BIG DRIVER

1

Tess akzeptierte jährlich zwölf Vorträge gegen Honorar, wenn sie sie bekommen konnte. Bei zwölfhundert Dollar pro Auftritt kamen so über vierzehntausend Dollar zusammen. Das war ihr Pensionsfonds. Auch nach zehn Büchern war sie mit dem Strickclub Willow Grove durchaus noch zufrieden, aber sie bildete sich nicht etwa ein, über ihn schreiben zu können, bis sie in den Siebzigern war. Was würde sie auf dem Boden des Fasses finden, wenn sie das tat? Der Strickclub Willow Grove fährt nach Terre Haute oder Der Strickclub Willow Grove besucht die Internationale Raumstation? Nein. Nicht mal wenn die Literaturzirkel für Frauen, die ihre Hauptstütze waren, sie lasen (was sie vermutlich tun würden). Nein.

Also war sie ein braves kleines Eichhörnchen, das vom Ertrag seiner Bücher gut lebte … aber auch Bucheckern für den Winter sammelte. Im vergangenen Jahrzehnt hatte sie jedes Jahr zwischen zwölf- und sechzehntausend Dollar in ihren Geldmarktfonds eingezahlt. Wegen der Kursschwankungen an der Börse war die Gesamtsumme nicht so hoch, wie sie sich gewünscht hätte, aber sie sagte sich, wenn sie weiterschuftete, werde sie vermutlich zurechtkommen; sie war die kleine Lokomotive, die es schaffen konnte. Und sie trat mindestens dreimal im Jahr gratis auf, um ihr Gewissen zu beschwichtigen. Diese oft lästige innere Stimme hätte ihr nicht zusetzen dürfen, nur weil sie für ehrliche Arbeit ehrliches Geld nahm, aber das tat sie manchmal. Wahrscheinlich

Außer einem Mindesthonorar von zwölfhundert Dollar musste eine weitere Bedingung erfüllt sein: Sie musste den Ort der Lesung mit dem Auto erreichen können, ohne auf der Hin- und Rückfahrt mehr als einmal übernachten zu müssen. Das bedeutete, dass sie selten südlicher als Richmond oder westlicher als Cleveland auftrat. Eine Nacht in einem Motel war ermüdend, aber hinnehmbar; nach zweien war sie eine Woche lang zu nichts zu gebrauchen. Und Fritzy, ihr Kater, hasste es, allein zu Hause zu sein. Das machte er ihr klar, indem er sich auf der Treppe zwischen ihre Füße schlängelte und auf ihrem Schoß sitzend häufig wahllos seine Krallen gebrauchte, wenn sie wieder heimkam. Und obwohl Patsy McClain von nebenan ihn bereitwillig fütterte, fraß er nie viel, bis Tess wieder zu Hause war.

Es lag nicht daran, dass sie Flugangst hatte oder es ihr widerstrebte, den Organisationen, die sie engagierten, ihre Reisekosten in Rechnung zu stellen, genau wie sie ihnen ihre Motelzimmer berechnete (stets nett, nie elegant). Sie hasste nur alles: das Gedränge, die Demütigung, ihre Schuhe ausziehen und die Taschen ausleeren zu müssen, die Art, wie die Airlines heute für alles kassierten, was früher umsonst gewesen war, die Verspätungen … und die unentrinnbare Tatsache, dass man anderen ausgeliefert war. Sobald man die endlosen Sicherheitskontrollen passiert hatte und an Bord gehen durfte, musste man seinen kostbarsten Besitz - sein Leben - in die Hände fremder Leute legen.

Natürlich traf das auch auf die Turnpikes und Interstates zu, die sie fast ausschließlich benutzte: Ein Betrunkener konnte ins Schleudern geraten, über die Mittelleitplanke fliegen und ihr Leben durch einen Frontalzusammenstoß beenden (während er überleben würde; das taten die Betrunkenen Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Und sie fuhr gern Auto. Das war beruhigend. Ihre besten Ideen hatte sie, wenn sie mit Tempomat und ausgeschaltetem Radio fuhr.

»Ich wette, du warst in deiner letzten Inkarnation ein Fernfahrer«, hatte Patsy McClain einmal gesagt.

Tess gefiel die Vorstellung von einem Leben, in dem sie keine zierliche Frau mit elfenhaftem Gesicht und schüchternem Lächeln war, die harmlose Kriminalromane schrieb, sondern ein großer Kerl mit breitkrempigem Hut, der ein sonnenverbranntes Gesicht mit grauem Dreitagebart beschattete, während er einer Bulldogge als Kühlerfigur über die eine Million Straßen folgte, die das Land kreuz und quer durchzogen. In jenem Leben war es nicht nötig, ihre Kleidung vor öffentlichen Auftritten sorgfältig aufeinander abzustimmen; verblichene Jeans und Stiefel mit Seitenschnallen würden genügen. Sie schrieb gern und hatte nichts dagegen, öffentlich zu sprechen, aber am liebsten fuhr sie Auto. Nach ihrem Auftritt in Chicopee kam ihr das komisch vor … aber nicht auf eine Weise komisch, über die man lachen musste. Nein, überhaupt nicht auf diese Weise komisch.


2

Die Einladung von Books & Brown Baggers entsprach ihren Anforderungen perfekt. Chicopee war kaum sechzig Meilen von Stoke Village entfernt, der Vortrag würde tagsüber stattfinden, und die Drei Bs boten als Honorar nicht nur zwölfhundert, sondern fünfzehnhundert Dollar. Natürlich plus Spesen, aber die würden minimal sein - nicht einmal eine Übernachtung in einem Courtyard Suites oder

»Ich weiß, dass diese Anfrage sehr kurzfristig kommt«, schrieb Ms. Norville in ihrem schmeichlerischen letzten Absatz, »aber in Wikipedia sehe ich, dass Sie im benachbarten Connecticut wohnen, und unsere Leser in Chicopee sind solche Fans der Strickclub-Mädels. Unsere ewige Dankbarkeit sowie das oben erwähnte Honorar wären Ihnen sicher.«

Tess bezweifelte, dass die Dankbarkeit ewig sein würde, und hatte im Oktober schon einen Termin angenommen (die Literary Calvalcade Week in den Hamptons), aber die I-84 würde sie zur I-90 bringen, und von der 90 ging es geradeaus nach Chicopee weiter. Mühelos hin, mühelos zurück; Fritzy würde kaum merken, dass sie fort gewesen war.

Ramona Norville hatte natürlich ihre Mailadresse angegeben, und Tess antwortete sofort und akzeptierte den Termin und das Honorar. Sie präzisierte auch - wie es ihre Gewohnheit war -, dass sie nicht länger als eine Stunde Bücher signieren würde. »Ich habe einen Kater, der mich tyrannisiert, wenn ich nicht zu Hause bin, um ihn abends persönlich zu füttern«, schrieb sie. Außerdem bat sie um nähere Einzelheiten, obwohl sie weitgehend wusste, was von ihr erwartet wurde; sie hatte Erfahrung mit solchen Veranstaltungen, seit sie dreißig geworden war. Trotzdem

Tess dachte auch kurz daran, vorzuschlagen, zweitausend Dollar seien vielleicht angemessener für etwas, das tatsächlich eine Art Nothilfe war, kam aber wieder davon ab. Außerdem bezweifelte sie, ob alle Strickclub-Bücher zusammen (genau ein Dutzend) sich so gut verkauft hatten wie eines von Stephanie Plums Abenteuern. Ob es ihr gefiel oder nicht - und Tess war das im Grund genommen egal -, war sie Ramona Norvilles Plan B. Ein Honoraraufschlag wäre fast Erpressung gewesen. Fünfzehnhundert waren mehr als fair. Als sie dann in dem Durchlass unter der Straße lag und aus geschwollenem Mund und gebrochener Nase Blut hustete, kam ihr das natürlich gar nicht mehr fair vor. Aber wären zweitausend denn fairer gewesen? Oder zwei Millionen?

Ob man Schmerzen und Entsetzen mit einem Preisschild versehen konnte, war eine Frage, mit der die Damen des Strickclubs sich nie befasst hatten. Die Verbrechen, die sie lösten, waren eigentlich nicht mehr als die Idee von Verbrechen. Aber als Tess sich gezwungen sah, darüber nachzudenken, fand sie, die Antwort laute nein. Als sie sich wirklich dazu gezwungen sah, hatte sie das Gefühl, für solch ein Verbrechen sei nur eine Vergeltung denkbar. Sowohl Tom als auch Fritzy stimmte ihr da zu.


3

Ramona Norville erwies sich als breitschultrige, vollbusige, joviale Frau Anfang sechzig mit gerötetem Gesicht, Kurzhaarfrisur und kompromisslosem Händedruck. Sie erwartete Tess vor der Bibliothek - mitten auf dem für den Berühmten Autor des Tages reservierten Parkplatz. Statt Tess einen guten Morgen zu wünschen (es war Viertel vor elf) oder ihr ein Kompliment zu ihren Ohrringen zu machen (tropfenförmige Brillanten, eine Extravaganz, die für ihre wenigen Abendeinladungen oder Vorträge wie heute reserviert blieb), stellte sie eine Männerfrage: War Tess auf der 84 hergekommen?

Als Tess das bejahte, machte Ms. Norville große Augen und blies die Backen auf. »Dann bin ich froh, dass Sie heil angekommen sind. Meiner bescheidenen Meinung nach ist die 84 der schlimmste Highway Amerikas. Außerdem ein ziemlicher Umweg. Aber die Rückfahrt lässt sich optimieren, wenn das Internet recht hat und Sie in Stoke Village leben.«

Tess bestätigte, dass das zutraf, obwohl sie nicht recht wusste, ob es ihr gefiel, dass Fremde - selbst eine freundliche Bibliothekarin - wussten, wo sie ihr müdes Haupt zur Ruhe bettete. Aber es hatte keinen Zweck, sich darüber zu beschweren; heutzutage stand alles im Internet.

»Ich kann Ihnen zehn Meilen sparen«, sagte Ms. Norville, als sie die Treppe zur Bibliothek hinaufstiegen. »Haben Sie ein Navi? Das ist besser als eine auf einen alten Umschlag gekritzelte Wegbeschreibung. Wundervolle Dinger.«

Tess, die die Ausstattung ihres Ford Expedition tatsächlich um ein Navi ergänzt hatte (es nannte sich TomTom und wurde in die Buchse des Zigarettenanzünders eingesteckt), sagte, zehn auf der Rückfahrt eingesparte Meilen wären sehr nett.

»Lieber geradeaus durch Robin Hoods Scheune als ganz außen herum«, sagte Ms. Norville mit einem leichten Klaps auf Tess’ Rücken. »Hab ich recht oder nicht?«

»Absolut«, bestätigte Tess, und damit war ihr Schicksal entschieden - einfach so. Aber sie hatte Abkürzungen natürlich nie widerstehen können.


4

Les affaires du livre bestanden im Allgemeinen aus vier klar definierten Akten, und Tess’ Auftritt bei der Monatsversammlung von Books & Brown Baggers war geradezu prototypisch. Die einzige Abweichung von der Norm war Ramona Norvilles Einführung, die ungewöhnlich kurz und bündig war. Sie brachte keinen entmutigenden Stapel Karteikarten mit aufs Podium, hielt es nicht für nötig, Tess’ Kindheit auf einer Farm in Nebraska zu schildern, und machte sich nicht die Mühe, ein Bukett aus lobenden Besprechungen der Kriminalromane über den Strickclub Willow Grove zu präsentieren. (Das war gut, denn sie wurden selten besprochen, und wenn es dazu kam, wurde meistens auch Miss Marple erwähnt, nicht immer in vorteilhafter Weise.) Ms. Norville sagte einfach, die Bücher seien ungeheuer populär (eine verzeihliche Übertreibung) und es sei äußerst großzügig von der Verfasserin, dass sie ihre Zeit so kurzfristig geopfert habe (obgleich bei fünfzehnhundert Dollar Honorar kaum von einem Opfer die Rede sein konnte). Dann überließ sie das Podium Tess unter dem enthusiastischen Beifall der etwa vierhundert Personen in dem kleinen, aber ausreichend großen Vortragssaal der Bibliothek. Die meisten waren Ladys von der Sorte, die nie ohne Hut ausgingen.

Die Einführung hatte jedoch mehr von einem Zwischenspiel an sich. Der erste Akt war der Empfang um elf Uhr, bei dem die besser zahlenden Gäste bei Käse, Crackern und scheußlichem Kaffee Tess persönlich kennenlernen konnten (bei Abendveranstaltungen gab es Plastikgläser mit scheußlichem Wein). Manche baten um Autogramme; viel mehr baten um Fotos, die sie im Allgemeinen mit ihren Handys machten. Sie wurde gefragt, woher sie ihre Ideen nehme, und gab die erwarteten höflichen und humorvollen Antworten. Ein halbes Dutzend Leute fragte sie, wie man einen Agenten bekomme, wobei das Glitzern in ihren Augen suggerierte, sie hätten die zusätzlichen zwanzig Dollar eigens dafür gezahlt, um diese Frage stellen zu können. Tess sagte, man schreibe Briefe, bis einer der Hungrigeren sich bereiterkläre, sich das eingesandte Zeug anzusehen. Das war nicht die ganze Wahrheit - in Bezug auf Agenten gab es keine ganze Wahrheit -, aber es kam ihr immerhin nahe.

