Streeter sah das Schild nur, weil er am Straßenrand halten und spucken musste. Er spuckte jetzt oft und meistens ohne lange Vorwarnung - manchmal ein Anflug von Übelkeit, manchmal ein kupfriger Geschmack hinten im Mund und manchmal gar nichts; nur würg, und schon kam alles heraus, eine schöne Bescherung. Das machte das Autofahren zu einem riskanten Vorhaben, aber trotzdem fuhr er jetzt viel, teils weil er im Spätherbst nicht mehr würde fahren können und teils weil er über vieles nachdenken musste. Nachdenken hatte er immer am besten am Steuer können.
Er war auf der Harris Avenue Extension unterwegs: einer breiten Durchfahrtsstraße, die zwei Meilen weit den Derry County Airport entlang und zwischen den dort angesiedelten Firmen - hauptsächlich Motels und Lagerhäuser - hindurchführte. Auf dieser Verlängerung herrschte tagsüber lebhafter Verkehr, weil sie den Westen Derrys mit dem Osten verband und eine Flughafenzufahrt war, aber an diesem Abend war sie fast menschenleer. Streeter parkte auf dem Radweg, riss eine der durchsichtigen Plastikspucktüten von dem Stapel auf dem Beifahrersitz, hielt das Gesicht darüber und legte los. Sein Abendessen erschien nochmals. Allerdings nicht vor seinen Augen. Die hatte er nämlich geschlossen. Wenn man einmal eine volle Spucktüte gesehen hatte, kannte man sie alle.
Zu Beginn der Kotzphase hatte es noch keine Schmerzen gegeben. Dr. Henderson hatte ihn vorgewarnt, dass sich
Er hob den Kopf von dem Beutel, öffnete das Handschuhfach, holte ein Stück Bindedraht heraus und versiegelte sein Abendessen, bevor der ganze Wagen danach stank. Ein Blick nach rechts zeigte ihm glücklicherweise einen Abfallkorb mit einem fröhlichen schlappohrigen Köter und der Mahnung DERRY DAWG SAGT: »TUT ABFALL HIN, WO ER HINGEHÖRT!« in Schablonenschrift auf der Außenseite.
Streeter stieg aus, ging zu dem Abfallkorb hinüber und entsorgte den letzten Auswurf seines versagenden Körpers. Die Sommersonne ging rot über dem ebenen (und gegenwärtig verlassenen) Gelände des Flughafens unter, und der an seinen Hacken klebende Schatten war lang und grotesk dünn. Als wäre er Streeters Körper vier Monate voraus, bereits voll von dem Krebs erfasst, der ihn bald bei lebendigem Leib auffressen würde.
Er wollte zu seinem Wagen zurückgehen, als er das Schild auf der anderen Straßenseite sah. Zuerst glaubte er - wahrscheinlich weil seine Augen noch tränten -, es besage HAARVERLÄNGERUNG. Dann blinzelte er und sah, dass dort in Wirklichkeit FAIRE VERLÄNGERUNG stand. Und darunter in kleinerer Schrift: FAIRER PREIS.
Faire Verlängerung, fairer Preis. Das klang gut und irgendwie auch vernünftig.
Jenseits der Fahrbahn, außerhalb des Metallzauns, mit dem der County Airport eingezäunt war, erstreckte sich ein breiter Kiesstreifen. Dort bauten viele Leute tagsüber, wenn die Straße befahren war, alle möglichen Stände auf, weil
Nun, Krebs machte keinen Unterschied, was Geistesgaben betraf. Ob clever oder dumm, er würde bald den Platz verlassen und seinen Spielerdress ausziehen müssen.
Wo einst der Schneemann seine Ware ausgelegt hatte, war ein Kartentisch aufgestellt. Den hinter ihm sitzenden pummeligen Mann schützte ein großer gelber Schirm, der keck schräg gestellt war, vor den Strahlen der rot untergehenden Sonne.
Streeter stand eine Minute lang vor seinem Wagen, wäre fast wieder eingestiegen (der pummelige Mann achtete nicht auf ihn; er schien sich auf einem kleinen tragbaren Fernseher etwas anzusehen), aber dann siegte seine Neugier doch. Er sah nach links und rechts, sah kein Auto kommen - die Verlängerung war um diese Zeit wie erwartet wie tot, weil alle Pendler zu Hause beim Abendessen saßen und es für
Der pummelige Mann sah auf. »Hallo«, sagte er. Bevor er den Fernseher ausschaltete, sah Streeter noch, dass der Kerl sich die Nachrichtensendung Inside Edition angesehen hatte. »Wie geht’s uns heute Abend?«
»Na ja, was mit Ihnen ist, weiß ich nicht, aber mir ist es schon besser gegangen«, sagte Streeter. »Bisschen spät, um etwas zu verkaufen, oder? Außer in der Hauptverkehrszeit herrscht hier kaum Verkehr. Wir sind hier nämlich auf der Rückseite des Airports. Hier wird nur Fracht angeliefert. Fluggäste fahren über die Witcham Street an.«
»Ja«, sagte der pummelige Mann, »aber leider verbietet der Flächennutzungsplan kleine Straßenstände wie meinen auf der belebten Seite des Flughafens.« Er schüttelte den Kopf über die Ungerechtigkeit der Welt. »Ich wollte um sieben Schluss machen und heimfahren, aber ich hatte das Gefühl, dass noch ein potenzieller Kunde vorbeikommen könnte.«
Streeter begutachtete den Tisch, sah nichts, was zu verkaufen war (außer vielleicht der Fernseher), und lächelte. »Ich kann nicht wirklich ein Kunde sein, Mr. …?«
»George Elvid«, sagte der pummelige Mann. Er stand auf und streckte eine ebenso pummelige Hand aus.
Streeter schüttelte sie. »Dave Streeter. Und ich kann nicht wirklich ein Kunde sein, weil ich keine Ahnung habe, was Sie verkaufen. Auf den ersten Blick habe ich gedacht, auf dem Schild stünde Haarverlängerung.«
»Wünschen Sie denn eine Haarverlängerung?«, fragte Elvid und musterte ihn kritisch. »Das frage ich, weil Ihres schütter zu werden scheint.«
»Bald ist es ganz weg«, sagte Streeter. »Ich mache eine Chemo.«
»Du meine Güte. Das tut mir leid.«
»Danke. Was eine Chemo allerdings nutzen soll, wenn …« Er zuckte mit den Achseln. Irgendwie staunte er darüber, wie leicht es war, solche Dinge einem Fremden anzuvertrauen. Er hatte noch nicht einmal seine Kinder eingeweiht, obwohl Janet natürlich Bescheid wusste.
»Keine großen Chancen?«, fragte Elvid. In seiner Stimme lag einfaches Mitgefühl - nicht mehr und nicht weniger -, und Streeter spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Vor Janet zu weinen war ihm entsetzlich peinlich, und er hatte es nur zweimal getan. Hier, vor diesem Fremden, schien das in Ordnung zu sein. Trotzdem zog er sein Taschentuch aus der Hüfttasche und fuhr sich damit über die Augen. Über dem Flugplatz setzte jetzt ein Sportflugzeug zur Landung an. Vor der roten Sonne wirkte seine Silhouette wie ein schwebendes Kruzifix.
»Gar keine Chance, heißt es«, sagte Streeter. »Also ist die Chemo wohl nur … ich weiß nicht …«
»Augenwischerei?«
Streeter lachte. »Genau das ist sie!«
»Vielleicht sollten Sie daran denken, die Chemo gegen zusätzliche Schmerzmittel einzutauschen. Sie könnten aber auch einen kleinen Handel mit mir abschließen.«
»Wie ich anfangs schon gesagt habe, kann ich nicht wirklich ein Kunde sein, bevor ich weiß, was Sie verkaufen.«
»Na ja, die meisten Leute würden es Schlangenöl nennen«, sagte Elvid lächelnd und wippte hinter seinem Tisch auf den Fußballen. Streeter beobachtete mit gewisser Faszination, dass sein Schatten so lang und krank aussah wie sein eigener, obwohl George Elvid doch pummelig war. Aber wahrscheinlich sah jedermanns Schatten kurz vor Sonnenuntergang krank aus - vor allem im August, wenn das Ende der Tage sich schleichend lange hinauszog und irgendwie nicht ganz angenehm war.
»Ich sehe keine Fläschchen«, sagte Streeter.
Elvid stützte alle zehn Finger auf den Tisch, lehnte sich darauf und wirkte plötzlich geschäftsmäßig. »Ich verkaufe Verlängerungen«, sagte er.
»Was den Namen dieser Straße als hübschen Zufall erscheinen lässt.«
»So habe ich’s noch nie betrachtet, aber wahrscheinlich haben Sie recht. Obwohl manchmal eine Zigarre nur eine Zigarre und ein Zufall nur ein Zufall ist. Jeder will eine Verlängerung, Mr. Streeter. Wären Sie eine junge Frau, die Shopping liebt, würde ich Ihnen eine Kreditverlängerung anbieten. Wären Sie ein Mann mit einem kleinen Penis - Vererbung kann so grausam sein -, würde ich Ihnen eine Pimmelverlängerung anbieten.«
Streeter fand diese Direktheit erstaunlich und erheiternd. Erstmals seit einem Monat - seit der Diagnose - vergaß er, dass er an einer aggressiven und sich rasend schnell ausbreitenden Krebsart litt. »Sie scherzen.«
»Oh, ich bin ein großer Scherzbold, aber übers Geschäft mache ich keine Witze. Ich habe zu meiner Zeit Dutzende von Pimmelverlängerungen verkauft und war in Arizona eine Zeit lang als El Pene Grande bekannt. Ich bin ganz ehrlich, aber zum Glück bin ich weder darauf angewiesen noch erwarte ich, dass Sie das glauben. Kleine Männer wollen oft eine Körperverlängerung. Würden Sie mehr Haar wollen, Mr. Streeter, wäre ich sehr gern bereit, Ihnen eine Haarverlängerung zu verkaufen.«
»Könnte ein Mann mit großer Nase - Sie wissen schon, wie Jimmy Durante - eine kleinere bekommen?«
Elvid schüttelte lächelnd den Kopf. »Jetzt scherzen Sie. Die Antwort lautet nein. Wenn Sie eine Verkleinerung brauchen, müssen Sie anderswo hingehen. Ich bin nur auf Verlängerungen spezialisiert, ein sehr amerikanisches Produkt. Ich habe Liebesverlängerungen, manchmal Liebestränke
Streeter grinste amüsiert. Eigentlich waren derartige Späße für ihn jetzt außer Reichweite, aber das Leben war voller Überraschungen.
