einer Sommerunterhose bekleidet aus seinem Zimmer. Er sah mich mit festem Blick an. »Mama hat immer darauf bestanden, dass ich mein Nachtgebet spreche, weißt du das?«
Ich blinzelte ihn überrascht an. »Immer noch? Nein, das wusste ich nicht.«
»Doch. Auch als sie mich nur noch ansehen wollte, wenn ich eine Hose anhatte, weil sie fand, ich wär zu alt und das wär nicht recht. Aber ich kann nicht mehr beten - weder jetzt noch jemals wieder. Ich glaube, Gott würde mich erschlagen, wenn ich mich jetzt hinknien würde.«
»Falls es überhaupt einen Gott gibt«, sagte ich.
»Ich hoffe, dass es keinen gibt. Dann wären wir einsam, aber ich hoffe, dass es keinen gibt. Ich glaube, dass alle Mörder das hoffen. Wenn es nämlich keinen Himmel gibt, dann gibt es auch keine Hölle.«
»Mein Sohn … ich bin derjenige, der sie umgebracht hat.«
»Nein«, sagte er. »Das haben wir zusammen gemacht.«
Das stimmte ganz und gar nicht - er war noch ein Kind, und ich hatte ihn dazu verleitet -, aber er hielt es für wahr, und ich ahnte, dass er das für immer glauben würde.
»Aber wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Papa. Wahrscheinlich denkst du, dass ich es jemand anvertraue - zum Beispiel Shannon. Oder dass ich vor lauter Schuldgefühlen nach Hemingford gehe und dem Sheriff alles gestehe.«
Diese Gedanken waren mir natürlich durch den Kopf gegangen.
Henry schüttelte langsam und nachdrücklich den Kopf. »Dieser Sheriff … hast du gesehen, wie er sich alles angesehen hat? Hast du seine Augen gesehen?«
»Ja.«
»Ich bin überzeugt, dass der uns beide auf den elektrischen Stuhl bringen würde, obwohl ich erst im Oktober fünfzehn werde. Und er würde dabeistehen, uns mit dem harten Blick beobachten, wenn sie uns festschnallen und …«
»Schluss jetzt, Hank. Das reicht.«
Aber es reichte nicht, nicht für ihn. »… und den Hebel runterziehen. Das soll nie passieren, wenn ich’s verhindern kann. Diese Augen sollen nicht das Letzte sein, wo ich sehe.« Er dachte darüber nach, was er eben gesagt hatte. »Was, meine ich. Was ich sehe.«
»Geh ins Bett, Henry.«
»Hank.«
»Hank. Geh ins Bett. Ich hab dich lieb.«
Er lächelte. »Ich weiß, aber ich hab’s nicht verdient.« Er schlurfte hinaus, bevor ich antworten konnte.
Und so zu Bett, wie Mr. Pepys sagt. Wir schliefen, während die Eulen jagten und Arlette mit durch einen Huftritt verschobener unterer Gesichtshälfte in ihrem tieferen Dunkel saß. Am nächsten Morgen ging die Sonne auf, es war ein guter Tag für den Mais, und wir taten unsere Arbeit.
Als ich erhitzt und müde ins Haus zurückging, um uns ein Mittagessen zu kochen, stand auf der Veranda ein Schmortopf mit Deckel. Unter dem Topf klemmte ein Zettel: Wilf, wir bedauern Ihre Schwierigkeiten und möchten Ihnen helfen, wo wir nur können. Harlan läst Ihnen ausrichten, Sie sollen sich diesen Sommer keine Sorgen wegen der Miete für den Mädrescher machen. Bitte lasen Sie’s uns wissen, wenn Sie was von Ihrer Frau hören. Herzlich, Sallie Cotterie. PS: Wenn Henry Shan besucht, gebe ich ihm einen Blaubeerkuchen mit.
Ich steckte den Zettel mit einem Lächeln in die Brusttasche meiner Latzhose. Unser Leben nach Arlette hatte begonnen.
Belohnt Gott uns auf Erden für gute Taten - das Alte Testament enthält Hinweise darauf, und die Puritaner glaubten fest daran -, belohnt Satan uns vielleicht für böse. Das kann ich nicht sicher sagen, aber ich kann sagen, dass es ein guter Sommer war - mit reichlich Sonne und Wärme für den Mais und eben genug Regen, um das Gemüse in unserem Garten gedeihen zu lassen. An einigen Nachmittagen gab es Blitz und Donner, aber keinen dieser die Maisstängel knickenden Stürme, die Farmer im Mittleren Westen so fürchten. Harlan Cotterie kam mit seinem Harris Giant herüber, der keine einzige Panne hatte. Ich hatte befürchtet, die Farrington Company könnte sich in meine Angelegenheiten einmischen, aber das tat sie nicht. Ich bekam meinen Bankkredit ohne Schwierigkeiten und zahlte ihn bis Oktober vollständig zurück, weil in jenem Jahr die Notierungen für Mais himmelhoch und die Frachtraten der Great Western im Keller waren. Wenn Sie die Landesgeschichte kennen, wissen Sie, dass diese beiden Dinge - die Preise landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Frachtpreise - schon 1923 die Plätze getauscht hatten, woran sich seither nichts geändert hat. Für uns Farmer draußen in der Mitte begann die Weltwirtschaftskrise, als im folgenden Jahr die Produktenbörse in Chicago zusammenbrach. Aber der Sommer 1922 war so perfekt, wie man ihn sich als Farmer nur wünschen konnte. Beeinträchtigt wurde er nur durch einen Vorfall, der wieder eine unserer Kuh-Gottheiten betraf und von dem ich bald erzählen werde.
Mr. Lester kam noch zweimal heraus. Er wollte uns triezen, hatte aber nichts, mit dem er uns hätte triezen können, und war sich dessen offenbar bewusst, jedenfalls wirkte er ihn triezten und er den Druck nur weitergab. Oder eben weiterzugeben versuchte. Beim ersten Mal stellte er zahlreiche Fragen, die in Wirklichkeit gar keine Fragen, sondern Unterstellungen waren. Ob ich glaubte, meine Frau habe einen Unfall gehabt? Sie müsse doch einen gehabt haben, sonst hätte sie sich wegen eines Barverkaufs ihrer 40 Hektar an ihn wenden oder mit (metaphorisch) eingezogenem Schwanz kleinlaut auf die Farm zurückkehren müssen, oder nicht? Solche Dinge passierten gelegentlich, oder nicht? Und für mich wäre das doch recht praktisch gewesen, oder nicht?
Als er zum zweiten Mal aufkreuzte, wirkte er nicht nur frustriert, sondern regelrecht verzweifelt und rückte sofort mit der Sprache heraus: Hatte meine Frau hier auf der Farm einen Unfall gehabt? War es so gewesen? War sie deshalb nirgends tot oder lebendig aufgetaucht?
»Mr. Lester«, sagte ich, »wenn Sie mich fragen, ob ich meine Frau ermordet habe, lautet die Antwort nein.«
»Tja, was sollten Sie schon groß anderes sagen.«
»Das war Ihre letzte Frage an mich, Sir. Steigen Sie in Ihren Wagen dort drüben, fahren Sie weg und kommen Sie nie wieder. Andernfalls jage ich Sie mit einem Axtstiel vom Hof.«
»Dann kämen Sie wegen tätlichen Angriffs hinter Gitter!« Er trug an diesem Tag einen Zelluloidkragen, der ganz verrutscht war. Man konnte fast Mitleid mit ihm haben, wie er so dastand, während eine Kragenecke sich von unten in sein Kinn bohrte, Schweißbäche weiße Linien durch den Staub auf seinem pausbäckigen Gesicht zogen, seine Lippen zuckten und seine Augen aus den Höhlen zu quellen drohten.
»Keineswegs«, sagte ich. »Ich habe Sie meiner Farm verwiesen, was mein gutes Recht ist, und werde Ihrer Firma werde Gewalt anwenden. Seien Sie gewarnt, Sir!« Lars Olsen, der Lester wieder mit seinem Red Baby hergefahren hatte, war kurz davor, die Hände hinter die Ohren zu legen, um besser hören zu können.
Als Lester die türlose rechte Seite des Lieferwagens erreichte, warf er sich mit ausgestrecktem Arm und anklagend erhobenem Zeigefinger herum wie ein vor Gericht plädierender Anwalt mit einer Ader fürs Theatralische. »Ich glaube, dass Sie sie ermordet haben! Und Mord kommt früher oder später ans Licht der Sonne!«
Henry - oder Hank, wie er jetzt genannt werden wollte -, kam aus der Scheune. Er hatte auf dem Heuboden gearbeitet und hielt die Heugabel jetzt schräg vor der Brust wie ein Wachposten sein Gewehr. »Und ich glaube, Sie sollten von hier verschwinden, bevor Sie zu bluten anfangen«, sagte er. Der freundliche und ziemlich schüchterne Junge, den ich bis zum Sommer 1922 gekannt hatte, hätte so was nie gesagt, aber der hier tat es, und Lester merkte, dass das sein Ernst war. Er stieg ein. Weil er keine Tür zuknallen konnte, musste er sich damit begnügen, die Arme zu verschränken.
»Du bist immer willkommen, Lars«, sagte ich freundlich, »aber bring ihn nicht mit, so viel er dir auch dafür bietet, dass du seinen wertlosen Arsch herkarrst.«
»Nein, Sir, Mr. James«, sagte Lars und fuhr mit ihm davon.
Ich wandte mich Henry zu. »Hättest du ihn wirklich mit der Heugabel aufgespießt?«
»Jawohl. Dass er gequietscht hätte.« Dann ging er ohne ein Lächeln in die Scheune zurück.
Aber er war in diesem Sommer nicht immer ernst, und Shannon Cotterie war der Grund dafür. Er war oft mit ihr
Üppig war das Wort für Shannon: Hüften, Busen, Herz, alles üppig. Zu Harry war sie überaus sanft, und sie hatte ihn gern. Deshalb hatte auch ich sie gern … aber das ist zu schwach ausgedrückt, lieber Leser. Ich liebte sie, und wir beide liebten Henry. Nach jenen Abendessen am Dienstag und am Donnerstag bestand ich jeweils darauf, das Geschirr zu spülen, und schickte die beiden auf die Veranda hinaus. Manchmal hörte ich sie miteinander tuscheln; wenn ich dann kurz hinausspähte, sah ich sie nebeneinander in den Schaukelstühlen sitzen, übers Westfeld hinausblicken und wie ein altes Ehepaar Händchen halten. Bei anderen Gelegenheiten beobachtete ich heimlich, wie sie sich küssten,
An einem heißen Donnerstagnachmittag kam sie früher als sonst. Ihr Vater war mit seinem Mähdrescher auf unserem Nordfeld, Henry fuhr bei ihm mit, eine kleine Kolonne Indianer aus der Schoschonen-Reservation in Lyme Biska klaubte hinter ihnen auf … und hinter allen anderen fuhr Old Pie den Sammelwagen. Shannon bat um einen Schöpflöffel kaltes Wasser, den ich ihr gern gab. Auf der schattigen Seite des Hauses wirkte sie in ihrem weiten Kleid, das sie fast wie ein Quäkergewand von der Kehle bis zu den Schienbeinen, von den Schultern bis zu den Handgelenken bedeckte, unglaublich kühl. Ihr Benehmen war ernst, vielleicht sogar ängstlich, und ich war einen Augenblick lang selbst ängstlich. Er hat’s ihr gesagt, dachte ich. Was sich als Irrtum erweisen sollte. Nur dass es eigentlich doch keiner war.
»Mr. James, ist Henry krank?«
»Krank? Nein, nein. Kerngesund, würde ich sagen. Und er isst wie ein Scheunendrescher, wie du ja selbst weißt. Obwohl ich glaube, dass selbst ein Kranker Mühe hätte, sich deinen Kochkünsten zu verweigern, Shannon.«
Das brachte mir ein Lächeln ein, aber eines von der geistesabwesenden Art. »In diesem Sommer ist er anders. Ich hab immer gewusst, was er denkt, aber jetzt nicht mehr. Er brütet.«
»Tut er das?«, fragte ich (zu herzlich).
»Sie haben nichts gemerkt?«
»Nein, Ma’am.« (Ich hatte es gemerkt.) »Er kommt mir vor wie immer. Aber er hat dich schrecklich gern, Shan. Was dir als Brüten erscheint, kommt ihm vielleicht wie liebeskrank vor.«
Ich dachte, das würde mir ein richtiges Lächeln einbringen, aber nein. Sogar das kleine, das sie sich zuvor abgerungen hatte, verschwand. Sie berührte mich am Handgelenk. Vom Schöpferstiel war die Hand noch ganz kühl. »Das hab ich mir auch schon überlegt, aber …« Der Rest brach aus ihr heraus. »Mr. James, wenn er in eine andere verschossen wäre - in eines der Mädchen aus der Schule -, würden Sie’s mir doch sagen, oder? Sie würden nicht versuchen, meine … meine Gefühle zu schonen …?«
Als ich darüber lachen musste, konnte ich sehen, wie ihr unscheinbares, aber freundliches Gesicht sich erleichtert aufhellte. »Shan, hör mir zu. Weil ich wirklich dein Freund bin. Im Sommer gibt es immer viel Arbeit, und seit Arlette fort ist, haben Hank und ich mehr geschuftet als einarmige Tapezierer. Wenn wir abends reinkommen, essen wir - sehr gut sogar, wenn du gerade da bist - und lesen danach noch eine Stunde. Das heißt, wenn wir die Augen offen halten können. Dann gehen wir zu Bett, und am nächsten Tag stehen wir auf, und alles geht von vorn los. Er hat also kaum Zeit, dir den Hof zu machen - von anderen Mädchen ganz zu schweigen.«
»Mir hat er den Hof gemacht, das stimmt«, sagte Shannon und sah zum Mähdrescher hinüber, mit dem ihr Vater und Henry am Horizont entlangtuckerten.
»Na … das hört sich doch prima an.«
»Ich dachte nur … er ist jetzt so still … so trübsinnig … manchmal starrt er in die Ferne, und ich muss seinen Namen zwei- oder dreimal sagen, bevor er mich hört und mir antwortet.« Sie errötete heftig. »Sogar seine Küsse sind irgendwie anders. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber sie sind anders. Aber wenn Sie ihm jemals sagen, dass ich das gesagt habe, sterbe ich. Ich sterbe einfach.«
»Das täte ich nie«, sagte ich. »Freunde verpetzen einander nicht.«
»Wahrscheinlich bin ich ein Dummerchen. Aber viele von den Mädchen in der Schule sind hübscher als ich … eigentlich sogar alle …«
Ich hob ihr Kinn mit zwei Fingern hoch, so dass sie mir in die Augen schauen musste. »Shannon Cotterie, wenn mein Junge dich ansieht, sieht er das schönste Mädchen der Welt. Und er hat recht damit. Also, wenn ich in seinem Alter wär, würde ich dir auch den Hof machen.«
»Danke«, sagte sie. In ihren Augenwinkeln standen wie winzige Diamanten ein paar Tränen.
»Deine einzige Sorge muss ein, ihn auf seinen Platz zu verweisen, falls er ihn mal verlässt. Burschen können nämlich mächtig in Fahrt kommen. Und wenn ich mal aus der Reihe tanze, musst du’s einfach sagen. Auch das ist in Ordnung, wenn’s unter Freunden passiert.«
Daraufhin umarmte sie mich, und auch ich drückte sie an mich. Eine gute, kräftige Umarmung, aber für Shannon vermutlich angenehmer als für mich. Weil Arlette zwischen uns stand. In jenem Sommer des Jahres 1922 stand sie zwischen mir und jedermann sonst, und Henry erging es nicht anders. Nichts anderes hatte Shannon mir gerade mitgeteilt.
In einer Augustnacht, als die Ernte größtenteils eingebracht war und Old Pies Leute entlohnt und wieder in der Reservation waren, wachte ich von leisen Muhlauten auf. Ich habe das Melken verschlafen, dachte ich, aber als ich nach der Taschenuhr meines Vaters auf dem Nachttisch griff und einen Blick darauf warf, sah ich, dass es erst Viertel nach drei Uhr morgens war. Ich hielt sie an mein Ohr, um festzustellen, ob sie noch tickte, aber ein Blick aus dem Fenster ins mondlose Dunkel hätte denselben Zweck erfüllt. Und es war auch nicht das leicht unbehagliche Muhen einer Kuh, die gemolken werden wollte. Es waren die Laute eines Tieres, das Schmerzen litt. Manchmal sind sie von kalbenden
Ich stand auf, wollte zur Tür gehen und trat dann an den Kleiderschrank, um mein Kaliber.22 mitzunehmen. Hinter der geschlossenen Tür seines Zimmers sägte Henry Holz, als ich mit der Waffe in der einen und meinen Stiefeln in der anderen Hand vorbeihastete. Hoffentlich würde er nicht aufwachen und mich bei etwas begleiten wollen, das ein gefährliches Unternehmen sein konnte. In der Prärie gab es damals nur noch wenige Wölfe, aber Old Pie hatte mir erzählt, dass zwischen Platte River und Medicine Creek viele Füchse am Sommerfieber litten, wie die Schoschonen die Tollwut bezeichneten. Irgendein tollwütiges Raubwild im Stall war also vermutlich die Ursache dieser Laute.
Sobald ich aus dem Haus war, klang das schmerzliche Muhen überaus laut und irgendwie hohl. Hallend. Wie von einer Kuh in einem Brunnen, dachte ich. Bei diesem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut auf den Armen und umklammerte mein Gewehr fester.
Als ich das zweiflüglige Stalltor erreichte und die rechte Hälfte mit der Schulter aufdrückte, konnte ich hören, wie die anderen Kühe mitfühlend zu muhen begannen, aber diese Laute waren ruhige Erkundigungen im Vergleich zu den schrillen Schmerzenslauten, die mich geweckt hatten … und auch Henry wecken würden, wenn ich nicht bald beendete, was sie verursachte. An einem Haken rechts neben dem Tor hing eine Kohlebogenlampe - wir benutzten hier möglichst keine Laterne mit offenem Feuer, vor allem nicht im Sommer, wenn der Heuboden vollgepackt und alle Maisspeicher bis obenhin gefüllt waren.
Ich tastete nach dem Zündknopf und drückte ihn. Grelles blauweißes Licht breitete sich ringförmig aus. Anfangs war ich zu geblendet, um irgendetwas zu erkennen; ich konnte nur die Schmerzenslaute und die Hufschläge hören,
Ich schlüpfte in meine Gummistiefel und trabte dann mit dem Gewehr unter dem Arm den Mittelgang entlang. Ich riss die Tür der Box auf und trat einen Schritt zur Seite. Achelois heißt »die den Schmerz vertreibt«, aber nun hatte Achelois selbst Schmerzen. Als sie auf den Gang hinauspolterte, sah ich, dass ihre Hinterbeine blutverschmiert waren. Sie bäumte sich auf wie ein Pferd (was mir bei einer Kuh noch nie untergekommen war), und als sie das tat, sah ich an einer ihrer Zitzen eine riesige Wanderratte hängen. Ihr Gewicht hatte den rosa Stummel zu einem straffen Knorpelschlauch gedehnt. Vor Überraschung (und Entsetzen) gelähmt, musste ich daran denken, wie Henry als kleiner Junge manchmal Kaugummi wie ein Band aus dem Mund gezogen hatte. Lass das!, hatte Arlette ihn dann angefahren. Kein Mensch will sehen, worauf du rumgekaut hast.
Ich hob das Gewehr, ließ es aber gleich wieder sinken. Wie hätte ich schießen können, wo die Ratte doch wie ein lebendes Pendel hin- und herschwang?
Draußen auf dem Gang senkte Achelois den Kopf und wiegte ihn von einer Seite zur anderen, als brächte das irgendwas. Sobald sie wieder auf vier Beinen stand, konnte die Ratte unter ihr aufgerichtet auf dem mit einer dünnen Heuschicht bedeckten Stallboden stehen. Sie glich einem seltsam missgebildeten Welpen mit von Blut gefärbten Milchtropfen in den Schnurrbarthaaren. Ich sah mich nach etwas um, mit dem ich auf sie einschlagen konnte, aber bevor ich Ich habe in all den Jahren immer fleißig Milch gegeben und dir nie Schwierigkeiten bereitet - im Gegensatz zu anderen, die ich benennen könnte -, wieso hast du also zugelassen, dass mir das passiert? Unter ihrem Euter sammelte sich Blut an und bildete eine kleine Lache. Sogar in meinem von Schock und Abscheu geprägten Zustand erkannte ich, dass diese Verletzung nicht tödlich war, aber ihr Anblick - und der der Ratte mit der schuldlosen Zitze in der Schnauze - erfüllte mich mit Zorn.
Trotzdem schoss ich nicht auf sie, teils weil ich Angst vor Feuer hatte, aber vor allem nicht, weil ich fürchtete, ich könnte sie mit der Kohlebogenlampe in einer Hand verfehlen. Stattdessen schlug ich mit dem Gewehrkolben zu, um diesen Eindringling so zu erledigen, wie Henry den Überlebenden aus dem Brunnen mit der Schaufel erschlagen hatte. Aber Henry war ein Junge mit guten Reflexen, und ich war ein Mann in mittleren Jahren, der aus tiefem Schlaf geweckt worden war. Die Ratte wich meinem Schlag mühelos aus und trippelte den Mittelgang hinunter. Die abgebissene Zitze wippte in ihrer Schnauze auf und ab, und ich erkannte, dass die Ratte sie auffraß - warm und bestimmt voller Milch -, während sie weglief. Ich jagte hinter ihr her und schlug noch zweimal nach ihr, verfehlte aber beide Male. Dann sah ich, wohin sie lief: zu dem Leitungsrohr, das in den ehemaligen Tränkbrunnen hinunterführte. Natürlich! ihr begraben.
Aber diese Bestie ist bestimmt zu groß für das Rohr, dachte ich. Sie muss von außerhalb kommen - vielleicht aus einem Nest im Misthaufen.
Sie sprang zur Öffnung hinauf, wobei ihr Körper sich auf höchst erstaunliche Weise verlängerte. Ich schwang das Gewehr ein letztes Mal und zerschmetterte den Kolben am Rand des Eisenrohrs. Die Ratte verfehlte ich ganz. Als ich mit der Kohlebogenlampe ins Rohr hineinleuchtete, sah ich gerade noch undeutlich ihren haarlosen Schwanz im Dunkel verschwinden und hörte ihre kleinen Krallen auf dem verzinkten Metall kratzen. Dann war sie weg. Mein Herz hämmerte so stark, dass mir weiße Punkte vor den Augen tanzten. Ich holte tief Luft, aber sie war so mit dem Gestank von Zersetzung und Verwesung geschwängert, dass ich mit zugehaltener Nase zurücksank. Das Bedürfnis, zu schreien, wurde durch das Bedürfnis erstickt, mich zu übergeben. Am anderen Ende des Rohrs konnte ich nämlich deutlich Arlette sehen, deren sich verflüssigendes Fleisch jetzt von Käfern und Maden wimmelte; ich konnte sehen, wie ihr Gesicht vom Schädel zu tropfen begann, wie das Grinsen ihrer Lippen dem länger andauernden Knochengrinsen darunter wich.
Ich kroch auf allen vieren rückwärts von diesem schrecklichen Rohr fort, versprühte Erbrochenes erst nach links, dann nach rechts, und nachdem ich mein ganzes Abendessen von mir gegeben hatte, würgte ich noch lange Stränge Gallenflüssigkeit hoch. Mit wässrigen Augen sah ich, dass Achelois in ihre Box zurückgegangen war. Das war gut. Wenigstens würde ich sie nicht durch den Mais verfolgen, ihr ein Halfter anlegen und sie in den Stall zurückführen müssen.
Als Erstes wollte ich das Rohr verstopfen - das wollte ich als Allererstes tun -, aber als mein Magen sich beruhigt hatte, konnte ich wieder klarer denken. Achelois hatte Vorrang. Sie war eine gute Milchkuh. Und vor allem war ich für sie verantwortlich. In dem kleinen Nebenraum, wo ich die Bücher führte, hing ein Medizinschränkchen, in dem ich eine große Büchse Rawleigh Antiseptic Salve fand. In einer Ecke lag ein kleiner Stapel Putztücher. Mit der Salbe und den meisten Putzlappen ging ich zu Achelois’ Box zurück, wo ich sofort die Tür schloss, um die Gefahr zu verringern, getreten zu werden (ohne sie natürlich ganz ausschalten zu können). Dann erst setzte ich mich auf den Melkschemel. Ich glaube, dass ich damals irgendwie fand, ich hätte es verdient, getreten zu werden. Aber die gute alte Achelois beruhigte sich, als ich ihr die Flanke tätschelte und »braves Mädchen, brav, so ist’s brav« flüsterte. Obwohl sie zitterte, als ich ihr verletztes Euter mit der Salbe bestrich, hielt sie still.
Nachdem ich alles mir Mögliche getan hatte, um eine Infektion zu verhindern, machte ich mich mit den Putzlumpen daran, das Erbrochene aufzuwischen. Gute Arbeit zu leisten war wichtig, denn wie jeder Farmer bestätigen kann, wird Raubwild von Erbrochenem ebenso stark angezogen wie von einer unsorgfältig abgedeckten Müllgrube. Waschbären und Waldmurmeltiere, versteht sich, aber vor allem Ratten. Ratten haben eine Vorliebe für das, was Menschen von sich geben.