Der zweite Akt war der Vortrag selbst, der ungefähr eine Dreiviertelstunde dauerte. Er bestand im Wesentlichen aus Anekdoten (keine zu persönlich) und der Schilderung, wie sie ihre Storys ausarbeitete (von hinten nach vorn). Dabei war es wichtig, mindestens dreimal den Titel ihres letzten Romans zu erwähnen, der in diesem Herbst Der Strickclub Willow Grove und der Speläologe lautete (für alle, die das Fremdwort nicht kannten, übersetzte sie es mit »Höhlenforscher«).

Der dritte Akt war die Frageperiode, in der sie gefragt wurde, woher sie ihre Ideen habe (humorvolle, vage Antworten), ob ihre Figuren aus dem realen Leben stammten (»meine Tanten«) und wie man einen Agenten für seine Arbeit interessiere. Heute wurde sie auch gefragt, wo sie ihren Haargummi gekauft habe (JCPenney, eine Antwort, die ihr unerklärlichen Beifall einbrachte).

Der letzte Akt war die Signierstunde, in der sie pflichtbewusst Bitten erfüllte: Geburtstagsglückwünsche, Glückwünsche zu Hochzeitstagen, Für Janet, einen Fan aller meiner Bücher und Für Leah - ho f fentlich sehen wir uns im Sommer alle am Lake Toxaway wieder! (ein etwas seltsamer Wunsch, weil Tess - anders als vermutlich die Autogrammjägerin - noch nie dort gewesen war).

Als alle Bücher signiert und die letzten Trödler mit weiteren Handyfotos zufriedengestellt waren, nahm Ramona Norville Tess auf eine Tasse echten Kaffee mit in ihr Büro mit. Ms. Norville trank ihren schwarz, was Tess nicht im Geringsten wunderte. Ihre Gastgeberin war eine Schwarzer-Kaffee-Powerfrau, wenn jemals eine über die Erde gestiefelt war (an ihrem freien Tag vermutlich in Doc Martens). Das einzig Überraschende in ihrem Büro war das gerahmte signierte Foto an der Wand. Das Gesicht kam Tess bekannt vor, und nach kurzem Nachdenken kam sie auch auf den Namen.

»Richard Widmark?«

Ms. Norville lachte auf verlegene, aber zugleich erfreute Art. »Mein Lieblingsschauspieler. Als Mädchen war ich ein bisschen in ihn verknallt, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Dieses Foto habe ich mir zehn Jahre vor seinem Tod signieren lassen. Er war schon damals ziemlich alt, aber das ist eine echte Unterschrift, kein Stempel. Das gehört Ihnen.« Einen verrückten Augenblick lang dachte Tess, Ms. Norville meine das signierte Foto. Dann sah sie den Umschlag in ihren dicken Fingern. Es war ein Fensterumschlag, damit man sehen konnte, dass er einen Scheck enthielt.

»Danke«, sagte Tess und nahm ihn.

»Nichts zu danken. Sie haben sich jeden Cent verdient.«

Tess widersprach nicht.

»Nun zu der Abkürzung.«

Tess beugte sich aufmerksam nach vorn. In einem ihrer Strickclub-Krimis hatte Doreen Marquis gesagt: Die beiden besten Dinge im Leben sind warme Croissants und ein schneller Weg nach Hause. Das war so eine Stelle, wo die Schriftstellerin die eigenen liebsten Überzeugungen dazu benutzte, ihre Erzählung lebendiger zu machen.

»Können Sie auf Ihrem Navi Kreuzungen eingeben?«

»Ja, Tom ist sehr clever.«

Ms. Norville lächelte. »Dann geben Sie Stagg Road und U S 47 ein. Die Stagg Road wird heutzutage kaum mehr befahren - ist seit dieser verdammten 84 fast vergessen -, hat aber landschaftlich ihren Reiz. Sie bummeln darauf … oh, ungefähr sechzehn Meilen weit. Geflickter Asphalt, aber nicht allzu holperig, jedenfalls nicht beim letzten Mal, als ich sie gefahren bin, und das war im Frühjahr, wenn die Frostaufbrüche am schlimmsten sind. Zumindest ist das meine Erfahrung.«

»Meine auch«, sagte Tess.

»Wenn Sie die 47 erreichen, sehen Sie einen Wegweiser zur I-84, aber Sie brauchen nur ungefähr zwölf Meilen weit auf der Interstate zu bleiben, das ist das Schöne daran. Und Sie sparen Tonnen von Zeit und Nerven.«

»Auch das ist das Schöne daran«, sagte Tess, und sie lachten beim Kaffee: zwei gleichgesinnte Frauen, über denen der lächelnde Richard Widmark wachte. Der verlassene Laden mit den abgebauten Zapfsäulen und dem tickenden Schild war noch neunzig Minuten entfernt, in der Zukunft versteckt wie eine Schlange in ihrem Loch. Und natürlich der Durchlass unter der Straße.


5

Tess hatte nicht nur ein Navi; sie hatte einen Aufpreis für ein individuell angepasstes gezahlt. Sie hatte Spielsachen gern. Nachdem sie die Kreuzung eingegeben hatte (wobei Ramona Norville sich mit über das Display beugte und den Vorgang mit männlichem Interesse beobachtete), dachte das Gerät kurz nach, dann sagte es: »Tess, ich berechne deine Route.«

»He, hört euch das an!«, sagte Norville und lachte, wie Leute über irgendeine liebenswerte Eigentümlichkeit lachten.

Tess lächelte, obwohl sie persönlich fand, seinem Navi beizubringen, einen mit dem Vornamen anzusprechen, sei nicht merkwürdiger, als ein Fanfoto eines toten Schauspielers in seinem Büro hängen zu haben. »Danke für alles, Ramona. Alles war sehr professionell.«

»Wir bei den Drei Bs tun unser Bestes. Nun aber fort mit Ihnen. Mit unserem Dank.«

»Bin unterwegs«, sagte Tess. »Und ich danke Ihnen. Es hat Spaß gemacht.« Das stimmte; solche Veranstaltungen machten ihr gewöhnlich auf eine »Na schön, bringen wir’s hinter uns«-Art Spaß. Und ihr Pensionsfonds würde sich sicher über eine weitere Einzahlung freuen.

»Kommen Sie wieder«, sagte Norville.

»Unbedingt«, antwortete Tess.

Als sie anfuhr, sagte das Navi: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«

»Ja, das tun wir«, sagte sie. »Wie geht’s dir heute Nachmittag?«

Im Gegensatz zu den Computern in SF-Filmen war Tom für leichte Unterhaltung schlecht ausgestattet, obwohl Tess ihm manchmal half. Er forderte sie auf, nach vierhundert Metern rechts abzubiegen und dann die erste Straße links zu nehmen. Die Karte auf dem Display des TomToms zeigte

Sie erreichte bald die Außenbezirke von Chicopee, aber Tom schickte sie kommentarlos an der Abzweigung zur I-84 vorbei aufs Land hinaus, das in Oktoberfarben leuchtete und nach brennendem Herbstlaub roch. Nach etwa zehn Meilen auf etwas, das sich Old County Road nannte - und als Tess sich eben fragte, ob ihr Navi einen Fehler gemacht habe (als ob das möglich wäre) -, sprach Tom wieder.

»Nach einer Meile rechts abbiegen.«

Und tatsächlich sah sie bald einen grünen Wegweiser zur Stagg Road, der so von Schrotkugeln durchlöchert war, dass er fast unleserlich war. Aber natürlich brauchte Tom keine Straßenschilder; wie die Soziologen gesagt hätten (sie hatte Soziologie studiert, bevor sie ihr Talent, über alte Ladys als Detektivinnen zu schreiben, entdeckt hatte), war er fremdbestimmt.

Sie bummeln darau f unge fähr sechzehn Meilen weit, hatte Ramona Norville gesagt, aber Tess bummelte nur ein Dutzend weit. Sie kam um eine Kurve, entdeckte links vor sich ein verfallendes altes Gebäude (auf dem verblassten Schild über der Tankinsel ohne Zapfsäulen stand noch immer ESSO) und sah dann - zu spät - mehrere über die Fahrbahn verteilte große zersplitterte Bretter. Aus vielen ragten rostige Nägel. Tess fuhr über den Höcker, der daran schuld sein musste, dass sie sich von der nachlässig festgezurrten Ladung irgendeines Bauerntölpels gelöst hatten, wollte dann auf den Randstreifen fahren, um dem Müll auszuweichen, und wusste sofort, dass sie es vermutlich nicht schaffen würde; weshalb hätte sie sich sonst Oh-oh sagen hören?

Unter ihr war ein Klack-rums-schepper zu hören, mit dem offenbar Holzstücke gegen Fahrwerk und Unterboden

»Zum Teufel mit dir, Ramona«, sagte sie. Natürlich wusste sie, dass es nicht wirklich die Schuld der Bibliothekarin war; die Vorsitzende (und das vermutlich einzige Mitglied) des Richard-Widmark-Fanclubs, Ortsgruppe Chicopee, hatte nur hilfsbereit sein wollen, aber Tess wusste nun einmal nicht, wie der Blödmann hieß, der diesen mit Nägeln gespickten Scheiß auf der Straße abgeladen hatte und unbekümmert weitergefahren war, deshalb musste Ramona für ihn herhalten.

»Soll ich deine Route neu berechnen, Tess?«, fragte Tom so unvermittelt, dass sie zusammenfuhr.

Sie schaltete das Navi aus und stellte dann auch den Motor ab. Hier draußen war es sehr still. Sie hörte Vogelstimmen, ein metallisches Ticken wie von einer alten Aufziehuhr und sonst nichts. Die gute Nachricht war, dass der Expedition nur nach links vorn geneigt dastand, statt auf ganzer Breite eingeknickt zu sein. Vielleicht war es nur der eine Reifen. Wenn das so war, würde sie keinen Abschleppwagen, sondern nur etwas Hilfe vom Automobilclub brauchen.

Als sie ausstieg und den linken Vorderreifen begutachtete, sah sie daran ein zersplittertes Stück Holz, das von einem im Gummi steckenden langen rostigen Nagel festgehalten wurde. Tess stieß einen einsilbigen Fluch aus, der keinem Mitglied des Strickclubs jemals über die Lippen gekommen wäre, und holte ihr Handy aus dem kleinen

Die Konventionen von Horrorstorys und Kriminalromanen - selbst der unblutigen Variante mit nur einer Leiche, die ihre Fans so schätzten - waren überraschend ähnlich, und als sie ihr Handy aufklappte, dachte sie: In einer Story würde es nicht funktionieren. Und genau ein solcher Fall, in dem das Leben die Kunst imitierte, war jetzt eingetreten, denn als sie ihr Nokia einschaltete, erschienen auf dem Display die Worte KEIN SERVICE. Natürlich. Ihr Handy benutzen zu können wäre zu einfach gewesen.

Sie hörte ein Fahrzeug mit einem Loch im Auspuff näher kommen, drehte sich um und sah einen alten weißen Lieferwagen durch die Kurve fahren, die den Expedition zur Strecke gebracht hatte. Auf seiner Seite spielte ein Cartoonskelett auf einem Schlagzeug, das aus kleinen Kuchen in Papierförmchen zu bestehen schien. Über dieser Erscheinung (viel eigenartiger als ein Fanfoto von Richard Widmark im Büro einer Bibliothekarin) standen in tropfender Horrorfilmschrift die Wörter ZOMBIE BAKERS. Tess war sekundenlang zu verwirrt, um zu winken, und als sie es endlich tat, war der Fahrer des Lieferwagens von Zombie Bakers zu sehr damit beschäftigt, dem Zeug auf der Fahrbahn auszuweichen, um sie zu bemerken.

Er wich schneller auf den Seitenstreifen aus als zuvor Tess, aber der Kastenwagen hatte einen höheren Schwerpunkt

»Verdammte Zombie Bakers!«, rief Tess erst laut, dann begann sie zu lachen. Manchmal blieb einem nichts anderes übrig.

Sie klemmte ihr Handy an den Bund ihrer Gabardinehose, ging auf die Straße hinaus und machte sich eigenhändig daran, die Bretter wegzuräumen. Das tat sie äußerst vorsichtig, weil sich aus der Nähe zeigte, dass in allen Holzteilen (die weiß gestrichen waren, als wären sie von jemandem, der mitten in einer Hausrenovierung steckte, abgerissen worden) Nägel steckten. Große hässliche Nägel. Sie arbeitete langsam, weil sie sich nicht verletzen wollte, aber sie hoffte auch, deutlich sichtbar ein Werk christlicher Barmherzigkeit zu verrichten, wenn der nächste Wagen vorbeikam. Als sie bis auf ein paar harmlose Splitter alles eingesammelt und die großen Stücke in den Straßengraben geworfen hatte, war jedoch noch immer kein Auto vorbeigekommen. Vielleicht, dachte sie, hatten die Zombie Bakers jedermann in unmittelbarer Umgebung verspeist und rasten jetzt in ihre Backstube zurück, um aus den Überresten die immer beliebten Leute-Kuchen zu backen.