Elvid grinste ebenfalls, als wäre dies ein ausgezeichneter Witz, den sie sich teilten. »Und einmal«, sagte er, »habe ich für einen Maler - sehr begabter Mann -, der dabei war, in paranoide Schizophrenie abzurutschen, eine Realitätsverlängerung bewirkt. Die war teuer.«
»Wie teuer? Darf ich das fragen?«
»Eines seiner Gemälde, das jetzt mein Heim schmückt. Sie würden den Namen kennen; ein berühmter italienischer Renaissancemaler. Sie haben ihn vermutlich studiert, falls Sie im College einen Kurs in Kunstbetrachtung belegt hatten.«
Streeter grinste weiter, machte aber vorsichtshalber einen Schritt rückwärts. Er hatte die Tatsache akzeptiert, dass er sterben musste, aber das bedeutete nicht, dass er das heute, unter den Händen eines Kerls, der vielleicht aus der Irrenanstalt Juniper Hill in Augusta - wo geistesgestörte Straftäter einsaßen - ausgebrochen war, tun wollte. »Was soll das also heißen? Dass Sie sozusagen … ich weiß nicht … unsterblich sind?«
»Jedenfalls sehr langlebig«, sagte Elvid. »Was uns zu dem bringt, was ich für Sie tun könnte, glaube ich. Sie hätten vermutlich gern eine Lebensverlängerung.«
»Nicht zu machen, wie?«, sagte Streeter. In Gedanken berechnete er die Entfernung zu seinem Wagen und wie lange er brauchen würde, um ihn zu erreichen.
»Natürlich ist das zu machen … aber es hat seinen Preis.«
Streeter, der früher ein begeisterter Scrabble-Spieler gewesen war, hatte sich die Buchstaben von Elvids Namen bereits auf Spielsteinen vorgestellt und neu angeordnet. »Geld? Oder reden wir von meiner Seele?«
Elvid winkte mit einer Hand ab und begleitete die Geste mit einem schelmischen Augenrollen. »Ich würde, wie man so sagt, eine Seele nicht erkennen, wenn sie mich in den Hintern bisse. Nein, wie so häufig ist Geld die Antwort. Fünfzehn Prozent Ihres Einkommens in den kommenden fünfzehn Jahren müssten reichen. Als Vermittlungsgebühr, könnte man sagen.«
»Das wäre die Dauer meiner Verlängerung?« Streeter überdachte die Idee, noch fünfzehn Jahre länger leben zu können, mit wehmütiger Gier. Das erschien ihm wie eine sehr lange Zeit, vor allem wenn er sie mit dem verglich, was ihm tatsächlich bevorstand: sechs Monate Erbrechen, zunehmende Schmerzen, Koma, Tod. Dazu ein Nachruf, in dem zweifellos die Phrase »nach langem, tapferem Kampf gegen den Krebs« stehen würde. Yada-yada, wie sie bei Seinfeld sagten.
Elvid hob die Hände mit einer überschwänglichen Werweiß-Geste bis in Schulterhöhe. »Könnten auch zwanzig sein. Lässt sich nicht bestimmt voraussagen; es handelt sich hier um keine exakte Wissenschaft. Aber wenn Sie Unsterblichkeit erwarten, vergessen Sie’s. Ich verkaufe nur eine faire Verlängerung. Das Beste, was ich tun kann.«
»Genügt mir«, sagte Streeter. Der Kerl hatte ihn aufgeheitert, und wenn er einen Stichwortgeber für seine Gags brauchte, war Streeter ihm gern gefällig. Jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Noch immer lächelnd, streckte er die Rechte über den Tisch aus. »Fünfzehn Prozent, fünfzehn Jahre. Obwohl ich Ihnen sagen muss, dass Sie mit
»Das ist noch nicht alles«, sagte Elvid.
»Natürlich nicht«, sagte Streeter. Er seufzte und zog die Hand zurück. »Mr. Elvid, es war sehr nett, mit Ihnen zu plaudern, Sie haben mich aufgeheitert, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, und ich hoffe, dass Sie Hilfe bei Ihren psychischen Proble…«
»Still, Sie dummer Kerl!«, sagte Elvid, und obwohl er weiter lächelte, hatte das jetzt nichts Angenehmes mehr an sich. Er wirkte plötzlich größer - mindestens eine Handbreit größer - und nicht mehr so pummelig.
Es ist das Licht, dachte Streeter. Das Licht bei Sonnenuntergang kann täuschen. Und der unangenehme Geruch, der ihm plötzlich auffiel, war vermutlich nur verbranntes Kerosin, das ein zufälliger Windhauch zu diesem kleinen mit Kies bestreuten Platz außerhalb des Metallzauns hinübergetragen hatte. Das klang alles vernünftig … aber er schwieg wie angewiesen.
»Wozu braucht ein Mann oder eine Frau eine Verlängerung? Haben Sie sich das schon mal gefragt?«
»Natürlich habe ich das«, sagte Streeter mit einem Anflug von Schroffheit. »Ich arbeite bei einer Bank, Mr. Elvid - Derry Savings. Kunden bitten mich dauernd, ihre Kredite zu verlängern.«
»Dann wissen Sie, dass Leute Verlängerungen brauchen, um Defizite zu kompensieren - kurzfristige Geldverlegenheit, kurzer Pimmel, Kurzsichtigkeit et cetera.«
»Genau, wir leben in einer kleinärschigen Welt«, sagte Streeter.
»Ganz recht. Aber sogar Dinge, die nicht da sind, haben Gewicht. Negatives Gewicht, was die schlimmste Sorte ist. Gewicht, das von Ihren Schultern genommen wird, muss Psychische Physik, könnte man sagen.«
Streeter studierte Elvid fasziniert. Der vorübergehende Eindruck, der Mann sei größer (und lasse beim Lächeln zu viele Zähne sehen), war verschwunden. Es war nur ein kleiner pummeliger Mann, der wahrscheinlich die grüne Karte eines ambulanten Patienten in Juniper Hill oder im Acadia Mental Health in seiner Geldbörse hatte. Falls er eine Geldbörse hatte. Aber er hatte auch eine äußerst detaillierte Landschaft aus Wahnvorstellungen in seinem Kopf, die ein faszinierendes Studienobjekt war. Vielleicht nur deshalb, weil das Ende des Tages mit seiner Flut aus rotem Licht so seltsam schwebend erschien.
»Kann ich zur Sache kommen, Mr. Streeter?«
»Bitte.«
»Sie müssen die Last verlagern. Ganz einfach gesagt: Sie müssen jemanden ins Unglück stürzen, wenn das Unglück
von Ihnen genommen werden soll.«
»Ich verstehe.« Und das tat er. Elvid sprach wieder verständlich, und seine Botschaft war ein Klassiker.
»Aber es kann nicht einfach irgendwer sein. Das alte anonyme Opfer ist versucht worden, aber es funktioniert nicht. Es muss jemand sein, den Sie hassen. Gibt es jemanden, den Sie hassen, Mr. Streeter?«
»Ich bin nicht allzu begeistert von Kim Jong-il«, sagte Streeter. »Und ich finde, dass für die Schweine, die den Anschlag auf die USS Cole verübt haben, eine Haftstrafe viel zu gut ist, aber sie werden wohl nie …«
»Ernsthaft oder fort mit Ihnen«, sagte Elvid und wirkte wieder größer. Streeter fragte sich, ob das irgendeine verrückte Nebenwirkung seiner Medikamente sein konnte.
»Wenn Sie mein Privatleben meinen, da hasse ich niemanden. Es gibt Leute, die ich nicht besonders mag - Mrs. Denbrough von nebenan stellt ihre Mülltonne immer
»Wenn ich den verstorbenen Dino Martino mal falsch zitieren darf, Mr. Streter, hasst jedermann irgendwann einmal jemanden.«
»Will Rogers hat gesagt …«
»Er war ein Lasso schwingender Hochstapler, der seinen Hut tief in die Stirn gedrückt getragen hat wie ein kleiner Junge, der Cowboy spielt. Aber wenn sie wirklich niemanden hassen, können wir nicht ins Geschäft kommen.«
Streeter dachte darüber nach. Er starrte seine Schuhspitzen an und sprach mit dünner Stimme, die er kaum als seine eigene erkannte. »Vermutlich hasse ich Tom Goodhugh.« Obwohl es dabei in Wirklichkeit kein vermutlich gab.
»Wer ist er in Ihrem Leben?«
Streeter seufzte. »Seit der Grundschule mein bester Freund.«
Nun folgte kurzes Schweigen, bevor Elvid schallend laut zu lachen begann. Er stürzte hinter dem Kartentisch hervor, klopfte Streeter auf den Rücken (mit einer Hand, die sich kalt anfühlte, und Fingern, die lang und dünn statt kurz und pummelig zu sein schienen), dann ging er mit großen Schritten zu seinem Klappstuhl zurück. Er ließ sich hineinfallen, prustete und grölte weiter. Sein Gesicht war puterrot, und auch die Lachtränen, die ihm übers Gesicht liefen, sahen im Licht der untergehenden Sonne rot - tatsächlich blutig - aus.
»Seit der Grund… Ihr bester … Oh, das ist …«
Elvid konnte sich nicht länger beherrschen. Er brach in Lachsalven und Freudengeheul und Lachkrämpfe aus, die seinen Wanst beben ließen, wobei sein Kinn (eigenartig spitz für ein so rundliches Gesicht) vor dem unschuldigen (aber dunkler werdenden) Sommerhimmel auf und ab wippte. Schließlich gewann er die Selbstbeherrschung wieder.