Ich hatte ein paar Putzlappen übrig, aber diese ehemaligen Geschirrtücher aus Arlettes Küche waren für mein nächstes Vorhaben zu klein. Ich nahm die Sichel von ihrem Haken, ging mit der Lampe zum Holzstapel hinaus und hackte ein ausgefranstes Quadrat aus dem schweren Segeltuch, mit dem er abgedeckt war. Im Stall bückte ich mich und hielt die Lampe dicht an die Rohröffnung, weil ich sichergehen einziger Durchgang -, und sie würden ihn so lange sauber halten, wie sie ihr Geschäft noch draußen erledigen konnten.
Ich stopfte das Segeltuch ins Rohr. Es war so steif und sperrig, dass ich zuletzt den Besenstiel benutzen musste, um es ganz hineinzustopfen, aber ich schaffte es. »Da!«, sagte ich. »Mal sehen, wie euch das gefällt. Erstickt daran!«
Ich ging zurück, um noch einmal nach Achelois zu sehen. Sie stand still da, und als ich ihre Flanke tätschelte, bedachte sie mich mit einem milden Blick über die Schulter. Ich wusste damals wie heute, dass sie bloß eine Kuh war - Farmer hegen nur wenige romantische Vorstellungen von der Natur, werden Sie feststellen -, aber trotzdem ließ dieser Blick mir die Tränen in die Augen steigen, und ich musste ein Schluchzen unterdrücken. Ich weiß, dass du dein Bestes getan hast, besagte der Blick. Ich weiß, dass das alles nicht deine Schuld ist.
Aber es war meine.
Ich ging ins Haus zurück und schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang. Hinter seiner geschlossenen Tür konnte ich Henry schnarchen hören. Ich rechnete damit, lange nicht einschlafen zu können, und wenn ich endlich schlief, würde ich von der Ratte träumen, die mit der rosigen Zitze in der Schnauze durchs Heu auf dem Stallboden zu ihrem Notausgang flitzte, aber ich schlief fast augenblicklich ein, und mein Schlaf war traumlos und erholsam zugleich. Als ich aufwachte, überflutete das Morgenlicht den Raum, und ich hatte den Verwesungsgeruch der Leiche meiner Frau dick
Ich erwartete, dass der Rattenbiss sich trotz der Salbe entzünden würde, was aber nicht der Fall war. Achelois sollte später in jenem Jahr verenden, aber nicht deshalb. Sie gab jedoch nie mehr Milch; keinen einzigen Tropfen. Ich hätte sie schlachten lassen sollen, aber das brachte ich nicht übers Herz. Sie hatte durch meine Schuld zu viel durchleiden müssen.
Am nächsten Tag gab ich Henry eine Einkaufsliste und wies ihn an, mit dem Lastwagen nach Hemingford Home zu fahren und die aufgeschriebenen Sachen zu holen. Auf seinem Gesicht erschien ein verblüfftes breites Grinsen.
»Mit dem Lastwagen? Ich? Ganz allein?«
»Du kennst immer noch alle Vorwärtsgänge? Und kannst immer noch den Rückwärtsgang finden?«
»Klar doch, Mann!«
»Dann bist du schon so weit, finde ich. Vielleicht noch nicht für Omaha - oder auch nur Lincoln -, aber wenn du langsam fährst, müsstest du in Hemingford Home gut zurechtkommen.«
»Danke!« Er umarmte mich überschwänglich und küsste mich auf die Wange. Einen Augenblick lang schienen wir wieder Freunde zu sein. Ich ließ mich das sogar ein wenig glauben, obwohl ich es im Innersten besser wusste. Wir hatten jetzt etwas zwischen uns. Der Beweis mochte unter der Erde liegen, aber zwischen uns stand die Wahrheit - jetzt und für alle Zeiten.
Ich gab ihm eine lederne Geldbörse. »Die hat deinem Großvater gehört. Am besten behältst du sie gleich ganz; ich wollte sie dir ohnehin im Herbst zum Geburtstag schenken. Sollte etwas von dem Geld darin übrig bleiben, kannst du’s behalten.« Beinahe hätte ich hinzugefügt: und bring keine streunenden Hunde mit nach Hause, konnte es mir aber gerade noch verkneifen. Das war immer die witzig gemeinte Standardermahnung seiner Mutter gewesen.
Er setzte dazu an, mir nochmals zu danken, schaffte es aber nicht. Es war wohl alles einfach zu viel.
»Auf der Rückfahrt machst du bei Lars Olsens Schmiede halt, um zu tanken. Vergiss das nicht, sonst bist du zu Fuß statt hinter dem Lenkrad, wenn du heimkommst.«
»Ich denke daran. Und, Papa?«
»Ja.«
Er trat von einem Fuß auf den anderen und sah mich dann schüchtern an. »Kann ich bei den Cotteries vorbeifahren und Shan fragen, ob sie mitkommen mag?«
»Nein«, sagte ich, und er machte schon ein langes Gesicht, bevor ich hinzufügte: »Du fragst Sallie oder Harlan, ob Shan mitkommen darf. Und erzähl ihnen unbedingt, dass du zum ersten Mal allein in die Stadt fährst. Ich verlasse mich auf dein Ehrenwort, Sohn.«
Als ob wir beide noch eine Ehre gehabt hätten.
Ich stand am Tor und beobachtete, wie unser alter Lastwagen in einer Staubwolke verschwand. Mir steckte ein Kloß in der Kehle, den ich nicht hinunterschlucken konnte. Ich hatte die überaus starke, wenngleich törichte Vorahnung, dass ich ihn nie wiedersehen würde. So empfinden vermutlich die meisten Eltern, wenn sie ein Kind allein fortgehen oder wegfahren sehen und dabei erkennen, dass ein Kind, das alt genug ist, um Aufträge selbstständig auszuführen, eigentlich kein Kind mehr ist. Aber ich durfte mich nicht zu
Als Erstes sah ich nach Achelois, die zwar matt, aber nicht ernstlich krank wirkte. Dann kontrollierte ich das Eisenrohr. Es war weiter blockiert, aber ich machte mir keine Illusionen; es würde einige Zeit dauern, aber letztlich würden die Ratten sich durch das Segeltuch nagen. Ich musste bessere Arbeit leisten. Ich schleppte einen Sack Portlandzement zum Brunnen hinter dem Haus und rührte ihn in einem alten Eimer an. Während ich im Stall darauf wartete, dass der Mörtel dicker wurde, stopfte ich das Segeltuch tiefer ins Rohr hinein. Auf diese Weise machte ich gut einen halben Meter frei, den ich anschließend mit dem Mörtel verschloss. Bis Henry zurückkam (und das in bester Laune; er hatte Shannon tatsächlich mitgenommen, und das Wechselgeld hatte für das Eiscremesoda gereicht, das sie sich geteilt hatten), hatte er abgebunden. Vermutlich waren einige wenige Ratten auf Nahrungssuche außerhalb unterwegs gewesen, aber ich bezweifelte nicht, dass ich die meisten - auch die eine, die die arme Achelois verstümmelt hatte - dort unten im Dunkel eingemauert hatte. Und dort unten im Dunkel würden sie verenden. Wenn sie nicht erstickten, dann würden sie verhungern, sobald ihr entsetzlicher Nahrungsvorrat erschöpft war.
Das glaubte ich zumindest.
In den Jahren zwischen 1916 und 1922 ging es in Nebraska selbst dummen Farmern gut. Harlan Cotterie, der keineswegs dumm war (und nur drei Mäuler zu stopfen hatte), war erfolgreicher als die meisten, wie seine Farm eindrucksvoll Mir hat er den Hof gemacht, das stimmt - mit matter, ausdrucksloser Stimme, die so gar nicht zu ihr passte, ohne mich weiter zu beachten, während sie die Silhouette des Mähdreschers und die hinter ihm herstapfenden Aufklauber betrachtete.
Es war gegen Ende September, als die Maisernte nach einem harten Jahr Arbeit bereits eingebracht war, während es im Garten noch viel zu ernten gab. Als Shannon an einem Samstagnachmittag unter der Dusche stand, kam ihre Mutter mit einem Armvoll Wäsche, die sie vorzeitig von der Leine genommen hatte, weil es nach Regen aussah, den rückwärtigen Flur entlang. Shannon glaubte vermutlich, sie hätte die Badezimmertür ganz zugemacht - die meisten Frauen wollen bei der Körperpflege im Bad allein sein, und als der Sommer 1922 in den Herbst überging, hatte Shannon Cotterie dazu noch einen speziellen Grund -, aber vielleicht war sie aufgesprungen und stand halb offen. Ihre Mutter sah zufällig hinein, und obwohl das alte Laken, das jetzt als Duschvorhang diente, ganz um die U-förmige Schiene herumgezogen war, hatte der Wasserstaub es durchscheinend Gestalt des Mädchens, diesmal ohne eines der weiten Quäkerkleider, das ihre Umrisse verbarg. Ein einziger Blick genügte. Shannon war im fünften Monat oder kurz davor; sie hätte ihr süßes Geheimnis vermutlich ohnehin nicht mehr lange verbergen können.
Zwei Tage später kam Henry aus der Schule nach Hause (er fuhr jetzt mit dem Lastwagen dorthin) und wirkte ängstlich und schuldbewusst. »Shan fehlt seit zwei Tagen«, sagte er, »also bin ich bei den Cotteries vorbeigefahren, um mich nach ihr zu erkundigen. Ich dachte, sie hätte vielleicht die Spanische Grippe. Sie haben mich nicht mal reingelassen. Mrs. Cotterie hat mich nur aufgefordert, weiterzufahren, und gesagt, dass ihr Mann heute Abend nach der Arbeit vorbeikommen will, um mit dir zu reden. Ich hab gefragt, ob ich etwas ausrichten kann, und sie hat gesagt: ›Du hast schon genug ausgerichtet, Henry.‹«
Jetzt fiel mir auch ein, was Shan bei der Maisernte zu mir gesagt hatte. Henry verbarg sein Gesicht in den Händen und sagte: »Sie ist schwanger, Papa, und sie haben es rausgekriegt. Ich weiß, dass es darum geht. Wir wollen heiraten, aber ich fürchte, dass sie uns nicht lassen.«
»Vergiss ihre Eltern«, sagte ich. »Ich lasse euch nicht.«
Er sah mit verwundetem Blick aus tränennassen Augen zu mir auf. »Warum nicht?«
Du hast gesehen, wozu es zwischen deiner Mutter und mir gekommen ist, und musst noch fragen?, dachte ich nur, sagte stattdessen aber: »Sie ist 15 Jahre alt, und du wirst es sogar erst in zwei Wochen.«
»Aber wir lieben uns!«
O dieser idiotische Ausruf! Diese jammernde Klage eines Schwächlings. Ich hatte die Hände an den Seitennähten meiner Latzhose zu Fäusten geballt und musste mich dazu zwingen, sie zu öffnen. Zornig zu werden wäre zwecklos
»Das weiß ich, Henry …«
»Hank! Und andere heiraten auch so jung!«
Früher hatten sie das getan; seit das neue Jahrhundert begonnen und die Pionierzeit sich dem Ende zugeneigt hatte, allerdings nicht mehr so oft. Aber das sagte ich ihm nicht. Stattdessen erklärte ich ihm, dass ich kein Geld für eine Starthilfe für sie hätte. Vielleicht 1925, wenn die Ernten und Preise gut blieben, aber vorläufig könne ich nichts für sie tun. Und weil nun ein Baby unterwegs sei …
»An sich wäre genug da!«, sagte er. »Wärst du wegen der 40 Hektar kein solches Arschloch gewesen, wäre reichlich da! Sie hätte mir etwas davon abgegeben! Und sie hätte nicht so mit mir geredet!«
Anfangs war ich zu betroffen, um darauf zu antworten. Seit wir Arlette namentlich - oder auch nur angedeutet mit dem Fürwort sie - erwähnt hatten, waren zwischen uns sechs oder sogar noch mehr Wochen vergangen.
Er starrte mich trotzig an. Und dann sah ich in weiter Ferne auf unserer Stichstraße eine wogende Staubwolke näher kommen. Harlan Cotterie war unterwegs. Ich hatte ihn immer für meinen Freund gehalten, aber eine Tochter, die sich als schwanger erweist, kann solche Dinge ändern.
»Nein, sie hätte nicht so mit dir geredet«, stimmte ich Henry zu und zwang mich dazu, ihm offen ins Gesicht zu sehen. »Sie hätte noch schlimmer mit dir geredet. Und dich wahrscheinlich ausgelacht. Wenn du richtig in dich hineinhorchst, Sohn, wirst du mir recht geben.«
»Nein!«
»Deine Mutter hat Shannon ein kleines Flittchen genannt und dich dann aufgefordert, deinen Willy in der Hose zu
Henrys Zorn schwand schlagartig. »Es war erst nach … nach dieser Nacht … dass wir … Shan wollte nicht, aber ich hab sie dazu überredet. Und als wir erst mal angefangen hatten, hat’s ihr so gut gefallen wie mir. Nachdem wir anfangen hatten, hat sie darum gebettelt.« Er sagte das mit einem eigenartigen, leicht perversen Stolz und schüttelte dann müde den Kopf. »Jetzt liegen diese 40 Hektar voller Unkraut brach, und ich sitze in der Scheiße. Wäre Mama noch hier, würde sie mir helfen, da rauszukommen. Mit Geld lässt sich alles richten, das sagt er immer.« Henry nickte zu der näher kommenden Staubwolke hinüber.
»Wenn du nicht mehr weißt, wie sparsam deine Mama mit jedem Dollar war, bist du vergesslicher, als dir guttut«, sagte ich. »Und wenn du vergessen hast, wie sie dich am letzten Abend ins Gesicht geschlagen hat …«
»Hab ich nicht«, sagte er mürrisch. Dann noch mürrischer: »Ich dachte nur, du würdest mir helfen.«
»Das habe ich auch vor. Aber vorerst möchte ich, dass du dich verdrückst. Auf Shannons Vater würdest du jetzt wie ein rotes Tuch wirken, wenn er hier aufkreuzt. Lass mich erst mal sehen, wo wir stehen - und in welcher Stimmung er ist -, dann rufe ich dich vielleicht auf die Veranda heraus.« Ich ergriff sein Handgelenk. »Ich werde mein Bestes für dich tun, Sohn.«
Er entzog mir seine Hand. »Das will ich hoffen.«
Henry verschwand im Haus, und kurz bevor Harlan mit seinem neuen Wagen vorfuhr (einem neuen Nash, dessen Lack unter der Staubschicht so grün wie eine Schmeißfliege schillerte), hörte ich die Fliegengittertür nach hinten hinaus zufallen.
Der Motor des Nash tuckerte, hatte eine Fehlzündung und starb dann ab. Harlan stieg aus, zog seinen Staubmantel aus, faltete ihn zusammen und legte ihn auf den Fahrersitz. Den Mantel hatte er getragen, weil er dem Anlass entsprechend gekleidet war: weißes Hemd, schmaler Selbstbinder und gute Sonntagshosen, die von einem Gürtel mit Silberschließe gehalten wurden. Jetzt ruckte er daran, damit die Hosen genau richtig unter seinem straffen kleinen Schmerbauch saßen. Er hatte mich immer gut behandelt, und ich hatte uns stets nicht nur für Freunde, sondern für gute Freunde gehalten, aber in diesem Augenblick hasste ich ihn geradezu. Nicht etwa weil er gekommen war, um mir wegen meines Sohns Vorwürfe zu machen; ich an seiner Stelle hätte weiß Gott das Gleiche getan. Nein, es lag an dem nagelneuen leuchtend grünen Nash. Es lag an der silbernen Gürtelschließe in Form eines Delfins. Es lag an dem leuchtend rot gestrichenen neuen Silo und den Wasserleitungen im ganzen Haus. Und vor allem lag es an der fügsamen, wenngleich reizlosen Ehefrau, die er auf seiner Farm zurückgelassen hatte, wo sie trotz ihres Kummers zweifellos das Abendessen zubereitete. An der Frau, deren freundliche Antwort angesichts aller auftauchenden Misslichkeiten lauten würde: Wie du’s für richtig hältst, Harlan. Frauen, aufgepasst! Eine Ehefrau dieser Art braucht nie zu befürchten, ihr Leben mit durchschnittener Kehle verröcheln zu müssen.
Er kam mit großen Schritten die Verandatreppe herauf. Ich stand auf, streckte die Hand aus und wartete, ob er sie ergreifen oder ignorieren würde. Er zögerte, während er das Für und Wider erwog, aber zuletzt drückte er sie kurz, bevor er sie wieder losließ. »Wir haben hier ein beträchtliches Problem, Wilf«, sagte er.
»Ja, ich weiß. Henry hat’s mir eben erzählt. Lieber spät als nie.«
»Am liebsten gar nicht«, sagte er grimmig.
»Willst du dich nicht setzen?«
Auch darüber dachte er nach, bevor er den Schaukelstuhl nahm, der immer Arlette gehört hatte. Ich wusste, dass er sich nicht hinsetzen wollte - ein Mann, der zornig und durcheinander ist, sitzt nicht gern still -, aber er nahm trotzdem Platz.
»Möchtest du etwas Eistee? Limonade gibt’s keine, die war Arlettes Spezialität, aber…«
Er winkte mit einer dicklichen Hand ab. Dicklich, aber hart. Obwohl Harlan zu den reichsten Farmern in der Hemingford County gehörte, packte er überall selbst mit an; bei der Heu- oder Maisernte war er stets mit den Wanderarbeitern auf dem Feld. »Ich will vor Sonnenuntergang wieder zu Hause sein. Diese Scheinwerfer geben ein beschissenes Licht. Meine Kleine hat ein Brötchen im Ofen, und du weißt wohl, wer der verdammte Bäcker war.«
»Würde es helfen, wenn ich sage, dass mir das leidtut?«
»Nein.« Er hatte die Lippen schmal zusammengepresst, und ich sah das Blut auf beiden Halsseiten heiß pochen. »Ich bin fuchsteufelswild, und was alles noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ich niemand habe, auf den ich wütend sein kann. Auf die Kinder kann ich nicht zornig sein, weil sie eben nur Kinder sind, aber wenn Shannon nicht schwanger wäre, würde ich sie übers Knie legen und versohlen, weil sie sich nicht besser betragen hat, obwohl sie’s besser gewusst hat. Sie ist in Elternhaus und Sonntagsschule besser erzogen worden.«
Ich wollte ihn fragen, ob er glaube, Henry sei falsch erzogen worden. Stattdessen hielt ich den Mund und ließ ihn alles sagen, worüber er auf der Fahrt hierher vor Wut geschäumt hatte. Er hatte sich eine kleine Rede zurechtgelegt, und wenn er sie gehalten hatte, würde er vielleicht umgänglicher sein.
»Ich würde Sallie gern vorwerfen, den Zustand des Mädchens nicht früher erkannt zu haben, aber Erstgebärende tragen ihr Kind gewöhnlich hoch, das weiß jeder, und … Gott, du kennst ja die Kleider, die Shan trägt. Die sind auch nichts Neues. Diese Altweiberkleider trägt sie, seit sie mit zwölf zum ersten Mal ihre…«
Harlan hielt seine dicklichen Hände vor die Brust. Ich nickte.
»Und ich möchte auf dich zornig sein, weil du dich anscheinend vor diesem Gespräch, das Vater und Sohn führen sollten, gedrückt hast.« Als hättest du eine Ahnung davon, wie man einen Sohn erzieht, dachte ich. »In dem man ihm erklärt, dass er eine Pistole in der Hose hat, die er gesichert lassen soll.« Ihm blieb ein Schluchzen in der Kehle stecken, und dann brach es aus ihm heraus: »Mein … kleines … Mädchen ist zu jung, um Mutter zu werden!«
Ich hätte auch fragen können, ob er vielleicht ein wenig Schuld für sich reserviert habe, wenn er sie so großzügig verteile, aber ich hielt den Mund. Schweigsamkeit war eigentlich nicht meine Art, aber durch das Zusammenleben mit Arlette hatte ich reichlich Übung darin.
»Nur kann ich auch nicht auf dich zornig sein, weil deine Frau dich im Frühjahr sitzen lassen hat, wodurch du natürlich abgelenkt warst. Also bin ich hinters Haus gegangen und hab fast ein verdammtes halbes Klafter Holz gehackt, bevor ich hergekommen bin, um etwas von meinem Zorn abzuarbeiten, und das hat anscheinend geholfen. Ich hab dir die Hand geschüttelt, nicht wahr?«
Das Eigenlob in seiner Stimme reizte mich dazu, zu sagen: Wenn’s keine Vergewaltigung war, braucht’s zum Tangotanzen wohl immer zwei. Aber ich sagte nur: »Ja, das hast du«, und ließ es dabei bewenden.
»Nun, das bringt uns dazu, was ihr in dieser Sache unternehmen wollt. Du und dieser Junge, der die Beine unter
Irgendein Teufel - vermutlich das Wesen, das von einem Besitz ergreift, wenn der Hinterhältige sich verabschiedet - ließ mich sagen: »Henry will sie heiraten und dem Baby seinen Namen geben.«
»Das ist so gottverdammt lächerlich, dass ich’s gar nicht hören will. Ich werde nicht sagen, dass Henry weder einen Pott hat, in den er pissen kann, noch ein Fenster, aus dem er ihn kippen könnte - ich weiß, dass du’s gut gemacht hast, Wilf, oder so gut, wie du kannst, aber das ist das Beste, was ich sagen kann. Wir hatten fette Jahre, aber du bist der Bank nur einen kleinen Schritt voraus. Wo wirst du stehen, wenn die Jahre wieder mager werden? Und das werden sie immer. Hättest du bares Geld von diesen 40 Hektar, sähe die Sache vielleicht anders aus - Geld federt harte Zeiten ab, das weiß jeder -, aber seit Arlette fort ist, hocken die dort draußen wie eine alte Jungfer mit Verstopfung auf ihrem Nachttopf.«
Nur einen Augenblick lang versuchte ich mir irgendwie vorzustellen, wie alles gekommen wäre, wenn ich Arlette in Bezug auf dieses scheiß Land nachgegeben hätte, wie ich es in so vielen anderen Dingen getan habe. Ich würde in Gestank leben, so wär’s gekommen. Ich hätte den alten Brunnen für die Kühe tiefer graben müssen, weil Kühe nicht aus einem Bach trinken, in dem Blut und Schweinegedärme schwimmen.
Wie wahr. Aber ich würde leben, statt nur zu existieren, Arlette würde mit mir leben, und Henry wäre nicht der mürrische, schwierige Junge, zu dem ich ihn gemacht habe. Der Junge, durch den seine Freundin aus Kindertagen eine Menge Ärger bekommen hat.
»Und? Was hast du also vor?«, fragte ich. »Ich bezweifle, dass du die Fahrt hierher nur unternommen hast, um mir
Er schien mir nicht zugehört zu haben. Er blickte über die Felder zu der Stelle hinaus, wo sein neuer Silo am Horizont aufragte. Etwas Schwermütiges und Trauriges lag in seiner Miene, aber ich habe zu viel durchgemacht und zu viel geschrieben, um zu lügen: Dieser Ausdruck bewegte mich nicht sonderlich. 1922 war das schlimmste Jahr meines Lebens gewesen, eines, das mich in einen Menschen verwandelt hatte, den ich nicht mehr kannte, und Harlan Cotterie war nur ein weiteres Schlagloch auf einem steinigen, erbärmlichen Straßenstück.
»Sie hat Köpfchen«, sagte Harlan. »Mrs. McReady in der Schule sagt, dass Shan die intelligenteste Schülerin ist, die sie in ihrer ganzen Laufbahn unterrichtet hat - und die reicht fast vierzig Jahre zurück. Sie ist in Englisch gut und in Mathe sogar noch besser - was bei Mädchen selten vorkommt, sagt Mrs. McReady. Sie kann Triggerometrie, Wilf. Hast du das gewusst? Selbst Mrs. McReady kann keine Triggerometrie.«
Nein, das hatte ich nicht gewusst, aber ich wusste, wie man Trigonometrie aussprach. Ich spürte jedoch, dass dies vielleicht nicht der richtige Augenblick war, die Aussprache meines Nachbarn zu korrigieren.
»Sallie wollte sie aufs normale College in Omaha schicken. Dort nehmen sie seit 1918 außer Jungen auch Mädchen auf, obwohl bisher noch kein Mädchen den Abschluss geschafft hat.« Er bedachte mich mit einem Blick, der schwer zu ertragen war: eine Mischung aus Abscheu und Feindseligkeit. »Die Mädchen wollen nämlich immer bloß heiraten. Und Kinder kriegen, dem Freimaurerorden ›Eastern Star‹ beitreten und den gottverdammten Fußboden aufwischen.«
Er seufzte.
»Shan könnte die Erste sein. Sie hat die Begabung und das Köpfchen dafür. Das hast du nicht gewusst, stimmt’s?«
Nein, tatsächlich nicht. Ich hatte einfach angenommen - eine meiner vielen Annahmen, die sich als falsch erwiesen haben -, sie eigne sich zur Farmersfrau, aber nicht zu mehr.
»Sie könnte sogar später am College unterrichten. Wir hatten vor, sie dorthin zu schicken, sobald sie siebzehn ist.«
Sallie hatte das vor, meinst du, dachte ich. Aus eigenem Antrieb wäre dein Farmerverstand nie auf eine derart verrückte Idee gekommen.