Sie ging auf den verunkrauteten Parkplatz des ehemaligen Ladens zurück und betrachtete missmutig den schräg dastehenden Expedition. Rollender Stahl im Wert von vierzigtausend Dollar, Allradantrieb, vier Scheibenbremsen, dazu Tom das sprechende TomTom … und dann genügte ein Stück Holz mit einem Nagel darin, um einen stranden zu lassen.

Aber natürlich haben in allen Nägel gesteckt, dachte sie. In einem Kriminalroman - oder in einem Horrorfilm - wäre das kein Zeichen von Nachlässigkeit, sondern ein Beweis für einen Plan. Für eine regelrechte Falle.

»Zu viel Phantasie, Tessa Jean«, sagte sie, ihre Mutter zitierend … und das war natürlich eine Ironie des Schicksals gewesen, denn ihrer Phantasie verdankte sie letztlich ihr täglich Brot. Von dem Altersruhesitz in Daytona Beach, wo ihre Mutter die letzten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte, ganz zu schweigen.

In der tiefen Stille wurde sie wieder auf dieses blecherne Ticken aufmerksam. Der verlassene Laden gehörte zu einem Typus, den man im 21. Jahrhundert nicht mehr oft sah: Er hatte eine unverglaste Veranda. Ihre linke Ecke war eingefallen, und das Geländer war an mehreren Stellen defekt, aber es war tatsächlich eine Veranda, die selbst in ihrem verwahrlosten Zustand noch charmant war. Vielleicht wegen ihres Verfalls. Veranden vor Gemischtwarenläden waren unmodern geworden, vermutete Tess, weil sie dazu verlockten, eine Weile sitzen zu bleiben und über Baseball oder das Wetter zu reden, statt rasch zu zahlen und mit seinen Kreditkarten die Straße entlang ins nächste Geschäft zu hasten, in dem man sie durchs Lesegerät an der Kasse ziehen konnte. Unter dem Verandadach hing schief ein Blechschild. Es war noch stärker verblasst als das ESSO-Schild. Sie trat ein paar Schritte näher und legte eine Hand über die Augen, um sie zu beschatten. DU MAGST ES ES MAG DICH. Wofür hatte dieser Slogan gleich wieder geworben?

Auf dem Schrottplatz, den jeder Autor und jede Autorin im Hinterkopf zu haben schien, hatte sie die Antwort schon fast gefunden, als das Geräusch eines Motors sie aus ihren Gedanken riss. Als sie sich ihm mit der Überzeugung zuwandte, die Zombie Bakers hätten gewendet und seien

»Hallo?«, rief Tess. »Entschuldigung, Sir?«

Er drehte den Kopf zur Seite, sah sie im Unkraut auf dem Parkplatz stehen, hob grüßend die Hand, fuhr neben ihren Expedition und stellte den Motor ab. Seinem Geräusch nach lief das auf Sterbehilfe hinaus, fand Tess.

»Hallo«, sagte er. »Haben Sie diesen ganzen Scheiß von der Straße geräumt?«

»Ja, bis auf das Stück, das meinen linken Vorderreifen durchlöchert hat. Und …« Und mein Handy funktioniert hier draußen nicht, hätte sie fast hinzugefügt, bremste sich aber gerade noch rechtzeitig. Sie war eine Frau Ende dreißig, die tropfnass fünfundfünfzig Kilo auf die Waage brachte, und dies war ein fremder Mann. Ein großer Kerl. »… und hier wär ich nun«, schloss sie etwas lahm.

»Ich wechsle Ihnen das Rad, wenn Sie ein Reserverad haben«, sagte er, indem er sich aus seinem Pick-up zwängte. »Haben Sie eines?«

Tess konnte nicht gleich antworten. Der Kerl war nicht groß, da hatte sie sich getäuscht. Der Kerl war ein Riese. Er musste fast zwei Meter groß sein, aber reine Körperlänge war nur ein Teil davon. Er hatte einen gewaltigen Wanst, baumdicke Oberschenkel und Schultern von der Breite einer Tür. Sie wusste, dass es unhöflich war, Leute anzustarren (eine weitere Benimmregel, die sie auf dem Schoß ihrer Mutter gelernt hatte), aber es war schwierig, das nicht zu tun. Ramona Norville war eine muskulöse, stämmige Gestalt, aber neben diesem Kerl hätte sie wie eine Ballerina ausgesehen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er in amüsiertem Ton. »Sie haben nicht erwartet, hier draußen in der Pampa dem Jolly Green Giant zu begegnen, was?« Nur war er nicht grün, sondern von der Sonne dunkelbraun gebrannt. Auch die Augen waren braun. Sogar die Mütze war braun, wenn auch an einigen Stellen fast weiß ausgebleicht, als hätte sie irgendwann in ihrem langen Leben ein paar Spritzer eines Bleichmittels abbekommen.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich habe nur gerade gedacht, dass Sie Ihren Pick-up nicht fahren, sondern anhaben

Er stemmte die Arme in die Hüften und lachte schallend laut mit in den Nacken gelegtem Kopf. »So hat’s noch niemand ausgedrückt, aber Sie haben irgendwie recht. Wenn ich in der Lotterie gewinne, kauf ich mir einen Hummer.«

»Na ja, den kann ich Ihnen nicht kaufen, aber für den Radwechsel zahle ich Ihnen gern fünfzig Dollar.«

»Soll das ein Witz sein? Den gibt’s umsonst. Sie haben mich vor einem Platten bewahrt, weil Sie das Abfallholz von der Straße geräumt haben.«

»Jemand ist in einem komischen Lieferwagen mit einem Skelett auf der Seite vorbeigefahren, ohne es zu treffen.«

Der große Kerl war zu Tess’ plattem, linkem Vorderreifen unterwegs gewesen, aber jetzt drehte er sich nach ihr um und runzelte die Stirn. »Jemand ist vorbeigefahren, ohne Ihnen Hilfe anzubieten?«

»Ich glaube nicht, dass er mich gesehen hat.«

»Hat auch nicht gehalten, um diesen Scheiß für den nächsten Kerl wegzuräumen, was?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Ist einfach weitergefahren?«

»Ja.« Irgendwas an diesen Fragen gefiel ihr nicht recht. Dann lächelte der große Kerl, und Tess ermahnte sich, nicht albern zu sein.

»Reserverad unter dem Laderaumboden, stimmt’s?«

»Ja. Das heißt, ich denke schon. Man braucht nur …«

»Den Griff hochziehen, ja, ja. Kenn ich, hab ich schon gemacht.«

Als er mit tief in den Taschen seiner Latzhose vergrabenen Händen hinten um den Explorer herumging, sah Tess, dass die Fahrertür seines Pick-ups nicht ganz geschlossen war, so dass die Deckenleuchte brannte. Weil sie befürchtete, die Batterie des F- 150 könnte so ramponiert sein wie der ganze Wagen, öffnete sie die Tür (die Angeln kreischten fast so laut wie die Bremsen) und knallte sie dann zu. Dabei fiel ihr Blick durch die Heckscheibe des Fahrerhauses auf die Ladefläche des Pick-ups. Auf dem gerippten, rostigen Metall lagen kreuz und quer mehrere Stücke Abfallholz. Sie waren weiß gestrichen und steckten voller Nägel.

Einen Augenblick lang hatte Tess das Gefühl, ein außerkörperliches Erlebnis zu haben. Das tickende Blechschild - DU MAGST ES ES MAG DICH - klang jetzt nicht mehr wie ein altmodischer Wecker, sondern wie eine Zeitbombe.

Sie versuchte sich einzureden, die Holzstücke bedeuteten nichts; solches Zeug bedeute nur etwas in Büchern von der Art, die sie nicht schrieb, und Filmen von der Art, die sie sich nur selten ansah: die grausige, blutige Art. Das funktionierte nicht. Somit hatte sie die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Sie konnte weiter so tun, als hätte sie keinen Verdacht, weil die Alternative beängstigend war, oder sie konnte losrennen und versuchen, den Wald auf der anderen Straßenseite zu erreichen.

Bevor sie sich entscheiden konnte, roch sie den betäubend scharfen Geruch von Männerschweiß. Als sie sich umdrehte, stand er da, überragte sie mit noch immer in den Seitentaschen der Latzhose vergrabenen Händen. »Wie wär’s, wenn ich dich ficken würde, statt deinen Reifen zu wechseln?«, sagte er freundlich. »Wie wäre das?«

Jetzt rannte Tess los, aber nur in Gedanken. In der realen Welt blieb sie an seinen Pick-up gepresst stehen und sah zu ihm auf: zu einem Mann, der so groß war, dass er die Sonne verdunkelte und sie in seinem Schatten stand. Sie dachte daran, dass ihr vor nicht einmal zwei Stunden vierhundert Personen - überwiegend Ladys mit Hüten - in einem kleinen, aber ausreichend großen Vortragssaal applaudiert hatten. Und irgendwo südlich von hier wartete Fritzy auf sie. Ihr dämmerte - mühsam, als müsste sie etwas Schweres heben -, dass sie ihre Katze vielleicht nie wiedersehen würde.

»Bitte bringen Sie mich nicht um«, sagte irgendeine Frau mit sehr schwacher und sehr demütiger Stimme.

»Du Schlampe«, sagte er. Er sprach im Tonfall eines Mannes, der Betrachtungen über das Wetter anstellte. Das Blechschild tickte weiter gegen eine Querstrebe des Verandadachs. »Du weinerliche Hurenschlampe. Meine Güte.«

Die rechte Hand kam aus der Tasche. Eine wahre Riesenpranke. Am kleinen Finger steckte ein Ring mit einem roten Stein. Er sah wie ein Rubin aus, war aber zu groß, um echt zu sein. Vermutlich nur aus Glas, dachte Tess. Das Schild tickte weiter. DU MAGST ES ES MAG DICH. Dann wurde die Hand zu einer Faust, kam auf sie zugeflogen und wurde immer größer, bis sie alles andere verdunkelte.

Von irgendwoher ertönte ein lauter dumpfer Schlag. Sie glaubte, ihr Kopf sei an die Fahrertür des Pick-ups geknallt. Zombie Bakers, dachte Tess noch. Dann wurde es für kurze Zeit dunkel um sie.


6

Sie kam in einem großen schattigen Raum zu sich, der nach feuchtem Holz, uraltem Kaffee und prähistorischen Essiggurken roch. Genau über ihr hing ein alter Deckenventilator schief herab. Er sah wie das defekte Karussell in dem Hitchcock-Film Der Fremde im Zug aus. Sie lag auf dem Fußboden, war von der Taille abwärts nackt, und er vergewaltigte sie. Die Vergewaltigung erschien ihr weniger schlimm als sein Gewicht: Er erdrückte sie auch. Sie bekam kaum Luft. Bestimmt war alles nur ein Traum. Aber ihre Nase war geschwollen, an ihrem Hinterkopf schien sich eine Beule von der Größe eines kleinen Berges gebildet zu haben, und Holzsplitter bohrten sich in ihre Gesäßbacken. Einzelheiten dieser Art nahm man in Träumen nicht wahr. Und in Träumen empfand man keine wirklichen Schmerzen; man wachte immer auf, bevor richtige Schmerzen einsetzten. Das hier passierte wirklich. Er vergewaltigte sie. Er hatte sie in den alten Gemischtwarenladen geschleppt und vergewaltigte sie, während goldene Sonnenstäubchen träge im schräg einfallenden Licht der Nachmittagssonne tanzten. Woanders hörten Leute Musik und kauften online ein und machten ein Nickerchen und telefonierten, aber hier drinnen wurde eine Frau vergewaltigt, und diese Frau war sie. Er hatte ihren Slip eingesteckt; sie sah die Rüschen aus der Brusttasche seiner Latzhose quellen. Dabei musste sie an den Film Beim Sterben ist jeder der Erste denken, den sie einst, als sie als Kinogängerin noch abenteuerlustiger gewesen war, im Rahmen einer College-Filmretrospektive gesehen hatte. Runter mit der Unterhose, hatte einer der Hinterwäldler gesagt, bevor er sich darangemacht hatte, den dicken Städter zu vergewaltigen. Komisch, was einem durch den Kopf ging, wenn man unter hundertdreißig Kilo Bauernfleisch lag und das Glied eines Vergewaltigers

»Bitte«, sagte sie. »O bitte, nicht mehr.«

»Schlampe«, sagte er, und dann kam wieder diese Faust, die ihr Blickfeld ausfüllte. Eine Seite ihres Gesichts wurde heiß, mitten in ihrem Kopf klickte es wieder, und sie wurde abermals bewusstlos.


7

Als sie das nächste Mal wieder zu sich kam, tanzte er in seiner Latzhose um sie herum, schwenkte dabei die Arme und sang mit quiekender, atonaler Stimme »Brown Sugar«. Die Sonne ging unter, und die beiden nach Westen hinausführenden Fenster des Ladens - das Glas staubig, aber wie durch ein Wunder nicht von Vandalen eingeworfen - waren mit Feuer angefüllt. Sein Schatten tanzte hinter ihm, glitt über den Bretterfußboden und die Wand hinauf, an der hellere Rechtecke zeigten, wo einmal Reklameschilder gehangen hatten. Das Poltern seiner derben Arbeitsstiefel klang apokalyptisch.

Sie konnte ihre Gabardinehose zusammengeknüllt unter der Theke liegen sehen, auf der einst die Registrierkasse gestanden haben musste (wahrscheinlich neben einem Steinguttopf mit gekochten Eiern und einem weiteren mit eingelegten Schweinsfüßen). Sie konnte Moder riechen. Und o Gott, ihr tat alles weh. Ihr Gesicht, ihre Brust, am meisten dort unten, wo sie sich aufgerissen fühlte.