»Das ist ausgezeichnet, Mr. Streeter«, sagte er. »Wir können ins Geschäft kommen.«
»He, das ist großartig«, sagte Streeter und machte einen weiteren Schritt rückwärts. »Ich genieße meine fünfzehn zusätzlichen Jahre schon jetzt. Aber ich parke auf dem Radweg, und das ist strafbar. Dafür könnte ich einen Strafzettel bekommen.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte Elvid. »Wie Sie vielleicht gemerkt haben, ist hier kein einziges ziviles Fahrzeug vorbeigekommen, seit wir zu feilschen begonnen haben - von einem Gesetzeshüter ganz zu schweigen. Der Verkehr stört nie, wenn ich mit einem ernsthaften Menschen ernstlich zu verhandeln beginne; dafür sorge ich.«
Streeter sah sich unbehaglich um. Es stimmte. Er konnte drüben auf der Witcham Street zwar den Verkehr hören, der zum Upmile Hill unterwegs war, aber hier war Derry völlig verlassen. Natürlich, sagte er sich, ist der hiesige Verkehr nach Büroschluss immer schwach.
Aber abwesend? Völlig abwesend? Das würde man um Mitternacht erwarten, aber nicht um halb acht Uhr abends.
»Erzählen Sie mir, weshalb Sie Ihren besten Freund hassen«, forderte Elvid ihn auf.
Streeter erinnerte sich daran, dass dieser Mann verrückt war. Was Elvid vielleicht weitererzählte, würde kein Mensch glauben. Das war ein befreiender Gedanke.
»Tom hat besser ausgesehen, als wir Jungen waren, und er sieht jetzt viel besser aus. Er war in drei Schulmannschaften; der einzige Sport, in dem ich auch nur einigermaßen gut bin, ist Minigolf.«
»Ich glaube nicht, dass es dafür Cheerleaderformationen gibt«, sagte Elvid.
Streeter lächelte grimmig und erwärmte sich allmählich für sein Thema. »Tom ist echt clever, aber er war in der Derry High stinkfaul. Seine Ambitionen, aufs College zu gehen, waren gleich null. Aber wenn seine Noten so schlecht wurden, dass ihm der Ausschluss aus Schulmannschaften drohte, ist er in Panik geraten. Und wer sollte ihm dann helfen?«
»Sie!«, rief Elvid aus. In seiner Stimme schwang joviales Bedauern mit. »Der alte Mr. Zuverlässig. Sie haben ihm Nachhilfe gegeben, was? Vielleicht ein paar Arbeiten selbst geschrieben? Darauf geachtet, die Wörter falsch zu schreiben, die Toms Lehrer bei ihm falsch geschrieben zu sehen erwarteten?«
»Schuldig im Sinne der Anklage. In der Abschlussklasse - in dem Jahr, in dem Tom in Maine als Sportler des Jahres ausgezeichnet wurde - war ich in Wirklichkeit zwei Schüler: Dave Streeter und Tom Goodhugh.«
»Schlimm.«
»Wissen Sie, was noch schlimmer war? Ich hatte damals eine Freundin. Eine Schönheit namens Norma Witten. Dunkelbraunes Haar, ebensolche Augen, makelloser Teint, wundervolle Backenknochen …«
»Traumhafter Busen …«
»In der Tat. Aber vom Sex-Appeal abgesehen …«
»Nicht dass Sie jemals dagegen immun gewesen wären.«
»… habe ich dieses Mädchen geliebt. Wissen Sie, was Tom getan hat?«
»Sie Ihnen gestohlen!«, sagte Elvid empört.
»Korrekt. Die beiden sind sogar zu mir gekommen und haben mir alles gestanden, stellen Sie sich das mal vor.«
»Wie edel!«
»Haben behauptet, sie wären machtlos dagegen gewesen.«
»Haben behauptet, es wäre Liebe, L-I-E-B-E.«
»Ja. Naturgewalt. Diese Sache ist stärker als wir. Und so weiter.«
»Lassen Sie mich raten. Er hat ihr ein Kind gemacht.«
»Ja, das hat er.« Streeter betrachtete wieder seine Schuhe und erinnerte sich an einen bestimmten Rock, den Norma im vorletzten Schuljahr getragen hatte. Er war so geschnitten gewesen, dass er ein kleines Stück des Slips darunter hatte sehen lassen. Das war fast dreißig Jahre her, aber wenn Janet und er sich liebten, rief er sich manchmal dieses Bild ins Gedächtnis zurück. Norma hatte er nie richtig geliebt - jedenfalls nicht bis zum Letzten; das hatte sie ihm verweigert. Aber für Tom Goodhugh war sie gern bereit gewesen, ihr Höschen auszuziehen. Bestimmt gleich beim ersten Mal, als er es verlangt hat.
»Und hat sie schwanger sitzenlassen.«
»Nein.« Streeter seufzte. »Er hat sie geheiratet.«
»Und sich dann scheiden lassen! Vielleicht nachdem er sie grün und blau geschlagen hatte?«
»Noch schlimmer. Sie sind weiterhin verheiratet. Drei Kinder. Wenn man sie im Bassey Park spazieren gehen sieht, halten sie meistens Händchen.«
»Das ist ungefähr die beschissenste Story, die ich je gehört habe. Schlimmer könnte es kaum kommen. Es sei denn…« Elvid sah unter buschigen Augenbrauen hervor scharfsinnig zu Streeter auf. »Es sei denn, Sie müssten feststellen, dass Sie im Eisberg einer lieblosen Ehe eingefroren sind.«
»Durchaus nicht«, sagte Streeter, den diese Vorstellung überraschte. »Ich liebe Janet sehr, und sie liebt mich. Wie sie mir bei dieser Krebssache beigestanden hat, ist ganz außergewöhnlich. Falls es im Universum so etwas wie Harmonie gibt, haben Tom und ich die richtigen Partnerinnen gefunden. Unbedingt. Aber …«
»Aber?« Elvid sah mit entzücktem Eifer zu ihm auf. Streeter spürte, wie seine Fingernägel sich in die Handflächen gruben. Statt nachzulassen, verstärkte er den Druck Scheißkerl hat sie mir gestohlen!« Das nagte seit Jahren an ihm, und es war ein gutes Gefühl, diese Tatsache hinauszuschreien.
»Das hat er in der Tat, und wir hören nie auf, das Gewünschte zu begehren, ob das nun gut für uns ist oder nicht. Finden Sie nicht auch, Mr. Streeter?«
Streeter gab keine Antwort. Er atmete keuchend wie ein Mann, der gerade einen Fünfzigmeterspurt hingelegt hatte oder in eine Rangelei auf der Straße verwickelt gewesen war. Auf seinen zuvor blassen Wangen waren kleine rote hektische Flecken erschienen.
»Und ist das alles?« Elvid sprach im Tonfall eines gütigen Gemeindepfarrers.
»Nein.«
»Dann heraus damit. Drücken Sie dieses Geschwür aus.«
»Er ist Millionär. Er sollte keiner sein, aber er ist einer. Ende der Achtzigerjahre - nicht lange nach der Flut, die diese Stadt fast weggeschwemmt hat - hat er ein Müllabfuhrunternehmen gegründet … nur hat er es Abfallentsorgung und Recycling genannt. Ein netterer Name, wissen Sie.«
»Keimfreier.«
»Er ist zu mir gekommen, um ein Darlehen zu beantragen, und obwohl sein Geschäftsmodell niemanden in der Bank überzeugt hat, habe ich durchgesetzt, dass er den Kredit bekam. Wissen Sie, weshalb ich ihn durchgedrückt habe, Elvid?«
»Natürlich! Weil er Ihr Freund ist!«
»Raten Sie noch mal.«
»Weil Sie hofften, er würde abstürzen und verbrennen.«
»Richtig. Er hat seine gesamten Ersparnisse in vier Müllwagen gesteckt und eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen, um ein Stück Land an der Stadtgrenze von Newport
»Sagen Sie’s mir!«
»Mount Trashmore! Sie ist riesig! Mich würde es nicht wundern, wenn sie radioaktiv verseucht wäre! Sie ist mit Rasen abgedeckt, aber überall stehen BETRETEN VERBOTEN-Schilder, und wahrscheinlich gibt es unter all dem hübschen grünen Gras ein Ratten-Manhattan! Wahrscheinlich sind die auch radioaktiv!«
Er verstummte, weil er merkte, wie lächerlich das klang, machte sich jedoch nichts daraus. Elvid war verrückt, aber … welch Überraschung! Auch Streeter hatte sich als verrückt erwiesen! Zumindest in Bezug auf seinen alten Freund. Und …
In cancer veritas, dachte Streeter.
»Rekapitulieren wir also.« Elvid begann die Punkte an seinen Fingern abzuzählen, die überhaupt nicht lang, sondern so kurz, pummelig und harmlos waren wie seine ganze Erscheinung. »Tom Goodhugh hat schon als kleiner Junge besser ausgesehen als Sie. Er war in einem Maß sportlich begabt, von dem Sie nur träumen konnten. Das Mädchen, das seine glatten weißen Schenkel auf dem Rücksitz Ihres Autos geschlossen gehalten hat, hat sie für Tom geöffnet. Er hat es geheiratet. Sie lieben sich noch immer. Mit den Kindern alles okay?«
»Gesund und ansehnlich!«, knurrte Streeter. »Die Tochter heiratet bald, ein Junge studiert, der andere ist auf der Highschool! Und ist Kapitän des Footballteams! Ganz der gottverdammte Vater!«
»Richtig. Und - die Kirsche auf dem Sahnehäubchen - er ist reich, und Sie müssen sich mit einem Jahresgehalt von sechzigtausend oder so ähnlich durchschlagen.«
»Für die Kreditgewährung an ihn habe ich einen Bonus bekommen«, murmelte Streeter. »Weil ich Weitblick bewiesen habe.«
»Aber was Sie wirklich wollten, war eine Beförderung.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin jetzt Geschäftsmann, aber früher war ich ein bescheidener Gehaltsempfänger. Bin rausgeflogen, bevor ich mich selbstständig gemacht habe. Das Beste, was mir je passiert ist. Ich weiß genau, wie so etwas läuft. Sonst noch was? Am besten reden Sie sich gleich alles von der Seele.«
»Er trinkt Spotted Hen Microbrew!«, rief Streeter aus. »Kein Mensch in Derry trinkt dieses Angeberbier! Nur er! Nur Tom Goodhugh, der Müllkönig!«
»Hat er einen Sportwagen?« Elvid sprach ruhig; seine Worte klangen wie mit Seide ausgeschlagen.