»Shan war einverstanden, und das Geld habe ich auf die Seite gelegt. Alles war arrangiert.« Als er sich mir zuwandte, hörte ich seine Halswirbel knarren. »Es ist immer noch alles arrangiert. Aber vorher - praktisch sofort - kommt sie ins katholische Mädchenheim St. Eusebia in Omaha. Sie weiß das noch nicht, aber dorthin kommt sie. Sallie hat davon gesprochen, sie nach Deland zu schicken - Sals Schwester lebt dort - oder zu meiner Tante und meinem Onkel in Lyme Biska. Aber weder traue ich einem von denen zu, das zu Ende zu führen, was wir beschlossen haben, noch hat ein Mädchen, das solche Probleme verursacht, es verdient, zu Leuten zu kommen, die es kennt und liebt.«
»Was habt ihr also beschlossen, Harl? Außer dass ihr eure Tochter in eine Art … ich weiß nicht … Waisenhaus schicken wollt?«
Er reagierte ungehalten. »Das ist kein Waisenhaus, sondern eine saubere, erbauliche, tüchtige Einrichtung. Das habe ich mir erzählen lassen. Ich habe mit dem Fernsprecher herumgefragt und überall nur Gutes gehört. Sie bekommt dort Aufgaben, sie bekommt ihren Unterricht, und in weiteren vier Monaten bekommt sie ihr Baby. Gleich danach wird das Kleine zur Adoption freigegeben. Dafür sorgen
»Und welche Rolle spiele ich dabei? Ich habe eine, sonst wärst du wohl nicht hier.«
»Verscheißerst du mich, Wilf? Ich weiß, dass du ein schwieriges Jahr hinter dir hast, aber ich lasse mich trotzdem nicht von dir verscheißern.«
»Ich verscheißere dich nicht, aber du musst erkennen, dass du nicht als Einziger aufgebracht und beschämt bist. Sag mir einfach, was du willst, dann können wir vielleicht Freunde bleiben.«
Das einzigartig kalte Lächeln, mit dem er darauf reagierte - nur ein Zucken der Lippen und flüchtig auftauchende Grübchen in den Mundwinkeln -, sagte sehr viel darüber aus, wie wenig Hoffnung er darauf hatte.
»Ich weiß, dass du nicht reich bist, aber du musst trotzdem vortreten und deinen Teil der Verantwortung übernehmen. Ihre Zeit im Heim - die Schwestern nennen sie Geburtsvorbereitung - wird mich 300 Dollar kosten. Schwester Camilla hat am Telephon von einer Spende gesprochen, aber ich erkenne eine Gebühr, wenn ich von einer höre.«
»Wenn du vorschlagen willst, halbe-halbe zu machen…«
»Ich weiß, dass du keine 150 Dollar aufbringen kannst, aber du wirst hoffentlich die 75 aufbringen können, die eine Privatlehrerin kostet. So eine soll Shan helfen, schulisch auf dem Laufenden zu bleiben.«
»Das kann ich nicht. Arlette hat jeden Cent mitgenommen, als sie abgehauen ist.« Aber ich fragte mich erstmals, ob sie nicht vielleicht irgendwo ein paar Scheine versteckt hatte. Diese Sache mit den 200 Dollar, mit denen sie durchgebrannt sein sollte, war eine reine Lüge gewesen, aber sogar etwas Nadelgeld wäre in dieser Situation hilfreich gewesen.
»Nimm wieder einen Kurzkredit bei der Bank auf«, sagte er. »Wie ich höre, hast du den letzten bereits ganz zurückgezahlt.«
Natürlich hatte er das gehört. An sich fallen solche Dinge zwar unters Bankgeheimnis, aber Männer wie Harlan Cotterie haben lange Ohren. Ich fühlte eine Woge des Widerwillens gegen ihn. Er hatte mir für die Maisernte seinen Mähdrescher geliehen und nur 20 Dollar dafür genommen? Na und? Er verlangte diesen Betrag und noch mehr, als hätte seine kostbare Tochter nie die Beine breit gemacht und gesagt: Komm rein und streich die Wände an.
»Ich hatte Erntegeld, um ihn zurückzuzahlen«, sagte ich. »Das habe ich jetzt nicht mehr. Ich habe mein Land und mein Haus, aber das ist so ziemlich alles.«
»Lass dir was einfallen«, sagte er. »Nimm eine Hypothek auf das Haus auf, wenn’s sein muss. 75 Dollar sind dein Anteil, und wenn dein Junge dafür nicht mit fünfzehn Windeln wechseln muss, kommst du billig davon, finde ich.«
Er stand auf. Ich ebenfalls. »Und wenn mir nichts einfällt? Was dann, Harl? Schickst du dann den Sheriff her?«
Er verzog die Lippen zu einem verächtlichen Ausdruck, der meinen Widerwillen gegen ihn in Hass verwandelte. Das Ganze geschah sekundenschnell, und ich spüre diesen Hass noch heute, wo so viele andere Gefühle aus meinem Herzen ausgebrannt worden sind. »Wegen einer Sache wie dieser würde ich nie zur Justiz gehen. Aber wenn du dich davor drückst, deinen Teil der Verantwortung zu übernehmen, sind wir geschiedene Leute.« Er blinzelte ins abnehmende Tageslicht. »Ich fahre jetzt. Das sollte ich auch, wenn ich noch vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein
In Gedanken stieß ich ihn von der Veranda und sprang mit beiden Beinen auf seinen harten gewölbten Bauch, während er sich aufzurappeln versuchte. Dann holte ich meine Sichel aus der Scheune und stach ihm damit ein Auge aus. In Wirklichkeit blieb ich mit einer Hand auf dem Geländer stehen und sah zu, wie er die Stufen hinunterstapfte.
»Willst du nicht mit Henry reden?«, fragte ich. »Ich kann ihn rufen. Ihm tut das Ganze so leid wie mir.«
Harlan kam nicht aus dem Tritt. »Sie war rein, und dein Junge hat sie beschmutzt. Würdest du ihn herholen, würde ich ihn vielleicht niederschlagen. Ich könnte mich vielleicht nicht beherrschen.«
Da hatte ich so meine Zweifel. Henry war fast ausgewachsen, er war stark, und vor allem wusste er, wie man mordet. Und davon hatte Harl Cotterie nicht die geringste Ahnung.
Er brauchte den Nash nicht anzukurbeln, sondern musste nur auf einen Knopf drücken. Wohlhabend zu sein war auf alle mögliche Arten angenehm. »75 brauche ich, um diese Sache zum Abschluss zu bringen!«, rief er laut, um das Hämmern und Knattern des Motors zu übertönen. Dann beschrieb er einen engen Kreis um den Hackklotz, trieb George und seinen Harem in die Flucht und fuhr auf seine Farm mit dem großen Stromgenerator und dem fließenden Wasser zurück.
Als ich mich umdrehte, stand Henry blass und zornig neben mir. »Sie dürfen sie nicht einfach so wegschicken!«
Er hatte also gelauscht. Ich kann nicht behaupten, dass mich das überraschte.
»Sie können und werden es tun«, sagte ich. »Und wenn du jetzt unbesonnen etwas Dummes tust, machst du eine schlimme Situation nur noch schlimmer.«
»Wir könnten durchbrennen. Uns würde niemand erwischen. Wenn wir mit … mit dem davongekommen sind, was wir getan haben … dann traue ich mir auch zu, mit meinem Mädchen nach Colorado durchzubrennen, ohne geschnappt zu werden.«
»Das würdest du nicht schaffen«, sagte ich, »so ganz ohne Geld. Mit Geld lässt sich alles richten, sagt er. Und ich sage dir: Kein Geld verdirbt alles. Das weiß ich genau, und Shannon wüsste es auch. Sie muss jetzt auf ihr Baby aufpassen …«
»Nicht wenn sie gezwungen wird, es herzugeben!«
»Das ändert nichts daran, was eine Frau empfindet, wenn sie einen kleinen Kerl im Bauch hat. Das macht sie auf eine Weise lebensklug, die Männer nicht verstehen. Weder bist du noch ist sie in meiner Achtung gesunken, nur weil sie ein Kind bekommt - ihr seid nicht die Ersten, und ihr werdet nicht die Letzten sein, auch wenn Mr. Großmächtig glaubt, sie würde das, was sie zwischen den Beinen hat, nur auf dem Wasserklosett benutzen. Aber wenn du ein im fünften Monat schwangeres Mädchen bedrängen würdest, mit dir durchzubrennen … und wenn sie dazu bereit wäre … würde ich die Achtung vor euch beiden verlieren.«
»Was weißt du denn schon?«, sagte er mit unendlicher Verachtung. »Du konntest nicht mal eine Kehle durchschneiden, ohne Pfusch zu machen.«
Ich war sprachlos. Er sah meine Verwirrung und ließ mich so stehen.
Am nächsten Tag fuhr er zwar in die Schule, aber ich ahnte, dass er nicht mehr lange hingehen würde, seit sein Schatz nicht mehr dort war. Vermutlich lag das an dem Lastwagen. Einem Jungen ist jede Ausrede recht, wenn er einen Wagen fahren darf.
Sobald er fort war, ging ich in die Küche. Ich kippte Zucker, Mehl und Salz aus ihren Blechdosen und rührte darin herum. In den Häufchen war nichts zu finden. Ich ging ins Schlafzimmer und durchsuchte ihre Kleidung. Wieder nichts. Ich sah in ihren Schuhen nach, ohne fündig zu werden. Aber jeder Misserfolg verstärkte meine Gewissheit, irgendwo gebe es etwas.
Ich hatte Arbeit im Garten, aber statt sie zu tun, ging ich nach draußen hinter den Stall, wo der alte Brunnen gewesen war. Auf ihm wuchs jetzt Unkraut: Quecken, dazwischen vereinzelt Goldruten. Elpis war dort unten, Arlette auch. Arlette mit ihrem verschobenen Unterkiefer. Arlette mit ihrem Clownsgrinsen. Arlette mit ihrem Haarnetz.
»Wo ist es, du widerborstige Schlampe?«, fragte ich sie. »Wo hast du es versteckt?«
Ich bemühte mich, möglichst an gar nichts zu denken, so wie es mir mein Vater immer geraten hatte, wenn ich ein Werkzeug oder eines meiner wenigen kostbaren Bücher verlegt hatte. Kurze Zeit später ging ich zurück ins Haus, zurück ins Schlafzimmer, zurück an den Kleiderschrank. Im oberen Fach standen zwei Hutschachteln. In der ersten fand ich nur einen Hut - den weißen, den sie in der Kirche getragen hatte (wenn sie sich die Mühe machte, zum Gottesdienst zu gehen, was ungefähr einmal im Monat vorkam). Der Hut in der zweiten Schachtel war rot, und ich hatte sie nie damit gesehen. Mir kam er wie ein Nuttenhut vor. Unter dem Innenband aus Satin steckten zwei zu winzigen Quadraten in Pillengröße zusammengefaltete 20-Dollar-Scheine. Während ich hier in diesem schäbigen Hotelzimmer
Weil sie nicht reichten. Das begreifen Sie doch wohl. Natürlich tun Sie das. Man braucht nichts von Triggerometrie zu verstehen, um zu wissen, dass man auf 40 noch 35 drauflegen muss, um 75 zu haben. Das klingt nicht nach viel, stimmt’s? Aber damals bekam man für 35 Dollar Lebensmittel für 2 Monate oder in Lars Olsens Schmiede ein gutes gebrauchtes Halfter. Oder man konnte eine Fahrkarte bis nach Sacramento hinaus lösen … was ich mir oft wünsche, dass ich es getan hätte.
35.
Und wenn ich nachts im Bett liege, kann ich diese Zahl manchmal wirklich sehen. Sie blinkt so rot wie eine Warnleuchte, die einen Bahnübergang sperrt, weil ein Zug kommt. Ich wollte die Gleise trotzdem überqueren und bin vom Zug überfahren worden. Wenn jeder von uns einen Hinterhältigen in sich hat, steckt in jedem von uns auch ein Verrückter. Und in diesen Nächten, in denen ich nicht schlafen kann, weil die blinkende Zahl mich nicht schlafen lässt, behauptet mein Verrückter, alles sei eine Verschwörung gewesen: Cotterie, Stoppenhauser und der Rechtsverdreher von Farrington hätten sich gegen mich zusammengetan. Ich weiß es natürlich besser (wenigstens bei Tageslicht). Cotterie und Mr. Anwalt Lester können später mit Stoppenhauser gesprochen haben - nachdem ich getan hatte, was ich getan habe -, aber anfangs war die Sache bestimmt harmlos; Stoppenhauser wollte mir wohl wirklich helfen … und für die Home Bank & Trust einen kleinen Gewinn herausschlagen, versteht sich. Aber als Harlan oder Lester - oder beide zusammen - eine Möglichkeit sahen, ergriffen sie sie.
Der Hinterhältige ausgetrickst … wie gefällt Ihnen das? Inzwischen war mir das fast egal, weil ich damals schon meinen Sohn verloren hatte, aber wissen Sie, wem ich wirklich die Schuld gebe?
Arlette.
Ja.
Weil sie es war, die diese beiden Scheine in ihrem roten Nuttenhut versteckt hatte, wo ich sie finden musste. Und begreifen Sie auch, wie diabolisch clever sie war? Es waren nämlich nicht die 40, die mein Verderben waren; es war der Betrag, der noch zu der Summe fehlte, die Cotterie für die Privatlehrerin seiner schwangeren Tochter verlangte; das Geld, das er wollte, damit sie Latein lernen und weiter Triggerometrie üben konnte.
35, 35, 35.
Über das Geld, das er für die Privatlehrerin haben wollte, dachte ich die ganze restliche Woche und auch übers Wochenende nach. Manchmal holte ich die beiden Scheine hervor - ich hatte sie glattgestrichen, aber die Kniffe blieben - und studierte sie. Am Sonntagabend stand mein Entschluss fest. Ich sagte Henry, er müsse am Montag mit dem Model T in die Schule fahren; ich müsse nach Hemingford Home fahren und mit Mr. Stoppenhauser in der Bank über einen Kurzkredit reden. Über einen Kleinkredit. Nur 35 Dollar.
»Wofür?« Henry saß am Fenster und starrte missmutig aufs Westfeld hinaus.
Ich sagte es ihm. Ich dachte, das würde zu einem weiteren Streit wegen Shannon führen, den ich mir in gewisser Weise sogar wünschte. Er hatte die ganze Woche nicht von ihr gesprochen, obwohl ich wusste, dass Shan fort war. Mert Donovan hatte es mir erzählt, als er vorbeikam, um eine Ladung Saatmais abzuholen. »Ist jetzt in irgendeinem
Wenn ich wusste, dass sie fort war, wusste Henry es auch - vermutlich schon vor mir, Schulkinder tratschen nun einmal hemmungslos. Aber er hatte nichts gesagt. Ich versuchte wohl, ihm einen Grund dafür zu liefern, allen Schmerz und alle Vorwürfe herauszulassen. Das würde nicht angenehm sein, aber auf Dauer konnte es sich als Wohltat erweisen. Man sollte kein Geschwür auf der Stirn oder im Gehirn dahinter schwären lassen. Wenn man das einmal zulässt, kann die Infektion sich gefährlich ausbreiten.
Als er meine Mitteilung nur mit einem Grunzen quittierte, beschloss ich, etwas energischer nachzufassen.
»Wir beide werden uns die Rückzahlung teilen«, sagte ich. »Sollten wir den Kredit bis Weihnachten tilgen, kommt er auf nicht mehr als 38 Dollar. Das sind 19 für jeden. Deinen Anteil ziehe ich dir von deinem Arbeitslohn ab.«
Das würde bestimmt einen Wutanfall provozieren, dachte ich … aber es bewirkte nur ein weiteres mürrisches Grunzen. Er diskutierte nicht einmal darüber, dass er mit dem T in die Schule fahren sollte, obwohl das Ding kaum 25 Meilen die Stunde schaffte und seine Mitschüler darüber spotteten, wie er sagte, und es »Hanks Arschbrecher« nannten.
»Sohn?«
»Was?«
»Alles in Ordnung mit dir?«
Er wandte sich mir zu und lächelte - zumindest verzog er die Lippen. »Mir geht’s gut. Viel Glück morgen auf der Bank, Papa. Ich geh jetzt ins Bett.«
Als er aufstand, fragte ich ihn: »Gibst du mir einen Gutenachtkuss?«
Er küsste mich auf die Wange. Es war das letzte Mal.
Er ratterte mit dem Arschbrecher in die Schule, und ich fuhr mit dem Lastwagen nach Hemingford Home, wo Mr. Stoppenhauser mich nach nur fünf Minuten Wartezeit in sein Büro holte. Ich erklärte ihm, was ich brauchte, sagte aber nicht, wofür, und gab nur persönliche Gründe an. Ich glaubte, bei einem so lächerlichen Betrag nicht ins Detail gehen zu müssen, und behielt recht. Als ich jedoch fertig war, faltete er die Hände auf seiner Schreibunterlage und musterte mich fast väterlich streng. In der Ecke zählte eine Standuhr leise tickend Zeitsegmente ab. Von der Straße drang - erheblich lauter - das Knattern eines Motors herein. Es verstummte, danach folgte eine Pause, bevor ein weiterer Motor ansprang. War das mein Sohn, der erst mit dem Model T ankam und dann meinen Lastwagen klaute? Das lässt sich im Nachhinein nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich glaube, dass es so war.
»Wilf«, sagte Mr. Stoppenhauser, »Sie haben etwas Zeit gehabt, darüber hinwegzukommen, dass Ihre Frau sich heimlich davongemacht hat - entschuldigen Sie, dass ich ein schmerzhaftes Thema anspreche, aber es scheint relevant zu sein, und außerdem ist das Büro eines Bankiers ein bisschen wie ein Beichtstuhl -, deshalb will ich Ihnen wie ein guter Onkel ernsthaft ins Gewissen reden.«
Diese Redewendung kannte ich - wie wohl die meisten seiner Kunden -, und ich reagierte mit dem pflichtbewussten Lächeln, das sie hervorrufen sollte.
»Leiht die Home Bank & Trust Ihnen 35 Dollar? Aber sicher! Ich wäre versucht, die Sache unter uns zu regeln und Ihnen den Betrag persönlich zu leihen, aber ich habe nie mehr Bargeld in der Tasche, als ich fürs Mittagessen im Aber!« Er hob den Zeigefinger. »Sie brauchen keine 35 Dollar.«
»Leider doch.« Ich fragte mich, ob er wusste, wofür. Das war immerhin denkbar; er war wirklich ein listiger alter Kauz. Aber das war Harl Cotterie auch, und Harl war in diesem Herbst zudem ein beschämter alter Kauz.
»Nein, die brauchen Sie nicht. Sie brauchen 750, so viel brauchen Sie, und die könnten Sie auf der Stelle haben. Als Kontogutschrift oder in der Tasche, wenn Sie hinausgehen, mir ist eines so recht wie das andere. Die Hypothek auf Ihre Farm haben Sie vor 3 Jahren getilgt. Sie sind schuldenfrei. Also gibt’s absolut keinen Grund, weshalb Sie nicht zu uns kommen und eine neue Hypothek aufnehmen sollten. Es gibt keinen Grund, eine zweite aufzunehmen, wenn die erste restlos getilgt ist, sagen Sie? Das wird dauernd gemacht, mein Junge, und von den besten Leuten. Sie würden staunen, wer alles in unseren Büchern steht. Wirklich die besten Leute. Jawohl.«
»Ich danke Ihnen sehr, Mr. Stoppenhauser, aber das möchte ich lieber nicht. Diese Hypothek hat die ganze Zeit wie eine graue Wolke über mir gehangen, und…«
»Wilf, das ist der springende Punkt!« Der Zeigefinger kam wieder hoch. Diesmal bewegte er sich hin und her wie das Pendel der Standuhr. »Genau das ist der entscheidende Punkt! Es sind die Leute, die eine Hypothek aufnehmen und dann das Gefühl haben, ständig im Sonnenschein zu spazieren, die zuletzt in Verzug geraten und ihren wertvollen Besitz verlieren! Leute wie Sie, die solche Bankschulden wie eine Ladung Steine an einem trüben Tag herumschleppen, das sind die Leute, die immer pünktlich tilgen. Und wollen Sie mir etwa erzählen, auf der Farm gäbe es nichts
Ich dachte darüber nach. Schließlich sagte ich: »Die Versuchung ist sehr groß, Sir. Das will ich nicht leugnen…«
»Ist auch nicht nötig. Ein Bankiersbüro, der Beichtstuhl eines Geistlichen - sehr wenig Unterschied. Die besten Männer dieser County haben auf diesem Stuhl gesessen, Wilf. Die allerbesten.«
»Aber ich bin nur wegen eines Kurzkredits hier - den Sie mir freundlicherweise gewährt haben -, und über diesen neuen Vorschlag muss ich erst ein bisschen nachdenken.« Dann kam mir eine neue Idee, die überraschend erfreulich war. »Und ich sollte ihn mit meinem Jungen besprechen, mit Henry … oder Hank, wie er jetzt genannt werden will. Er kommt in das Alter, in dem er einbezogen werden muss, weil er eines Tages erben wird, was jetzt mir gehört.«
»Verstanden, völlig verstanden. Aber Sie können nichts Besseres tun, glauben Sie mir.« Er stand auf und streckte mir die Hand hin. Ich stand ebenfalls auf und schüttelte sie. »Sie sind hergekommen, um einen Fisch zu kaufen, Wilf. Ich bin bereit, Ihnen eine Angelrute zu verkaufen. Ein weit besserer Deal.«
»Danke.« Und als ich die Bank verließ, dachte ich: Ich werde es mit meinem Sohn besprechen. Das war ein guter Gedanke. Ein warmer Gedanke für ein Herz, dem seit Monaten fröstelte.
Der Verstand ist ein komisches Ding, nicht wahr? Ich war in Gedanken so mit der Hypothek beschäftigt, die Mr. Stoppenhauser
Ich blieb einen Augenblick so stehen: halb in dem T, halb draußen, eine Hand am Rahmen der Windschutzscheibe, die andere unter dem Sitz, unter dem ich die Kurbel aufbewahrte. Ich wusste vermutlich, warum Henry die Schule geschwänzt und diesen Tausch vorgenommen hatte, noch bevor ich seine Mitteilung unter dem improvisierten Briefbeschwerer herauszog und den Zettel auseinanderfaltete. Auf längeren Strecken war der Lastwagen zuverlässiger. Zum Beispiel auf einer Fahrt nach Omaha.
Papa,
ich habe den Lastwagen genommen. Du weißt wahrscheinlich, wohin ich will. Lass mich in Ruhe.
Ich weiß, dass du mich von Sheriff Jones zurückholen lassen kannst, aber wenn du das tust, erzähle ich alles. Du denkst vielleicht, dass ich mir die Sache anders überlegen werde, weil ich »nur ein Kind« bin, ABER DAS TU ICH NICHT. Ohne Shan ist mir alles egal. Ich hab dich lieb, Papa, auch wenn ich nicht weiß, wieso, nachdem alles, was wir getan haben, mir nur Ehlend gebracht hat.
Dein dich liebender Sohn
Henry »Hank« James
Ich fuhr wie benommen zur Farm zurück. Ich glaube, einige Leute winkten mir unterwegs zu - sogar Sallie Cotterie, die an ihrem Straßenstrand Gemüse verkaufte, winkte mir zu, glaube ich -, und ich erwiderte ihr Winken vermutlich, aber ich habe keine Erinnerung daran. Zum ersten Mal, seit Sheriff Jones auf die Farm gekommen war und seine freundlichen, keine Antworten erfordernden Fragen gestellt und alles mit seinen kalt forschenden Augen betrachtet hatte, erschien mir der elektrische Stuhl als reale Möglichkeit - so real, dass ich beinahe die Schnallen auf der Haut spüren konnte, während die Lederriemen um meine Handgelenke und Oberarme angezogen wurden.
Ich würde geschnappt werden, ob ich nun den Mund hielt oder nicht. Das erschien mir unvermeidlich. Er hatte kein Geld, nicht mal sechs Dollar, um den Lastwagen vollzutanken, also würde er marschieren müssen, lange bevor er auch nur Elkhorn erreichte. Wenn es ihm glückte, irgendwo Benzin zu stehlen, würde er gefasst werden, sobald er sich dem Heim näherte, in dem sie jetzt lebte (als Gefangene, wie Henry vermutete; sein unreifer Verstand war nie auf den Gedanken gekommen, sie könnte dort freiwillig zu Gast sein). Bestimmt hatte Harlan der Leiterin - Schwester Camilla - Henrys Personenbeschreibung gegeben. Selbst wenn er die Möglichkeit, der empörte Liebhaber könnte aufkreuzen, wo seine Geliebte hinter Schloss und Riegel saß, nie in Betracht gezogen hatte, würde Schwester Camilla daran gedacht haben. In ihrer Tätigkeit hatte sie bestimmt schon so einige Erfahrungen mit empörten Liebhabern gesammelt.
Meine einzige Hoffnung war, dass Henry, wenn er in die Fänge der Justiz geriet, so lange schweigen würde, bis er erkannte, dass er nicht auf meine Veranlassung hin, sondern wegen seiner töricht romantischen Vorstellungen geschnappt worden war. Darauf zu hoffen, dass ein Heranwachsender
Als ich auf den Hof fuhr, schoss mir ein verrückter Gedanke durch den Kopf: den Motor laufen lassen, eine Reisetasche packen und nach Colorado weiterfahren. Diese Idee hielt nur zwei Sekunden lang vor. Ich hatte zwar Geld - nämlich 75 Dollar -, aber der T würde liegenbleiben, lange bevor ich bei Julesburg die Staatsgrenze erreichte. Aber das war nicht das Entscheidende; wäre es das gewesen, hätte ich nach Lincoln fahren und dort den T und 60 meiner Dollar gegen einen zuverlässigeren Wagen eintauschen können. Nein, entscheidend war die Farm. Die Heimstätte. Meine Heimstätte. Ich hatte meine Frau ermordet, um sie zu behalten, und würde sie jetzt nicht verlassen, nur weil mein törichter, unreifer Komplize es sich in den Kopf gesetzt hatte, zu einem romantischen Ritterzug aufzubrechen. Wenn ich die Farm verließ, würde es nicht in Richtung Colorado, sondern ins Staatsgefängnis gehen. Wo man mich in Ketten halten würde.