Stell dich tot. Das ist deine einzige Chance.

Sie schloss die Augen. Das Singen hörte auf, und sie roch näher kommenden Männerschweiß. Schärfer als zuvor.

Weil er sich Bewegung gemacht hat, dachte sie. Sie vergaß, dass sie sich tot stellen wollte, und versuchte zu schreien. Bevor sie das konnte, packte er sie mit seinen riesigen Pranken am Hals und begann sie zu würgen. Sie dachte: Jetzt ist es aus. Mit mir ist es aus. Das waren ruhige Gedanken, voller Erleichterung. Wenigstens würde sie keine Schmerzen mehr haben und nicht wieder aufwachen müssen, um den Vergewaltiger im blutroten Sonnenuntergangslicht tanzen zu sehen.

Sie wurde bewusstlos.


8

Als Tess zum dritten Mal aus einer Ohnmacht auftauchte, war die Welt schwarz und silbern geworden, und sie schwebte.

So ist das also, wenn man tot ist.

Dann spürte sie Hände unter sich - große Hände, seine Hände - und einen Stacheldrahtreif aus Schmerzen um ihren Hals. Er hatte sie nicht stark genug gewürgt, um sie umzubringen, aber sie trug die Abdrücke seiner Hände wie eine Halskette: vorn die Handflächen, seitlich und im Nacken die Finger.

Es war Nacht. Der Mond war aufgegangen. Ein Vollmond. Er trug sie quer über den Parkplatz des verlassenen Ladens. Er trug sie an seinem Pick-up vorbei. Sie konnte ihren Expedition nicht sehen. Ihr Expedition war weg.

Wo bist du, Tom?

Er blieb am Straßenrand stehen. Sie konnte seinen Schweiß riechen und das Heben und Senken seines Brustkorbs spüren. Sie konnte die Nachtluft kühl an ihren nackten Beinen

Hält er mich für tot? Er kann mich nicht für tot halten. Ich blute noch.

Oder vielleicht nicht? Das ließ sich nicht sicher feststellen. Sie lag schlaff in seinen Armen und kam sich vor wie ein Mädchen in einem Horrorfilm, das eine, das von Jason oder Michael oder Freddy oder wie immer er hieß, fortgeschleppt wird, nachdem er alle anderen abgeschlachtet hat. Zu seinem verwahrlosten Schlupfwinkel tief im Wald, in dem sie an einen Haken in der Decke gekettet werden würde. In diesen Filmen gab es immer Ketten und Haken in der Decke.

Er setzte sich wieder in Bewegung. Sie konnte seine Arbeitsstiefel auf dem ausgebesserten Asphalt der Stagg Road hören: stampf-polter-stampf. Auf der anderen Seite der Straße folgten dann scharrende, klappernde Geräusche. Er räumte die Holzstücke, die sie sorgfältig eingesammelt und in den Straßengraben geworfen hatte, mit Fußtritten beiseite. Das tickende Blechschild war nicht mehr zu hören, aber sie vernahm jetzt fließendes Wasser. Nicht viel, kein Schwall, nur ein Rinnsal. Er kniete sich hin und ließ dabei ein leises Grunzen hören.

Jetzt bringt er mich bestimmt um. Und ich muss wenigstens niemals wieder sein schreckliches Singen hören. Das ist das Schöne daran, würde Ramona Norville sagen.

»He, Mädchen«, sagte er mit freundlicher Stimme.

Sie gab keine Antwort, aber sie konnte sehen, wie er sich über sie beugte und in ihre halb geschlossenen Augen starrte. Sie gab sich größte Mühe, sie still zu halten. Wenn er die kleinste Bewegung entdeckte … oder Tränen glitzern sah …

»He.« Er klatschte mit der Handfläche an ihre Wange. Sie ließ den Kopf zur Seite rollen.

»He!« Diesmal gab er ihr eine richtige Ohrfeige, allerdings auf die andere Wange. Tess ließ den Kopf auf die andere Seite rollen.

Er kniff sie in eine Brustwarze, aber weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihr Bluse und BH auszuziehen, tat das nicht allzu weh. Sie blieb schlaff liegen.

»Tut mir leid, dass ich dich eine Schlampe genannt hab«, sagte er, weiterhin mit freundlicher Stimme. »Du warst ein guter Fick. Und ich mag sie ein bisschen älter.«

Tess erkannte, dass er sie vielleicht wirklich für tot hielt. Das war erstaunlich, aber es schien zu stimmen. Und auf einmal spürte sie den unbändigen Wunsch, weiterzuleben.

Er hob sie wieder hoch. Der Geruch von Männerschweiß war plötzlich überwältigend stark. Bartstoppeln kitzelten die Seite ihres Gesichts, und sie musste sich gewaltig anstrengen, um nicht davor zurückzuzucken. Er küsste ihren Mundwinkel.

»Tut mir leid, wenn ich ein bisschen grob war.«

Dann trug er sie weiter. Das Murmeln von laufendem Wasser wurde lauter. Das Mondlicht wurde blockiert. Es gab den Geruch - nein, den Gestank - von verfaulendem Laub. Er legte sie in knöcheltiefem Wasser ab. Es war so eiskalt, dass sie fast aufgeschrien hätte. Als er ihre Füße an sie drückte, ließ sie die Knie nach oben gehen. Knochenlos, dachte sie. Muss knochenlos bleiben. Ihre Knie kamen nicht weit, bevor sie gegen Wellblech stießen.

»Fuck«, sagte er in nachdenklichem Ton. Dann schob er sie hinein.

Tess blieb schlaff, auch als etwas - ein Ast - schmerzhaft ihr Rückgrat hinunterschrammte. Ihre Knie holperten das Wellblech über ihr entlang. Ihr Gesäß grub sich in eine schwammige Masse, und der Gestank nach verfaulendem pflanzlichem Material wurde stärker. Der Gestank schnürte ihr die Kehle zu. Sie spürte den schrecklichen Drang, ihn

Wenn er es jetzt merkt, wehre ich mich. Ich trete ihn und trete ihn und trete ihn …

Aber nichts passierte. Sie wagte lange Zeit nicht, die Augen weiter zu öffnen oder sich auch nur im Geringsten zu bewegen. Sie stellte sich vor, wie er draußen kauerte, in die Röhre starrte, in die er sie geschoben hatte, den Kopf fragend zur Seite gelegt hatte und auf die kleinste Bewegung lauerte. Wie konnte er nicht wissen, dass sie noch lebte? Er musste gespürt haben, wie ihr Herz hämmerte. Und was konnte sie schon mit Fußtritten gegen den Riesen aus dem Pick-up ausrichten? Er würde ihre nackten Füße mit einer Hand packen und sie herausziehen, um sie wieder zu würgen. Nur würde er diesmal nicht vorzeitig aufhören.

Sie lag in fauligem Laub und träge fließendem Wasser, starrte mit halb geöffneten Augen ins Leere und konzentrierte sich darauf, sich tot zu stellen. Sie versank in einem grauen Dämmerzustand, der nicht ganz eine Bewusstlosigkeit war, und verharrte scheinbar endlos lange, aber in Wirklichkeit vermutlich nur kurz darin. Als sie einen Motor hörte - sein Pick-up, bestimmt sein Pick-up - dachte sie: Ich bilde mir dieses Geräusch nur ein. Oder träume es. Er ist noch da.

Aber das unregelmäßige Tuckern des Motors wurde erst kurz lauter, um dann die Stagg Road entlang zu verhallen.

Das ist ein Trick.

Das war fast sicher Hysterie. Selbst wenn es das nicht war, konnte sie nicht die ganze Nacht hier liegen bleiben. Und als sie den Kopf hob (wobei ein stechender Schmerz in ihrer malträtierten Kehle sie zusammenzucken ließ), sah sie nur einen durch nichts beeinträchtigten silbernen Kreis aus

Das ist ein Trick. Was du gehört hast, ist mir egal, er ist noch da.

Diesmal war der Gedanke stärker. Dass sie am Ende des Durchlasses nichts sah, machte ihn stärker. In einem spannenden Roman wäre jetzt der Augenblick trügerischer Entspannung vor dem großen Höhepunkt gekommen. Oder in einem Gruselfilm. Die weiße Hand, die in Beim Sterben ist jeder der Erste aus dem See auftauchte. Alan Arkin, der in Warte, bis es dunkel ist über Audrey Hepburn herfiel. Sie mochte keine gruseligen Bücher oder Filme, aber vergewaltigt und fast ermordet zu werden schien einen ganzen Speicher mit lauter ähnlichen Erinnerungen an Gruselfilme geöffnet zu haben. Als wären sie in der Luft schwebend einfach da.

Er konnte draußen lauern. Wenn er beispielsweise einen Komplizen hatte, der seinen Pick-up weggefahren hatte. Er konnte in der geduldigen Art, die Landbewohner an sich hatten, draußen neben dem Durchlass hocken.

»Runter mit der Unterhose«, flüsterte sie, dann bedeckte sie ihren Mund mit der Hand. Wenn er sie gehört hatte?

Fünf Minuten vergingen. Geschätzte fünf. Das Wasser war kalt, und sie begann zu zittern. Bald würde sie anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Wenn er dort draußen war, würde er das hören.

Er ist weggefahren. Du hast ihn gehört.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Und vielleicht brauchte sie die Röhre nicht dort zu verlassen, wo sie hineingekommen war. Wenn sie einen Durchlass bildete, würde sie die Straße unterqueren, und weil fließendes Wasser zu spüren war, würde sie nicht blockiert sein. Sie konnte ganz hindurchkriechen und vom anderen Ende aus den Parkplatz des verlassenen Ladens überblicken.

Und wenn er fort ist? Was dann?

Das konnte sie nicht sagen. Sie konnte sich ihr Leben nach dem Nachmittag in dem verlassenen Laden und dem Abend in der Röhre mit einem Polster aus verrottendem Laub unter dem Kreuz nicht vorstellen. Aber vielleicht war das auch nicht nötig. Vielleicht konnte sie sich darauf konzentrieren, zu Fritzy heimzukommen und ihn mit einer Packung Fancy Feast zu füttern. Sie konnte die Fancy-Feast-Schachtel ganz deutlich sehen. Sie stand in einem Regal in ihrer friedlichen Speisekammer.

Sie wälzte sich auf den Bauch und stützte sich auf die Ellbogen, um durch die Röhre weiterzukriechen. Dann sah sie, wer sich den Durchlass mit ihr teilte. Eine der Leichen war kaum mehr als ein Skelett (mit wie bittend ausgestreckten knochigen Händen), aber es hatte noch genügend Haare auf dem Kopf - auf ihrem Kopf -, dass Tess sich ziemlich sicher war, dass es eine Frauenleiche war. Die andere hätte eine grausig entstellte Schaufensterpuppe sein können, wären die hervorquellenden Augen und die heraushängende Zunge nicht gewesen. Diese Leiche war frischer, aber von Tieren angefressen, und Tess konnte selbst im Dunkel die zu einem Grinsen gebleckten Zähne der Toten erkennen.

Aus dem Haar der Schaufensterpuppe kam ein Käfer gekrabbelt und kroch über den Nasensattel hinunter.

Heiser schreiend, schob Tess sich rückwärts aus der Röhre und sprang auf - mit von der Taille aufwärts klatschnass


9

Sie war in dem Laden, in dem großen zentralen Verkaufsraum, der früher in Gänge aufgeteilt gewesen war, mit einer Tiefkühltruhe (vielleicht) im rückwärtigen Teil und einer Bierkühltheke (bestimmt) entlang der Rückwand. Sie nahm den Geruch von altem Kaffee und Essiggurken wahr. Sie angelte ihre Gabardinehose unter der Ladentheke hervor. Darunter lagen ihre Schuhe und ihr Handy - zertrümmert. Ihr Haargummi war weg. Sie erinnerte sich (vage, so wie man sich an bestimmte Dinge aus frühester Kindheit erinnert), dass an diesem Vormittag irgendeine Frau gefragt hatte, wo sie ihn gekauft habe, und dass ihre Antwort »bei JCPenney« unerklärlichen Beifall ausgelöst hatte. Sie dachte daran, wie der Riese »Brown Sugar« gesungen hatte - mit dieser monoton quiekenden kindlichen Stimme -, und trat weg.


10

Sie irrte durch den Mondschein hinter dem Laden. Sie trug einen Teppichrest um die Schultern, konnte sich aber nicht erinnern, woher sie ihn hatte. Er war schmuddelig, aber er wärmte, und sie zog ihn enger um sich. Dann merkte sie, dass sie das Gebäude in Wirklichkeit umkreiste, dass dies ihre zweite, dritte oder gar vierte Runde sein konnte. Ihr wurde bewusst, dass sie ihren Expedition suchte, aber immer wenn sie ihn nicht finden konnte, vergaß sie, dass sie hinter dem Laden schon gesucht hatte, und machte eine weitere Runde. Das vergaß sie, weil sie auf den Kopf geschlagen und vergewaltigt und gewürgt worden war und unter Schock stand. Sie befürchtete, eine Gehirnblutung zu haben - aber wie konnte man das wissen, außer man wachte bei den Engeln auf, die es einem erzählten? Die Nachmittagsbrise hatte aufgefrischt, und das Ticken des Blechschilds war etwas lauter. DU MAGST ES ES MAG DICH.