»Nein. Hätte er einen, könnten Janet und ich wenigstens Witze über seine Sportwagen-Menopause machen. Er fährt einen gottverdammten Range Rover.«
»Ich vermute, es könnte noch etwas geben«, sagte Elvid. »Dann sollten Sie sich das auch gleich von der Seele reden.«
»Er hat keinen Krebs«, flüsterte Streeter. »Er ist einundfünfzig, genau wie ich, und gesund wie … wie ein gottverdammtes … Pferd.«
»Das sind Sie auch«, sagte Elvid.
»Was?«
»Die Sache ist erledigt, Mr. Streeter. Oder darf ich Dave zu Ihnen sagen, nachdem ich Ihren Krebs zumindest vorübergehend geheilt habe?«
»Sie sind total verrückt«, sagte Streeter - nicht ohne Bewunderung.
»Nein, Sir. Ich bin so normal wie eine Gerade. Aber beachten Sie, dass ich vorübergehend gesagt habe. Wir befinden uns jetzt in der ›Kauf auf Probe‹-Phase unserer Beziehung. Sie dauert eine Woche, vielleicht zehn Tage. Ich rate Ihnen dringend, Ihren Arzt aufzusuchen. Ich denke, er wird feststellen, dass Ihr Zustand sich erstaunlich gebessert hat. Aber die Besserung ist nicht von Dauer. Es sei denn …«
»Es sei denn?«
Elvid beugte sich nach vorn und lächelte kumpelhaft. Seine Zähne schienen wieder zu zahlreich (und zu groß) für seinen harmlosen Mund zu sein. »Ich komme gelegentlich hierher«, sagte er. »Meistens um diese Tageszeit.«
»Kurz vor Sonnenuntergang.«
»Genau. Die meisten Leute bemerken mich nicht - sie sehen durch mich hindurch, als wäre ich nicht da -, aber Sie halten Ausschau nach mir. Nicht wahr?«
»Wenn es mir bessergeht, bestimmt«, sagte Streeter.
»Und Sie bringen mir etwas mit.«
Elvids Lächeln wurde breiter, und Streeter sah etwas erschreckend Wunderbares: Seine Zähne waren nicht nur zu groß oder zu zahlreich. Sie waren spitz.
Als er zurückkam, legte Janet im Hauswirtschaftsraum Wäsche zusammen. »Da bist du ja«, sagte sie. »Ich hab schon angefangen, mir Sorgen zu machen. War deine Ausfahrt schön?«
»Ja«, sagte er. Er betrachtete seine Küche. Sie sah verändert aus. Sie sah wie eine Küche in einem Traum aus. Dann machte er Licht, und das war besser. Elvid war der Traum.
Sie kam zu ihm und küsste ihn auf die Wange. Sie war vom Bügeln erhitzt und sehr hübsch. Sie war selbst fünfzig, sah aber Jahre jünger aus. Streeter glaubte, sie werde nach seinem Tod ein gutes Leben führen. Er vermutete, May und Justin könnten in Zukunft einen Stiefpapa bekommen.
»Du siehst gut aus«, sagte sie. »Du hast tatsächlich etwas Farbe bekommen.«
»Wirklich?«
»Aber sicher.« Sie bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln, das dicht unter der Oberfläche sorgenvoll war. »Komm und unterhalte mich, während ich den Rest zusammenlege. Das ist so langweilig.«
Er folgte ihr und blieb in der Tür des Hauswirtschaftsraums stehen. Wohlweislich erbot er sich nicht, ihr zu helfen; sie behauptete immer, er lege sogar Geschirrtücher falsch zusammen.
»Justin hat angerufen«, erzählte sie. »Carl und er sind in Venedig. In der Jugendherberge. Mit Englisch kommen sie überall gut durch. Sie haben eine Menge Spaß.«
»Großartig.«
»Es war richtig, dass du die Diagnose für dich behalten hast«, sagte sie. »Du hattest recht, und ich hatte unrecht.«
»Zum ersten Mal in unserer Ehe.«
Sie rümpfte die Nase. »Jus hat sich so auf diese Reise gefreut. Aber wenn er zurückkommt, wirst du den Kindern reinen Wein einschenken müssen. May kommt aus Searsport zu Gracies Hochzeit, und das wäre ein guter Zeitpunkt.« Gracie war Gracie Goodhugh, Toms und Normas Älteste. Carl Goodhugh, Justins Reisegefährte, war der Mittlere.
»Mal sehen«, sagte Streeter. Er hatte eine Spucktüte in der Hüfttasche, aber ihm war noch nie weniger nach Erbrechen Appetit. Erstmals seit Tagen.
Dort draußen ist nichts passiert - das weißt du, nicht wahr? Es handelt sich nur um eine kleine psychosomatische Au fheiterung. Die geht bald wieder zurück.
»Wie mein Haaransatz«, sagte er.
»Was, Schatz?«
»Nichts.«
»Oh, und weil wir gerade von Gracie sprechen … Norma hat angerufen. Sie hat mich daran erinnert, dass sie am Donnerstag dran sind, uns zum Abendessen bei sich einzuladen. Ich habe versprochen, dich zu fragen, aber gleich gesagt, dass du in der Bank schrecklich viel zu tun hast und wegen der vielen geplatzten Hypotheken ständig Überstunden machst. Ich dachte, du würdest sie nicht sehen wollen.«
Ihre Stimme klang ruhig und normal wie immer, aber plötzlich begann sie große Bilderbuchtränen zu weinen, die aus ihren Augen quollen und ihr dann über die Wangen kullerten. Nach vielen Ehejahren konnte Liebe eintönig werden, aber seine schwoll jetzt wieder so frisch an, wie sie anfangs gewesen war, als sie in einer schäbigen Mietswohnung in der Kossuth Street gelebt und sich manchmal auf dem Teppich im Wohnzimmer geliebt hatten. Er trat ins Bügelzimmer, nahm ihr das Hemd, das sie zusammenlegte, aus den Händen und umarmte sie. Sie erwiderte seine Umarmung heftig.
»Dies ist einfach so hart und unfair«, sagte sie. »Aber wir stehen das durch. Ich weiß nicht, wie, aber wir schaffen es.«
»Richtig! Und wir fangen damit an, dass wir am Donnerstag wie immer bei Tom und Norma zu Abend essen.«
Sie trat einen halben Schritt zurück und sah ihn mit nassen Augen an. »Willst du es ihnen etwa erzählen?«
»Und allen den Abend verderben? Ach was.«
»Kannst du überhaupt essen? Ohne …« Sie legte zwei Finger auf den geschlossenen Mund, blies die Backen auf und schielte dabei: eine komische Kotzpantomime, über die Streeter lächeln musste.
»Was am Donnerstag ist, weiß ich nicht, aber jetzt könnte ich etwas vertragen«, sagte er. »Stört es dich, wenn ich mir einen Hamburger grille? Ich könnte natürlich auch zum McDonald’s fahren … und dir vielleicht einen Schokoladenshake mitbringen …«
»Mein Gott«, sagte sie und fuhr sich über die Augen. »Ich erlebe ein Wunder.«
»Als ein Wunder würde ich das nicht gerade bezeichnen«, erklärte Dr. Henderson Streeter am Mittwochnachmittag. »Aber …«
Es war zwei Tage her, dass Streeter unter Mr. Elvids gelbem Schirm über Fragen von Leben und Tod diskutiert hatte, und einen Tag vor dem wöchentlichen Dinner der Streeters mit den Goodhughs, das diesmal in der weitläufigen Villa stattfinden sollte, die Streeter für sich manchmal als das Herrenhaus aus Müll bezeichnete. Das Gespräch fand nicht in Dr. Hendersons Praxis statt, sondern in einem kleinen Sprechzimmer im Derry Home Hospital. Henderson hatte versucht, Streeter die Kernspintomographie mit dem Hinweis auszureden, seine Versicherung werde sie nicht bezahlen und das Ergebnis könne nur enttäuschend sein. Aber Streeter hatte darauf bestanden.
»Aber was, Roddy?«
»Die Tumoren scheinen geschrumpft zu sein, und deine Lunge ist nicht mehr befallen. So etwas habe ich noch nie gesehen - und die beiden Kollegen, die ich hinzugezogen habe, ebenfalls nicht. Noch wichtiger ist, aber das muss unter uns bleiben, dass der Techniker, der die Aufnahme
»Aber ich fühle mich gut«, sagte Streeter, »deshalb wollte ich doch auch diese Untersuchung. Handelt es sich wirklich um eine Fehlfunktion?«
»Musst du dich übergeben?«
»Immer mal wieder«, gab Streeter zu, »aber das kommt von der Chemo, glaube ich. Die beende ich übrigens ab sofort.«
Roddy Henderson runzelte die Stirn. »Das ist höchst unklug.«
»Unklug war es, überhaupt damit zu beginnen, mein Freund. Du hast gesagt: ›Sorry, Dave, die Wahrscheinlichkeit, dass du stirbst, bevor du jemandem einen schönen Valentinstag wünschen kannst, liegen bei über neunzig Prozent, deshalb werden wir dir die Zeit, die dir noch bleibt, dadurch verderben, dass wir dich mit Gift vollstopfen. Schlechter würdest du dich vielleicht fühlen, wenn ich dir Schlamm von Tom Goodhughs Mülldeponie injizieren würde, wahrscheinlich aber nicht.‹ Und ich habe wie ein Idiot Okay gesagt.«
Henderson machte ein beleidigtes Gesicht. »Chemo ist die letzte große Hoffnung für …«
»Erzähl mir keinen Scheiß«, sagte Streeter mit gutmütigem Grinsen. Er atmete tief durch und spürte den Sauerstoff ganz tief unten in seiner Lunge. Das fühlte sich wundervoll an. »Wenn der Krebs aggressiv ist, hilft die Chemo nicht dem Patienten. Sie ist nur ein Schmerzzuschlag, den der Patient entrichten muss, damit die Ärzte und Verwandten sich nach seinem Tod umarmen und sagen können: ›Wir haben getan, was wir konnten.‹«
»Ein hartes Urteil«, sagte Henderson. »Du weißt, dass ein Rückfall wahrscheinlich ist, oder?«
»Erzähl das den Tumoren«, sagte Streeter. »Denen, die nicht mehr da sind.«
Henderson betrachtete die Aufnahmen von Streeters Innerem, die weiter in Abständen von zwanzig Sekunden auf dem Bildschirm im Sprechzimmer erschienen, und seufzte. Die Aufnahmen waren gut, das wusste sogar Streeter, aber sie schienen seinen Arzt unglücklich zu machen.