Das Ganze war am Montag vorgefallen. Weder am Dienstag noch am Mittwoch gab es Neuigkeiten. Sheriff Jones kam nicht, um mir mitzuteilen, Henry sei auf dem Highway von Lincoln nach Omaha als Anhalter aufgegriffen worden, und Harl Cotterie kam nicht, um mir (zweifellos mit puritanischer Befriedigung) zu erzählen, die Polizei in Omaha habe Henry auf Schwester Camillas Ersuchen verhaftet und er sitze jetzt im Knast und erzähle wilde Geschichten von Messern und Brunnen und Rupfensäcken. Auf der Farm blieb alles ruhig. Ich arbeitete im Garten, ich reparierte einen Zaun, ich lud Scheffelkörbe mit Gemüse auf einen Hänger, den der T ziehen konnte, ich molk die Kühe, ich fütterte die Hühner - und tat alles wie benommen. Irgendwie glaubte ich, ziemlich fest sogar, dass alles
Am Donnerstag kam dann Mrs. McReady - die liebenswerte, füllige Witwe, die an der Hemingford School allgemeinbildende Fächer unterrichtete - mit ihrem eigenen Model T vorbei, um zu fragen, ob mit Henry alles in Ordnung sei. »In der Schule macht eine … eine Magenverstimmung die Runde«, sagte sie. »Ich frage mich, ob er sich wohl vielleicht angesteckt hat. Er ist ganz plötzlich hinausgestürmt.«
»Er leidet tatsächlich«, sagte ich, »aber er ist liebeskrank statt magenkrank. Er ist weggelaufen, Mrs. McReady.«
Unerwartete Tränen, brennend und heiß, stiegen mir in die Augen. Ich zog mein Taschentuch aus der Brusttasche meiner Latzhose, aber ein paar liefen mir übers Gesicht, bevor ich sie wegwischen konnte.
Als ich wieder klar sehen konnte, erkannte ich, dass Mrs. McReady, die es mit allen Kindern - auch den schwierigen - gut meinte, selbst den Tränen nahe war. Sie musste geahnt haben, worunter Henry wirklich litt.
»Keine Angst, er kommt wieder, Mr. James. Ich habe so was schon mehrfach erlebt und rechne damit, es noch ein-, zweimal zu erleben, bevor ich pensioniert werde, obwohl dieser Zeitpunkt nicht mehr so fern ist, wie er früher war.« Sie senkte die Stimme, als befürchtete sie, George der Gockel oder jemand in seinem gefiederten Harem könnte ein Spion sein. »In Acht nehmen sollten Sie sich vor ihrem Vater. Er ist ein harter, unbeugsamer Mensch. Kein schlechter Mensch, aber hart.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Und ich vermute mal, dass Sie wissen, wo seine Tochter jetzt ist.«
Sie senkte den Blick. Das war Antwort genug.
»Danke, dass Sie herausgekommen sind, Mrs. McReady. Darf ich Sie bitten, das alles für sich zu behalten?«
»Ja, natürlich … aber die Kinder tuscheln schon. Seien Sie also gewarnt.«
Ja. Natürlich taten sie das.
»Haben Sie einen Telephonapparat, Mr. James?« Sie sah sich nach einer Leitung um. »Wie ich sehe, haben Sie keinen. Macht nichts. Wenn ich etwas höre, komme ich vorbei und sage es Ihnen.«
»Wenn Sie irgendwas früher als Harlan Cotterie oder Sheriff Jones hören, meinen Sie.«
»Gott wird für Ihren Sohn sorgen. Auch für Shannon. Was waren die beiden doch für ein reizendes Paar; das haben alle gesagt. Manchmal reift die Frucht zu früh, und ein Frost lässt sie welken. Wirklich ein Jammer. Traurig und jammerschade.«
Sie schüttelte mir die Hand - mit einem kräftigen Druck wie dem eines Mannes -, und fuhr dann mit ihrem billigen kleinen Auto davon. Ich glaube nicht, dass ihr bewusst gewesen war, dass sie von Shannon und meinem Sohn zuletzt in der Vergangenheitsform gesprochen hatte.
Am Freitag kam Sheriff Jones in seinem Maxwell mit dem goldenen Stern auf der Tür heraus. Und er war nicht allein. Hinter ihm fuhr mein Lastwagen her. Bei diesem Anblick schlug mein Herz höher, sank aber sofort wieder, als ich sah, wer am Steuer saß: Lars Olsen.
Ich bemühte mich, ruhig zu warten, während Jones sein Ankunftsritual zelebrierte: Gürtel ruckartig hochziehen, Stirn abwischen (obwohl der Tag kühl und bewölkt war), sich übers Haar fahren. Aber ich schaffte es nicht. »Alles in Ordnung mit ihm? Haben Sie ihn gefunden?«
»Nein, können wir leider nicht behaupten.« Er kam die Verandatreppe herauf. »Ein Störungssucher für die Überlandleitungen
»Ich habe gehofft, er würde von selbst zurückkommen«, sagte ich bedrückt. »Er ist nach Omaha unterwegs. Ich weiß nicht, wie viel ich Ihnen erzählen muss, Sheriff …«
Lars Olsen, der interessiert die Ohren spitzte, war unauffällig auf Hörweite herangeschlendert. »Gehen Sie schon mal zu meinem Wagen, Olsen«, sagte Jones. »Das hier ist ein Privatgespräch.«
Lars, eine sanftmütige Seele, huschte davon, ohne Einwände zu erheben. Jones wandte sich wieder an mich. Er war weit weniger freundlich als beim ersten Besuch und hatte auch alle scheinbare Unbeholfenheit abgelegt.
»Ich weiß längst genug, nicht wahr? Dass Ihr Junge dafür gesorgt hat, dass Harl Cotteries Tochter in anderen Umständen ist, und vermutlich nach Omaha abgehauen ist. Als er gemerkt hat, dass der Tank bald leer sein würde, hat er den Wagen in ein Feld mit hohem Gras gefahren. Das war clever. Hat er diese Cleverness von Ihnen? Oder von Arlette?«
Ich sagte nichts, aber er hatte mich auf eine Idee gebracht. Nur eine kleine, die sich aber als nützlich erweisen konnte.
»Ich will Ihnen das Einzige erzählen, wofür wir ihm dankbar sind«, sagte Jones. »Was sogar dazu führen kann, dass er nicht hinter Gitter kommt. Bevor er weitergezogen ist, hat er alles Gras unter dem Truck ausgerissen. Damit der Auspuff es nicht in Brand setzt, nicht wahr? Ein großer Präriebrand, der ein paar Tausend Hektar erfasst, könnte ein Gericht ziemlich aufbringen, nicht wahr? Selbst wenn der Verursacher erst fünfzehn oder so wäre.«
»Das ist ja nun nicht passiert, Sheriff - er hat das Richtige getan -, was führt Sie also zu mir?« Die Antwort darauf wusste ich natürlich. Sheriff Jones waren Leute wie Andrew Lester, Rechtsanwalt, vermutlich scheißegal, aber er war gut mit Harl Cotterie befreundet. Beide gehörten der neu gegründeten »Elks Lodge« an, und Harl hatte es auf meinen Sohn abgesehen.
»Bisschen empfindlich, nicht wahr?« Er fuhr sich nochmals über die Stirn und setzte dann den Stetson wieder auf. »Tja, ich wäre vielleicht auch empfindlich, wenn er mein Sohn wäre. Und wissen Sie was? Wäre er mein Sohn und Harl Cotterie mein Nachbar - mein guter Nachbar -, wäre ich vielleicht zu ihm rübergefahren und hätte gesagt: ›Harl? Weißt du was? Ich glaube, mein Sohn könnte versuchen, an deine Tochter ranzukommen. Willst du nicht jemand auffordern, auf ihn zu achten?‹ Aber auch das haben Sie nicht getan, nicht wahr?«
Die Idee, auf die er mich gebracht hatte, sah immer besser aus, und es wurde allmählich Zeit, ihn damit zu überraschen.
»Er ist nicht aufgetaucht, wo immer sie ist, oder?«
»Noch nicht, nein, vielleicht sucht er noch.«
»Ich glaube nicht, dass er weggelaufen ist, um Shannon zu besuchen«, sagte ich.
»Wozu sonst? Gibt’s drüben in Omaha etwa bessere Eiscreme? Dorthin war er nämlich unterwegs, jede Wette.«
»Ich vermute, dass er auf der Suche nach seiner Mutter ist. Ich glaube, dass sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt hat.«
Das machte ihn gut zehn Sekunden lang sprachlos - lange genug, um sich die Stirn abzuwischen und sich übers Haar zu fahren. Dann fragte er: »Wie hätte sie das anstellen sollen?«
»Ich tippe auf einen Brief.« Das Lebensmittelgeschäft in Hemingford Home diente auch als unser Postamt, wo man
»Sie sollten sich schämen, so über ein nettes Mädchen zu reden!«
»Vielleicht ja, vielleicht nein, aber das Ganze hat mich ebenso überrascht wie die Cotteries, und nun ist mein Junge fort. Die wissen wenigstens, wo ihre Tochter ist.«
Wieder war er ratlos. Dann zog er ein kleines Notizbuch aus der Hüfttasche und kritzelte etwas hinein. Er steckte es wieder weg und fragte: »Aber Sie wissen nicht bestimmt, dass Ihre Frau sich mit dem Jungen in Verbindung gesetzt hat - wollen Sie das sagen? Dass alles nur eine Vermutung ist?«
»Ich weiß, dass er nach dem Weggang seiner Mutter oft von ihr gesprochen hat, bis damit plötzlich Schluss war. Und ich weiß, dass er nicht in diesem Heim, in das Harlan und seine Frau Shannon gesteckt haben, aufgekreuzt ist.« Darüber war ich ebenso verblüfft wie Sheriff Jones … aber schrecklich dankbar. »Was kommt heraus, wenn man diese Tatsachen kombiniert?«
»Weiß ich nicht«, sagte Jones stirnrunzelnd. »Weiß ich ehrlich nicht. Ich dachte, ich hätte den Durchblick, aber ich hab mich gelegentlich schon geirrt, nicht wahr? Ja, und das kann auch in Zukunft passieren. Wir sind alle im Irrtum befangen, so steht’s in der Bibel. Aber, großer Gott, die jungen Leute machen mir das Leben schwer! Wenn Sie von Ihrem Sohn hören, Wilfred, sagen Sie ihm, er soll zusehen, dass er seinen mageren Hintern nach Hause bewegt und von Shannon Cotterie wegbleibt, falls er weiß, wo sie ist.
»Nein«, sagte ich grimmig, »von mir bekämen Sie nie eine Anzeige.«
»Aber.« Er hob den Zeigefinger, was mich an Mr. Stoppenhauser in der Bank erinnerte. »Vor drei Tagen hat jemand in Lyme Biska - nicht allzu weit von der Stelle entfernt, an der Ihr Lastwagen aufgefunden wurde - den Lebensmittelmarkt mit Äthyltankstelle am Stadtrand überfallen. Den mit dem Blue Bonnet Girl auf dem Dach, nicht wahr? Hat 23 Dollar erbeutet. Die Meldung liegt auf meinem Schreibtisch. Der Täter war ein junger Mann in alten Cowboysachen, der das Halstuch bis zur Nase hochgezogen und seinen Trapperhut tief in die Stirn gedrückt hatte. Die Mutter des Besitzers, die hinter dem Ladentisch gestanden hat, ist von dem Burschen mit irgendeinem Werkzeug bedroht worden. Vielleicht mit einer Brechstange oder einem Brecheisen, aber wer weiß? Sie geht auf die achtzig zu und ist halb blind.«
Diesmal war ich mit Schweigen an der Reihe. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Schließlich sagte ich: »Henry ist von der Schule aus weggefahren, Sheriff, und wie ich mich erinnere, hat er an diesem Tag ein Flanellhemd und eine Cordhose getragen. Er hat keine Kleidung mitgenommen … und besitzt gar keine Cowboysachen, wenn Sie damit Stiefel und alles meinen. Er besitzt auch keinen Trapperhut.«
»Auch diese Dinge könnte er gestohlen haben, nicht wahr?«
»Wenn Sie nicht mehr wissen, als Sie eben gesagt haben, sollten Sie lieber schweigen. Ich weiß, dass Sie mit Harlan befreundet sind …«
»Na, na, das hat nichts miteinander zu tun.«
Es hatte etwas miteinander zu tun, wie wir beide wussten, aber es gab keinen Grund, dieses Thema weiterzuverfolgen. Auch wenn meine 30 Hektar im Vergleich zu Harlan Cotteries 160 vielleicht unbedeutend waren, würde ich mich als Grundbesitzer und Steuerzahler nicht einschüchtern lassen. Das hatte ich sagen wollen, und Sheriff Jones hatte es sehr gut verstanden.
»Mein Sohn ist kein Räuber, und er bedroht keine Frauen. So was tut er nicht, und so ist er auch nicht erzogen worden.«
Zumindest bis vor kurzem nicht, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.
»Möglicherweise war’s auch nur ein Landstreicher, der schnell Kasse machen wollte«, sagte Jones. »Aber ich hatte das Gefühl, die Sache ansprechen zu müssen, also hab ich’s getan. Und wir wissen nicht, was die Leute sagen werden, nicht wahr? Gerüchte machen gern die Runde. Alle reden, nicht wahr? Reden ist wohlfeil. Was mich betrifft, ist der Fall erledigt - um Lyme Biska soll sich der Sheriff von Lyme County kümmern, das ist mein Motto -, aber Sie sollten wissen, dass die Polizei in Omaha das Heim, in dem Shannon Cotterie ist, im Auge behält. Das sage ich nur für den Fall, dass Ihr Sohn von sich hören lässt, nicht wahr?«
Er strich sich das Haar zurück und setzte seinen Hut dann zum letzten Mal gerade auf.
»Vielleicht kommt er von selbst zurück, ohne etwas angestellt zu haben, und wir können das Ganze abschreiben wie … ich weiß nicht recht … wie einen faulen Kredit.«
»Einverstanden. Aber Sie dürfen ihn nicht einen schlechten Sohn nennen, wenn Sie nicht bereit sind, Shannon Cotterie eine schlechte Tochter zu nennen.«
Die Art, wie seine Nasenlöcher sich weiteten, zeigte mir, dass ihm das nicht sehr gefiel, aber er äußerte sich nicht
»Das tue ich natürlich.«
Er nickte und ging zu seinem Wagen zurück. Lars hatte sich hinters Lenkrad gesetzt. Jones scheuchte ihn auf den Beifahrersitz - der Sheriff gehörte zu den Männern, die immer selbst fuhren. Ich stand da und sah ihm nach, als er in Richtung Stadt davonbrauste. Ich musste an den jungen Mann denken, der den Laden überfallen hatte, und redete mir ein, dass mein Henry so etwas niemals täte, und selbst wenn er sich dazu gezwungen sähe, wäre er nicht raffiniert genug, Kleidung zu tragen, die er aus irgendjemands Scheune oder Schlafbaracke gestohlen hatte. Aber Henry war jetzt anders, und Mörder lernen, raffiniert zu sein, oder? Nur so können sie überleben. Ich dachte, vielleicht …
Aber nein. So will ich es nicht ausdrücken. Das wäre zu schwach. Dies ist mein Geständnis, mein letztes Wort zu allem, und welchen Zweck hätte es, wenn ich nicht die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen würde? Welchen Zweck hätte da irgendetwas sonst?
Er war es gewesen. Henry war es gewesen. In Sheriff Jones’ Blick hatte ich gelesen, dass er den Raubüberfall am Stadtrand nur erwähnt hatte, weil ich nicht wie erwartet vor ihm gekrochen war, aber ich glaubte es dennoch. Weil ich mehr wusste als Sheriff Jones. Was bedeutete es, ein paar Klamotten zu stehlen und vor dem Gesicht einer alten Frau ein Brecheisen zu schwenken, nachdem man seinem Vater geholfen hatte, die eigene Mutter zu ermorden? Nicht sonderlich viel. Und da er es einmal ausprobiert hatte, würde er es noch einmal tun, sobald die 23 Dollar
Ich stieg zur Veranda hinauf, setzte mich und verbarg das Gesicht in den Händen.
Die Tage vergingen. Ich weiß nicht, wie viele, sondern nur, dass sie regnerisch waren. Hat der Herbstregen erst einmal eingesetzt, müssen die Arbeiten im Freien warten, und ich hatte nicht genug Vieh oder Nebengebäude, um mich mit sinnvollen Arbeiten unter Überdachung zu beschäftigen. Ich versuchte zu lesen, aber die Wörter schienen keine Sätze bilden zu wollen, obwohl mir ab und zu einzelne kreischend ins Auge sprangen. Mord. Schuld. Verrat. Solche Wörter.
Tagsüber saß ich, gegen die feuchte Kälte in meinen Lammfellmantel gehüllt, mit einem Buch auf den Knien auf der Veranda und sah zu, wie das Regenwasser vom Dachüberhang tropfte. Nachts lag ich bis in die Morgenstunden hinein wach und horchte auf den Regen auf dem Dach. Sein leises Trommeln klang, als begehrte jemand mit zaghaftem Klopfen Einlass. Ich verbrachte zu viel Zeit damit, an Arlette im Brunnen zu denken, wie sie mit ihrem seitlich verschobenen Gesicht dasaß. Ich begann mir einzubilden, sie sei weiter … zwar nicht lebendig (ich stand unter Anspannung, war aber nicht verrückt), aber sich der Ereignisse irgendwie bewusst. Irgendwie verfolgte sie die weitere Entwicklung aus dem improvisierten Grab, das sie sich mit Elpis teilte, und fand Vergnügen daran.
Gefällt es dir, wie die Dinge sich entwickelt haben, Wilf?, hätte sie gefragt, wenn sie gekonnt hätte (wozu sie in meiner Phantasie imstande war). Hat es sich gelohnt?
Und während ich zusah, wie das Regenwasser vom Dachüberhang tropfte, oder darauf horchte, wie der Regen nachts Nein, natürlich nicht. Aber umkehren kann ich auch nicht mehr.
Als ich etwa eine Woche nach Sheriff Jones’ Besuch im Wohnzimmer saß und Nathaniel Hawthornes Das Haus mit den sieben Giebeln zu lesen versuchte, schlich Arlette sich von hinten an mich heran, griff an meinem Kopf vorbei und tippte mir mit einem kalten, nassen Finger auf den Nasensattel.
Ich ließ das Buch auf den Flickenteppich fallen, schrie laut auf und sprang in die Höhe. Dabei zerfloss die kalte Fingerspitze und lief zu einem der Mundwinkel hinunter. Dann berührte sie mich nochmals oben am Kopf dort, wo mein Haar schütter zu werden begann. Diesmal lachte ich - ein zittriges, ärgerliches Lachen - und bückte mich, um das Buch aufzuheben. Dabei tippte der Finger mich zum dritten Mal an, diesmal im Nacken, als wollte meine tote Frau sagen: Beachtest du mich jetzt endlich, Wilf? Ich trat zur Seite - damit das vierte Tippen nicht ins Auge gehen würde - und sah hinauf. Die Zimmerdecke war an einer Stelle tropfnass und verfärbt. Der Putz war noch nicht aufgewölbt, aber wenn es so weiterregnete, konnte er sogar abplatzen und in Stücken herunterfallen. Die undichte Stelle befand sich genau über meinem Lesesessel. Wie denn auch anders. Das restliche Dach schien in Ordnung zu sein, zumindest fürs Erste.
Ich dachte daran, wie Stoppenhauser gesagt hatte: Wollen Sie mir erzählen, auf der Farm gäbe es nichts zu verbessern? Ein Dach, das repariert werden müsste? Und dieser schlaue Blick! Als hätte er’s gewusst. Als steckten Arlette und er irgendwie unter einer Decke.
Setz dir nicht solche Flausen in den Kopf, ermahnte ich mich selbst. Schlimm genug, dass du an sie denkst, wie sie dort unten hockt. Ob die Würmer schon ihre Augen gefressen
Ich trat an den Tisch in der Ecke gegenüber, griff nach der dort stehenden Flasche und schenkte mir einen großen braunen Whiskey ein. Meine Hand zitterte, aber nur ein wenig. Den Whiskey stürzte ich mit zwei Schlucken hinunter. Ich wusste, dass es gefährlich gewesen wäre, solche Trinkerei zur Gewohnheit werden zu lassen, aber es passiert nicht jeden Abend, dass man spürt, wie einem die tote Frau an die Nase tippt. Danach fühlte ich mich besser, mehr Herr meiner selbst. Ich brauchte keine 750-Dollar-Hypothek, um mein Dach zu reparieren; ich konnte es mit ein paar alten Brettern flicken, sobald der Regen nachließ. Allerdings würde das eine hässliche Reparatur werden; damit würde das Haus heruntergekommen arm aussehen, wie meine Mutter gesagt hätte. Das war auch nicht der springende Punkt. Die Dachreparatur würde nur ein, zwei Tage dauern. Ich brauchte etwas, was mich den ganzen Winter über beschäftigte. Harte Arbeit würde die Gedanken an Arlette auf ihrem Thron aus Erde, Arlette mit ihrem Haarnetz aus Sackrupfen aus meinem Kopf vertreiben. Ich brauchte Renovierungsprojekte, die mich so müde ins Bett kriechen ließen, dass ich sofort einschlief, statt wachzuliegen, auf den Regen zu horchen und mich zu fragen, ob Henry ihm schutzlos ausgesetzt war - vielleicht hustend vor Grippe. Manchmal ist Arbeit das einzig Vernünftige, die einzige Lösung.
Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Lastwagen zur Bank und tat, woran ich nicht im Traum gedacht hätte, wenn ich mir nicht zuvor jene 35 Dollar hätte leihen müssen: Ich nahm eine Hypothek über 750 Dollar auf. Letztlich werden wir alle in selbst gebauten Fallen gefangen. Das ist meine Überzeugung. Letztlich werden wir alle gefangen.
In Omaha betrat in derselben Woche ein junger Mann, der einen Trapperhut trug, ein Pfandhaus und kaufte dort eine vernickelte Pistole Kaliber.32. Er zahlte die 5 Dollar mit Scheinen, die er zweifellos einer halbblinden alten Frau in dem Laden mit dem Blue-Bonnet-Girl-Schild unter Gewaltandrohung abgenommen hatte. In derselben Woche marschierte ein junger Mann, der eine flache Schirmmütze trug und ein Halstuch über Mund und Nase hochgezogen hatte, in Omaha in die Filiale der First Agricultural Bank, zielte mit einer Pistole auf Rhoda Penmark, die hübsche junge Kassiererin, und verlangte alles Geld aus der Schublade. Sie gab ihm ungefähr 200 Dollar, hauptsächlich schmuddelige Einer und Fünfer, wie sie Farmer zusammengerollt in den Brusttaschen ihrer Latzhosen haben.
Als er sich abwandte und seine Beute mit einer Hand in die Hosentasche stopfte (wobei er offensichtlich nervös einige Scheine zu Boden fallen ließ), trat der beleibte Wachmann - ein pensionierter Polizeibeamter - auf ihn zu und sagte: »Sohn, das willst du wahrlich nicht tun.«
Der junge Mann schoss mit seiner Kaliber.32 in die Luft. Mehrere Leute kreischten. »Ich will Sie nicht erschießen«, sagte der junge Mann hinter dem Halstuch, »aber notfalls tu ich’s. Zurück an diese Säule, Sir, und bleiben Sie dort stehen, wenn Sie wissen, was gut für Sie ist. Ich hab einen Freund, der den Ausgang bewacht.«
Der junge Mann rannte hinaus und riss sich dabei schon das Halstuch vom Gesicht. Der Wachmann wartete noch etwa eine Minute, dann ging er mit erhobenen Händen (er war unbewaffnet) hinaus - für den Fall, dass draußen wirklich ein Freund lauerte. Es gab natürlich keinen. Hank James hatte in Omaha keine Freunde außer der einen Freundin, die sein Kind unter dem Herzen trug.
Ich nahm 200 Dollar meiner Hypothek in bar mit und ließ den Rest in Mr. Stoppenhausers Bank. Dann ging ich einkaufen: im Eisenwarengeschäft, im Sägewerk und im Lebensmittelgeschäft, in dem Henry einen Brief von seiner Mutter hätte bekommen können … wenn sie noch gelebt hätte, um einen schreiben zu können. Ich verließ die Stadt bei Nieselregen, der zu einem peitschenden Regen geworden war, bis ich nach Hause kam. Ich lud das frisch gekaufte Bauholz und die Schindeln ab, fütterte und molk die Kühe und schaffte dann meine Einkäufe - vor allem Zucker, Salz und Grundnahrungsmittel, die knapp wurden, seit Arlette nicht mehr die Küche beaufsichtigte - in die Speisekammer. Als ich damit fertig war, setzte ich auf dem Holzherd Wasser für ein Bad auf und zog meine feuchten Sachen aus. Ich holte den Packen Scheine aus der Brusttasche meiner verknitterten Latzhose, zählte das Geld und stellte fest, dass ich noch fast 160 Dollar hatte. Wozu hatte ich so viel Bargeld mitgenommen? Weil ich in Gedanken woanders gewesen war. Wo, bitte schön? Natürlich bei Arlette und Henry. Von Henry und Arlette ganz zu schweigen. Das war so ziemlich alles, woran ich an diesen Regentagen dachte.