»7Up«, sagte sie. Ihre Stimme war heiser, aber brauchbar. »Das ist es! Du magst es, und es mag dich.« Sie hörte sich selbst laut singen. Sie hatte eine gute Singstimme, die überraschend angenehm rauchig klang, seit sie gewürgt worden war. Es war, als hörte man Bonnie Tyler hier draußen im Mondschein singen. »7Up tastes good … like a cigarette should!« Ihr wurde bewusst, dass das nicht richtig war, und selbst wenn es das war, sollte sie etwas Besseres als abgefuckte Werbejingles singen, solange sie diese angenehm rauchige Stimme hatte; wenn man vergewaltigt und mit zwei anderen verwesenden Vergewaltigungsopfern als tot in einer Röhre zurückgelassen wurde, musste man der Sache irgendwas Gutes abgewinnen können.

Ich werde Bonnie Tylers Hit singen. Ich werde »It’s a Heartache« singen. Den Text weiß ich bestimmt. Ich bin mir sicher,

Aber dann trat sie wieder weg.


11

Sie saß auf einem Felsblock und weinte sich die Augen aus. Den schmuddeligen Teppichrest trug sie weiterhin um die Schultern. Ihr Schritt brannte und schmerzte. Der saure Geschmack in ihrem Mund ließ darauf schließen, dass sie sich irgendwann zwischen ihren Runden um das Gebäude und der Rast auf diesem Felsblock übergeben haben musste, aber sie hatte keine Erinnerung daran. Woran sie sich erinnerte …

Er hat mich vergewaltigt, er hat mich vergewaltigt, er hat mich vergewaltigt!

»Du bist nicht die Erste, und du wirst nicht die Letzte sein«, sagte sie, aber diese von ersticktem Schluchzen unterbrochene liebevoll strenge Feststellung war nicht sonderlich hilfreich.

Er hat versucht, mich umzubringen, er hat mich fast umgebracht!

Ja, ja. Und in diesem Augenblick erschien ihr sein Versagen nicht sehr tröstlich. Sie sah nach links, wo in fünfzig bis sechzig Meter Entfernung das verlassene Gebäude stand.

Andere hat er umgebracht! Sie liegen in der Röhre! Kä fer krabbeln auf ihnen herum, ohne dass es sie stört!

»Ja, ja«, sagte sie mit ihrer rauen Bonnie-Tyler-Stimme, dann trat sie wieder weg.


12

Sie war »It’s a Heartache« singend mitten auf der Stagg Road unterwegs, als sie hinter sich ein näher kommendes Motorengeräusch hörte. Sie warf sich herum, wäre fast gestürzt und sah Autoscheinwerfer, die eine Hügelkuppe anstrahlten, über die sie gerade gekommen sein musste. Das war er. Der Riese. Er war zurückgekommen, hatte den Durchlass inspiziert und gesehen, dass sie nicht mehr darin lag. Und jetzt war er auf der Suche nach ihr.

Tess war mit einem Sprung im Straßengraben, ging in die Knie, verlor den umgehängten Teppichrest, sprang wieder auf und stolperte blindlings in die Büsche. Ein Ast ritzte ihr die Wange blutig. Sie hörte eine Frau angstvoll schluchzen. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie auf alle viere niedersank. Die Straße wurde hell, als die Scheinwerfer über den Hügel kamen. Sie sah den Teppichrest, den sie verloren hatte, sehr deutlich und wusste, dass der Riese ihn auch sehen würde. Er würde halten und aussteigen. Sie würde versuchen wegzurennen, aber er würde sie einholen. Sie würde schreien, aber niemand würde sie hören. In solchen Storys tat das nie jemand. Er würde sie umbringen, aber zuvor würde er sie noch mal vergewaltigen.

Das Auto - es war ein Auto, kein Pick-up - fuhr vorbei, ohne langsamer zu werden. Aus seinem Inneren drang der Sound von Bachman-Turner Overdrive, voll aufgedreht: »B-B-B-Baby, you just ain’t seen n-n-nuthin yet«. Sie beobachtete, wie die Heckleuchten schlagartig verschwanden. Sie merkte, dass sie kurz davor war, wieder wegzutreten, und schlug sich mit beiden Händen ins Gesicht.

»Nein!«, knurrte sie. »Nein!«

Sie kam wieder ein Stück weit zu Sinnen. Der Drang, in den Büschen versteckt zu bleiben, war stark, aber dort konnte sie nicht bleiben. Nicht nur war es noch lange bis

Tess hob den Teppichrest aus dem Straßengraben auf, um ihn sich wieder um die Schultern zu legen, berührte dann ihre Ohren und wusste bereits, was sie finden würde. Die tropfenförmigen Brillantohrringe, eine ihrer wenigen wirklichen Extravaganzen, waren weg. Sie brach erneut in Tränen aus, aber dieser Weinkrampf war kürzer, und als er vorbei war, fühlte sie sich mehr wie sie selbst. Mehr in sich selbst, eine Bewohnerin ihres Kopfs und Körpers, statt sich nur wie ein Gespenst zu umschweben.

Nachdenken, Tessa Jean!

Also gut, sie würde es versuchen. Aber sie würde es im Gehen tun. Und kein Gesang mehr. Der Klang ihrer veränderten Stimme war unheimlich. Als ob der Riese durch seine Vergewaltigung eine neue Frau erschaffen hätte. Sie wollte keine neue Frau sein. Die alte hatte ihr gefallen.

Gehen. Bei Mondschein gehen, während ihr Schatten neben ihr über die Straße glitt. Welche Straße? Stagg Road. Laut Tom war sie etwas weniger als vier Meilen von der Kreuzung mit der US 47 entfernt gewesen, als sie in die Falle des Riesen geraten war. Das war nicht so schlimm; um in Form zu bleiben, lief sie jeden Tag mindestens drei Meilen oder benutzte bei Schnee oder Regen ihren Hometrainer. Natürlich war dies ihr erster Marsch als die Neue Tess, die mit der schmerzenden, blutenden Möse und der rauchigen Stimme. Aber es gab eine positive Seite: Ihr wurde allmählich warm, die obere Hälfte ihrer Kleidung trocknete, und sie trug flache Schuhe. Beinahe hätte sie dreiviertelhohe Pumps getragen, die diesen Abendspaziergang wirklich sehr unangenehm gemacht hätten. Nicht dass er unter anderen Umständen angenehm gewesen wäre, nein nein n…

Nachdenken!

Aber bevor sie das konnte, wurde die Straße vor ihr hell. Tess flitzte wieder in die Büsche und schaffte es diesmal, den Teppichrest nicht zu verlieren. Ein weiteres Auto, Gott sei Dank nicht sein Pick-up, aber sie wurde nicht langsamer.

Er könnte es trotzdem sein. Vielleicht ist er in ein Auto umgestiegen. Er kann zu seinem Haus, seinem Schlup fwinkel zurückgefahren und in ein Auto umgestiegen sein. Weil er denkt: »Sie wird sehen, dass es kein Pick-up ist, und aus ihrem Versteck kommen. Sie wird mich anhalten, und dann hab ich sie.«

Ja, ja. Genau das würde in einem Horrorfilm passieren, oder? Kreischende Opfer 4 oder Stagg Road Horror 2 oder …

Sie drohte abermals wegzutreten, also schlug sie sich wieder ins Gesicht. Sobald sie zu Hause war, sobald Fritzy gefüttert war und sie in ihrem Bett lag (alle Türen abgesperrt, alle Lampen eingeschaltet), konnte sie so viel wegtreten, wie sie wollte. Aber nicht jetzt. Nein nein nein. Jetzt musste sie weitergehen und sich verstecken, wenn Autos kamen. Wenn sie das schaffte, würde sie irgendwann die U S 47 erreichen, an der es einen Laden geben konnte. Einen mit einem Kartentelefon, wenn sie Glück hatte … und sie hatte etwas Glück verdient. Ihre Handtasche war weg, die lag noch in dem Expedition (wo auch immer der sein mochte), aber sie wusste die Nummer ihrer Telefonkarte von AT&T auswendig: ihre eigene Telefonnummer, dann 9712. Kinderleicht.

Am Straßenrand stand ein Schild. Tess konnte es im Mondschein mühelos lesen:

SIE HABEN COLEWICH ERREICHT

WILLKOMMEN, FREUND!

»Du magst Colewich, es mag dich«, flüsterte sie.

Tess kannte diese Gemeinde, deren Name von den Einheimischen »Collitch« ausgesprochen wurde. Es war in Wirklichkeit eine Kleinstadt, eine der vielen in Neuengland, die wohlhabend gewesen waren, solange die Textilindustrie floriert hatte, und sich in der neuen Freihandelsära, in der Amerikas Hosen und Jacken in Asien oder Mittelamerika genäht wurden - vermutlich von Kindern, die weder lesen noch schreiben konnten -, irgendwie durchwurstelten. Sie befand sich in den Außenbezirken, aber sie konnte bestimmt bis zu einem Telefon weitergehen.

Was dann?

Dann würde sie … würde sie …

»Eine Limousine bestellen«, sagte sie. Diese Idee brach wie ein Sonnenaufgang über sie herein. Ja, genau das würde sie tun. Wenn sie hier in Colewich war, war ihre Heimatstadt in Connecticut nur dreißig Meilen weit entfernt, vielleicht weniger. Der Limo-Service, den sie für Fahrten zum Bradley International Airport oder nach Hartford oder New York benutzte (Tess fuhr in keiner Großstadt selbst Auto, wenn es sich vermeiden ließ), hatte seinen Sitz in der Nachbarstadt Woodfield. Die Firma Royal Limousine warb damit, Tag und Nacht dienstbereit zu sein. Noch besser war, dass ihre Kreditkarteninformationen dort gespeichert sein mussten.

Tess fühlte sich besser und steigerte ihr Tempo ein wenig. Dann erhellten Autoscheinwerfer die Straße, und sie flüchtete wieder in die Büsche, kauerte nieder und kam sich wie ein gejagtes Tier vor: Ricke, Füchsin, Häsin. Dieses Fahrzeug war ein Pick-up, und sie begann zu zittern. Sie zitterte selbst dann weiter, als sie sah, dass der Pick-up ein kleiner weißer Toyota war, viel kleiner als der alte Ford des Riesen. Als er vorbei war, versuchte sie, sich dazu zu zwingen, auf der Straße weiterzugehen, aber das konnte sie zunächst

Sie zwang sich dazu, daran zu denken, wie sie sich bei dem Limo-Fahrer bedankte und auf der Kreditkartenabrechnung ein Trinkgeld hinzufügte, bevor sie zwischen Blumenrabatten langsam zur Haustür ging. Wie sie den Briefkasten hochkippte, um an den Reserveschlüssel dahinter heranzukommen. Wie sie Fritzy ängstlich miauen hörte.

Der Gedanke an Fritzy gab den Ausschlag. Sie kroch aus dem Gebüsch, marschierte weiter die Straße entlang und hielt sich bereit, sofort wieder in Deckung zu flitzen, sobald sie Autoscheinwerfer sah. Augenblicklich. Weil er irgendwo dort draußen war. Ihr wurde bewusst, dass er in Zukunft stets irgendwo dort draußen sein würde. Falls die Polizei ihn nicht schnappte und einsperrte. Aber damit es dazu kommen konnte, musste sie Anzeige erstatten, und sobald ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, glaubte sie, eine marktschreierische Schlagzeile im Stil der New York Post vor sich zu sehen:

»WILLOW GROVE«-AUTORIN NACH LESUNG

VERGEWALTIGT

Klatschblätter wie die Post würden sicher ein Foto bringen, das sie vor zehn Jahren zeigte, als ihr erstes Strickclub-Buch erschienen war. Damals war sie Ende zwanzig gewesen, mit weit über schulterlangen dunkelblonden Haaren und guten Beinen, die sie gern in kurzen Röcken zur Schau stellte. Sie hat es gewollt … sie hat es gekriegt.

War das realistisch, oder malten ihre Beschämung und ihr erheblich lädiertes Selbstwertgefühl sich nur den schlimmstmöglichen Fall aus? Jener Teil von ihr, der lieber in den Büschen versteckt bleiben wollte, selbst wenn es ihr gelang, von dieser scheußlichen Straße wegzukommen, diesen scheußlichen Staat Massachusetts hinter sich zu lassen und ihr sicheres Häuschen in Stoke Village zu erreichen? Sie konnte es sich nicht beantworten und vermutete, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Eines wusste sie jedoch: Sie würde das landesweite Medienecho bekommen, das sich jede Autorin wünschen würde, wenn ein Buch von ihr erschien, und das sich keine Autorin wünschen konnte, wenn sie vergewaltigt und ausgeraubt und als tot liegen gelassen worden war. Sie konnte förmlich sehen, wie jemand in der Frageperiode die Hand hob und wissen wollte: »Haben Sie ihn irgendwie ermutigt?«

Das war lächerlich, das wusste Tess sogar in ihrem gegenwärtigen Zustand … aber sie wusste auch, wenn das herauskam, würde jemand die Hand heben, um zu fragen: »Werden Sie über diese Sache schreiben?«

Und was würde sie antworten? Was konnte sie antworten?