»Nicht aufregen, Roddy.« Streeter sprach sanft, wie er früher vielleicht mit May oder Justin gesprochen hätte, wenn ein Lieblingsspielzeug verloren- oder kaputtging. »Scheiße passiert eben; manchmal gibt es auch Wunder. Das habe ich in Reader’s Digest gelesen.«
»Meines Wissens ist noch nie eines in einer MRI-Röhre passiert.« Henderson griff nach einem Kugelschreiber und tippte damit auf Streeters Krankenakte, die im vergangenen Vierteljahr erheblich angeschwollen war.
»Irgendwann passiert eben alles zum ersten Mal«, sagte Streeter.
Donnerstagabend in Derry; Abenddämmerung vor einer Sommernacht. Die untergehende Sonne warf ihre verträumten roten Strahlen über die perfekt angelegten, gemähten und bewässerten eineinviertel Hektar Land, die Tom Goodhugh »unser alter Garten hinter dem Haus« zu nennen die Frechheit besaß. Streeter saß in einem Gartensessel auf der Terrasse und hörte Geschirr klappern und Janet und Norma lachen, während sie den Geschirrspüler einräumten.
Garten? Das ist kein Garten; so stellt sich ein Shopping-Channel-Fan das Paradies vor.
Es gab sogar einen Brunnen, in dessen Mitte eine Kindergestalt aus Marmor stand. Irgendwie war es dieser Cherub mit nacktem Hintern (und natürlich pissend), der Streeters Auge am meisten beleidigte. Bestimmt war er Normas Idee gewesen - sie war noch mal auf dem College gewesen, um
Und wenn man vom Teufel sprach (oder vom Elvid, wenn einem das besser gefällt, dachte Streeter), trat der Müllkönig in Person auf - mit den Hälsen zweier Flaschen Spotted Hen Microbrew, auf denen Wasserperlen standen, zwischen den Fingern der linken Hand. Aufrecht und schlank in einem offenen gestreiften Hemd und verblichenen Jeans, sein schmales Gesicht von der sinkenden Sonne perfekt ausgeleuchtet, hätte Tom Goodhugh einer Anzeige für Bier entstiegen sein können. Streeter sah sogar den Werbetext vor sich: Leben Sie das gute Leben, greifen Sie nach einem Spotted Hen.
»Ich dachte, du würdest noch eines wollen, nachdem deine schöne Frau gesagt hat, dass sie fährt.«
»Danke.« Streeter nahm eine der Flaschen, setzte sie an die Lippen und trank. Angeberbier oder nicht, es war gut.
Als Goodhugh sich setzte, kam Jacob der Footballspieler mit einem Teller Käse und Crackern heraus. Er war so breitschultrig und gut aussehend, wie Tom damals gewesen war. Bestimmt sind alle Cheerleader scharf auf ihn, dachte Streeter. Wahrscheinlich muss er sie mit einem verdammten Stock abwehren.
»Mama denkt, die würdet ihr vielleicht wollen«, sagte Jacob.
»Danke, Jake. Fährst du weg?«
»Bloß für kurze Zeit. Will nur mit ein paar Jungs in die Barrens zum Frisbeespielen, bis es zu dunkel wird, danach lernen.«
»Bleibt auf dieser Seite. Drüben gibt es Giftefeu, seit der ganze Scheiß nachgewachsen ist.«
»Ist gut, das wissen wir. Denny hat es letztes Jahr erwischt, und bei ihm war es so schlimm, dass seine Mutter dachte, er hätte Krebs.«
»Autsch!«, sagte Streeter.
»Fahr vorsichtig, Sohn. Nicht rasen.«
»Versprochen.« Der Junge legte einen Arm um seinen Vater und küsste ihn mit einer Ungeniertheit auf die Wange, die Streeter deprimierend fand. Tom besaß nicht nur Gesundheit, eine noch immer hinreißende Frau und einen lachhaft großen Garten, in dem ein pissender Cherub stand; er hatte auch einen gut aussehenden achtzehnjährigen Sohn, der sich nichts dabei dachte, seinem Dad einen Abschiedskuss zu geben, bevor er mit seinen besten Kumpels loszog.
»Er ist ein guter Junge«, sagte Goodhugh liebevoll, während er zusah, wie Jacob die Stufen hinaufging und im Haus verschwand. »Lernt fleißig und schreibt gute Noten - anders als sein Alter. Zu meinem Glück hatte ich dich.«
»Zu unser beider Glück«, sagte Streeter. Er lächelte, tat ein Stück Brie auf ein Triscuit und schob es in den Mund.
»Tut mir gut, dich essen zu sehen, Kumpel«, sagte Goodhugh. »Norma und ich haben uns schon gefragt, ob mit dir irgendwas nicht in Ordnung ist.«
»Hab mich nie besser gefühlt«, sagte Streeter und trank noch etwas von dem wohlschmeckenden (und zweifellos teuren) Bier. »Aber ich habe vorn etwas Haar verloren. Jan sagt, dass ich dadurch dünner aussehe.«
»Das ist etwas, worüber sich die Ladys keine Sorgen zu machen brauchen«, sagte Goodhugh und fuhr sich mit einer Hand durch die eigenen Locken, die so voll und üppig wie damals mit achtzehn waren. Nicht mal im Geringsten grau meliert. An einem guten Tag konnte Janet Streeter wie vierzig aussehen, aber im roten Schein der untergehenden Sonne sah der Müllkönig wie Mitte dreißig aus. Er rauchte nicht, trank nur mäßig und hielt sich in einem Studio fit,
O Mann, der alles besitzt, dein Name ist Goodhugh, dachte Streeter und lächelte seinen alten Freund an.
Sein alter Freund erwiderte das Lächeln und berührte den Hals von Streeters Flasche mit dem seiner Bierflasche. »Das Leben ist gut, findest du nicht auch?«
»Sehr gut«, bestätigte Streeter. »Lange Tage und angenehme Nächte.«
Goodhugh zog die Augenbrauen hoch. »Wo hast du das her?«
»Weiß ich nicht mehr«, sagte Streeter. »Aber es stimmt, oder?«
»Wenn das stimmt, verdanke ich viele meiner angenehmen Nächte dir«, sagte Goodhugh. »Ich denke oft, alter Kumpel, dass ich dir mein Leben verdanke.« Er trank seinem parkartigen Garten zu. »Zumindest die Filetstücke.«
»Ach komm, du bist ein Selfmademan.«
Goodhugh senkte die Stimme und sprach in vertraulichem Ton weiter. »Willst du die Wahrheit hören? Die Frau hat diesen Mann gemacht. In der Bibel steht: ›Wer kann eine gute Frau finden? Denn ihr Preis steht über Rubinen.‹ Jedenfalls irgendwas in dieser Art. Und du hast uns miteinander bekanntgemacht. Weiß nicht, ob du dich daran erinnerst.«
Streeter erinnerte sich nicht nur daran, sondern hätte am liebsten die Bierflasche auf der Terrasse zerschlagen und den gezackten Hals seinem alten Freund in die Augen gerammt. Stattdessen lächelte er, trank noch einen kleinen Schluck und stand dann auf. »Muss mal wohin, glaube ich.«
»Bier kauft man nicht, man mietet es nur«, sagte Goodhugh ernst … dann brach er in Lachen aus. Als hätte er das ganz spontan selbst erfunden.
»Wahrere Worte et cetera«, sagte Streeter. »Entschuldige mich bitte.«
»Du siehst wirklich besser aus«, rief Goodhugh ihm nach, als Streeter die Stufen hinaufging.
»Danke«, sagte Streeter. »Alter Kumpel.«
Er schloss die Toilettentür, drückte den Verriegelungsknopf hinein, machte Licht und öffnete - zum ersten Mal in seinem Leben - das Medizinschränkchen im Haus anderer Leute. Der erste Gegenstand, auf den sein Blick fiel, munterte ihn gewaltig auf: eine Tube mit dem Shampoo Just for Men. Dahinter standen einige Medizinfläschchen.
Leute, die ihre Medikamente in einem Schränkchen im Gästeklo lassen, provozieren nur Ärger, dachte Streeter. Nicht dass etwas Sensationelles zu finden gewesen wäre: Norma hatte ein Asthmamedikament; Tom nahm ein Mittel gegen Bluthochdruck - Atenolol - und benutzte irgendeine Pflegecreme.
Das Atenolol-Fläschchen war halb voll. Streeter schüttelte eine Tablette heraus, steckte sie in die Uhrentasche seiner Jeans und betätigte die WC-Spülung. Als er die Toilette verließ, fühlte er sich wie ein Mann, der sich eben über die Grenze eines fremden Landes geschlichen hat.
Der folgende Abend war wolkig, aber George Elvid saß wieder unter dem gelben Schirm und sah sich auf seinem tragbaren Fernseher Inside Edition an. Der Aufmacher war eine Story über Whitney Houston, die verdächtig stark abgenommen hatte, kurz nachdem sie einen riesigen neuen Plattenvertrag unterschrieben hatte. Elvid tat dieses Gerücht ab, indem er mit den pummeligen Fingern schnalzte, und betrachtete Streeter lächelnd.
»Wie fühlen Sie sich, Dave?«
»Besser.«
»Ja?«
»Ja.«
»Erbrechen?«
»Heute nicht.«
»Hungrig?«
»Wie ein Wolf.«
»Und ich möchte wetten, dass Sie sich ärztlich haben untersuchen lassen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von einem erfolgreichen Bankmanager erwarte ich nichts weniger. Haben Sie mir etwas mitgebracht?«
Streeter überlegte einen Augenblick lang, ob er davongehen sollte. Das tat er ernsthaft. Aber dann griff er in die Tasche seiner leichten Jacke (der Abend war für August kühl, und er selbst war noch ziemlich dünn) und holte etwas in einem winzigen Kleenex-Quadrat heraus. Er zögerte, dann legte er es Elvid hin, der es auswickelte.