Ich wusste, dass es keine gute Idee war, so viel Bargeld im Haus zu haben. Es gehörte wieder auf die Bank, wo es ein bisschen Zinsen verdienen konnte (wenn auch bei weitem nicht genug, um die Hypothekenzinsen auszugleichen), während ich mir überlegte, wie es sich am zweckmäßigsten verwenden ließ. Aber bis dahin sollte ich es an einem sicheren Ort aufbewahren.
Als Erstes fiel mir die Schachtel mit dem roten Nuttenhut ein - und wieso auch nicht? Dort hatte sie selbst ihr Geld gebunkert, und es hatte dort weiß Gott wie lange sicher gelegen. Mein Packen Dollarscheine war zu dick, um unter das Band zu passen, also würde ich ihn einfach in
Ich ging splitternackt ins Schlafzimmer und öffnete dort die Schranktür. Ich schob die Schachtel mit ihrem weißen Kirchenhut beiseite, dann griff ich nach der anderen. Ich hatte sie im Fach so weit nach hinten geschoben, dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste, um sie zu erreichen. Um die Schachtel führte ein Gummiband herum. Ich hakte einen Finger darunter, um sie nach vorn zu ziehen, nahm flüchtig wahr, dass die Schachtel viel zu schwer zu sein schien - als enthielte sie keinen Hut, sondern einen Ziegelstein -, und spürte dann einen seltsamen Kälteschock, als wäre meine Hand mit Eiswasser übergossen worden. Im nächsten Augenblick wurde die Kälte zu Feuer. Der Schmerz war so stark, dass alle meine Armmuskeln gelähmt waren. Ich stolperte vor Schock und Schmerzen brüllend rückwärts und verstreute überall Geld. Mein Finger blieb unter das Gummiband gehakt, und die Hutschachtel wurde aus dem Fach gerissen. Auf ihr hockte eine riesige Wanderratte, die mir nur allzu vertraut erschien.
Sie könnten jetzt sagen: »Wilf, eine Ratte sieht wie die andere aus«, und normalerweise hätten Sie recht, aber diese hier kannte ich. Hatte ich sie nicht mit der Zitze eines Kuheuters wie einen Zigarrenstummel in der Schnauze vor mir weglaufen gesehen?
Die Schachtel löste sich von meiner blutenden Hand, und die Ratte fiel sich überschlagend zu Boden. Hätte ich erst nachgedacht, hätte sie wieder entkommen können, aber bewusstes Denken war durch Schmerzen, Schock und das Entsetzen blockiert, das wohl fast jeder Mensch empfindet, der einen Körperteil, der vor Sekunden noch ganz heil war, stark bluten sieht. Ich dachte nicht einmal daran,
Ich blieb lange mit einem Fuß auf der verendenden Ratte stehen. Sie war innerlich zerquetscht, ihre Organe zu Brei gestampft, aber trotzdem zappelte sie noch und schnappte nach mir. Schließlich hörte sie auf, sich zu bewegen. Ich blieb noch eine Minute auf ihr stehen, um mich zu vergewissern, dass sie sich nicht nur tot stellte, und als ich sicher sein konnte, dass sie krepiert war, humpelte ich in die Küche, hinterließ rechts blutige Fußabdrücke und dachte leicht verwirrt an das Orakel, das Pelias gewarnt hatte, sich vor einem Mann zu hüten, der nur eine Sandale trage. Aber ich war kein Jason; ich war nur ein Farmer, der vor Schock und Schmerzen halb verrückt war, ein Farmer, der dazu verdammt zu sein schien, seinen Schlafplatz mit Blut zu verunreinigen.
Als ich die Hand unter die Pumpe hielt und mit kaltem Wasser betäubte, konnte ich jemanden sagen hören: »Schluss damit, Schluss damit, Schluss damit.« Das war meine Stimme, ich wusste, dass sie es war, aber sie klang wie die eines
Ich kann mich an den Rest jener Nacht erinnern, aber das ist kaum anders, als betrachtete man Photos in einem schimmeligen Album. Die Ratte hatte das Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand ganz durchgebissen - ein schrecklicher Biss, bei dem ich aber noch Glück gehabt hatte. Hätte sie den unter das Gummiband gehakten Finger erwischt, hätte sie ihn vielleicht ganz abgebissen. Das wurde mir klar, als ich ins Schlafzimmer zurückging und meinen Gegner am Schwanz hochhob (mit der rechten Hand; die schmerzende linke war zu steif, als dass ich die Finger hätte biegen können). Sie war mit Schwanz fast einen halben Meter lang und wog gut ein Pfund.
Dann war es nicht dieselbe Ratte, die in das Eisenrohr geflüchtet ist, höre ich Sie sagen. Sie kann es nicht gewesen sein. Aber sie war es, ich versichere Ihnen, dass sie es war. Sie trug kein Erkennungszeichen - keinen weißen Fleck im Fell, kein praktischerweise angebissenes Ohr, das eine Identifizierung ermöglicht hätte -, aber ich wusste, dass es die war, die Achelois verstümmelt hatte. Genau wie ich wusste, dass sie nicht zufällig dort oben gehockt hatte.
Ich trug sie am Schwanz in die Küche und ließ sie in den Ascheneimer fallen. Mit dem Eimer ging ich zu unserer Versitzgrube hinaus. Ich war in strömendem Regen nackt unterwegs, ohne es recht wahrzunehmen. Mich beschäftigte vor allem meine linke Hand, die vor Schmerzen pochte, die so intensiv waren, dass sie mein ganzes Leben zu beherrschen drohten.
Ich nahm meinen Staubmantel vom Haken im Vorraum für Gummistiefel und Arbeitskleidung (mehr schaffte ich nicht), schlüpfte hinein und ging wieder hinaus, diesmal in den Stall. Ich beschmierte die verletzte Hand mit Rawleigh. Sie hatte verhindert, dass Achelois’ Euter sich entzündete, und konnte vielleicht dasselbe bei meiner Hand bewirken. Als ich schon gehen wollte, fiel mir ein, wie die Ratte das letzte Mal entkommen war. Das Rohr! Ich trat davor, bückte mich und erwartete, dass der Mörtelpfropfen teilweise demoliert war oder ganz fehlte, aber er war intakt. Natürlich war er das. Selbst derartige Ratten mit übergroßen Zähnen können sich nicht durch Zement nagen, sobald er abgebunden hat. Dass ich das überhaupt in Erwägung gezogen hatte, zeigt den Geisteszustand, in dem ich mich befand. Einen Augenblick lang schien ich mich wie von außen zu betrachten: ein bis auf einen offenen Staubmantel nackter Mann, seine Körperbehaarung bis zum Schritt hinunter mit Blut verklebt, die linke Hand von einer schleimigen Schicht Eutersalbe glänzend, die Augen aus den Höhlen quellend. Wie die Augen der Ratte hervorgequollen waren, als ich sie zerstampft hatte.
Es war nicht dieselbe Ratte, sagte ich mir. Die eine, die Achelois verstümmelt hat, liegt tot in dem Rohr oder in Arlettes Schoß.
Aber ich wusste, dass sie es gewesen war. Ich wusste es damals, und ich weiß es heute.
Sie war es.
Wieder im Haus, wieder im Schlafzimmer, kniete ich mich hin und sammelte das blutbefleckte Geld ein. Mit nur einer Hand ging die Arbeit langsam voran. Einmal stieß ich mit der verletzten Hand ans Bett und heulte vor Schmerzen auf. Ich konnte sehen, wie frisches Blut die Salbe färbte, sie rosa werden ließ. Ich warf das Geld auf die Kommode und machte mir nicht einmal die Mühe, es mit einem Buch oder einem von Arlettes verdammten Ziertellern zu bedecken. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, weshalb es mir ursprünglich so wichtig gewesen war, die Scheine zu verstecken. Die Schachtel mit dem roten Hut beförderte ich mit
Wer jemals eine Farm besessen oder auf einer gearbeitet hat, kann bestätigen, dass Arbeitsunfälle häufig passieren und entsprechende Vorsorgemaßnahmen erfordern. In dem Erste-Hilfe-Schränkchen neben der Küchenpumpe - den Arlette immer den »Schmerzensschrank« genannt hatte - lag auch eine dicke Mullbinde. Als ich sie herausnehmen wollte, fiel mein Blick auf den großen Wassertopf, der auf dem Herd dampfte. Das Wasser hatte ich für ein Bad aufgesetzt, als ich noch heil gewesen war und solch monströse Schmerzen, die mich jetzt zu verzehren schienen, nur theoretisch denkbar gewesen waren. Mir kam der Gedanke, heißes Seifenwasser könnte das beste Mittel für meine Hand sein. Die Wunde konnte nicht noch mehr schmerzen, sagte ich mir, und ein heißes Seifenbad würde sie reinigen. Beide Annahmen waren falsch, aber woher hätte ich das wissen sollen? Auch nach so vielen Jahren erscheint mir diese Idee vernünftig. Vielleicht hätte es sogar funktioniert, wenn ich von einer gewöhnlichen Ratte gebissen worden wäre.
Mit der unverletzten Rechten schöpfte ich Wasser in einen Eimer (den Topf mit zwei Händen zu kippen, um etwas Wasser abzugießen, kam nicht infrage), dann warf ich ein Stück von Arlettes grober brauner Waschseife hinein. Das letzte Stück, wie sich zeigte; es gibt so viele Vorräte, die ein Mann zu besorgen vergisst, wenn er darin keine Erfahrung hat. Ich warf einen Putzlappen dazu, dann ging ich damit ins Schlafzimmer, kniete mich wieder hin und machte mich daran, das Blut und die Eingeweide aufzuwischen. Dabei musste ich (verständlicherweise) die ganze Zeit an das letzte Mal denken, als ich Blut vom Fußboden dieses verdammten Schlafzimmers aufgewischt hatte. Damals war wenigstens Henry bei mir gewesen, um das Grausen Der Glöckner von Notre Dame denken.
Als ich mit der Arbeit fast fertig war, hielt ich inne und legte den Kopf schräg: mit angehaltenem Atem, die Augen weit aufgerissen, mein Herz scheinbar in der verletzten Hand pochend. Ich hörte ein trippelndes Geräusch, das aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Das Geräusch laufender Ratten. In diesem Augenblick war ich mir meiner Sache ganz sicher. Die Ratten aus dem Brunnen. Ihre treuen Gefolgsleute. Sie hatten einen anderen Weg nach draußen gefunden. Die eine auf der Hutschachtel war nur die erste und kühnste gewesen. Sie waren ins Haus eingesickert, sie waren in den Wänden und würden bald herauskommen und mich überwältigen. Arlette würde ihre Rache bekommen. Ich würde sie lachen hören, während sie mich in Stücke rissen.
Ein jäher Windstoß ließ das Haus erzittern und heulte um die Giebel. Das Trippeln wurde lauter, dann klang es etwas ab, als der Wind nachließ. Die Erleichterung, die mich erfüllte, war so intensiv, dass sie die Schmerzen übertönte (zumindest einige Sekunden lang). Das waren keine Ratten; das war Schneeregen. Mit Einbruch der Dunkelheit war es kälter geworden, und die Regentropfen waren halb gefroren. Ich machte mich wieder daran, die Spuren wegzuschrubben.
Als ich fertig war, kippte ich das blutige Putzwasser übers Verandageländer und ging dann in den Stall zurück, um frische Salbe auf meine Hand aufzutragen. Da die Wunde jetzt völlig sauber war, konnte ich sehen, dass das Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger drei offene Schlitze aufwies, die wie die Streifen eines Sergeanten aussahen. Der Daumen hing kraftlos herab, als hätten die Rattenzähne Sie tut weh, aber sie ist wenigstens sauber. Achelois hat sich bald erholt; du wirst dich auch bald erholen. Alles in bester Ordnung. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Abwehrmechanismen meines Körpers mobilmachten und wie winzige Feuerwehrleute mit roten Helmen und in langen Schutzmänteln an der Bissstelle eintrafen.
Unten im Schmerzensschrank fand ich in einen Fetzen Seide eingewickelt, der früher Teil eines Damenschlüpfers gewesen sein mochte, ein Fläschchen mit Pillen aus dem Drugstore in Hemingford Home. Jemand hatte das Etikett mit einem Füller in sauberen Großbuchstaben beschriftet: ARLETTE JAMES - Jeweils 1-2 vor dem Schlafengehen gegen Monatsbeschwerden. Ich nahm drei davon und spülte sie mit einem großen Whiskey hinunter. Ich weiß nicht, was die Pillen enthielten - Morphium, nehme ich an -, aber sie wirkten. Der Schmerz war noch da, aber er schien einem Wilfred James zu gehören, der auf irgendeiner anderen Lebensebene zu existieren schien. Ich fühlte mich benommen; die Zimmerdecke über mir schien sich langsam zu drehen; das Bild von den winzigen Feuerwehrleuten, die eintrafen, um das Feuer der Infektion zu löschen, bevor es sich ausbreiten konnte, wurde deutlicher. Der Wind frischte auf, und für meinen benommenen Verstand klang das ständige halblaute Prasseln des Schneeregens auf dem Haus rattenähnlicher als je zuvor, aber ich wusste es besser. Ich glaube, ich sagte sogar laut: »Ich kenne mich aus, Arlette, mich kannst du nicht täuschen.«
Als ich allmählich das Bewusstsein verlor und wegzudämmern begann, wurde mir klar, dass dies endgültig sein könnte: dass die Kombination aus Schock, Alkohol und Morphium mein Leben beenden könnte. Ich würde in
Während ich schlief, wurde der Schneeregen zu Schnee.
Als ich am folgenden Morgen bei Tagesanbruch aufwachte, war das Haus grabeskühl, und meine Hand war aufs Doppelte ihrer gewöhnlichen Größe angeschwollen. Das Fleisch um die Bisse herum war aschgrau, aber Daumen und Zeigefinger hatten sich mattrosa verfärbt und würden bis zum Abend dunkelrot werden. Jede Berührung der Hand außer dem kleinen Finger verursachte Marterqualen. Trotzdem bandagierte ich sie, so eng ich konnte, was immerhin das schmerzhafte Pochen verringerte. Ich machte im Küchenherd Feuer - mit nur einer Hand war das nicht einfach, aber ich schaffte es - und kroch dann fast in ihn hinein, damit mir warm wurde. Das heißt, bis auf die verletzte Hand; dieser Teil meines Körpers war schon warm. Warm und pulsierend, als trüge ich einen Handschuh mit einer darin versteckten Ratte.
Am frühen Nachmittag war ich fiebrig, und die verletzte Hand schwoll so stark an, dass ich die Bandage etwas lockern musste. Allein das ließ mich vor Schmerzen aufschreien. Ich brauchte einen Arzt, aber es schneite stärker denn je, und ich würde es nicht einmal bis zu den Cotteries schaffen - und erst recht nicht allein bis nach Hemingford Home. Selbst wenn der Tag klar und hell und trocken gewesen wäre … wie hätte ich den Motor des Lastwagens oder des T mit nur einer Hand ankurbeln sollen? Ich hockte in der Küche, legte Holz nach, bis der Herd wie ein Drache röhrte, schwitzte ganze Wasserströme aus, zitterte zugleich vor Kälte, hielt die verletzte Hand an die Brust und erinnerte mich daran, wie die freundliche Mrs. McReady meinen Haben Sie einen Telephonapparat, Mr. James? Wie ich sehe, haben Sie keinen.
Nein, ich hatte keinen. Ich war allein auf der Farm, für die ich gemordet hatte, und konnte keine Hilfe bekommen oder auch nur anfordern. Ich konnte sehen, wie das Fleisch rot zu werden begann, wo die Bandage aufhörte: am Handgelenk, das voller Blutgefäße war, die das Gift in meinen ganzen Körper transportieren würden. Die Feuerwehrleute hatten versagt. Ich überlegte, ob ich meine Hand mit Gummibändern abbinden sollte - die linke Hand opfern, um den restlichen Körper zu retten. Oder sollte ich sie sogar mit dem Beil amputieren, mit dem wir Feuerholz machten und gelegentlich einem Huhn den Kopf abhackten? Beide Ideen erschienen mir völlig plausibel, aber auch viel zu anstrengend. Letztlich humpelte ich nur nochmals zu dem Schmerzensschrank mit Arlettes Pillen hinüber. Ich schluckte weitere drei, diesmal mit kaltem Wasser - meine Kehle brannte -, dann setzte ich mich wieder ans Feuer. Ich würde an dem Biss sterben. Davon war ich überzeugt, und ich hatte mich damit abgefunden. In der Prärie waren Bisse und Infektionen eine alltägliche Todesursache. Wenn die Schmerzen unerträglich wurden, würde ich die restlichen Pillen auf einmal schlucken. Was mich daran hinderte, es gleich zu tun - außer die Angst vor dem Tod, die wohl jeder von uns mehr oder weniger empfindet -, war die Möglichkeit, dass jemand vorbeikommen konnte: Harlan oder Sheriff Jones oder die freundliche Mrs. McReady. Denkbar war sogar, dass Rechtsanwalt Lester aufkreuzte, um mir erneut eine Standpauke wegen dieser gottverdammten 40 Hektar zu halten.
Am meisten hoffte ich jedoch, Henry werde zurückkommen. Was aber nicht der Fall war.
Es war Arlette, die zu mir kam.
Sie haben sich vielleicht gefragt, woher ich von der Pistole weiß, die Henry in dem Pfandhaus in der Dodge Street gekauft hatte, und von dem Bankraub in der Jefferson Street. Dann haben Sie sich vermutlich gesagt: Na ja, zwischen 1922 und 1930 liegt eine lange Zeit; mehr als genug, um viele Einzelheiten in einer Bibliothek nachzulesen, in der vollständige Jahrgänge der Zeitung World-Herald aus Omaha stehen.
Natürlich habe ich die Zeitungen studiert. Und ich habe an Leute geschrieben, die meinem Sohn und seiner schwangeren Freundin auf ihrem kurzen, verhängnisvollen Weg von Nebraska nach Nevada begegnet sind. Die meisten dieser Leute schrieben zurück und schilderten bereitwillig Einzelheiten. Solche Detektivarbeit ist sinnvoll und zweifellos auch befriedigend. Aber diese Ermittlungen folgten Jahre später, nachdem ich die Farm verlassen hatte, und bestätigten nur, was ich schon wusste.
Schon?, fragen Sie, und ich antworte einfach: Ja. Schon. Und ich wusste es nicht nur, als es passierte, sondern einen Teil davon bereits im Voraus. Den letzten Teil.
Wie das denn? Die Antwort ist einfach: Meine tote Frau hat es mir erzählt.
Das glauben Sie natürlich nicht. Dafür habe ich Verständnis. Das täte jeder vernünftige Mensch. Ich kann nur wiederholen, dass dies mein Geständnis, mein letztes Wort auf Erden ist, das keine einzige bewusste Unwahrheit enthält.
In der folgenden Nacht (oder der übernächsten; nachdem das Fieber von mir Besitz ergriffen hatte, verlor ich jegliches Zeitgefühl) wachte ich am Herd sitzend aus einem Dämmerschlaf auf und hörte wieder die huschenden, trippelnden Geräusche. Anfangs glaubte ich wieder an Schneeregen, aber als ich aufstand, um von dem altbackenen Laib auf dem Küchentisch einen Kanten Brot abzureißen, sah
Der Schnappriegel bewegte sich. Erst zitterte er nur, als wäre die Hand, die ihn öffnen wollte, zu schwach, um ihn ganz aus der Nut zu heben. Die Bewegung hörte auf, und ich war eben zu dem Schluss gelangt, gar nichts gesehen zu haben - alles sei eine Illusion im Fieberwahn gewesen -, als er mit leisem Klicken ganz hochging und die Tür mit einem Schwall kalter Luft aufschwang. Auf der Veranda stand meine Frau. Sie trug weiter ihr Haarnetz aus Rupfen, jetzt mit Schnee gefleckt; von dem Ort, der ihr letzter Ruheplatz hätte sein sollen, musste es ein langer, schmerzhafter Weg herüber gewesen sein. Ihr Gesicht war von Verwesung schlaff, die untere Hälfte seitlich verschoben, ihr Grinsen breiter denn je. Es war ein wissendes Grinsen, und wieso auch nicht? Die Toten verstehen alles.
Arlette war von ihren treuen Gefolgsleuten umgeben. Sie hatten sie irgendwie aus dem Brunnen geholt, und sie hielten sie aufrecht. Ohne sie wäre sie nicht mehr als ein Gespenst gewesen: bösartig, aber machtlos. Aber sie hatten sie animiert. Sie war ihre Königin; sie war auch ihre Marionette. Sie kam in die Küche und bewegte sich dabei mit schwankendem, grausig knochenlosem Schritt, der keine Ähnlichkeit mit dem Gang eines Menschen hatte. Die Ratten flitzten um sie herum, manche sahen liebevoll zu ihr auf, andere starrten mich hasserfüllt an. Als sie wie auf einem Rundgang durch ihr früheres Reich durch die Küche wankte, fielen Erdbrocken von ihrem Kleidersaum (von dem Quilt und der Tagesdecke war nichts zu sehen), und ihr Kopf über der durchgeschnittenen Kehle rollte schwankend hin und her. Einmal kippte er bis zu den Schulterblättern
Als sie ihren glanzlosen Blick endlich auf mich richtete, wich ich in die Ecke neben dem jetzt fast leeren Brennholzkasten zurück. »Lass mich in Ruhe«, flüsterte ich. »Du bist nicht mal hier. Du sitzt im Brunnen und kannst nicht raus, selbst wenn du nicht tot bist.«
Sie ließ ein Gurgeln hören - es klang, als würde jemand an dicker Bratensoße ersticken - und kam weiter auf mich zu, real genug, um einen Schatten zu werfen. Und ich konnte ihr verwesendes Fleisch riechen, das jener Frau, die einst in leidenschaftlichen Augenblicken Zungenküsse mit mir getauscht hatte. Sie war hier. Sie war real. Ebenso real war ihr Gefolge. Ich konnte spüren, wie die Ratten über meine Füße hin und her huschten und mich mit ihren Schnurrbarthaaren an den Knöcheln kitzelten, während sie am Beinabschluss meiner langen Unterhose schnüffelten.
Als ich dem näher kommenden Leichnam ausweichen wollte, stieß ich mit den Fersen an den Brennholzkasten, verlor das Gleichgewicht und setzte mich darauf. Dabei schlug ich mir die entzündete und geschwollene Hand an, nahm den Schmerz aber kaum wahr. Sie beugte sich über mich, und ihr Gesicht … baumelte. Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst, und ihr Gesicht hing jetzt herunter wie ein auf einen schlaffen Kinderballon gemaltes Gesicht. Eine Ratte erkletterte den Brennholzkasten, plumpste auf meinen Bauch, lief die Brust hinauf und beschnüffelte die Unterseite meines Kinns. Ich spürte andere über meine gebeugten Knie huschen. Aber sie bissen mich nicht. Dieser spezielle Auftrag war schon ausgeführt.
Sie beugte sich noch tiefer zu mir herunter. Der Gestank, den sie verströmte, war überwältigend, und ihr von einem Ohr zum anderen reichendes schiefes Grinsen … ich sehe es vor mir, während ich dies schreibe. Ich wollte sterben,
Das weiß ich jetzt.
Nachdem Henry mit 200 Dollar in der Tasche (oder eher 150 Dollar, weil ein Teil des Geldes zu Boden gefallen war, wie Sie sich erinnern werden) aus der First Agricultural Bank geflüchtet war, verschwand er für einige Zeit. Er »tauchte unter«, wie es bei Verbrechern heißt. Das sage ich mit einem gewissen Stolz. Ich hatte geglaubt, dass man ihn fast sofort nach seiner Ankunft in der Stadt schnappen würde, aber er widerlegte meine Befürchtungen. Er war verliebt, er war verzweifelt, er brannte weiter vor Schuldgefühlen und Entsetzen wegen des Verbrechens, das er und ich verübt hatten … aber trotz dieser Ablenkungen (dieser Infektionen) bewies mein Sohn Tapferkeit und Cleverness, sogar eine gewisse traurige Noblesse. Der Gedanke an letzteren Charakterzug ist der schlimmste. Er erfüllt mich noch heute mit Melancholie wegen seines verpfuschten Lebens (wegen dreier verpfuschter Leben; ich darf die arme schwangere Shannon Cotterie nicht vergessen) und Reuegefühlen wegen des Verderbens, in das ich ihn wie ein Kalb mit einem Strick um den Hals geführt habe.
Arlette zeigte mir die Hütte, in der er sich verkrochen hatte, und das dahinter versteckte Fahrrad - dieses Fahrrad war das Erste, was er sich von seiner Beute kaufte. Ich hätte Royal Crown Cola auf der Giebelseite. Sie stand einige Meilen außerhalb von Omaha in Sichtweite des Waisenhauses »Boys Town«, das erst im Jahr zuvor den Betrieb aufgenommen hatte. Ein einziger Raum, ein unverglastes Fenster, kein Ofen. Henry versteckte sein Fahrrad unter Heu und Unkraut und schmiedete Pläne. Ungefähr eine Woche nach dem Überfall auf die First Agricultural Bank - unterdessen würde die Polizei sich kaum mehr für diesen nicht gerade spektakulären Bankraub interessieren - begann er, Radtouren nach Omaha hinein zu unternehmen.