Nichts, dachte Tess. Ich würde mit zugehaltenen Ohren vom Podium flüchten.

Aber nein.

Nein nein nein.

In Wirklichkeit würde sie überhaupt nicht erst dort sein. Wie konnte sie jemals wieder in eine weitere Lesung, einen Vortrag oder eine Autogrammstunde einwilligen, wenn sie wusste, dass er aufkreuzen, sie aus der letzten Reihe angrinsen könnte? Unter dieser komischen braunen Mütze mit dem Bleichmittelflecken hervor grinsend? Vielleicht mit ihren Ohrringen in der Tasche. Während er mit ihnen spielte.

Bei dem Gedanken an ihre Aussage bei der Polizei wurde ihr ganz heiß, und sie konnte spüren, wie ihr Gesicht sich vor Scham buchstäblich verzerrte, selbst allein hier draußen in der Dunkelheit. Auch wenn sie vielleicht nicht Sue Grafton oder Janet Evanovich war, war sie doch streng genommen keine Privatperson. Sogar CNN würde ein, zwei Tage über sie berichten. Die Welt würde erfahren, dass ein verrückter, grinsender Riese sich in die Willow-Grove-Autorin ergossen hatte. Sogar die Tatsache, dass er ihren Slip als Souvenir behalten hatte, konnte herauskommen. CNN würde dieses Detail nicht melden, aber der National Enquirer oder Inside View würden solche Bedenken nicht haben.

Mit den Ermittlungen vertraute Personen behaupten, dass bei dem mutmaßlichen Vergewaltiger ein Slip der Autorin gefunden wurde: ein mit Spitze besetzter blauer Hü ftslip von Victoria’s Secret.

»Ich kann es nicht erzählen«, sagte sie. »Ich werde es nicht erzählen.«

Aber es hat andere vor dir gegeben, es könnte weitere nach dir …

Sie verdrängte diesen Gedanken energisch. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, wozu sie moralisch verpflichtet

Ihrer. Er gehörte jetzt ihr.


13

Ungefähr eine Meile nach dem Ortsschild von Colewich hörte sie auf einmal ein tiefes, rhythmisches Pochen, das aus der Straße, auf der sie lief, zu kommen schien. Zuerst dachte sie an die Morlocks, H. G. Wells’ Mutanten, die tief im Erdinneren ihre Maschinen bedienten, aber nach weiteren fünf Minuten klärte sich die Ursache des Lärms auf. Er kam durch die Luft, nicht aus der Erde, und war ein Klang, den sie kannte: der Herzschlag einer Bassgitarre. Der Rest der Band materialisierte sich darum herum, während sie weiterging. Bald konnte sie am Horizont Licht sehen: keine Autoscheinwerfer, sondern das Weiß von Bogenlampen und das rote Leuchten von Neonröhren. Die Band spielte »Mustang Sally«, und Tess konnte Gelächter hören. Es war betrunken und wunderbar, mit fröhlichen Saufgelagejuchzern durchsetzt. Bei diesen Lauten hätte sie am liebsten wieder geweint.

Das Rasthaus, ein großer alter Partyschuppen mit einem riesigen unbefestigten Parkplatz, der gesteckt voll zu sein schien, nannte sich The Stagger Inn. Sie blieb stirnrunzelnd am Rand der Lichtflut der Parkplatzbeleuchtung stehen. Weshalb so viele Autos? Dann fiel ihr ein, dass heute Freitag war. An Freitagabenden war das Stagger Inn offenbar der angesagte Club, wenn man aus Colewich oder einer

Er konnte dort sein. War er nicht zwischendurch um sie herumgetanzt und hatte mit seiner schrecklich tonlosen Stimme einen Song der Rolling Stones gesungen? Vielleicht hatte sie diesen Teil nur geträumt - oder als Halluzination wahrgenommen -, aber das glaubte sie nicht. War es nicht denkbar, dass er geradewegs ins Stagger Inn gefahren war, nachdem er den Geländewagen versteckt hatte, alle Röhren frisch durchgespült und bereit, die Nacht durchzufeiern? Sie traute sich zu, seinen Pick-up zu erkennen, wenn sie ihn sah, aber auf dem Parkplatz standen so viele Fahrzeuge. Selbst wenn sie die Reihen einzeln absuchte, konnte sie ihn übersehen.

Die Band legte mit einem fast original klingenden alten Song der Cramps los: »Can Your Pussy Do the Dog?«. Nein, dachte Tess, aber heute hat es ein Hund meiner Pussy besorgt. Die Alte Tess hätte einen Scherz dieser Art nicht gebilligt, aber die Neue Tess hielt ihn für ziemlich gut. Sie bellte ein heiseres Lachen, setzte sich wieder in Bewegung und ging auf die andere Straßenseite hinüber, wo die Parkplatzbeleuchtung nicht mehr ganz hinreichte.

Als sie an der Rückseite des Gebäudes vorbeikam, sah sie einen alten weißen Kastenwagen, der rückwärts an die Ladebucht herangestoßen war. Auf dieser Seite des Stagger Inn gab es keine Bogenlampen, aber der Mondschein reichte aus, um ihr das Skelett mit seinem Schlagzeug aus

»Can your pussy do the dog?«, fragte Tess und zog den schmuddeligen Teppichrest etwas enger um den Hals. Er war keine Nerzstola, aber in dieser kühlen Oktobernacht besser als nichts.


14

Wenn Sie die 47 erreichen, hatte Ramona Norville gesagt, sehen Sie einen Wegweiser zur I-84. Tess sah etwas noch Besseres: ein Gas & Dash mit zwei Kartentelefonen an der Hohlblocksteinwand zwischen den Toiletten.

Sie ging zuerst auf Damen und musste mit einer Hand vor dem Mund einen Schrei unterdrücken, als ihr Urin zu fließen begann; es brannte, als hätte jemand in ihr ein Streichholzbriefchen angezündet. Als sie vom WC aufstand, kullerten wieder Tränen über ihre Wangen. Das Wasser in der Schüssel war pastellrosa. Sie tupfte sich mit zusammengelegtem Klopapier ab - sehr sanft - und betätigte dann die Spülung. Sie hätte ein weiteres Papierpolster in den Schritt ihrer Unterhose gelegt, aber das konnte sie natürlich nicht. Der Riese hatte ihren Slip als Souvenir mitgenommen.

»Du Scheißkerl«, sagte sie mit ihrer neuen, rauen Bonnie-Tyler-Stimme.

Sie blieb mit einer Hand auf dem Türknopf stehen und betrachtete in dem wasserfleckigen Metallspiegel über dem Waschbecken die misshandelte Frau mit den weit aufgerissenen Augen. Dann ging sie hinaus.


15

Sie entdeckte, dass es in diesen modernen Zeiten eigenartig schwierig geworden war, ein Kartentelefon zu benutzen, auch wenn man die Nummer seiner Telefonkarte auswendig wusste. Das erste Telefon, das sie ausprobierte, funktionierte nur in einer Richtung: Sie konnte die Auskunft hören, aber die Telefonistin konnte nicht sie hören und trennte deshalb die ohnehin unzulängliche Verbindung. Das andere Telefon hing schief an der Hohlblocksteinwand - wenig ermutigend -, aber es funktionierte. Aus dem Hörer kam ein stetiges ärgerliches Summen, aber wenigstens konnten die Telefonistin und sie miteinander reden. Nur hatte Tess weder Bleistift noch Kugelschreiber. In ihrer Handtasche hatte sie mehrere Schreibgeräte, aber die war weg.

»Können Sie mich nicht einfach verbinden?«, fragte sie die Telefonistin.

»Nein, Ma’am, Sie müssen die Nummer selbst wählen, um Ihre Kreditkarte zu benutzen.« Die Telefonistin sprach, als müsste sie einem dummen Kind etwas allgemein Bekanntes erklären. Das brachte Tess aber nicht auf; sie fühlte sich wie ein dummes Kind. Dann sah sie, wie staubig die Wand war. Sie forderte die Telefonistin auf, ihr die Nummer zu geben, und als sie kam, schrieb Tess sie mit dem Zeigefinger in den Staub.

Bevor sie wählen konnte, fuhr ein Pick-up auf den Parkplatz. Ihr Herz flog mit schwindelerregender akrobatischer Leichtigkeit in ihre Kehle hinauf, und als zwei lachende Jungs in Highschool-Jacken ausstiegen und in dem Laden verschwanden, war sie froh, dass es dort oben war. Es blockierte den Schrei, den sie sonst bestimmt nicht hätte unterdrücken können.

Sie spürte, dass die Welt wegzutreten versuchte, lehnte den Kopf sekundenlang an die Wand und rang nach Atem.

Sie machte sich auf einen Anrufbeantworter oder einen gelangweilten Kundenbetreuer gefasst, der ihr erklärte, sie hätten keine Wagen, natürlich nicht, heute sei Freitagabend, sind Sie dumm auf die Welt gekommen, Lady, oder erst später so geworden? Aber nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine geschäftsmäßige Frau, die sich als Andrea vorstellte. Sie hörte Tess zu, dann sagte sie, sie würden sofort einen Wagen hinausschicken, ihr Fahrer würde Manuel sein. Ja, sie wisse genau, von wo aus Tess anrufe, weil sie dauernd Wagen zum Stagger Inn hinausschickten.

»Okay, aber ich bin nicht dort«, sagte Tess. »Ich bin an der Kreuzung ungefähr eine halbe Meile vom…«

»Ja, Ma’am, das habe ich«, sagte Andrea. »Das Gas & Dash. Dort fahren wir manchmal auch hin. Die Leute gehen oft zu Fuß hin und rufen an, wenn sie ein bisschen zu viel getrunken haben. Es wird ungefähr fünfundvierzig Minuten dauern, vielleicht sogar eine Stunde.«

»Das ist in Ordnung«, sagte Tess. Wieder flossen ihr die Tränen. Diesmal Tränen der Dankbarkeit, obwohl sie sich ermahnte, wachsam zu bleiben, weil die Hoffnungen der Heldin sich in solchen Storys allzu oft als trügerisch erwiesen. »Das ist völlig in Ordnung. Ich bin um die Ecke bei den Telefonen. Und ich halte die Augen offen.«

Jetzt wird sie mich fragen, ob ich etwas zu viel getrunken habe. Weil ich wahrscheinlich so klinge.

Aber Andrea wollte nur wissen, ob sie bar oder mit Karte zahlen würde.

»American Express. Ich müsste in Ihrem Computer sein.«

»Ja, Ma’am, das sind Sie. Danke, dass Sie Royal Limousine angerufen haben, wo jeder Kunde königlich behandelt

Als sie den Hörer einhängen wollte, kam ein Mann - er, das ist er - um die Ladenecke genau auf sie zugerannt. Diesmal hatte sie keine Chance aufzuschreien; sie war vor Entsetzen gelähmt.

Es war einer der beiden Teenager. Er lief an ihr vorbei, ohne sie anzusehen, schlug einen Haken nach links und verschwand in Herren. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Wenige Augenblicke später hörte sie den pferdeartig starken Strahl, mit dem ein junger Mann seine schrecklich gesunde Blase entleerte.

Tess ging an der Seite des Gebäudes entlang nach hinten. Dort stand sie neben einem übelriechenden Müllbehälter (nein, dachte sie, ich stehe nicht, ich lauere) und wartete darauf, dass der junge Mann fertig war und verschwand. Dann ging sie zu den Telefonen zurück, um die Straße zu beobachten. Obwohl sie an vielen Stellen Schmerzen hatte, spürte sie, wie ihr Magen vor Hunger knurrte. Sie hatte das Abendessen versäumt, war einfach zu sehr damit beschäftigt gewesen, vergewaltigt und beinahe umgebracht zu werden, um etwas zu essen. Sie hätte gern irgendeinen der Snacks gehabt, die in solchen Läden verkauft wurden - sogar ein paar dieser scheußlichen kleinen, widerlich gelben Erdnussbuttercracker wären köstlich gewesen -, aber sie hatte kein Geld. Auch wenn sie welches gehabt hätte, wäre sie nicht hineingegangen. Sie kannte die Beleuchtung in Tankstellenshops wie dem Gas & Dash: unbarmherzig grelle Leuchtstoffröhren, in deren Licht selbst Gesunde aussahen, als litten sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der oder die Angestellte hinter der Theke würde ihr entstelltes Gesicht, die gebrochene Nase und die geschwollenen Lippen anstarren, und auch wenn er oder sie nichts sagte, würde Tess leicht geweitete Augen sehen. Und vielleicht ein Wer hat Sie so rangenommen, Lady, und womit haben Sie sich’s verdient? Sind wohl nicht rübergekommen, nachdem irgendein Kerl seinen Überstundenlohn für Sie ausgegeben hat, was?

Das erinnerte sie an eine alte Scherzfrage, die sie irgendwo gehört hatte: Wieso gibt es jährlich dreihunderttausend misshandelte Frauen in Amerika? Weil sie … verdammt noch mal … ein fach nicht gehorchen.

»Macht nichts«, flüsterte sie. »Ich esse etwas, wenn ich zu Hause bin. Vielleicht Thunfischsalat.«

Das klang gut, aber irgendwie war sie davon überzeugt, dass sie wohl nie wieder Thunfischsalat - oder übrigens auch widerlich gelbe Erdnussbuttercracker aus Tankstellenshops - essen können würde. Die Vorstellung, dass eine Limousine vorfahren und sie aus diesem Albtraum holen würde, war zu gut, um wahr zu sein.