»Ah, Atenolol«, sagte Elvid. Er warf die Pille ein und schluckte sie.
Streeter öffnete den Mund und schloss ihn langsam wieder.
»Starren Sie mich nicht so schockiert an«, sagte Elvid. »Hätten Sie einen so stressreichen Job wie ich, hätten Sie auch Bluthochdruckprobleme. Und das Sodbrennen, das ich oft habe, oje. Das wollen Sie gar nicht wissen.«
»Was passiert jetzt?«, fragte Streeter. Trotz der Jacke fröstelte ihn.
»Jetzt?« Elvid wirkte überrascht. »Jetzt fangen Sie an, Ihre fünfzehn Jahre bei guter Gesundheit zu genießen. Vielleicht auch zwanzig oder sogar fünfundzwanzig. Wer weiß?«
»Und das mit dem Glück?«
Elvid warf ihm einen schelmischen Blick zu. Er hätte amüsant sein können, wäre die Kälte nicht gewesen, die Streeter gleich darunter wahrnahm. Und das Alter. In diesem Augenblick war er sich sicher, dass George Elvid schon sehr lange in dieser Branche war, Sodbrennen hin oder her. »Für den Glücksaspekt sind Sie selbst zuständig, Dave. Und natürlich Ihre Familie - Janet, May und Justin.«
Hatte er Elvid ihre Namen gesagt? Das wusste er nicht mehr.
»Vielleicht hauptsächlich die Kinder. Eine alte Redensart besagt, Kinder seien etwas, was einem das Schicksal nehmen kann, aber in Wirklichkeit nehmen Kinder ihre Eltern als Geiseln, das denke ich. Eines könnte bei einem Unfall auf einer einsamen Landstraße sterben oder schwer verletzt werden … einer heimtückischen Krankheit zum Opfer fallen …«
»Soll das heißen …«
»Nein, nein, nein! Das ist keine moralinsaure Fabel. Ich bin Geschäftsmann, keine Figur aus ›Der Teufel und Daniel Webster‹. Ich sage nur, dass Ihr Glück in Ihren Händen und denen Ihrer nächsten Angehörigen liegt. Und wenn Sie glauben, dass ich in zwei Jahrzehnten oder so auftauche, um Ihre Seele in meine schimmelige alte Brieftasche zu stecken, täuschen Sie sich gewaltig. Außerdem sind die Seelen der Menschen erbärmlich dünn und durchscheinend geworden.«
Er sprach, fand Streeter, wie der Fuchs, nachdem er festgestellt hatte, dass die Trauben wirklich unerreichbar waren. Aber Streeter hatte nicht die Absicht, das auszusprechen. Nachdem der Handel nun abgeschlossen war, wollte er möglichst schnell fort. Trotzdem blieb er noch, wollte die Frage, die ihm auf der Seele lag, nicht stellen, und wusste doch, dass er es würde tun müssen. Weil hier keine Gratisgeschenke verteilt wurden; Streeter, der langjährige Erfahrung
Ganz einfach gesagt: Sie müssen jemanden ins Unglück stürzen, wenn das Unglück von Ihnen genommen werden soll.
Aber eine einzige Pille gegen Bluthochdruck zu klauen hieß nicht gerade, einen Menschen ins Unglück zu stürzen. Oder doch?
Elvid klappte unterdessen energisch seinen großen Schirm zusammen. Und als er eingerollt war, fiel Streeter eine erstaunliche und entmutigende Tatsache auf: Er war überhaupt nicht gelb. Er war so grau wie der Himmel. Der Sommer war fast vorbei.
»Die meisten meiner Kunden sind völlig zufrieden, völlig glücklich. Wollten Sie das hören?«
Gewiss … und doch wieder nicht.
»Ich spüre, dass Sie noch eine relevante Frage haben«, sagte Elvid. »Wenn Sie eine Antwort wollen, müssen Sie aufhören, um den heißen Brei herumzuschleichen, und sie stellen. Es wird bald regnen, und ich will vorher unter Dach sein. Das Letzte, was ich in meinem Alter brauche, ist eine Bronchitis.«
»Wo ist Ihr Auto?«
»Oh, war das Ihre Frage?« Elvid verhöhnte ihn jetzt offen. Sein Gesicht war hager, nicht im Geringsten pummelig, und das Weiße der leicht schräg stehenden Augen ging außen in ein unangenehmes und - ja, so war es - krebsartiges Schwarz über. Er sah wie der halb abgeschminkte unfreundlichste Clown der Welt aus.
»Ihre Zähne«, sagte Streeter benommen. »Sie haben Spitzen.«
»Ihre Frage, Mr. Streeter?«
»Wird Tom Goodhugh Krebs bekommen?«
Elvid starrte ihn einen Augenblick an, dann fing er zu kichern an. Der Laut war keuchend, staubig und unangenehm - wie das Geräusch einer verstummenden Dampforgel.
»Nein, Dave«, antwortete er. »Tom Goodhugh bekommt keinen Krebs. Nicht er.«
»Was dann? Was?«
Die Verachtung, mit der Elvid ihn musterte, bewirkte, dass Streeters Knochen sich schwach anfühlten - als hätte irgendeine schmerzlose, aber schrecklich korrosive Säure Löcher in sie hineingefressen. »Was kümmert Sie das? Sie hassen ihn, das haben Sie selbst gesagt.«
»Aber …«
»Sehen Sie zu. Warten Sie ab. Genießen Sie. Und nehmen Sie das hier.« Er gab Streeter eine Geschäftskarte. Unter dem Namen ÜBERKONFESSIONELLER KINDERFONDS stand die Adresse einer Bank auf den Kaimaninseln.
»Steueroase«, sagte Elvid. »Dorthin überweisen Sie meine fünfzehn Prozent. Wenn Sie schummeln, kriege ich das raus. Und dann wehe Ihnen, Kiddo!«
»Was ist, wenn meine Frau dahinterkommt und Fragen stellt?«
»Ihre Frau hat ein eigenes Scheckbuch. Mehr interessiert sie nicht. Sie verlässt sich auf Sie. Habe ich recht?«
»Nun …« Streeter sah, ohne überrascht zu sein, dass die Regentropfen, die Elvids Hände und Arme trafen, zischend verdampften. »Ja.«
»Natürlich habe ich recht. Wir sind fertig miteinander. Verschwinden Sie, fahren Sie zu Ihrer Frau zurück. Sie haben sie weiß Gott nicht verdient, aber ich bin mir sicher, dass sie Sie mit offenen Armen empfangen wird. Gehen Sie mit ihr ins Bett. Stellen Sie sich vor, Sie würden die Frau Ihres besten Freundes bumsen. Sie haben sie nicht verdient, aber Sie sind ein Glückspilz.«
»Was wäre, wenn ich es zurücknehmen wollte?«, flüsterte Streeter.
Elvid bedachte ihn mit einem kalten Grinsen, das einen Ring aus spitzen Kannibalenzähnen sehen ließ. »Das können Sie nicht.«
Das war im August 2001, weniger als einen Monat vor dem Einsturz der Twin Towers.
Im Dezember (am selben Tag, an dem Winona Ryder wegen Ladendiebstahls festgenommen wurde) erklärte Dr. Roderick Henderson Dave Streeter offiziell für krebsfrei - und außerdem für ein echtes Wunder der Neuzeit.
»Ich weiß keine Erklärung dafür«, sagte Henderson.
Streeter wusste eine, hielt aber den Mund.
Dieses Gespräch fand in Hendersons Praxis statt. In dem kleinen Sprechzimmer im Derry Home Hospital, in dem Streeter die ersten Bilder seines auf wundersame Weise geheilten Körpers gesehen hatte, saß Norma Goodhugh auf demselben Stuhl und betrachtete weniger erfreuliche Schichtaufnahmen. Sie hörte benommen zu, als ihr Arzt ihr mitteilte - so schonend wie möglich -, der Knoten in ihrer linken Brust sei tatsächlich Krebs, der bereits die Lymphdrüsen erfasst habe.
»Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos«, sagte der Arzt und ergriff über den Tisch hinweg Normas kalte Hand. Er lächelte. »Wir sollten sofort mit der Chemotherapie beginnen.«
Im Juni des folgenden Jahres wurde Streeter endlich befördert. May Streeter wurde zum Graduiertenstudium an der Columbia School of Journalism zugelassen. Um beides zu feiern, holten Streeter und seine Frau einen lange verschobenen Urlaub auf Hawaii nach. Sie schliefen oft miteinander. An ihrem letzten Tag auf Maui rief Tom Goodhugh an.
»Wir sind für dich da«, versprach Streeter ihm.
Als er Janet die traurige Nachricht mitteilte, brach sie auf dem Bett zusammen und weinte mit vors Gesicht geschlagenen Händen. Streeter legte sich neben sie, hielt sie eng umarmt und dachte: Tja, wir wollten ohnehin heimfliegen. Und obwohl ihm Norma leidtat (und er Tom irgendwie bedauerte), hatte die Sache auch etwas Gutes: Sie hatten die Insektensaison verpasst, die in Derry scheußlich sein konnte.
Im Dezember schickte Streeter dem Überkonfessionellen Kinderfonds einen Scheck über etwas mehr als fünfzehntausend Dollar. In seiner Steuererklärung setzte er diesen Betrag als Spende ab.