Ein einfältiger Junge wäre geradewegs zum Mädchenheim St. Eusebia gefahren und von den dortigen Cops geschnappt worden (wie Sheriff Jones zweifellos erwartet hatte), aber Henry Freeman James war cleverer. Er kundschaftete die Lage des Heims aus, ohne sich ihm jedoch zu nähern. Stattdessen sah er sich nach dem nächsten Süßwarenladen mit einer Eis- und Limonadentheke um. Er vermutete ganz richtig, dass die Mädchen dort hingehen würden, sooft sie konnten (das heißt, wenn sie sich durch Wohlverhalten einen freien Nachmittag verdient hatten und etwas Geld ihr Eigen nannten). Und obwohl die Mädchen aus St. Eusebia keine Schuluniform tragen mussten, waren sie an ihrer uneleganten Kleidung, ihrem gesenkten Blick und ihrem Benehmen - abwechselnd scheu und kokett - leicht zu erkennen. Die mit dickem Bauch und ohne Trauring mussten am auffälligsten sein.
Ein dummer Junge hätte versucht, an der Limonadentheke mit einer dieser bedauernswerten Evastöchter ins Gespräch zu kommen, was hätte auffallen müssen. Henry postierte sich außerhalb: an der Einmündung einer Gasse, die hinter dem Süßwarenladen und dem Kurzwarengeschäft
Ich habe die junge Frau später ausfindig gemacht und mit ihr gesprochen. Dazu war nicht allzu viel Spürsinn erforderlich. Henry und Shannon kam Omaha bestimmt wie eine Metropole vor, aber im Jahr 1922 war es nur eine überdurchschnittlich große Kleinstadt im Mittleren Westen mit Großstadtambitionen. Heute ist Victoria Hallett eine ehrbare Ehefrau mit drei Kindern, aber im Herbst 1922 war sie Victoria Stevenson: jung, neugierig, rebellisch, im sechsten Monat schwanger und scharf auf Zigaretten der Marke Sweet Corporal. Sie griff gern zu, als Henry ihr sein Päckchen anbot.
»Nimm noch ein paar für später mit«, forderte er sie auf.
Sie lachte. »Das wäre ganz schön plemplem! Wenn wir zurückkommen, filzen die Schwestern unsere Handtaschen und lassen uns alle Taschen umkehren. Weißt du was? Ich muss schon drei Lakritzstangen essen, bloß damit man diese eine Kippe nicht riecht.« Sie tätschelte halb amüsiert, halb trotzig ihren dicken Bauch. »Ich hab Ärger, wie du bestimmt siehst. Böses Mädchen! Und mein Schatz ist abgehauen. Böser Junge, aber das kümmert die Welt nicht! Also hat der Alte mich in ein Gefängnis gesteckt, das von Pinguinen bewacht wird …«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Jesses! Der Alte ist mein Dad! Und Pinguine nennen wir die Schwestern!« Sie lachte wieder. »Du bist ein richtiges
»St. Eusebia.«
»Jetzt kochst du mit Gas, Jackson.« Sie paffte ihre Zigarette und kniff die Augen zusammen. »He, ich wette, dass ich weiß, wer du bist - Shan Cotteries Freund.«
»Der Hauptgewinn - eine Kewpie-Puppe - geht an die junge Dame!«, sagte Hank.
»Also, ich würde mindestens zwei Straßen Abstand vom Heim halten, das wäre mein Rat. Die Cops haben deine Personenbeschreibung.« Sie lachte unbekümmert. »Deine und die von fünf oder sechs weiteren Einsamen Eddies, aber keiner so ein grünäugiger Bauerntölpel wie du - und keiner mit einem so gut aussehenden Mädchen wie Shannon. Sie ist eine Wucht! Echt!«
»Wieso, glaubst du, bin ich hier statt dort?«
»Gut, ich beiße an - wieso bist du hier?«
»Ich will Verbindung mit ihr aufnehmen, aber ich will dabei nicht geschnappt werden. Ich gebe dir 2 Scheinchen, wenn du ihr eine Nachricht von mir bringst.«
Victoria machte große Augen. »Kumpel, für 2 Eier würd ich mir’ne Trompete unter den Arm klemmen und eine Nachricht zu Garcia bringen - so abgebrannt bin ich. Her damit!«
»Und weitere 2, wenn du kein Wort davon erzählst. Weder jetzt noch später.«
»Dafür brauchst du nicht extra zu bezahlen«, sagte sie. »Ich tue nichts lieber, als diese selbstgerechten Weiber reinzulegen. Mann, die schlagen einem schon auf die Hand, wenn man versucht, sich beim Abendessen ein zweites Brötchen zu nehmen! Wie in Gulliver Twist!«
Er gab ihr das Briefchen mit, und Victoria überbrachte es Shannon. Sie hatte es in ihrer kleinen Handtasche, als die Polizei Henry und sie schließlich in Elko, Nevada, stellte,
Ich warte 2 Wochen lang jede Nacht von Mitternacht bis Tagesanbruch hinter dem Heim, hatte er ihr geschrieben. Wenn du nicht kommst, weiß ich, dass es zwischen uns aus ist, & gehe nach Hemingford zurück & belästige dich nie mehr, obwohl ich dich ewig lieben werde. Wir sind jung, aber wir könnten uns älter machen & und anderswo (Kali fornien) ein gutes Leben anfangen. Ich habe etwas Geld & kann mehr bescha f fen. Victoria weiß, wie ich zu finden bin, wenn du mir eine Antwort schicken willst, aber nur einmal. Mehr wäre zu riskant.
Vermutlich besitzen Harlan und Sallie Cotterie das Original. In diesem Fall haben sie gesehen, dass mein Sohn um seine Unterschrift ein Herz gemalt hat. Ich frage mich, ob das Shannon letztlich überzeugt hat. Ich frage mich auch, ob sie eigentlich überzeugt werden musste. Möglicherweise wünschte sie sich nichts mehr auf der Welt, als ihr Baby, das sie schon liebte, behalten (und ehelich machen) zu können. Auf diesen Aspekt ging Arlettes grausige Flüsterstimme nie ein. Vermutlich war er ihr egal.
Nach dieser Begegnung kehrte Henry jeden Tag an die Einmündung der Gasse zurück. Er rechnete irgendwie damit, dass statt Victoria die Cops kamen, war aber davon überzeugt, keine andere Wahl zu haben. Am dritten Tag seiner Wache kam sie endlich. »Shan hat dir gleich geschrieben, aber ich durfte nicht früher raus«, sagte sie. »In dem Loch, das sie hochtrabend Musikzimmer nennen, ist etwas Mary Jane gefunden worden, und seither sind die Pinguine auf dem Kriegspfad.«
Henry streckte seine Hand nach der Antwort aus, die Victoria ihm im Tausch gegen eine Sweet Corporal Morgen früh 2 Uhr.r.
Henry umarmte Victoria und küsste sie. Sie lachte aufgeregt, und ihre Augen blitzten. »Mensch! Manche Mädchen kriegen alles Glück ab.«
Das stimmt zweifellos. Bedenkt man jedoch, dass Victoria es zu einem Ehemann, drei Kindern und einem hübschen Haus in der Maple Street im besten Wohnviertel von Omaha brachte, während Shannon Cotterie nicht einmal mehr das Ende jenes fluchbeladenen Jahres erlebte … welche der beiden hat es Ihrer Ansicht nach glücklich getroffen?
Ich habe etwas Geld & kann mehr bescha f fen, hatte Henry geschrieben, und das tat er auch. Nur wenige Stunden nachdem er die kesse Victoria geküsst hatte (die folgende Antwort für Shannon mitnahm: Er sagt, er kann’s kaum noch erwarten), überfiel ein junger Mann mit tief in die Stirn gezogener flacher Schirmmütze und einem Halstuch vor Mund und Nase die First National Bank in Omaha. Diesmal erbeutete der Täter 800 Dollar, was eine schöne Beute war. Aber der Wachmann hier war jünger und nahm seine Pflichten ernster, was weniger schön war. Der Bankräuber musste ihn in den Oberschenkel schießen, um flüchten zu können, und obwohl Charles Griner überlebte, setzte eine Infektion ein (das konnte ich mitfühlen), und er verlor das Bein. Als ich ihn im Frühjahr 1925 im Haus seiner Eltern besuchte, beurteilte er die Sache recht abgeklärt.
»Ich kann von Glück sagen, dass ich überhaupt noch lebe«, meinte er. »Bis jemand mir das Bein abgebunden hat, habe ich in einer Blutlache gelegen, die fast eine verdammte Handbreit hoch war. Ich wette, dass jemand eine ganze Schachtel Dreft gebraucht hat, um diese Schweinerei zu beseitigen.«
Als ich mich für meinen Sohn entschuldigen wollte, winkte er ab.
»Ich hätte mich ihm nie in den Weg stellen sollen. Er hatte die Mütze tief in die Stirn gedrückt und das Halstuch bis über die Nase hochgezogen, aber ich konnte die Augen gut erkennen. Ich hätte wissen müssen, dass er nur durch einen Schuss zu stoppen sein würde, aber ich bin gar nicht an meine Waffe rangekommen. Es hat in seinen Augen gestanden, wissen Sie? Aber damals war ich selbst jung. Jetzt bin ich älter. Ihr Sohn hatte nie eine Chance, das zu werden. Mein Beileid zu Ihrem Verlust.«
Nach diesem Überfall hatte Henry mehr als genug Geld, um sich ein Auto zu kaufen - ein schönes, eine Cabriolimousine -, aber er hütete sich davor. (Während ich dies schreibe, empfinde ich wieder einen gewissen Stolz - schwach ausgeprägt, aber nicht zu leugnen.) Ein Junge, der aussah, als würde er sich erst seit ein paar Wochen rasieren, schwenkte genug Bargeld, um einen fast neuen Olds zu kaufen? Damit hätte er die Polizei gleich auf dem Hals gehabt.
Statt ein Auto zu kaufen, stahl er eines. Ebenfalls keine Cabriolimousine; stattdessen entschied er sich für ein nettes, unscheinbares Ford-Coupé. Dies war der Wagen, mit dem er hinter St. Eusebia parkte, und dies war der Wagen, in den Shannon stieg, nachdem sie heimlich ihr Zimmer verlassen hatte, mit ihrer Reisetasche in der Hand die Treppe hinuntergeschlichen war und sich durch ein Fenster des Waschraums neben der Küche gezwängt hatte. Sie hatten Zeit für einen einzigen Kuss - Arlette sagte nichts davon, aber ich besitze noch ausreichend Phantasie -, dann lenkte Henry den Ford nach Westen. Bei Tagesanbruch waren sie auf dem Highway von Omaha nach Lincoln unterwegs. Gegen 3 Uhr nachmittags müssen sie nahe an seinem
Ihr Leben auf der Flucht hatte begonnen.
Arlette flüsterte mir mehr über dieses Leben ins Ohr, als ich wissen wollte, und ich bringe es nicht übers Herz, es hier in allen Einzelheiten zu schildern. Wenn Sie mehr erfahren wollen, können Sie sich gern an die öffentliche Stadtbücherei in Omaha wenden. Gegen Gebühr erhalten Sie dort hektographierte Kopien von Berichten über die Sweetheart Bandits, als die sie bekannt wurden (und wie sie sich selbst nannten). Auch wenn Sie nicht in Omaha leben, finden Sie vielleicht sogar welche im Archiv Ihrer Heimatzeitung; das Ende der beiden galt als so tragisch anrührend, dass landesweit darüber berichtet wurde.
Der hübsche Hank und die süße Shannon, nannte der World-Herald sie. Auf den Photographien sahen sie unmöglich jung aus. Ich wollte mir diese Aufnahmen nicht ansehen, aber ich tat es natürlich doch. Es gibt mehr als eine Möglichkeit, von Ratten gebissen zu werden, nicht wahr?
In den Sandhügeln von Nebraska hatte der gestohlene Wagen eine Reifenpanne. Als Henry eben das Reserverad montierte, kamen zwei Männer zu Fuß heran. Einer von ihnen zog aus einer Schlinge unter seinem Mantel eine Schrotflinte - einst im Wilden Westen als Banditen-Klauenhammer bezeichnet - und bedrohte damit die ausgerissenen Liebenden. Henry hatte keine Chance, an seine Pistole heranzukommen; sie steckte in seiner Jackentasche, aber hätte er danach gegriffen, wäre er bestimmt erschossen worden. So wurde der Räuber beraubt. Unter dem kalten
Die junge Frau in seiner Begleitung, erzählte der Farmer einem Reporter, stand mit dem Rücken zu ihnen auf der Veranda. Der Farmer glaubte, sie habe geweint. Er sagte, sie habe ihm leidgetan, weil sie ein schüchternes kleines Ding gewesen sei: unverkennbar schwanger und mit einem jungen Desperado unterwegs, der kein gutes Ende nehmen würde.
Ob sie versucht habe, ihn daran zu hindern, fragte der Reporter. Ob sie versucht habe, ihm den Überfall auszureden.
Nein, sagte der Farmer. Sie hatte ihnen nur den Rücken zugekehrt, als würde sie glauben, was sie nicht sehe, passiere auch nicht. Der klapprige alte Reo des Farmers wurde in der Nähe des Bahnhofs von McCook verlassen aufgefunden - mit einem Zettel auf dem Fahrersitz: Hier ist erst mal Ihr Wagen; das gestohlene Geld erstatten wir, sobald wir können. Wir haben Sie nur beraubt, weil wir in der Klemme saßen. Mit vorzüglicher Hochachtung »The Sweetheart Bandits«. Wessen Idee war dieser Name gewesen? Vermutlich Shannons, denn sie hatte auch diese Nachricht geschrieben. Dabei hatte sie ihn nur benutzt, um ihre wirklichen Namen nicht preisgeben zu müssen, aber das ist nun einmal der Stoff, aus dem Legenden entstehen.
Ein, zwei Tage später wurde die winzige Frontier Bank in Arapahoe, Colorado, überfallen. Der Bankräuber - mit tief in die Stirn gezogener flacher Schirmmütze und einem Halstuch vor Mund und Nase - war allein. Er erbeutete weniger als 100 Dollar und fuhr mit einem Hupmobile davon, das in McCook als gestohlen gemeldet worden war.
Am nächsten Tag wurde der junge Mann in der First Bank of Cheyenne Wells (der einzigen Bank in Cheyenne Wells) von einer jungen Frau begleitet. Auch sie hatte ihr Gesicht mit einem Halstuch getarnt, konnte aber nicht verbergen, dass sie schwanger war. Die beiden entkamen mit 400 Dollar und rasten nach Westen aus der Stadt. Die Polizei errichtete auf der Straße nach Denver eine Straßensperre, aber Henry handelte clever und hatte weiter Glück. Sie bogen kurz nach Cheyenne Wells nach Süden ab und arbeiteten sich auf unbefestigten Straßen und Viehtreiberpfaden weiter vor.
Eine Woche später bestieg ein junges Paar, das sich Harry und Susan Freeman nannte, in Colorado Springs den Zug nach San Francisco. Wieso die beiden in Grand Junction plötzlich ausstiegen, weiß ich nicht, und Arlette sagte nichts darüber - sie sahen etwas, was ihnen Angst einjagte, vermute ich mal. Ich weiß nur, dass sie dort eine Bank ausraubten und dann eine weitere in Ogden, Utah, überfielen. Ihre Art, Geld für ihr neues Leben zusammenzusparen vielleicht. Und in Ogden versuchte ein Mann, Henry vor dem Bankeingang aufzuhalten. Henry schoss ihm in die Brust. Der Mann rangelte trotzdem mit ihm, worauf Shannon ihn die Granitstufen hinunterstieß. So gelang ihnen die Flucht. Der von Henry Angeschossene starb zwei Tage später im Krankenhaus. Die Sweetheart Bandits waren zu Mördern geworden. In Utah erwartete verurteilte Mörder der Strang.
Unterdessen war es um Thanksgiving herum, ob davor oder danach, weiß ich nicht. Die Polizei westlich der Rockies hatte ihre Personenbeschreibung und hielt die Augen offen. Ich war von der im Kleiderschrank lauernden Ratte gebissen worden - glaube ich - oder war kurz davor. Arlette erzählte mir, sie seien tot, aber das waren sie nicht - nicht schon damals, als sie mich mit ihrem Gefolge heimsuchte.
Ihre vorletzte Station war Deeth, Nevada. Dieser Tag Ende November, Anfang Dezember war bitterkalt, und aus dem weißen Himmel hatte es zu schneien begonnen. Sie wollten nur Eier und Kaffee in dem einzigen Schnellimbiss der Stadt, aber ihr Glück war aufgebraucht. Der Thekenmann stammte aus Elkhorn, Nebraska, und obwohl er seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen war, schickte seine Mutter ihm weiter gewissenhaft Pakete mit alten Ausgaben des World-Herald. Er hatte erst wenige Tage zuvor eine dieser Sendungen bekommen und merkte sofort, dass die Sweetheart Bandits aus Omaha an einem der Tische saßen.
Statt die Polizei anzurufen (oder den Sicherheitsdienst der nahe gelegenen Kupfermine, was schneller und wirkungsvoller gewesen wäre), entschied er sich dafür, sie selbst festzunehmen, wozu jeder Bürger berechtigt war. Er holte einen rostigen alten Cowboyrevolver unter der Theke hervor, zielte damit auf die beiden und forderte sie in bester Westerntradition auf, die Hände hochzunehmen. Henry tat nichts dergleichen. Er glitt aus der Sitznische, ging auf den Kerl zu und sagte dabei: »Tun Sie das nicht, mein Freund, wir wollen Ihnen nichts Böses, wir zahlen einfach und gehen.«
Der Thekenmann drückte ab, aber der alte Revolver ging nicht los. Henry nahm ihm die Waffe ab, klappte den Zylinder heraus, sah hinein und lachte. »Kein Grund zur Sorge!«, erklärte er Shannon. »Die Munition ist so alt, dass sie schon Grünspan angesetzt hat.«
Er legte 2 Dollar auf die Theke - für ihr Essen - und machte dann einen schrecklichen Fehler. Ich glaube bis heute, dass es mit ihnen auf jeden Fall ein schlimmes Ende genommen hätte, aber trotzdem wünsche ich mir, ich könnte Lass den Revolver nicht geladen liegen. Tu das nicht, Sohn! Grünspan oder nicht, steck diese Patronen ein! Aber nur die Toten können über Jahre hinweg rufen, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß.
Als sie hinausgingen (Hand in Hand, flüsterte Arlette in mein brennend heißes Ohr), schnappte der Thekenmann sich den alten Revolver, umklammerte den Griff mit beiden Händen und drückte ab. Diesmal fiel ein Schuss, und obwohl er wahrscheinlich glaubte, er ziele auf Henry, traf die Kugel Shannon Cotterie ins Kreuz. Sie schrie auf und taumelte aus der Tür ins Schneetreiben hinaus. Henry fing sie auf, bevor sie zusammenbrach, und half ihr in ihren letzten gestohlenen Wagen, einen anderen Ford. Der Thekenmann machte Anstalten, durchs Fenster auf sie zu schießen, aber diesmal explodierte das alte Schießeisen in seinen Händen. Ein Metallsplitter durchschlug sein linkes Auge. Das hat mir nie leidgetan. Ich verzeihe nicht so leicht wie Charles Griner.
Bei Shannon, die schwer verwundet war, vielleicht schon im Sterben lag, setzten die Wehen ein, während Henry in dichter werdendem Schneetreiben in Richtung Elko - 30 Meilen südwestlich - fuhr, weil er vielleicht hoffte, dort einen Arzt zu finden. Ich weiß nicht, ob es dort einen gab oder nicht, aber es gab jedenfalls ein Polizeirevier, wo der Thekenmann anrief, während die Reste seines Augapfels noch auf der Wange antrockneten. Zwei Polizisten aus Elko und vier Trooper der Nevada State Patrol warteten am Ortsrand auf Henry und Shannon, aber sie bekamen die beiden nie zu Gesicht. Zwischen Deeth und Elko liegen 30 Meilen, von denen Henry nur 28 schaffte.
Knapp hinter der Stadtgrenze (aber noch weit vom Ortsrand entfernt) verließ Henrys Glück ihn endgültig. Weil Shannon ununterbrochen schrie und sich den Bauch hielt, während sie den Sitz vollblutete, muss er schnell gefahren
Weil er durch den stärker werdenden Schneefall die schemenhaften Umrisse einer Hütte erspähte, zog er Shannon vorsichtig aus dem Wagen. Sie schaffte ein paar Schritte gegen den heulenden Wind, dann konnte sie nicht mehr. Das Mädchen, das Triggerometrie konnte und die erste Absolventin des normalen Colleges in Omaha hätte sein können, legte den Kopf auf die Schulter ihres jungen Mannes und sagte: »Ich kann nicht weiter, Schatz, leg mich hin.«
»Was ist mit dem Baby?«, fragte er sie.
»Das Baby ist tot, und ich will auch sterben«, sagte sie. »Ich halte die Schmerzen nicht mehr aus. Sie sind grauenvoll. Ich liebe dich, Schatz, aber leg mich hin.«
Stattdessen trug Henry sie in die schemenhaft erkennbare Hütte, die sich als kleine Cowboyunterkunft erwies - ähnlich seinem Schuppen in der Nähe des Waisenhauses »Boys Town«, dem mit der verblassten Werbung für Royal Crown Cola an der Giebelseite. Hier gab es einen Ofen, aber kein Holz. Er ging hinaus und suchte ein paar abgebrochene Äste zusammen, bevor der Schnee sie verdecken konnte, und als er zurückkam, war Shannon bewusstlos. Henry machte Feuer, dann nahm er ihren Kopf in den Schoß. Shannon Cotterie war tot, bevor sein jämmerliches kleines Feuer heruntergebrannt war, und dann war nur noch Henry übrig, der in einer schäbigen kleinen Schlafbaracke
All diese Dinge erzählte Arlette mir - und das an einem Tag, an dem die beiden dem Untergang geweihten Kinder noch lebten. All diese Dinge erzählte sie mir, während die Ratten um mich herumkrochen und Gestank meine Nase füllte und meine entzündete, geschwollene Hand wie Feuer brannte.
Ich flehte sie an, mich umzubringen, mir die Kehle durchzuschneiden, wie ich ihre durchgeschnitten hatte, aber sie tat nichts dergleichen. Sie tat es einfach nicht.
Das war ihre Rache.
Als der Besucher auf meine Farm kam, waren vielleicht zwei oder sogar drei Tage vergangen, obwohl ich das nicht glaube. Ich denke, dass es nur einer war. Ich glaube nicht, dass ich noch zwei oder drei Tage ohne Hilfe hätte durchhalten können. Ich hatte aufgehört zu essen und trank auch fast nichts mehr. Trotzdem schaffte ich es, aus dem Bett aufzustehen und zur Haustür zu torkeln, als jemand daran zu hämmern begann. Irgendwie glaubte ich, das könnte Henry sein, weil ich noch halbwegs zu hoffen wagte, dass Arlettes Besuch nur eine im Fieberwahn entstandene Illusion gewesen war … oder dass sie, wenn er real gewesen war, bestimmt gelogen hatte.
Draußen stand Sheriff Jones. Als ich ihn sah, gaben meine Knie nach, und ich fiel nach vorn. Hätte er mich nicht aufgefangen, wäre ich auf die Veranda geschlagen. Ich wollte ihm von Henry und Shannon erzählen - dass Shannon angeschossen werden würde, dass die beiden in einer Hütte am Ortsrand von Elko enden würden, dass er, Sheriff
»Er ist mit ihr durchgebrannt, das stimmt«, sagte Jones. »Aber wenn Harl vorbeigekommen ist und Ihnen das erzählt hat, warum hat er Sie dann so zurückgelassen? Was hat Sie gebissen?«
»Ratte«, brachte ich heraus.
Er legte einen Arm um mich und schleppte mich die Stufen hinunter und dann weiter zu seinem Wagen. George der Gockel lag steif gefroren neben dem Holzstapel, und die Kühe muhten. Wann hatte ich sie zuletzt gefüttert? Ich wusste es nicht.
»Sheriff, Sie müssen …«
Aber er unterbrach mich. Er glaubte, ich phantasiere, und wieso auch nicht? Er konnte spüren, dass ich im Fieber glühte, und sah es meinem geröteten Gesicht an. Er musste das Gefühl haben, den Arm um einen Ofen gelegt zu haben. »Sie müssen sich schonen. Und Sie sollten Arlette dankbar sein, ohne sie wäre ich nämlich niemals hergekommen.«
»Tot«, stieß ich hervor.
»Ja. Sie ist tot, das stimmt.«
Also erzählte ich ihm, dass ich sie umgebracht hatte. Oh, diese Erleichterung! In meinem Kopf schien ein bisher verstopftes Rohr sich auf magische Weise geöffnet zu haben, und der infizierte Geist, der dort gefangen gewesen war, entwich endlich.
Er warf mich wie einen Mehlsack in seinen Wagen. »Über Arlette reden wir später. Als Erstes bringe ich Sie zu den Barmherzigen Schwestern und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir nicht ins Auto kotzen würden.«
Als er vom Hof fuhr und den toten Gockel und die muhenden Kühe zurückließ (und die Ratten! die nicht zu Dies sind Dinge, die noch geschehen können, als wäre ich der Geist der künftigen Weihnachten aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder aufwachte, hatten wir den 2. Dezember, und die Zeitungen im Westen meldeten: »SWEETHEART BANDITS« ENTKOMMEN POLIZEI IN ELKO, WEITERHIN FLÜCHTIG. Das stimmte zwar nicht, aber das wusste noch niemand. Außer Arlette, versteht sich. Und mir.