Irgendwo zu ihrer Linken konnte Tess das Rauschen des Verkehrs auf der I-84 hören - auf der Interstate, die sie genommen hätte, wenn sie nicht so erfreut gewesen wäre, die Heimfahrt abkürzen zu können. Dort drüben auf der Turnpike waren Leute, die nie vergewaltigt oder in Röhren gestopft worden waren, zu fernen Zielen unterwegs. Tess fand, dass das Geräusch ihres unbekümmerten Reisens das Einsamste war, das sie je gehört hatte.


16

Die Limousine kam. Es handelte sich um einen Lincoln Town Car. Der Fahrer stieg aus und sah sich um. Tess beobachtete ihn von der Ladenecke aus genau. Er trug einen dunklen Anzug. Er war ein kleiner Kerl mit Brille, der nicht wie ein Vergewaltiger aussah … aber natürlich waren nicht alle Riesen Vergewaltiger und nicht alle Vergewaltiger Riesen. Aber sie würde ihm vertrauen müssen. Wenn sie nach Hause und Fritzy füttern wollte, blieb ihr keine andere Wahl. Also ließ sie ihre schmutzige improvisierte Stola unter das funktionierende Kartentelefon fallen und ging langsam, und ohne zu schwanken, zu dem Town Car. Das aus den Fenstern des Tankstellenshops fallende Licht erschien ihr blendend hell, als sie aus dem Halbschatten trat, und sie war sich bewusst, wie ihr Gesicht aussah.

Er wird fragen, was mir zugestoßen ist, und dann wird er fragen, ob ich ins Krankenhaus will.

Aber Manuel (der vielleicht schon Schlimmeres gesehen hatte, das war nicht unmöglich) hielt ihr nur den Schlag auf und sagte: »Willkommen bei Royal Limousine, Ma’am.« Sein sanfter hispanischer Akzent passte zu seinem dunklen Teint und den schwarzen Augen.

»Wo ich königlich behandelt werde«, sagte Tess mit ihrer neuen, rauchigen Stimme. Sie versuchte zu lächeln. Was ihren geschwollenen Lippen ziemlich wehtat.

»Ja, Ma’am.« Sonst nichts. Gott segne Manuel, der vielleicht schon Schlimmeres gesehen hatte - vielleicht dort, wo er herkam, vielleicht auf dem Rücksitz genau dieses Wagens. Wer wusste, was für Geheimnisse Limo-Fahrer bewahrten? Das war eine Frage, in der ein gutes Buch versteckt sein konnte. Nicht von der Art, die sie schrieb, natürlich nicht … aber wer konnte wissen, was für Bücher sie in Zukunft schreiben würde? Oder ob sie überhaupt noch

Sie stieg hinten ein und bewegte sich dabei wie eine alte Frau mit fortgeschrittener Osteoporose. Als sie saß und er die Tür geschlossen hatte, umklammerte sie den Türgriff und sah aufmerksam nach vorn, weil sie sichergehen wollte, dass Manuel sich ans Steuer setzte, nicht der Riese in der Latzhose. In Stagg Road Horror 2 wäre es der Riese gewesen: ein letztes Drehen an der Spannungsschraube vor dem Abspann. Ein bisschen Ironie des Schicksals, das ist gut für den Kreislau f.

Aber es war Manuel, der einstieg. Natürlich er. Sie entspannte sich.

»Als Adresse habe ich 19 Primrose Lane in Stoke Village. Ist das korrekt?«

Im ersten Augenblick wusste sie’s nicht; die Nummer ihrer Telefonkarte hatte sie ohne Unterbrechung eingetippt, aber die eigene Adresse war ihr entfallen.

Entspann dich, sagte sie sich. Es ist vorbei. Das hier ist kein Horrorfilm, es ist dein Leben. Du hast Schreckliches durchgemacht, aber es ist vorbei. Also entspann dich.

»Ja, Manuel, das stimmt.«

»Möchten Sie zwischendurch irgendwo halten, oder fahren wir direkt zu Ihnen nach Hause?« Das war seine einzige dezente Anspielung auf das, was die Lichter des Gas & Dash ihm gezeigt haben mussten, als sie auf den Town Car zugekommen war.

Es war nur Glück, dass sie weiter die Antibabypille nahm - Glück und vielleicht Optimismus, denn sie hatte seit drei Jahren nicht einmal mehr einen One-Night-Stand erlebt, außer man zählte heute Nacht mit -, aber Glück hatte sich heute rar gemacht, und sie war für diesen glücklichen kleinen Zufall dankbar. Bestimmt hätte Manuel irgendwo entlang

»Keine Zwischenstopps, bringen Sie mich bitte einfach nur nach Hause.«

Bald waren sie auf der I-84, auf der reger Freitagnachtverkehr herrschte. Die Stagg Road mit dem verlassenen Geschäft lag hinter ihr. Was vor ihr lag, war ihr eigenes Haus mit einer Alarmanlage und Schlössern an allen Türen. Und das war gut.


17

Alles lief genauso ab, wie sie es sich vorgestellt hatte: die Ankunft, das auf der Kreditkartenabrechnung hinzugefügte Trinkgeld, ihr Weg zwischen den Blumenrabatten zur Haustür (sie bat Manuel, noch zu warten und ihr mit seinen Scheinwerfern zu leuchten, bis sie drinnen war), Fritzys Miauen, als sie den Briefkasten hochkippte und den Reserveschlüssel von seinem Haken angelte. Dann war sie drinnen, und Fritzy strich ihr ungeduldig um die Beine, wollte hochgehoben und gestreichelt werden, wollte gefüttert werden. Das alles tat Tess, aber als Erstes sperrte sie die Haustür hinter sich ab und schaltete erstmals seit Monaten die Alarmanlage ein. Als sie auf dem kleinen grünen Display über dem Tastenfeld das Wort SCHARF blinken sah, begann sie endlich, sich annähernd wieder wie sie selbst zu fühlen. Sie sah auf die Küchenuhr und war verblüfft, weil es erst Viertel nach elf war.

Während Fritzy sein Fancy Feast fraß, kontrollierte sie die Türen zum Garten und der seitlich angebauten Veranda und überzeugte sich davon, dass beide abgesperrt waren. Danach die Fenster. Die Steuereinheit der Alarmanlage sollte melden, wenn eines offen war, aber sie traute ihr nicht. Als sie bestimmt wusste, dass alles sicher war, trat sie an den Dielenschrank und holte eine Schachtel herunter, die schon so lange im obersten Fach stand, dass sie eine dünne Staubschicht angesetzt hatte.

Vor fünf Jahren hatte es im Norden von Connecticut und im Süden von Massachusetts eine Welle von Einbrüchen und Überfällen auf Hausbesitzer gegeben. Die bösen Jungs waren vor allem Drogenabhängige, die nach Eighties süchtig waren, wie OxyContin bei seinen vielen Fans in Neuengland hieß. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, besonders vorsichtig zu sein und »angemessene Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen«. Tess hegte keine starken Gefühle für oder gegen Handfeuerwaffen und war nicht sehr besorgt gewesen, fremde Männer könnten nachts bei ihr einbrechen (nicht damals), aber eine Schusswaffe schien in die Rubrik »angemessene Vorsichtsmaßnahmen« zu fallen, und sie hatte ohnehin vorgehabt, sich für den nächsten Willow-Grove-Roman mit Revolvern vertraut zu machen. Die Einbruchshysterie war ihr als perfekte Gelegenheit erschienen.

Sie ging in das im Internet am besten beurteilte Waffengeschäft in Hartford, und der Verkäufer empfahl ihr einen Smith & Wesson Kaliber.38, den er »Lemon Squeezer« nannte. Tess kaufte ihn vor allem deshalb, weil ihr dieser Name gefiel. Er nannte ihr auch einen guten Schießstand am Ortsrand von Stoke Village. Als sie den Revolver nach Ablauf der 48-stündigen Wartezeit tatsächlich erhielt, war sie pflichtbewusst mit ihm dort hinausgefahren. Innerhalb einer Woche hatte sie rund vierhundert Schuss abgegeben;

Sie lud die Waffe und fühlte sich mit jeder vollen Kammer besser, sicherer. Sie legte den Revolver auf die Arbeitsplatte in der Küche, dann sah sie nach dem Anrufbeantworter. Nur eine Nachricht. Von Patsy McClain, ihrer Nachbarin. »Ich habe heute Abend kein Licht gesehen und vermutet, dass du dich entschlossen hast, in Chicopee zu übernachten. Oder bist du vielleicht nach Boston gefahren? Jedenfalls habe ich den Schlüssel hinter dem Briefkasten benutzt und Fritzy gefüttert. Oh, und ich habe deine Post auf den Tisch in der Diele gelegt. Lauter Werbung, sorry. Ruf mich morgen an, bevor ich in die Arbeit fahre, falls du zurück bist. Ich will nur wissen, dass du heil wieder da bist.«

»He, Fritz«, sagte sie und bückte sich, um ihn zu streicheln. »Heute Abend hat’s doppelte Portionen gegeben, was? Ziemlich clever von…«

Grauschleier schoben sich vor ihren Blick, und wenn sie sich nicht am Küchentisch festgehalten hätte, wäre sie der Länge nach aufs Linoleum geschlagen. Sie stieß einen überraschten Schrei aus, der schwach klang und aus weiter Ferne zu kommen schien. Fritzy legte die Ohren an, musterte sie mit schmalen Augen, schien zu dem Schluss zu gelangen, sie werde nicht fallen (zumindest nicht auf ihn), und machte sich wieder über sein zweites Abendessen her.

Tess richtete sich langsam auf, hielt sich sicherheitshalber am Küchentisch fest und öffnete den Kühlschrank. Thunfischsalat gab es keinen, aber es gab Erdbeerquark. Sie verschlang ihn gierig und kratzte den Plastikbehälter dann mit dem Löffel aus, um an den letzten Rest heranzukommen. Der Quark glitt kühl und glatt durch ihre schmerzende

Sie trank Apfelsaft direkt aus der Flasche, rülpste und schleppte sich dann ins Bad im Erdgeschoss. Sie nahm den Revolver mit und ließ dabei die Finger aus dem Schutzbügel um den Abzug, wie sie es gelernt hatte.

Auf der Ablage über dem Waschbecken stand ein ovaler Vergrößerungsspiegel, ein Weihnachtsgeschenk ihres Bruders in New Mexico. Am oberen Rand standen in goldener Schreibschrift die Worte Mein hübsches Ich. Die Alte Tess hatte ihn benutzt, um sich die Augenbrauen zu zupfen oder rasch das Make-up nachzubessern. Die Neue Tess begutachtete darin ihre Augen. Sie waren natürlich blutunterlaufen, aber die Pupillen schienen gleich groß zu sein. Sie schaltete das Licht im Bad aus, zählte bis zwanzig, schaltete es dann wieder ein und beobachtete, wie ihre Pupillen sich verengten. Auch das schien in Ordnung zu sein. Also wahrscheinlich kein Schädelbruch. Vielleicht eine Gehirnerschütterung, eine leichte Gehirnerschütterung, aber …

Als ob ich das wüsste. Ich habe einen B. A. von der University o f Connecticut und einen höheren Abschluss in Detektiv spielenden alten Ladys, die mindestens ein Viertel jedes Buchs damit verbringen, Rezepte auszutauschen, die ich aus dem Internet herunterlade und dann so abändere, dass mich niemand als Plagiatorin verklagen kann. Ich könnte nachts ins Koma fallen oder an einer Gehirnblutung sterben. Patsy würde mich au f finden, wenn sie wiederkäme, um die Katze zu füttern. Du musst zum Arzt, Tessa Jean. Und das weißt du.

Sie wusste jedoch, dass ihr Unglück erst recht öffentlich bekanntwerden konnte, wenn sie zu ihrem Arzt ging. Ärzte garantierten Verschwiegenheit, das gehörte zu ihrem Eid, und eine Frau, die von Beruf Anwältin, Putzfrau oder Immobilienmaklerin war, konnte vermutlich darauf zählen.

Ich habe mehr getan, als nur zuzuhören, dachte sie, während sie ihr zerschlagenes Gesicht im Vergrößerungsspiegel betrachtete. Ich habe dieses Häppchen weitergegeben, sobald ich nur konnte.

Selbst wenn der Arzt und seine Sprechstundenhilfen nichts über die Krimiautorin erzählten, die auf der Heimfahrt von einer Lesung zusammengeschlagen, vergewaltigt und ausgeraubt worden war … was war mit den anderen Patienten, die Tess vielleicht im Wartezimmer sehen würden? Für einige von ihnen würde sie nicht nur irgendeine misshandelte Frau mit Gesichtsverletzungen sein; sie würde diese in Stoke Village lebende Schriftstellerin sein, du weißt schon, welche ich meine, vor ein, zwei Jahren haben sie einen Film über ihre alten Detektiv-Ladys gedreht, der ist im Lifetime Channel gezeigt worden, und o Gott, du hättest sie sehen sollen!