Im Jahr 2003 schaffte Justin Streeter es an der Brown University auf die Liste des Dekans und erfand - nur so zum Spaß - ein Computerspiel, das er »Walk Fido Home« nannte. Zweck des Spiels war es, mit seinem angeleinten Hund aus dem Einkaufszentrum zurückzukommen und dabei Kamikazefahrern, Gegenständen, die von Balkonen im zehnten Stock fielen, und einer Horde verrückter alter Ladys auszuweichen, die sich Hundekiller-Omas nannten. Streeter erschien das als Witz (und Justin versicherte ihnen, es sei satirisch gemeint), aber Games, Inc., warf einen Blick darauf und zahlte ihrem gut aussehenden, gutmütigen Sohn eine dreiviertel Million Dollar für die Rechte. Plus Tantiemen. Jus kaufte seinen Eltern zwei identische Geländewagen Toyota Pathfinder, rosa für die Lady, blau für den Gentleman. Janet weinte und umarmte ihn und nannte ihn einen törichten, leichtsinnigen, großzügigen und absolut wundervollen Jungen. Streeter nahm ihn in Roxie’s
Im Oktober kam Carl Goodhughs Mitbewohner von einer Vorlesung am Emerson College zurück und fand Carl in der Küche ihrer Wohnung auf dem Bauch liegend vor, während das gegrillte Käsesandwich, das er sich hatte zubereiten wollen, noch in der Bratpfanne rauchte. Trotz seiner erst zweiundzwanzig Jahre hatte Carl einen Herzanfall erlitten. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten einen angeborenen Herzfehler - irgendwas mit einer zu dünnwandigen Arterie -, der bis dahin unentdeckt geblieben war.
Carl starb nicht; sein Mitbewohner hatte ihn gerade noch rechtzeitig aufgefunden und mit Herz-Lungen-Massage reanimiert. Aber sein Gehirn war durch den Sauerstoffmangel geschädigt, und der intelligente, gut aussehende, sportliche junge Mann, der vor nicht sehr langer Zeit mit Justin Streeter Europa bereist hatte, war nur noch ein schlurfender Schatten seiner selbst. Er war inkontinent, verirrte sich, wenn er weiter als ein, zwei Straßen von zu Hause entfernt war (er war wieder zu seinem noch trauernden Vater gezogen), und seine Sprache war ein undeutliches Plärren, das nur Tom verstand. Goodhugh engagierte einen Betreuer für ihn, der Physiotherapie durchführte und dafür sorgte, dass Carl immer trocken und sauber war. Alle zwei Wochen machte er mit Carl einen »Ausflug«. Ihr häufigstes Ziel war das Wishful Dishful Ice Cream, wo Carl immer ein Pistazieneis bekam, das er sich ins ganze Gesicht schmierte. Anschließend wischte sein Betreuer ihn geduldig mit Feuchtservietten sauber.
Janet hörte auf, Streeter zum Abendessen bei Tom zu begleiten. »Ich halte das nicht aus«, gestand sie ihm. »Es liegt nicht daran, wie Carl schlurft oder sich manchmal in die Hose macht … es ist der Blick in seinen Augen, als würde er sich erinnern, wie er war, und nicht genau wissen, wie hoffnungsvoller Ausdruck, der mir das Gefühl gibt, das ganze Leben sei ein Witz.«
Streeter wusste, was sie meinte, und dachte beim Abendessen mit seinem alten Freund (seit Norma nicht mehr da war, gab es meistens Take-away-Gerichte) oft über diese Vorstellung nach. Ihm machte es Spaß, Tom dabei zuzusehen, wie er seinen behinderten Sohn fütterte, und er genoss den hoffnungsvollen Ausdruck auf Carls Gesicht. Er schien zu besagen: »Das ist alles nur ein Traum, den ich habe, und ich werde bald aufwachen.« Jan hatte recht, das war ein Witz, aber irgendwie ein guter Witz.
Wenn man richtig darüber nachdachte.
Im Jahr 2004 bekam May Streeter einen Job beim Boston Globe und erklärte sich zum glücklichsten Mädchen der USA. Justin Streeter entwickelte »Rock the House«, das ein Dauerseller wurde, bis »Guitar Hero« es obsolet machte, aber inzwischen war Jus längst dabei, eine Kompositionssoftware namens »You Moog Me, Baby« zu entwickeln. Streeter selbst wurde zum Leiter seiner Bankfiliale ernannt, was ein Sprungbrett zu einem Regionalposten sein konnte. Er flog mit Janet nach Cancún, wo sie sich fabelhaft amüsierten. Sie fing an, ihn »mein Schmusehäschen« zu nennen.
Toms Chefbuchhalter bei Goodhugh Waste Recycling unterschlug zwei Millionen Dollar und verschwand mit unbekanntem Ziel. Die anschließende Buchprüfung zeigte, dass das Unternehmen finanziell auf sehr wackligen Beinen stand; diese Ratte von einem Buchhalter hatte anscheinend seit Jahren an dem Käse geknabbert.
Geknabbert?, dachte Streeter, als er die Meldung in den Derry News las. Jedes Mal kräftig reingebissen dürfte eher stimmen.
Tom sah nicht mehr wie Mitte dreißig, sondern wie sechzig aus. Und das schien er zu wissen, weil er aufgehört hatte, sich das Haar zu färben. Streeter war entzückt, als er sah, dass es unter der künstlichen Farbe nicht weiß geworden war; Goodhughs Haar war so stumpf und glanzlos grau wie Elvids Schirm, als er ihn zusammengerollt hatte. Die Haarfarbe, überlegte Streeter sich, der alten Männer, die man auf Parkbänken sitzen und die Tauben füttern sieht. Nennen wir sie einfach Just for Losers.
Im Jahr 2005 lernte Jacob der Footballspieler, der in der untergehenden Firma seines Vaters arbeitete, statt aufs College zu gehen (an dem er mit einem vollen Sportstipendium hätte studieren können), ein Mädchen kennen und heiratete es. Eine muntere kleine Brünette namens Cammy Dorrington. Das Ehepaar Streeter war sich darüber einig, es sei eine schöne Feier gewesen, obwohl Carl Goodhugh die ganze Zeit gejohlt, gebrabbelt und gegurgelt hatte und obwohl Goodhughs Älteste - Gracie - beim Hinausgehen auf der Treppe vor der Kirche über den Saum ihres Kleides stolperte, stürzte und sich einen doppelten Beinbruch zuzog. Bis dahin hatte Tom Goodhugh fast wie früher ausgesehen. Mit anderen Worten: glücklich. Streeter neidete ihm das bisschen Glück nicht. Er vermutete, dass selbst arme Sünder im Fegefeuer gelegentlich einen Schluck Wasser bekamen, und sei es nur, damit sie den ganzen Schrecken ungestillten Dursts würdigen konnten, wenn er wieder einsetzte.
Die Flitterwöchner flogen nach Belize. Wetten, dass es dort die ganze Zeit regnet, dachte Streeter. Das tat es zwar nicht, aber Jacob verbrachte den größten Teil der Woche in einem heruntergekommenen Krankenhaus, litt an einem heftigen Brechdurchfall und kackte in Papierwindeln. Er hatte nur abgefülltes Wasser getrunken, sich aber ein einziges
Im Irak fielen über achthundert US-Soldaten. Pech für diese Jungs und Mädels.
Tom Goodhugh bekam Gicht, begann zu humpeln, fing an, einen Stock zu benutzen.
Der diesjährige Scheck für den Überkonfessionellen Kinderfonds war verdammt hoch, aber Streeter reute das viele Geld nicht. Geben war seliger denn Nehmen. Das sagten alle guten Leute.
Im Jahr 2006 erkrankte Toms Tochter Gracie an Eiterfluss und verlor sämtliche Zähne. Außerdem verlor sie den Geruchssinn. An einem Abend kurz danach, bei Goodhughs und Streeters wöchentlichem Dinner (bei dem die beiden allein waren; Carls Betreuer war mit seinem Schützling auf einem »Ausflug«), brach Tom Goodhugh unvermittelt in Tränen aus. Statt Microbrews trank er jetzt Bombay Sapphire Gin und war ziemlich betrunken. »Ich verstehe nicht, was mit mir passiert ist!«, schluchzte er. »Ich komme mir vor wie … ich weiß nicht … wie der gottverdammte Hiob!«
Streeter umarmte und tröstete ihn. Er erklärte seinem alten Freund, dass die Wolken immer aufziehen, sich aber früher oder später wieder verziehen.
»Na ja, diese Wolken hängen schon beschissen lange hier!«, rief Goodhugh aus und hämmerte mit der geballten Faust auf Streeters Rücken. Aber das störte Streeter nicht. Sein alter Freund war nicht mehr so stark wie früher.
Charlie Sheen, Tori Spelling und David Hasselhoff ließen sich scheiden, aber in Derry feierten David und Janet Streeter ihren dreißigsten Hochzeitstag. Es gab eine große Party. Gegen Ende zu führte Dave seine Frau in den Garten. Er hatte ein Feuerwerk bestellt. Alle klatschten, nur Carl Goodhugh nicht. Er versuchte es, aber seine Hände
Im Jahr 2007 wurde Kiefer Sutherland wegen Trunkenheit am Steuer zu einer Haftstrafe verurteilt (nicht zum ersten Mal), und Gracie Goodhugh-Dickersons Ehemann kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ein betrunkener Autofahrer geriet auf die Gegenfahrbahn, auf der Andy Dickerson aus dem Büro heimfuhr. Die gute Nachricht war, dass der Betrunkene nicht Kiefer Sutherland war. Die schlechte Nachricht war, dass Gracie Dickerson im vierten Monat schwanger und pleite war. Ihr Mann hatte seine Lebensversicherung gekündigt, um Geld zu sparen. Gracie zog wieder bei ihrem Vater und ihrem Bruder Carl ein.
»Bei ihrem Pech wird das Baby missgebildet geboren«, sagte Streeter eines Nachts, als er neben seiner Frau im Bett lag, nachdem sie miteinander geschlafen hatten.
»Still!«, rief Janet schockiert aus.
»Wenn man’s sagt, trifft’s nicht ein«, behauptete Streeter, und wenig später schliefen die beiden Schmusehäschen in enger Umarmung ein.
Der diesjährige Scheck für den Kinderfonds belief sich auf dreißigtausend Dollar. Streeter schrieb ihn ohne Gewissensbisse aus.