Der Arzt glaubte, der Wundbrand habe den Unterarm noch nicht erfasst, und setzte mein Leben aufs Spiel, indem er nur die linke Hand amputierte. Seine Spekulation ging auf. Fünf Tage nachdem Sheriff Jones mich ins Krankenhaus zu den Barmherzigen Schwestern in Hemingford City gebracht hatte, lag ich blass und schwach in einem Krankenbett, zwanzig Pfund leichter und ohne meine linke Hand, aber lebendig.
Jones kam mich besuchen. Er hatte eine ernste Miene aufgesetzt. Ich war darauf gefasst, dass er mir mitteilen würde, er verhafte mich wegen Mordes an meiner Frau, und meine verbliebene Hand an einen Bettpfosten ketten würde. Stattdessen sprach er mir sein Beileid zu meinem Verlust aus. Zu meinem Verlust! Was verstand dieser Idiot davon?
Wieso sitze ich in diesem schäbigen Hotelzimmer (wenngleich nicht allein!), statt in einem Mördergrab zu liegen? Das kann ich Ihnen in drei Worten sagen: wegen meiner Mutter.
Wie Sheriff Jones hatte sie die Angewohnheit, jede Unterhaltung mit rhetorischen Fragen zu würzen. Bei ihm Du solltest jetzt lieber reinkommen, nicht wahr? Oder: Dein Vater hat wieder seinen Lunch vergessen; du wirst ihn ihm bringen müssen, stimmt’s? Selbst Bemerkungen über das Wetter klangen wie Fragen: Wieder ein Regentag, nicht wahr?
Obwohl ich an jenem Tag Ende November, als Sheriff Jones vor meiner Tür gestanden hatte, fiebrig und sehr krank gewesen war, hatte ich mich nicht im Delirium befunden. Ich erinnere mich sehr genau an unser Gespräch, so wie man sich manchmal an Bilder aus einem besonders lebhaften Albtraum erinnert.
Sie sollten Arlette dankbar sein, denn ohne sie wäre ich niemals hergekommen, hatte er gesagt.
Tot, hatte ich geantwortet.
Sheriff Jones: Sie ist tot, das stimmt.
Und dann hatte ich gesprochen, wie ich’s auf dem Schoß meiner Mutter gelernt hatte: Ich habe sie umgebracht, nicht wahr?
Sheriff Jones fasste den rhetorischen Kunstgriff meiner Mutter (und nicht zu vergessen seinen eigenen) als wirkliche Frage auf. Jahre später - in der Fabrik, in der ich Arbeit gefunden hatte, nachdem ich die Farm hatte verkaufen müssen - hörte ich, wie ein Vorarbeiter einen Versandarbeiter dafür ausschalt, dass er eine Lieferung statt nach Aber die Mittwochlie ferung geht immer nach Des Moines, protestierte der vor seiner Entlassung stehende Mann. Ich habe nur angenommen …
Annahmen machen Sie und mich zum Esel, antwortete der Vorarbeiter. Eine alte Redensart, vermute ich, die ich jedoch zum ersten Mal hörte. Und ist es verwunderlich, dass ich dabei an Sheriff Jones denken musste? Die Angewohnheit meiner Mutter, Aussagen in Frageform zu kleiden, bewahrte mich vor dem elektrischen Stuhl. Ich musste mich wegen des Mordes an meiner Frau nie vor einem Geschworenengericht verantworten.
Das heißt, bislang noch nicht.
Sie sind hier bei mir, weit mehr als zwölf, an allen Wänden entlang der Fußbodenleiste aufgereiht, und beobachten mich mit öligen Augen. Käme ein Zimmermädchen mit frischer Bettwäsche herein und sähe diese Geschworenen im Pelz, würde sie kreischend hinauslaufen, aber hier wird kein Mädchen hereinkommen; vor zwei Tagen habe ich das Schild BITTE NICHT STÖREN außen an die Türklinke gehängt, und dort baumelt es noch immer. Ich bin nicht ausgegangen. Ich könnte mir aus dem Restaurant unten auf der Straße Essen kommen lassen, nehme ich an, aber ich vermute, dass Essen sie provozieren würde. Ich bin ohnehin nicht hungrig, also ist das kein großes Opfer. Sie sind bisher geduldig gewesen, meine Geschworenen, aber ich befürchte, dass sie das nicht mehr lange bleiben werden. Wie alle Geschworenen warten sie darauf, dass die Zeugenaussagen abgeschlossen werden, damit sie ein Urteil fällen, ihre symbolische Entschädigung kassieren (in diesem Fall in Form von Fleisch) und zu ihren Familien heimkehren können. Deshalb muss ich zum Ende kommen.
Das wird nicht lange dauern. Der schwierige Teil liegt hinter mir.
Als Sheriff Jones sich an mein Krankenbett setzte, sagte er: »Sie haben es vermutlich in meinem Blick gesehen. Nicht wahr?«
Ich war weiter sehr krank, aber erholt genug, um vorsichtig zu sein. »Was gesehen, Sheriff?«
»Was ich Ihnen mitteilen wollte. Sie erinnern sich nicht daran, nicht wahr? Na, das überrascht mich nicht weiter. Sie waren schwer krank, Wilf. Ich war mir ziemlich sicher, dass Sie sterben würden, und dachte, ich würde Sie nicht mehr lebend in die Stadt bringen. Aber anscheinend ist Gott noch nicht mit Ihnen fertig, nicht wahr?«
Irgendetwas war noch nicht mit mir fertig, aber ich bezweifelte, dass es Gott war.
»War es Henry? Sind Sie rausgekommen, um mir von Henry zu erzählen?«
»Nein«, sagte er, »ich war wegen Arlette bei Ihnen. Eine schlimme Nachricht, die schlimmste, aber Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Schließlich haben Sie sie nicht aus dem Haus geprügelt.« Er beugte sich vor. »Sie denken vielleicht, dass ich Sie nicht mag, Wilf, aber das stimmt nicht. In unserer Gegend gibt es welche, die das tun - und wir wissen, wer sie sind, nicht wahr? -, aber Sie dürfen mich nicht mit ihnen zusammenwerfen, nur weil ich ihre Interessen berücksichtigen muss. Sie haben mich ab und zu verärgert, und ich glaube, Sie könnten weiter mit Harl Cotterie befreundet sein, wenn Sie Ihren Jungen straffer im Zaum gehalten hätten, aber ich habe Sie immer respektiert.«
Das bezweifelte ich, hielt aber den Mund.
»Was Arlette betrifft, will ich es wiederholen, weil es eine Wiederholung wert ist: Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«
Ich durfte nicht? Ich fand, selbst für einen Gesetzeshüter, der nie mit Sherlock Holmes verwechselt werden würde, war das eine seltsame Schlussfolgerung.
»Henry ist in Schwierigkeiten, wenn auch nur einige der Berichte, die ich bekomme, wahr sind«, sagte er mit schwerer Stimme, »und er hat Shannon Cotterie mit ins heiße Wasser reingezogen. Darin werden sie vermutlich kochen. Das bringt Ihnen Kummer genug, ohne dass Sie auch noch behaupten, für den Tod Ihrer Frau verantwortlich zu sein. Sie brauchen nicht …«
»Erzählen Sie’s mir einfach«, sagte ich.
Zwei Tage vor seinem Besuch - vielleicht an dem Tag, an dem die Ratte mich biss, vielleicht auch nicht, aber um diese Zeit herum - hatte ein Farmer, der eine letzte Ladung Gemüse nach Lyme Biska brachte, drei Kojoten beobachtet, die sich ungefähr zwanzig Schritte nördlich der Straße um etwas balgten. Er wäre wohl weitergefahren, hätte er nicht im Straßengraben einen abgewetzten Damenschuh aus Lackleder und einen rosa Schlüpfer entdeckt. Er hielt an, gab einen Schuss aus seinem Gewehr ab, um die Kojoten zu vertreiben, und ging auf das Feld, um zu sehen, worum sie sich gebalgt hatten. Was er fand, war das Skelett einer Frau, an dem in den Überresten eines Kleides noch einige Fleischfetzen hafteten. Was von ihrem Haar übrig war, war mattbraun - eine Farbe, die Arlettes rötlich braunes Haar nach Monaten in Wind und Wetter angenommen haben konnte.
»Zwei Backenzähne haben gefehlt«, sagte Jones. »Haben Arlette ein paar Backenzähne gefehlt?«
»Ja«, log ich. »Die hat sie wegen einer Zahnfleischentzündung verloren.«
»Als ich damals bei Ihnen war, kurz nachdem sie abgehauen war, hat Ihr Junge gesagt, dass sie ihren guten Schmuck mitgenommen hat.«
»Ja.« Der Schmuck, der jetzt in dem Brunnen lag.
»Als ich gefragt habe, ob sie vielleicht Geld mitgenommen hat, haben Sie 200 Dollar erwähnt. Richtig?«
Ah, ganz recht. Die fiktiven 200 Dollar, die Arlette angeblich aus meiner Kommode genommen hatte. »Ja, das stimmt.«
Jones nickte. »Nun, da haben wir’s, da haben wir’s. Etwas Schmuck und etwas Geld. Das erklärt alles, nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht, was …«
»Weil Sie die Sache nicht aus dem Blickwinkel eines Polizeibeamten betrachten. Sie ist auf der Straße ausgeraubt worden, das ist alles. Irgendein Schuft hat eine Frau gesehen, die zwischen Hemingford und Lyme Biska als Anhalterin unterwegs war, sie ermordet, ihr das Geld und den Schmuck geraubt und die Leiche dann aufs nächste Feld geschleppt, damit sie von der Straße aus nicht zu sehen sein würde.« Sein langes Gesicht zeigte, dass er glaubte, sie sei wahrscheinlich nicht nur beraubt, sondern auch vergewaltigt worden, und es sei vermutlich ein Glück, dass nicht genug von ihr übrig war, um diesen Verdacht zu bestätigen.
»So dürfte es gewesen sein«, sagte ich und schaffte es irgendwie, ernst zu bleiben, bis er gegangen war. Dann wälzte ich mich auf die Seite, und obwohl ich mir dabei den Armstumpf schmerzhaft anstieß, lachte ich los. Ich vergrub das Gesicht im Kopfkissen, aber nicht einmal das konnte das Geräusch wirklich dämpfen. Als die Krankenschwester - ein hässlicher alter Drachen - hereinkam und mein tränenüberströmtes Gesicht sah, nahm sie an (Annahmen machen Sie und mich zum Esel), ich hätte geweint. Sie war gerührt, was ich für unmöglich gehalten hätte, und gab mir eine Morphiumtablette extra. Schließlich war ich ein trauernder Ehemann und Vater. Ich hatte Trost verdient.
Und wissen Sie, warum ich lachte? Über Jones wohlmeinende Dummheit? Das glückliche Auftauchen einer toten Landstreicherin, die vielleicht von ihrem Begleiter umgebracht wurde, als beide betrunken waren? Ich lachte über beides, aber vor allem über den Schuh. Der Farmer hatte nur angehalten, um festzustellen, worum die Kojoten sich balgten, weil er im Straßengraben einen Frauenschuh aus Lackleder hatte liegen sehen. Aber als Sheriff Jones sich an jenem Tag im vergangenen Sommer bei mir nach Schuhwerk erkundigt hatte, hatte ich ihm erklärt, Arlette habe ihre Leinenschuhe getragen. Das hatte der Idiot vergessen.
Und es fiel ihm auch nie wieder ein.
Als ich auf die Farm zurückkam, war fast alles Vieh verendet. Die einzige Überlebende war Achelois, die mich mit vorwurfsvollem Hungerblick betrachtete und klagend muhte. Ich fütterte sie so liebevoll, wie man nur ein Haustier füttern würde, und mehr war sie eigentlich auch nicht. Wie sonst würde man ein Tier bezeichnen, das nicht länger zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann?
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Harlan sich mit Hilfe seiner Frau um meine Farm gekümmert hätte, während ich im Krankenhaus war; bei uns im Mittleren Westen war das unter Nachbarn üblich. Aber sogar als das klagende Muhen meiner verendenden Kühe über die Felder an sein Ohr gedrungen sein musste, wenn er sich zum Abendessen setzte, blieb er weg. Ich an seiner Stelle hätte vielleicht genauso gehandelt. In Harlan Cotteries Augen (und denen der Welt) hatte mein Sohn sich nicht damit begnügt, seine Tochter nur zu ruinieren; er war ihr an den Ort gefolgt, an dem sie Zuflucht hätte finden sollen, hatte sie entführt und zu einem Verbrecherdasein gezwungen. Wie das Gerede von den »Sweetheart Bandits« sich in sein Herz eingefressen haben musste! Wie Säure!
In der folgenden Woche - ungefähr zu der Zeit, als Farmhäuser und die Main Street in Hemingford Home weihnachtlich geschmückt wurden - kam Sheriff Jones wieder zu mir auf die Farm heraus. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um mir zu zeigen, mit welcher Nachricht er kam, und ich schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein. Nicht noch mehr. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Verschwinden Sie!«
Ich flüchtete ins Haus und hielt die Tür zu, aber ich war einarmig und schwach, und er konnte sich mühelos Zutritt verschaffen. »Reißen Sie sich zusammen, Wilf«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie das durchstehen können.« Als ob er wüsste, wovon er redete.
Jones sah in den Schrank, auf dem der Zierbierkrug stand, fand meine traurig leere Flasche Whiskey, kippte den letzten Fingerbreit in den Krug und gab ihn mir. »Der Doktor wäre dagegen«, sagte er, »aber er ist nicht hier, und Sie werden ihn brauchen.«
Die Sweetheart Bandits waren in ihrem letzten Versteck aufgefunden worden: Shannon an der Kugel des Thekenmanns gestorben, Henry an einer, die er sich selbst in den Kopf gejagt hatte. Die Toten waren vorläufig nach Elko ins Leichenhaus gebracht worden. Harlan Cotterie würde seine Tochter heimholen, aber mit meinem Sohn wollte er nichts zu schaffen haben. Natürlich nicht. Ich kümmerte mich selbst darum. Henry traf am 18. Dezember mit dem Zug in Hemingford ein, und ich war mit einer schwarzen Leichenkutsche des Bestattungsunternehmens Castings Brothers am Bahnhof. Ich wurde mehrmals photographiert. Man stellte mir Fragen, die ich nicht einmal zu beantworten versuchte. Die Schlagzeilen des World-Herald und des weit bescheideneren Wochenblatts Hemingford Weekly enthielten die Worte TRAUERNDER VATER.
Hätten die Reporter mich jedoch in der Leichenhalle gesehen, als der billige Fichtensarg geöffnet wurde, hätten sie
»Richten Sie ihn her«, wies ich Herbert Castings an, als ich wieder vernünftig reden konnte.
»Mr. James … Sir … die Schäden sind so …«
»Ich sehe, wie schlimm die Schäden sind. Richten Sie ihn her. Und holen Sie ihn aus dieser scheiß Kiste. Legen Sie ihn in den besten Sarg, den Sie haben. Was das kostet, ist mir egal. Ich habe Geld.« Ich beugte mich über ihn und küsste die zerfetzte Wange. Kein Vater sollte seinen Sohn zum letzten Mal küssen müssen, aber wenn irgendein Vater jemals dieses Los verdient hatte, war ich es.
Shannon und Henry wurden beide von der Glory of God Methodist Church in Hemingford aus beigesetzt, Shannon am 22. Dezember und Henry am Heiligabend. Bei Shannon war die Kirche voll, und das Weinen war fast laut genug, um die Mauern zum Beben zu bringen. Das weiß ich, weil ich dort war, zumindest eine Zeit lang. Ich stand unbeachtet ganz hinten und schlich mich nach der Hälfte der Trauerrede von Reverend Thursby hinaus. Rev. Thursby bestattete auch Henry, aber ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass die Trauergemeinde viel kleiner war. Thursby sah nur mich, aber ich war dennoch nicht der einzige Gottesdienstbesucher. Auch Arlette war da und
Ge fällt es dir, wie alles ausgegangen ist, Wil f? War’s das wert?
Zählte man alles zusammen - Trauergottesdienst, Grabmiete, Bestattungsunternehmen und Heimtransport der Leiche -, kostete die Beisetzung der sterblichen Überreste meines Sohnes etwas über 300 Dollar. Die bezahlte ich von meiner Hypothek. Woher hätte ich das Geld sonst nehmen sollen? Nach der Beerdigung fuhr ich heim in mein leeres Haus. Aber zuvor kaufte ich mir eine neue Flasche Whiskey.
1922 hatte noch eine weitere Überraschung parat. Einen Tag nach Weihnachten kam ein gewaltiger Blizzard aus den Rockies herangeröhrt und überfiel uns mit 30 Zentimeter Schnee und Wind in Sturmstärke. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde der Schnee erst zu Schneeregen, dann zu peitschendem Regen. Gegen Mitternacht, als ich in dem düsteren Wohnzimmer saß und meinen pochenden Armstumpf mit kleinen Schlucken Whiskey zu beruhigen versuchte, kam von der Rückseite des Hauses ein gewaltiges Knirschen und Krachen. Das war das Dach, das teilweise einstürzte - genau der Teil, für dessen Ausbesserung die aufgenommene Hypothek unter anderem hätte dienen sollen. Ich hob mein Glas zu einem ironischen Toast und nahm noch einen Schluck. Als kalter Wind um meine Schultern zu wehen begann, stand ich auf, holte meinen Mantel von seinem Haken im Vorraum und zog ihn an. Dann setzte ich mich wieder und trank noch etwas Whiskey. Irgendwann döste ich ein. Gegen drei Uhr weckte mich ein weiteres knirschendes Krachen. Diesmal war es die vordere Hälfte des Stalls, die eingestürzt war. Achelois überlebte auch dieses Mal, und am folgenden Tag holte ich sie
Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags (den ich damit verbrachte, in meinem kalten Wohnzimmer kleine Schlucke Whiskey zu trinken, wobei mir meine überlebende Kuh Gesellschaft leistete) zählte ich das noch übrige Hypothekengeld und erkannte, dass es nicht einmal für eine notdürftige Ausbesserung der Sturmschäden reichen würde. Das störte mich aber nicht besonders, weil ich den Geschmack am Farmerleben verloren hatte, wenngleich der Gedanke, dass die Farrington Company hier einen Schweineschlachthof hinstellen und den Bach verunreinigen würde, mich wieder vor Wut mit den Zähnen knirschen ließ. Vor allem wegen des hohen Preises, den ich dafür gezahlt hatte, dass diese dreimal gottverdammten 40 Hektar nicht in die Hände der Firma gerieten.
Dann wurde mir plötzlich klar, dass dieses Land jetzt mir gehörte, seit Arlette nicht mehr als vermisst galt, sondern offiziell tot war. Also überwand ich zwei Tage später meinen Stolz und stattete Harlan Cotterie einen Besuch ab.
Dem Mann, der auf mein Klopfen die Haustür öffnete, war es weit besser ergangen als mir, aber die Erschütterungen dieses Jahres hatten trotzdem ihren Tribut gefordert. Er hatte abgenommen, er hatte Haare verloren und sein Hemd war verknittert - allerdings nicht so verknittert wie sein Gesicht, und das Hemd ließ sich wenigstens glattbügeln. Statt wie fünfundvierzig sah er wie fünfundsechzig aus.
»Schlag mich nicht«, sagte ich, als ich sah, dass er die Fäuste ballte. »Hör mir erst zu.«
»Ich würde keinen Mann schlagen, der nur eine Hand hat«, sagte er, »aber ich wäre dir dankbar, wenn du es kurz
»Schon in Ordnung«, sagte ich. Ich hatte selbst reichlich abgenommen und zitterte vor Kälte, aber die kalte Luft tat meinem Armstumpf gut - wie auch der unsichtbaren Hand, die an seinem Ende weiterzuexistieren schien. »Ich möchte dir 40 Hektar gutes Land verkaufen, Harl. Die vierzig, die Arlette unbedingt der Farrington Company verkaufen wollte.«
Darüber musste er lächeln, und seine Augen glitzerten in ihren auf einmal tiefen Höhlen. »Du steckst in der Klemme, was? Dein halbes Haus und der halbe Stall sind eingestürzt. Hermie Gordon sagt, dass du jetzt mit einer Kuh zusammenlebst.« Hermie Gordon war der Landbriefträger und ein berüchtigtes Klatschmaul.
Ich nannte einen so niedrigen Preis, dass Harl mich mit offenem Mund und hochgezogenen Augenbrauen anstarrte. Dabei fiel mir ein aus dem sauberen, gut eingerichteten Farmhaus der Cotteries wabernder Geruch auf, der überhaupt nicht herzupassen schien: der Geruch von angebranntem Essen. Offenbar kochte hier nicht Sallie Cotterie. Früher hätte mich so etwas vielleicht interessiert, aber diese Zeiten waren vorbei. Jetzt ging es mir allein darum, die 40 Hektar loszuwerden. Es erschien mir nur angemessen, sie billig zu verkaufen, nachdem sie mich so teuer zu stehen gekommen waren.
»Das sind Cent statt Dollar«, sagte er. Dann unüberhörbar befriedigt: »Arlette würde im Grab rotieren.«
Sie hat mehr getan, als bloß darin zu rotieren, dachte ich.
»Worüber lächelst du, Wilf?«
»Nichts. Abgesehen von einem Punkt mache ich mir nichts mehr aus diesem Land. Aber ich will verhindern, dass die
»Auch wenn du dabei deine Farm verlierst?« Er nickte, als hätte ich eine Frage gestellt. »Ich weiß, dass du eine Hypothek aufgenommen hast. In einer Kleinstadt gibt’s keine Geheimnisse.«
»Auch dann«, bestätigte ich. »Nimm mein Angebot an, Harl. Es wäre verrückt, das nicht zu tun. Dieser Bach, den sie mit Blut und Borsten und Schweinedärmen verunreinigen würden … der ist auch dein Bach.«
»Nein«, sagte er.
Ich starrte ihn an und war zu verblüfft, um ein Wort herauszubringen. Aber er nickte wieder, als hätte ich eine Frage gestellt.
»Du glaubst zu wissen, was du mir angetan hast, aber du weißt nicht alles. Sallie hat mich verlassen. Sie ist zu ihrer Familie drunten in McCook gezogen. Sie sagt, dass sie vielleicht zurückkommt, dass sie sich die Sache überlegen will, aber ich glaube nicht, dass sie das tut. Also sitzen wir beide in demselben kaputten alten Boot, nicht wahr? Wir sind zwei Männer, die das Jahr mit Ehefrauen begonnen haben und nun keine mehr haben. Wir sind zwei Männer, die das Jahr mit lebenden Kindern begonnen haben und nun keine mehr haben. Der einzig erkennbare Unterschied ist, dass ich nicht mein halbes Haus und die halbe Scheune eingebüßt habe.« Er dachte darüber nach. »Und dass ich noch beide Hände habe. Das ist immerhin etwas. Beim Wichsen - sollte ich jemals den Drang danach verspüren - könnte ich mir aussuchen, welche Hand ich nehmen will.«
»Was … wieso ist sie …«
»Oh, das kannst du dir doch denken! Sie macht nicht nur dich, sondern auch mich für Shannons Tod verantwortlich. Sie sagt, wenn ich mich nicht aufs hohe Ross
Ich wollte ihm meine verbliebene Hand auf den Arm legen. Er schlug sie weg.
»Fass mich nicht an, Wilf. Ich warne dich nur einmal!«
Ich ließ die Hand wieder sinken.
»Eines weiß ich bestimmt«, sagte er. »Würde ich dein Angebot annehmen, so verlockend es auch ist, würde ich das später bereuen. Weil auf diesem Land ein Fluch liegt. Wir stimmen vielleicht nicht in allem überein, aber ich wette, dass wir uns darin einig wären. Wenn du es loswerden willst, verkauf’s doch der Bank. So kannst du deine Hypothek tilgen und bekommst noch etwas Geld auf die Hand.«
»Die Bank würde sich nur umdrehen und es Farrington verkaufen!«
»Tja, blöd gelaufen«, war sein letztes Wort, bevor er mir die Tür vor der Nase zumachte.
Am letzten Tag des Jahres fuhr ich nach Hemingford Home und suchte Mr. Stoppenhauser in der Bank auf. Ich sagte, ich sei zu dem Schluss gekommen, die Farm nicht länger bewirtschaften zu können. Ich sagte, ich wolle der Bank Arlettes Land verkaufen und davon meine Hypothek tilgen. Wie Harlan Cotterie sagte er Nein. Ich saß sekundenlang wie betäubt auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch und wollte meinen Ohren nicht trauen.
»Wieso nicht? Das ist gutes Land!«
Er erklärte mir, er arbeite bei einer Bank und eine Bank sei kein Immobilienmakler. Er sprach mich als Mr. James
»Das ist einfach …« Lächerlich war das Wort, das mir einfiel, aber ich wollte ihn nicht verärgern, solange auch nur die kleinste Chance bestand, dass er einlenken würde. Seit ich den Entschluss gefasst hatte, das Land zu verkaufen (und die Kuh; ich würde auch einen Käufer für Achelois finden müssen, möglicherweise einen Fremden, der mir ein Säckchen Zauberbohnen für sie geben würde), war ich von diesem Gedanken wie besessen. Also sprach ich leise und ruhig.