Gracies Baby wurde im Februar 2008 mitten in einem Schneesturm geboren. Die gute Nachricht war, dass es nicht missgebildet war. Die schlechte Nachricht war, dass es eine Totgeburt war. Dieser verdammte in der Familie liegende Herzfehler. Gracie - ohne Zähne, ohne Ehemann und ohne Geruchssinn - verfiel in eine tiefe Depression. Streeter fand, das beweise ihre grundlegende geistige Gesundheit. Wäre sie »Don’t Worry, Be Happy« pfeifend herumgelaufen, hätte
Ein Flugzeug mit zwei Musikern der Rockband blink-182 stürzte ab. Schlechte Nachricht, vier Tote. Gute Nachricht, diesmal überlebten die Rocker zur Abwechslung … obwohl einer von ihnen später Selbstmord verüben würde.
»Ich habe Gott gegen mich aufgebracht«, sagte Tom bei einem der Dinner, die die beiden Männer jetzt ihre »Junggesellenabende« nannten. Streeter hatte Spaghetti von Cara Mama mitgebracht und seinen Teller leergegessen. Tom Goodhugh hatte sein Essen kaum angerührt. Nebenan sahen Gracie und Carl American Idol, Grace finster schweigend, der frühere Emerson-Student johlend und brabbelnd. »Ich weiß nicht, wodurch, aber ich hab’s getan.«
»Sag das nicht, weil es nämlich nicht stimmt.«
»Das weißt du nicht.«
»Doch, ich weiß es«, sagte Streeter nachdrücklich. »Du redest dummes Zeug.«
»Wie du meinst, Kumpel.« Toms Augen füllten sich mit Tränen. Sie liefen ihm über die Wangen. Eine blieb an seinem unrasierten Kinn hängen, baumelte einen Augenblick dort und platschte dann in seine Spaghetti, die er kaum angerührt hatte. »Ich danke Gott so sehr für Jacob. Mit ihm ist alles in Ordnung. Arbeitet derzeit bei einem Fernsehsender in Boston, und seine Frau ist Buchhalterin im Brigham and Women’s. Sie kommen gelegentlich mit May zusammen.«
»Das hört man gern«, sagte Streeter herzlich, während er im Stillen hoffte, Jake werde seine Tochter nicht irgendwie durch seine Nähe anstecken.
»Und du kommst noch immer und besuchst mich. Ich verstehe, was Jan fernhält, und nehm es ihr nicht übel, aber … ich freue mich auf diese Abende. Sie sind wie ein Bindeglied zu den alten Zeiten.«
Ja, dachte Streeter, zu den alten Zeiten, in denen du alles und ich Krebs hatte.
»Du wirst immer mich haben«, sagte er und nahm eine von Goodhughs leicht zitternden Händen in seine. »Freunde bis zuletzt.«
2008 - was für ein Jahr! Heiliger Scheiß! Olympische Spiele in China! Chris Brown und Rihanna wurden Schmusehäschen! Banken brachen zusammen! Der Aktienmarkt war im Keller! Und im November schloss die Umweltschutzbehörde EPA den Mount Trashmore, Tom Goodhughs letzte Einnahmequelle. Die Behörde gab bekannt, sie beabsichtige, ein Verfahren wegen Grundwasserverseuchung und illegaler Lagerung von Krankenhausmüll einzuleiten. Die Zeitung The Derry News deutete an, es könne sogar ein Strafverfahren gegen den Deponiebetreiber geben.
Streeter fuhr abends oft zur Harris Avenue Extension hinaus und hielt Ausschau nach einem gelben Schirm. Er wollte nicht feilschen; er wollte nur ein bisschen quatschen. Aber er bekam den Schirm oder seinen Besitzer nie wieder zu sehen. Er war enttäuscht, aber nicht überrascht. Solche Geschäftemacher waren wie Haie; sie mussten in Bewegung bleiben, sonst gingen sie ein.
Er stellte einen Scheck aus und schickte ihn der Bank auf den Kaimaninseln.
Im Jahr 2009 schlug Chris Brown sein Schmusehäschen Nummer eins nach der Verleihung der Grammy Awards grün und blau, und einige Wochen später verprügelte Jacob Goodhugh, der Exfootballspieler, seine muntere Frau Cammy, nachdem sie in seiner Jackentasche ein bestimmtes Stück Damenunterwäsche und ein halbes Gramm Kokain entdeckt hatte. Als sie weinend auf dem Fußboden lag, nannte
Sein Pflichtverteidiger war zu dämlich, um eine Herabsetzung der Kaution zu erreichen. Jake Goodhugh appellierte an seinen Vater, der kaum imstande war, seine Ölrechnung zu bezahlen, und erst recht keinen teuren Bostoner Anwalt für seinen Sohn, der seine Frau misshandelt hatte, engagieren konnte. Goodhugh wandte sich an Streeter, der seinen alten Freund kaum ein Dutzend Worte seiner schmerzhaft eingeübten Rede sprechen ließ, bevor er Machen wir! sagte. Er dachte daran, wie Jacob seinen Alten so ungeniert auf die Wange geküsst hatte. Und weil er das Anwaltshonorar übernahm, konnte er den Strafverteidiger zu Jakes Geisteszustand befragen, der nicht gut war; er litt unter Schuldgefühlen und war zutiefst deprimiert. Der Anwalt erklärte Streeter, der Junge werde vermutlich fünf Jahre bekommen, davon hoffentlich drei auf Bewährung.
Wenn er wieder draußen ist, kann er heimkommen, dachte Streeter. Er kann sich mit Gracie und Carl American Idol ansehen, wenn die Castingshow dann noch läuft. Was sie vermutlich tut.
»Ich habe meine Versicherung«, sagte Tom Goodhugh eines Abends. Er hatte viel Gewicht verloren, und seine Kleidung hing sackartig an ihm. Seine Augen waren trübe. Er litt an Schuppenflechte und kratzte sich ruhelos die Arme, so dass auf der weißen Haut lange rote Kratzspuren zurückblieben. »Ich würde Selbstmord begehen, wenn ich dächte, ich könnte damit durchkommen, ihn wie einen Unfall aussehen zu lassen.«
»Solches Gerede will ich nicht hören«, sagte Streeter. »Bestimmt geht’s bald wieder aufwärts.«
Im Juni kratzte Michael Jackson ab. Im August tat Carl Goodhugh es ihm nach, indem er an einem Stück Apfel erstickte. Sein Betreuer hätte den Heimlich-Handgriff durchführen und ihn retten können, aber der Betreuer war sechzehn Monate zuvor wegen Geldmangels entlassen worden. Gracie hatte Carl noch gurgeln hören, aber geglaubt, das sei »bloß sein üblicher Scheiß«, wie sie später sagte. Die gute Nachricht war, dass auch Carl eine Lebensversicherung hatte. Nur eine kleine, die aber immerhin die Bestattungskosten deckte.
Nach der Beerdigung (Tom Goodhugh schluchzte die ganze Zeit und klammerte sich haltsuchend an seinen alten Freund) hatte Streeter eine großzügige Anwandlung. Er ermittelte Kiefer Sutherlands Studioadresse und schickte ihm ein Big Book der Anonymen Alkoholiker. Es würde vermutlich gleich in den Müll fliegen (wie die zahllosen anderen Big Books, die Fans ihm im Lauf der Jahre geschickt hatten), aber man konnte nie wissen. Manchmal geschahen Wunder.
Anfang September 2009, an einem heißen Sommerabend, fuhren Streeter und Janet zu der Straße hinaus, die hinter dem Derry County Airport vorbeiführte. Auf dem mit Kies bestreuten Platz außerhalb des Metallzauns wartete niemand auf Kunden, also parkte er mit seinem blauen Pathfinder dort und legte den rechten Arm um seine Frau, die er inniger und rückhaltloser liebte als je zuvor. Die Sonne ging als rote Kugel unter.
Als er sich Janet zuwandte, sah er, dass sie weinte. Er drehte ihr Kinn zu sich her und küsste die Tränen feierlich weg. Davon musste sie lächeln.
»Was hast du, Schatz?«
»Ich habe an die Goodhughs gedacht. Ich habe nie eine Familie gekannt, die eine solche Pechsträhne hatte. Pech?« Sie lachte humorlos. »Desaster wäre richtiger!«
»Ich kenne auch keine«, sagte er, »aber so was passiert ständig. Eine der bei dem Anschlag in Mumbai getöteten Frauen war schwanger, hast du das gewusst? Ihr Zweijähriger hat überlebt, wäre aber fast totgeschlagen worden. Und …«
Sie legte ihm zwei Finger auf die Lippen. »Pst! Nichts mehr davon. Das Leben ist nicht fair. Das wissen wir.«
»Doch, das ist es!« Streeter sprach ernst. Im Licht der untergehenden Sonne erschien sein Gesicht rosig gesund. »Sieh bloß mich an. Es hat eine Zeit gegeben, da hättest du nie geglaubt, dass ich das Jahr 2009 erleben würde, oder?«
»Ja, aber …«
»Und unsere Ehe, weiter stark wie eine eichene Tür. Oder täusche ich mich?«
Sie schüttelte den Kopf. Er täuschte sich nicht.
»Du hast angefangen, freiberuflich für die Derry News zu schreiben, May macht beim Globe Karriere, und unser Sohn der Computerfreak ist mit fünfundzwanzig ein Medienmogul.«
Sie begann wieder zu lächeln. Das erleichterte Streeter. Er hasste es, sie deprimiert zu sehen.
»Das Leben ist fair. Jeder von uns wird neun Monate lang im Becher durchgeschüttelt, dann fallen die Würfel. Manche Leute kriegen lauter Siebener. Andere Leute werfen leider nur zwei Einser. Aber so ist die Welt eben.«
Sie schlang die Arme um ihn. »Ich liebe dich, Schatz. Du siehst überall das Positive.«
Streeter zuckte bescheiden mit den Achseln. »Das Wahrscheinlichkeitsgesetz begünstigt Optimisten, das würde dir jeder Banker sagen. Letztlich gleichen die Dinge sich doch wieder aus.«
Die Venus erschien über dem Flughafen und funkelte vor dem dunkler werdenden Blau.
»Wünsch dir was!«, verlangte Streeter.
Janet schüttelte lachend den Kopf. »Was sollte ich mir wünschen? Ich habe alles, was ich will.«
»Ich auch«, sagte Streeter, und dann wünschte er sich mit fest auf die Venus gerichtetem Blick mehr davon.