»Das stimmt nicht ganz, Mr. Stoppenhauser. Ihre Bank hat die Rideout-Farm gekauft, als sie letzten Sommer versteigert wurde. Und die Triple M auch.«
»Dort war die Sachlage anders. Unsere Hypothek ist auf Ihre ursprünglichen 30 eingetragen. Damit sind wir zufrieden. Was Sie mit diesen 40 Hektar Weideland machen, interessiert uns nicht.«
»Wer ist bei Ihnen gewesen?«, fragte ich, dann erkannte ich, dass diese Frage überflüssig war. »Lester, nicht wahr? Cole Farringtons Mädchen für alles.«
»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden«, sagte Stoppenhauser, aber ich sah das Flackern in seinem Blick. »Ich glaube, Sie können wegen Ihres Kummers und Ihrer … Ihrer Verletzung … vorübergehend nicht mehr klar denken.«
»O nein«, sagte ich und begann zu lachen. Das war ein gefährlich gestörter Laut, selbst in meinen Ohren. »Ich habe nie im Leben klarer gedacht, Sir. Er hat Sie aufgesucht - er oder irgendein anderer, Cole Farrington kann sich bestimmt so viele Rechtsverdreher leisten, wie er will -, und Sie haben einen Handel mit ihm abgeschlossen. Sie haben k-k-kassiert!« Ich lachte noch lauter.
»Mr. James, ich muss Sie leider bitten, mein Büro zu verlassen.«
»Vielleicht hatten Sie alles im Voraus geplant«, sagte ich. »Vielleicht haben Sie mir diese gottverdammte Hypothek nur deshalb aufgeschwatzt. Oder vielleicht hat Lester, als er von meinem Sohn gehört hat, eine einmalige Gelegenheit erkannt, von meinem Unglück zu profitieren, und ist eiligst zu Ihnen gekommen. Vielleicht hat er hier auf diesem Stuhl gesessen und gesagt: ›Davon haben wir beide unseren Vorteil, Stoppie - Sie bekommen die Farm, meine Mandanten bekommen das Land am Bach, und Wilf James kann zum Teufel oder nach Omaha gehen, je nachdem was ihm besser passt.‹ War’s nicht ziemlich genau so?«
Er hatte den Alarmknopf gedrückt, und nun wurde die Tür aufgerissen. Die Bank war zu klein, um einen Wachmann zu beschäftigen, aber der Kassierer, der den Kopf hereinsteckte, war ein bulliger Kerl. Seinem Aussehen nach aus der Familie Rohrbacher; ich war mit seinem Vater zur Schule gegangen, und seine jüngere Schwester Mandy war in Henrys Klasse gewesen.
»Gibt’s ein Problem, Mr. Stoppenhauser?«, fragte er.
»Nicht wenn Mr. James jetzt geht«, sagte er. »Begleiten Sie ihn bitte hinaus, Kevin?«
Kevin kam herein, und als ich nicht gleich aufstand, packte er mich am linken Arm dicht über dem Ellbogen. Er war wie ein Bankier gekleidet - bis hin zu Fliege und Hosenträgern -, aber er hatte Farmerhände, hart und schwielig. Mein noch heilender Stumpf pochte warnend.
»Kommen Sie, wir gehen, Sir«, sagte er.
»Nicht so zerren«, sagte ich. »Meine fehlende Hand tut noch immer weh.«
»Dann kommen Sie bitte mit.«
»Ich bin mit deinem Vater zur Schule gegangen. Er hat neben mir gesessen und in der Frühlingstestwoche von mir abgeschrieben.«
Er zog mich von dem Stuhl hoch, auf dem ich einst als Wilf angesprochen worden war. Der gute alte Wilf, der ein Trottel wäre, wenn er keine Hypothek aufnehmen würde. Der Stuhl wäre fast umgefallen.
»Gutes neues Jahr, Mr. James«, sagte Stoppenhauser.
»Und Ihnen auch, Sie betrügerisches Arschloch«, antwortete ich. Sein schockierter Gesichtsausdruck könnte das letzte Gute gewesen sein, das mir in meinem Leben widerfahren ist. Ich sitze seit einigen Minuten hier, kaue auf meinem Füller herum und versuche, mich an etwas anderes zu erinnern - ein gutes Buch, eine gute Mahlzeit, einen angenehmen Nachmittag im Park -, aber mir fällt nichts ein.
Kevin Rohrbacher begleitete mich durch die Schalterhalle. Das dürfte der richtige Ausdruck sein; er schleppte mich nicht ganz mit sich. Der Fußboden war aus Marmor, auf dem unsere Schritte hallten. Die Wände waren mit dunkler Eiche getäfelt. An den hohen Kassenschaltern bedienten zwei Frauen die letzten Kunden des Jahres. Eine der Kassiererinnen war jung, die andere war alt, aber ihr Gesichtsausdruck mit weit aufgerissenen Augen war identisch. Trotzdem war es nicht ihre angstvolle, fast lüsterne Neugier, die meine Aufmerksamkeit fesselte, sondern etwas ganz anderes. Oberhalb der Kassenschalter verlief ein handbreiter genoppter Eichenbalken, über den geschäftig …
»Vorsicht, Ratte!«, rief ich und zeigte auf sie.
Die jüngere Kassiererin stieß einen kleinen Schrei aus, sah nach oben und wechselte dann einen Blick mit ihrer älteren Kollegin. Es gab keine Ratte, nur den flüchtigen Schatten eines Deckenventilators. Und jetzt sahen alle mich an.
»Gafft, so viel ihr wollt!«, forderte ich sie auf. »Nach Herzenslust! Starrt, bis euch die gottverdammten Augen rausfallen!«
Dann war ich auf der Straße und atmete stoßweise kalte Winterluft aus, die wie Zigarettenrauch aussah. »Kommen Sie nur in Geschäftsangelegenheiten wieder«, sagte Kevin. »Und nur, wenn Sie höflich bleiben.«
»Dein Vater war der gottverdammt größte Abschreiber, mit dem ich je in der Schule war«, erklärte ich ihm. Ich wollte, dass er mich schlug, aber er ging nur wieder hinein und ließ mich vor meinem klapprigen alten Lastwagen auf dem Gehsteig stehen. Und so verbrachte Wilfred Leland James seinen Stadtbesuch am letzten Tag des Jahres 1922.
Als ich heimkam, war Achelois nicht mehr im Haus. Sie war auf dem Hof, lag auf der Seite und stieß selbst weiße Dampfwolken aus. Ich konnte die Spuren im Schnee sehen, wo sie von der Veranda galoppiert war, und die größeren, wo sie unglücklich aufgekommen war und sich beide Vorderbeine gebrochen hatte. In meiner Nähe konnte anscheinend nicht einmal eine unschuldige Kuh überleben.
Ich ging in den Vorraum für Gummistiefel und Arbeitskleidung, um mein Gewehr zu holen, und dann ins Haus, weil ich sehen wollte - falls möglich -, was sie so erschreckt hatte, dass sie ihre neue Unterkunft in gestrecktem Galopp verlassen hatte. Es waren natürlich Ratten. Drei von ihnen saßen auf Arlettes kostbarer Anrichte und betrachteten mich mit ihren ernsten schwarzen Augen.
»Lauft zurück, und sagt ihr, dass sie mich in Ruhe lassen soll«, forderte ich sie auf. »Sagt ihr, dass sie genug angerichtet hat. Sagt ihr um Himmels willen, dass sie mich in Ruhe lassen.«
Sie saßen nur mit um ihre rundlichen grau-schwarzen Körper geringelten Schwänzen da und sahen mich an. Also hob ich mein Gewehr Kaliber.22 und knallte die mittlere ab. Die Kugel zerfetzte sie und klatschte ihre Überreste an die Tapete, die Arlette vor 9 oder 10 Jahren mit solcher Liebe
Die beiden anderen flüchteten. Bestimmt zu ihrem geheimen Durchschlupf in den Untergrund. Zurück zu ihrer verwesenden Königin. Was sie auf Arlettes Anrichte zurückließen, waren kleine Häufchen Rattenkot und drei oder vier Fetzen jenes Rupfensacks, den Henry an jenem Frühsommerabend des Jahres 1922 aus der Scheune geholt hatte. Die Ratten waren gekommen, um meine letzte Kuh in den Tod zu treiben und mir Fetzen von Arlettes Haarnetz zu bringen.
Ich ging hinaus und tätschelte Achelois am Kopf. Sie machte einen langen Hals und muhte klagend. Mach, dass es au fhört. Du bist mein Herr, du bist der Gott meiner Welt, also mach, dass es au fhört.
Das tat ich.
Gutes neues Jahr.
Das war das Ende des Jahres 1922, und dies ist das Ende meiner Geschichte; der gesamte Rest ist ein Nachspiel. Die in diesem Raum versammelten Abgesandten - wie der Direktor dieses schönen alten Hotels aufschreien würde, wenn er sie sähe! - werden nicht mehr lange warten, bis sie ihr Urteil fällen. Arlette ist die Richterin, sie sind die Geschworenen, aber ich werde mein eigener Scharfrichter sein. Ich habe eine Pistole, die diese Sache glatt zu Ende bringen wird. Eine Kugel ins Hirn hat Achelois von ihren Qualen erlöst und Henry von seinen; eine weitere wird meine beenden.
Die Farm verlor ich natürlich. Niemand, auch nicht die Farrington Company, wollte diese 40 Hektar kaufen, bevor meine Heimstatt an die Bank gefallen war, und als die Schweinemetzger endlich zugriffen, musste ich zu einem absurd niedrigen Preis verkaufen. Lesters Plan ging prächtig
Nun ja; ich hätte meinen kleinen Brückenkopf in der Hemingford County auch dann verloren, wenn ich auf finanzielle Reserven hätte zurückgreifen können, und darin liegt eine perverse Art Trost. Die Wirtschaftskrise, in der wir stecken, soll vergangenes Jahr am Schwarzen Freitag begonnen haben, aber die Menschen draußen im Mittleren Westen - in Staaten wie Kansas, Iowa und Nebraska - wissen, dass sie 1923 begann, als die Feldfrüchte, die die schrecklichen Frühjahrsstürme jenes Jahres überstanden, durch die folgende Dürre vernichtet wurden - eine Dürre, die 2 Jahre lang anhielt. Die wenigen Erzeugnisse, die auf großstädtische Märkte und in kleinstädtische Produktenbörsen gelangten, erzielten jämmerliche Preise. Harlan Cotterie hielt bis 1925 durch, dann übernahm die Bank auch seine Farm. Auf diese Meldung stieß ich zufällig, als ich die im World-Herald angekündigten Zwangsversteigerungen studierte. Im Jahr 1925 füllten solche Ankündigungen manchmal ganze Zeitungsseiten. Die kleinen Farmen verschwanden, und ich glaube, dass es in hundert Jahren - vielleicht schon in 75 - keine mehr geben wird. Im Jahr 2030 (wenn es überhaupt kommt) wird ganz Nebraska westlich von Omaha eine einzige riesige Farm sein. Sie wird wahrscheinlich der Farrington Company gehören, und wer das Pech hat, dort leben zu müssen, wird seine Tage unter einem schmutzig gelben Himmel verbringen und eine Gasmaske tragen, um nicht am Gestank toter Schweine zu ersticken. Und alle Bäche werden vom Blut geschlachteter Tiere rot sein.
Im Jahr 2030 werden nur die Ratten glücklich sein.
Das sind Cent statt Dollar, hatte Harlan an dem Tag gesagt, an dem ich ihm Arlettes Land zum Kauf angeboten hatte, und an Cole Farrington musste ich es zuletzt noch
Unterdessen haben die Ratten angefangen, von den Fußbodenleisten dieses Zimmers aus vorzurücken. Aus dem ursprünglichen Quadrat ist ein Kreis geworden, der mich eng einschließt. Sie wissen, dass dies nur das Nachspiel ist, und was nach einer unwiderruflichen Tat kommt, ist nicht weiter wichtig. Trotzdem werde ich dies zu Ende schreiben. Und sie sollen mich nicht lebend bekommen; der letzte kleine Sieg wird mein sein. Meine alte braune Jacke hängt über der Lehne des Stuhls, auf dem ich sitze. Die Pistole steckt in einer der Taschen. Sobald ich die letzten Seiten dieses Geständnisses geschrieben habe, werde ich sie benutzen. Mörder und Selbstmörder kommen in die Hölle, heißt es. Wenn das stimmt, werde ich mich dort auskennen, denn ich habe bereits die letzten acht Jahre dort zugebracht.
Ich zog nach Omaha, und wenn es eine Stadt der Narren ist, wie ich immer behauptet habe, war ich anfangs ein Musterbürger. Ich machte mich daran, Arlettes 40 Hektar zu vertrinken, wofür ich selbst bei Cent statt Dollar 2 Jahre brauchte. Wenn ich nicht trank, besuchte ich die Orte, an denen Henry in den letzten Monaten seines Lebens gewesen war: das Lebensmittelgeschäft mit Tankstelle in Lyme
»Als ich ihm das Geld gegeben habe, hat er sich bedankt«, erzählte sie mir. »Er mag auf die schiefe Bahn geraten sein, aber irgendjemand hat ihn richtig erzogen. Haben Sie ihn gekannt?«
»Nein«, sagte ich, »aber ich habe seine Familie gekannt.«
Natürlich besuchte ich auch das Mädchenheim St. Eusebia, machte aber keinen Versuch, hineinzugehen und bei der Gouvernante oder Hausmutter oder wie ihr Titel sonst lauten mochte, nach Shannon Cotterie zu fragen. Das Heim war ein abstoßend kalter Klotz; die dicken Mauern und die Schießschartenfenster drückten exakt aus, was die papistische Hierarchie in ihrem Innersten von Frauen zu halten schien. Der Anblick der wenigen schwangeren Mädchen, die mit niedergeschlagenen Augen und hochgezogenen Schultern herausgeschlichen kamen, sagte mir alles, was ich darüber wissen musste, weshalb Shan diese Einrichtung so bereitwillig verlassen hatte.
Seltsamerweise fühlte ich mich meinem Sohn in einer der Gassen am nächsten. Es war die neben dem Drug Store & Soda Fountain (Unsere Spezialität: Bonbons von Schrafft & beste Karamellen aus eigener Herstellung) in der Gallatin Street, zwei Straßen vom St. Eusebia entfernt. Dort stand eine Holzkiste, vermutlich zu neu, um die zu sein, auf der Henry gesessen und auf ein Mädchen gewartet hatte, das abenteuerlustig genug war, um für Zigaretten Informationen zu liefern, aber ich konnte so tun, als wäre sie es, und Wenn hier ein junger Mann aufkreuzt, der sich Hank nennt und nach Shan Cotterie fragt, sagen Sie ihm, dass er verschwinden soll. Dass er den Blödsinn lassen soll. Sagen Sie ihm, dass sein Vater ihn zu Hause au f der Farm braucht, die sie in gemeinsamer Anstrengung vielleicht retten können.
Aber dieses Mädchen war für mich unerreichbar. Die einzige Victoria, die ich kennenlernte, war die spätere Version, die mit drei hübschen Kindern und dem ehrbaren Namen Mrs. Hallett. Ich trank inzwischen nicht mehr, hatte einen Job in der Textilfabrik Bilt-Rite Clothing und war wieder mit dem Gebrauch von Rasierklingen und Rasierseife vertraut. Wegen dieser Fassade der Wohlanständigkeit empfing sie mich durchaus bereitwillig. Wer ich war, sagte ich ihr nur - will ich doch bis zuletzt ehrlich sein -, weil ich mit Lügen nicht durchgekommen wäre. Dass ihre Augen sich leicht weiteten, zeigte mir, dass sie die Ähnlichkeit bemerkt hatte.
»Mensch, er war wirklich süß«, sagte sie. »Und so verrückt verliebt. Shan tut mir auch leid. Sie war ein wundervolles Mädchen. Das Ganze ist wie eine Tragödie von Shakespeare, nicht wahr?«
Nur sagte sie Trad-ö-gie, und danach ging ich nicht wieder in die von der Gallatin Street abzweigende Gasse, weil der Mord an Arlette selbst das Bemühen um Freundlichkeit dieser unschuldigen jungen Mutter aus Omaha vergiftet hatte. Sie dachte, der Tod von Henry und Shannon sei wie eine Trad-ö-gie von Shakespeare. Sie hielt es für romantisch. Hätte sie das auch gedacht, frage ich mich, wenn sie gehört
In meinen Jahren in der auch als Stadt der Narren bekannten Gateway City hatte ich zwei Jobs. Natürlich hatte ich zwei Jobs, werden Sie sagen; sonst hätte ich auf der Straße gelebt. Aber ehrlichere Männer als ich haben weitergetrunken, obwohl sie damit aufhören wollten, und anständigere Männer als ich haben zuletzt in Hauseingängen geschlafen. Ich könnte vermutlich sagen, dass ich nach meinen verlorenen Jahren einen weiteren Versuch unternahm, ein reales Leben zu führen. Es gab Zeiten, in denen ich das tatsächlich glaubte, aber wenn ich nachts im Bett lag (und auf die in den Wänden umherflitzenden Ratten horchte, die meine ständigen Begleiter waren), wusste ich stets die Wahrheit: Ich versuchte noch immer zu siegen. Selbst nach Henrys und Shannons Tod, selbst nach dem Verlust der Farm versuchte ich, die Tote im Brunnen zu schlagen. Sie und ihre Lakaien.
John Hanrahan war der Lagerverwalter bei Bilt-Rite. Er wollte keinen Mann mit nur einer Hand einstellen, aber ich bat ihn, es mit mir zu versuchen, und als ich ihm bewies, dass ich eine mit Hemden oder Arbeitshosen beladene volle Palette so gut wie jeder Mann auf seiner Lohnliste ziehen konnte, stellte er mich ein. Ich zog diese Paletten 14 Monate lang und humpelte oft mit brennendem Rücken und Armstumpf in die Pension zurück, in der ich wohnte. Aber ich beklagte mich nie und fand sogar die Zeit, nähen zu lernen. Das tat ich in meiner Mittagsstunde (die in Wirklichkeit 15 Minuten dauerte) und in der Nachmittagspause. Während die anderen Männer draußen in der Ladebucht standen, rauchten und schmutzige Witze erzählten, brachte ich mir selbst bei, Säume zu nähen - erst an Rupfensäcken
Nähen brachte mehr als Lagerarbeit und war für meinen Rücken besser, aber der Nähsaal war düster und höhlenartig, und nach etwa 4 Monaten fing ich an, Ratten auf den Bergen frisch gefärbter Baumwollhosen und in den Schatten unter den Handwagen zu sehen, auf denen Zuschnitte gebracht und fertige Kleidungsstücke weggefahren wurden.
Bei verschiedenen Gelegenheiten machte ich meine Arbeitskollegen auf diese Schädlinge aufmerksam. Sie behaupteten, sie nicht zu sehen. Vielleicht sahen sie sie wirklich nicht. Aber viel eher befürchteten sie, der Nähsaal könnte vorübergehend geschlossen werden, damit Kammerjäger kommen und ihre Arbeit tun konnten. Die Näher und Näherinnen hätten drei Tageslöhne oder sogar einen Wochenlohn verlieren können. Für Männer und Frauen mit Familien wäre das eine Katastrophe gewesen. Für sie war es einfacher, Mr. Hanrahan zu erzählen, ich sähe Gespenster. Das verstand ich. Und als sie anfingen, mich Crazy Wilf zu nennen? Auch das verstand ich. Ich kündigte nicht deshalb.
Ich kündigte, weil die Ratten immer näher heranrückten.
Ich hatte etwas Geld zurückgelegt, von dem ich leben wollte, während ich anderswo Arbeit suchte, aber das war nicht nötig. Nur drei Tage nach meinem Ausscheiden bei Bilt-Rite sah ich in der Zeitung eine Stellenanzeige, mit der die öffentliche Stadtbücherei von Omaha einen Bibliothekar
Wegen der Ratten, wissen Sie. Sie haben mich auch dort aufgespürt. Ich begann, sie im Binderaum auf Stapeln alter Bücher hocken oder über die höchsten Fächer der Wandregale flitzen zu sehen. Als ich letzte Woche im Leseraum für eine ältliche Benutzerin einen Band der Encyclopædia Britannica herauszog (den Band Ra-St, der zweifellos einen Eintrag zu Rattus norvegicus enthält, von Schlachtho f ganz zu schweigen), starrte mich aus der Lücke ein hungriges grau-schwarzes Gesicht an. Das war die Ratte, die Achelois eine Zitze abgebissen hatte. Ich weiß nicht, wie das sein konnte - ich war mir sicher, sie zerstampft zu haben -, aber an ihrer Identität bestand kein Zweifel. Ich erkannte sie wieder. Wie denn auch nicht? An ihren Schnurrbarthaaren hing ein Fetzen Rupfen, ein blutgetränkter kleiner Fetzen.
Haarnetz!
Den Lexikonband brachte ich der alten Dame, die um ihn gebeten hatte (sie trug eine Hermelinstola, deren schwarze
Eben hat mich eine von ihnen in den Knöchel gezwickt. Als wollte sie sagen: Mach schon, deine Zeit ist fast abgelaufen. An meiner Socke ist ein kleiner Blutfleck zu sehen. Er stört mich nicht, nicht im Geringsten. Ich habe in meiner Zeit mehr Blut gesehen; im Jahr 1922 war ein ganzes Zimmer voll davon.
Und jetzt glaube ich zu hören … ist das nur meine Einbildung?
Nein.
Jemand ist zu Besuch gekommen.
Ich habe das Rohr verstopft, aber die Ratten sind trotzdem entkommen. Ich habe den Brunnen zugeschüttet, aber auch sie hat einen Weg nach draußen gefunden. Und diesmal glaube ich nicht, dass sie allein sein wird. Ich glaube, ich höre zwei Paar Füße schlurfen, nicht nur eines. Oder …
Drei? Sind es drei? Ist auch das Mädchen, das in einer besseren Welt meine Schwiegertochter geworden wäre, mit dabei?
Ich glaube schon. Drei Leichname, die den Flur entlangschlurfen, ihre Gesichter (was davon übrig ist) durch Rattenbisse entstellt. Arlette außerdem mit verschobener unterer Gesichtshälfte … durch den Tritt einer verendenden Kuh.
Ein weiterer Biss in den Knöchel.
Und noch einer!
Wie die Direktion sich …
Aua! Wieder einer. Aber sie sollen mich nicht bekommen. Auch meine Besucher nicht, obwohl ich sehen kann,
geschlacht
Die Pistole
Gott, wo ist die
aufhören
O SIE SOLLEN AUHÖREN, MICH ZU BEI
BIBLIOTHEKAR VERÜBT SELBSTMORD IN HIESIGEM HOTEL
Bizarre Szene empfängt Sicherheitsmann
Die Leiche von Wilfried Leland James, einem Bibliothekar der öffentlichen Stadtbücherei Omaha, wurde am Sonntag in einem hiesigen Hotel aufgefunden, nachdem das Personal erfolglos versucht hatte, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Der Gast in einem benachbarten Zimmer hatte über einen Geruch wie von »verfaultem Fleisch« geklagt, und ein Zimmermädchen hatte gemeldet, es habe am späten Freitagmittag »gedämpftes Schreien oder Weinen wie von einem Mann, der starke Schmerzen leidet«, gehört.
Als nach mehrmaligem Klopfen keine Antwort kam, benutzte der Chef des Sicherheitsdiensts des Hotels seinen Generalschlüssel und entdeckte den am Schreibtisch in seinem Zimmer zusammengesackten Mr. James. »Ich habe eine Pistole gesehen und angenommen, er habe sich erschossen«, sagte der Sicherheitsmann, »aber niemand hatte einen Schuss gemeldet, und es roch nicht nach Pulverdampf. Als ich die Waffe überprüft habe, hat sie sich als kaum funktionsfähige Kaliber.25 erwiesen, die noch dazu ungeladen war.
Inzwischen war mir natürlich das viele Blut aufgefallen. Ich hatte nie etwas Vergleichbares gesehen und möchte es nicht noch mal sehen. Er hatte sich überall gebissen - in Arme, Beine, Knöchel, sogar in die Zehen. Und das war noch nicht alles. Er war offenbar damit beschäftigt gewesen, irgendetwas niederzuschreiben, aber dann hat er auch das Papier zerkaut. Es war über den ganzen Fußboden verteilt. Es hat wie Papier ausgesehen, das Ratten zerkauen, um damit ihre Nester auszupolstern. Zuletzt hat er sich die Pulsadern aufgebissen. Ich glaube, dass er daran verblutet ist. Jedenfalls kann er nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen sein.«
Über Mr. James ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur wenig bekannt. Ronald Quarles, Leiter der öffentlichen Stadtbücherei Omaha, hat Mr. James Ende 1926 eingestellt. »Er war offenbar vom Pech verfolgt und durch den Verlust einer Hand behindert, aber er besaß ein gutes Bücherwissen und hatte erstklassige Referenzen«, sagte Quarles. »Er war kollegial, aber distanziert. Meines Wissens hat er in einer Fabrik gearbeitet, bevor er sich bei uns beworben hat, und er hat Leuten erzählt, bevor er die Hand verloren habe, habe ihm eine kleine Farm in der Hemingford County gehört.«
Der World-Herald nimmt Anteil am Schicksal des unglücklichen Mr. James und bittet um Informationen von Lesern, die ihn vielleicht gekannt haben. Bis die Angehörigen nähere Anordnungen treffen, liegt der Tote im Leichenhaus der Omaha County. »Sollten sich keine Angehörigen melden«, sagte Dr. Tattersall, ärztlicher Direktor des Leichenhauses, »dürfte er wohl in einem Gemeindegrab beigesetzt werden.«
Aus dem Omaha World-Herald, 14. April 1930