Die Nase sah nicht allzu schlecht aus. Schief und geschwollen (natürlich, armes Ding) und schmerzend, aber sie konnte durch sie atmen, und oben hatte sie etwas Vicodin, das sie nachts gegen Schmerzen nehmen konnte. Sie glaubte, dass sie zurechtkommen würde, ohne sich die Nase richten zu lassen, und wenn sie in ein, zwei Monaten noch komisch aussah, konnte sie sich ja einer kleinen Rhinoplastik-OP - oder wie man das nannte - unterziehen. Aber sie eine Weise bekam. Außerdem hatte sie verschiedene Blutergüsse, Kratzer und Prellungen an Rücken, Beinen und Hintern. Aber Kleidung und Strümpfe waren als Tarnung Trümpfe.

Klasse. Ich bin eine Dichterin, ohne es zu ahnen.

»Der Hals … ich könnte einen Rollkragenpulli tragen …«

Klar. Oktober war Rollkragenwetter. Und Patsy konnte sie erzählen, sie sei nachts die Treppe hinuntergefallen und habe sich im Gesicht verletzt. Sie könnte sagen …

»Dass ich geglaubt habe, ein Geräusch zu hören, und Fritzy mir zwischen die Füße gekommen ist, als ich runtergehen und nachsehen wollte.«

Fritzy hörte seinen Namen und miaute von der Badezimmertür her.

»Dass ich mit meinem dummen Gesicht auf dem unteren Endpfosten gelandet bin. Ich könnte sogar …«

Sogar eine kleine Spur an dem Pfosten zurücklassen, natürlich konnte sie das. Vielleicht mit dem Fleischklopfer aus einer ihrer Küchenschubladen. Nichts Auffälliges, nur ein, zwei leichte Schläge, um die Farbe abplatzen zu lassen. Ein Arzt (oder eine clevere alte Detektivin wie Doreen Marquis, Doyenne des Strickclubs) hätte sich von dieser Geschichte nicht täuschen lassen, aber es würde die liebe Patsy McC täuschen, deren Mann in ihren zwanzig Ehejahren bestimmt kein einziges Mal die Hand gegen sie erhoben hatte.

»Es ist nicht so, dass ich mich wegen irgendwas schämen müsste«, flüsterte sie der Frau im Spiegel zu. Der Neuen Frau mit der schiefen Nase und den geschwollenen Lippen. »Ganz und gar nicht.« Gewiss, aber eine öffentliche Bloßstellung würde sie beschämen. Sie würde nackt sein. Ein nacktes Opfer.

Aber was ist mit den Frauen, Tessa Jean? Den Frauen in der Wellblechröhre?

Über die würde sie nachdenken müssen, aber nicht heute Nacht. Heute Nacht war sie müde, hatte Schmerzen und war in tiefster Seele bekümmert.

In ihrem Innersten (in ihrer bekümmerten Seele) spürte sie wie Glut unter der Asche Zorn auf den Mann, der das alles verschuldet hatte. Auf den Kerl, der sie in diese Lage gebracht hatte. Sie betrachtete den neben dem Waschbecken liegenden Revolver und wusste, dass sie auf ihn geschossen hätte, ohne einen Augenblick zu zögern, wenn er hier gewesen wäre. Dieses Wissen bewirkte, dass sie sich schlecht fühlte. Zugleich fühlte sie sich etwas stärker.


18

Sie schlug mit dem Fleischklopfer etwas Farbe von dem Endpfosten des Geländers ab - inzwischen war sie so müde, dass sie sich wie ein Traum im Kopf einer anderen Frau fühlte. Sie begutachtete die Delle, fand, sie sah zu absichtlich erzeugt aus, und glättete die Ränder mit ein paar leichten Schlägen. Als die Stelle wie etwas aussah, was sie mit einer Seite ihres Gesichts - wo die schlimmste Prellung war - erzeugt haben konnte, stieg sie langsam die Treppe hinauf und ging mit dem Revolver in der Hand den Flur entlang.

Vor der halb geöffneten Schlafzimmertür zögerte sie kurz. Was war, wenn er dort drinnen war? Er hatte ihre Handtasche, er hatte ihre Adresse. Die Alarmanlage hatte sie erst nach ihrer Rückkehr eingeschaltet (wie nachlässig!). Er konnte seinen alten F-150 um die Ecke geparkt haben. Er konnte den Hintereingang aufgebrochen haben. Dafür

Wäre er hier, würde ich ihn riechen. Den Männerschweiß. Und ich würde ihn erschießen. Kein »Legen Sie sich au f den Boden«, kein »Hände hoch, während ich die 911 anrufe«, keinen Horrorfilmscheiß. Ich würde ihn ein fach erschießen. Aber wisst ihr, was ich vorher sagen würde?

»Du magst es, es mag dich«, sagte Tess mit ihrer neuen, rauen Stimme. Ja. Genau das war es. Er würde es nicht verstehen, aber sie würde es tun.

Sie merkte, dass sie sich geradezu wünschte, er wäre in ihrem Zimmer. Was vermutlich bedeutete, dass die Neue Frau mehr als nur ein bisschen verrückt war, aber wenn schon? Wenn danach alles herauskam, war es das wert gewesen. Ihn zu erschießen würde die öffentliche Demütigung erträglich machen. Und sieh dir die positive Seite an! Es würde vermutlich den Absatz steigern!

Ich möchte das Entsetzen in seinem Blick sehen, wenn er erkennt, dass ich es wirklich tun werde. Das wäre zumindest eine teilweise Wiedergutmachung.

Ihre tastende Hand schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis sie den Lichtschalter fand, und natürlich erwartete sie, dass jemand ihre Finger packen würde, während sie herumfummelte. Sie zog sich langsam aus und ließ ein triefendes, jämmerliches Schluchzen hören, als sie den Reißverschluss der Hose öffnete und in ihrem Schamhaar angetrocknetes Blut sah.

Sie stellte die Dusche so heiß, wie sie es aushalten konnte, wusch die Stellen, die das Waschen vertrugen, und spülte alles andere nur ab. Mit sauberem heißem Wasser. Sie wollte seinen Geruch loswerden, auch den Schimmelgeruch des Teppichrests. Danach setzte sie sich aufs WC. Diesmal tat das Pinkeln nicht mehr so weh, aber der Schmerzstrahl, der ihren Kopf durchzuckte, als sie - ganz vorsichtig - versuchte,

Sie zog einen Flanellpyjama an, schlurfte zum Bett und lag dann da: alle Lampen eingeschaltet, mit dem Smith & Wesson.38 auf dem Nachttisch. Sie befürchtete, nicht schlafen zu können, weil ihre überreizte Phantasie jedes Geräusch von der Straße herauf in die Annäherung des Giganten verwandeln würde. Aber dann sprang Fritzy aufs Bett, rollte sich neben ihr zusammen und begann zu schnurren. Das war besser.

Ich bin daheim, dachte sie. Ich bin daheim, ich bin daheim, ich bin daheim.


19

Als sie aufwachte, fiel das unbestreitbar nüchterne Licht von sechs Uhr morgens durch die Fenster herein. Es gab Dinge, die getan werden mussten, und Entscheidungen, die getroffen werden mussten, aber vorerst genügte es, zu leben und im eigenen Bett zu liegen, statt draußen auf dem Land in eine Wellblechröhre gestopft zu sein.

Diesmal fühlte das Pinkeln sich fast normal an, und sie sah kein Blut mehr. Sie trat unter die Dusche, stellte das Wasser wieder so heiß, wie sie es aushalten konnte, schloss die Augen und ließ es auf ihr pochendes Gesicht trommeln. Als sie davon genug hatte, massierte sie Shampoo in ihr Haar, arbeitete langsam und systematisch, benutzte ihre Finger, um die Kopfhaut zu massieren, und sparte die schmerzende Stelle aus, wo seine Faust sie getroffen haben musste. Anfangs brannte die tiefe Schramme auf Psycho dachte sie gar nicht.

Die Dusche war schon immer der Ort, an dem sie am besten nachdenken konnte, eine Umgebung wie im Mutterleib, und wenn sie jemals angestrengt und gut hatte nachdenken müssen, dann war es heute.

Ich will nicht zu Dr. Hedstrom, und ich brauche nicht zu Dr. Hedstrom. Dieser Entschluss steht fest, obwohl ich mich später - vielleicht in ein paar Wochen, wenn mein Gesicht wieder einigermaßen normal aussieht - auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen muss …

»Vergiss den Aidstest nicht«, sagte sie, und dieser Gedanke ließ sie so stark das Gesicht verziehen, dass ihr der Mund wehtat. Ein beängstigender Gedanke. Trotzdem würde sie den Test machen lassen müssen. Um ihrer eigenen Seelenruhe willen. Aber nichts von alledem ging auf die Frage ein, die sie jetzt als das Hauptproblem dieses Morgens erkannte. Was sie wegen ihrer Vergewaltigung tat oder nicht, war allein ihre Sache, aber das galt nicht für die Frauen in der Röhre. Sie hatten weit mehr verloren als sie. Und was war mit der nächsten Frau, die der Riese überfiel? Dass es weitere geben würde, bezweifelte sie nicht. Vielleicht einen Monat oder ein Jahr lang keine, aber irgendwann bestimmt wieder. Und als sie das Wasser abdrehte, wurde ihr bewusst (erneut), dass sie selbst die Nächste sein konnte, wenn er den Durchlass kontrollierte und sah, dass sie verschwunden war. Wenn er ihre Handtasche durchwühlt hatte, was bestimmt der Fall war, dann hatte er ihre Adresse.

»Außerdem meine Brillantohrringe«, sagte sie und senkte den Kopf, um sich die Haare zu spülen. »Der gottverdammte perverse Scheißkerl hat meine Ohrringe gestohlen.«

Selbst wenn sie die Stagg Road für einige Zeit mied, gehörten diese Frauen jetzt zu ihr. Sie fielen in ihre Verantwortung, Inside View erscheinen könnte.

Im stillen Licht eines Stadtrandmorgens in Connecticut war die Antwort lächerlich einfach: ein anonymer Anruf bei der Polizei. Die Tatsache, dass eine Krimiautorin mit zehn Jahren Berufserfahrung nicht gleich darauf gekommen war, verdiente fast eine Gelbe Karte. Sie würde den Tatort angeben - den verlassenen »DU MAGST ES ES MAG DICH«-Laden an der Stagg Road - und den Riesen beschreiben. Wie schwierig konnte es sein, einen solchen Mann aufzuspüren? Oder einen blauen Ford F-150 mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer?

Kinderleicht.

Aber während sie sich die Haare trocknete, fiel ihr Blick auf den Smith & Wesson Kaliber.38, und sie dachte: Zu kinderleicht. Weil …

»Was bringt mir das?«, fragte sie Fritzy, der in der Tür saß und sie mit seinen großen grünen Augen beobachtete. »Was ist dann für mich drin?«


20

Eineinhalb Stunden später stand Tess in der Küche. Ihre Müslischale war im Ausguss eingeweicht. Ihre zweite Tasse Kaffee wurde auf der Arbeitsplatte kalt. Sie telefonierte.

»O Gott!«, rief Patsy aus. »Ich komme sofort rüber!«

»Nein, nein, mir geht’s gut, Pats. Und du würdest zu spät zur Arbeit kommen.«

»Samstagvormittage sind rein freiwillig, und du solltest zum Arzt gehen! Was ist, wenn du eine Gehirnerschütterung oder so was hast?«

»Ich habe keine Gehirnerschütterung, nur blaue Flecken. Und ich würde mich genieren, zum Arzt zu gehen, weil ich drei Drinks über dem Limit hatte. Mindestens drei. Das einzig Vernünftige, was ich letzte Nacht getan habe, war wohl, mich mit einer Limousine heimfahren zu lassen.«

»Weißt du sicher, dass deine Nase nicht gebrochen ist?«

»Sicher.« Na ja … fast sicher.

»Ist mit Fritzy alles in Ordnung?«

Tess brach in völlig echtes Lachen aus. »Ich stolpere mitten in der Nacht halb benebelt die Treppe hinunter, weil der Rauchmelder piepst, falle über die Katze und schlage mir fast den Schädel ein - und dein Mitgefühl gilt der Katze. Nett.«

»Schätzchen, ich …«

»War nur ein Scherz«, sagte Tess. »Fahr in die Arbeit, und hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich wollte nur nicht, dass du loskreischst, wenn du mich siehst. Ich habe zwei wunderschöne Veilchen. Hätte ich einen Exmann, könnte man glauben, er hätte mir einen Besuch abgestattet.«

»Niemand würde es wagen, dich anzufassen«, sagte Patsy. »Du bist tough, Mädchen.«

»Stimmt«, sagte Tess. »Ich lass mir keinen Scheiß gefallen.«

»Du klingst heiser.«

»Zu allem anderen bekomme ich auch noch eine Erkältung.«

»Jedenfalls … wenn du heute Abend etwas brauchst … Hühnersuppe … ein paar alte Percocet … eine DVD mit Johnny Depp …«

»Dann rufe ich dich an. Aber jetzt musst du los. Modebewusste Frauen auf der Suche nach Ann Taylor in der unerreichbaren Größe sechsunddreißig zählen auf dich.«

»Verpiss dich, Weib«, sagte Patsy und legte lachend auf.

Tess nahm ihren Kaffee an den Küchentisch mit. Der Revolver lag dort neben der Zuckerdose: nicht ganz ein Gemälde von Dalí, aber verdammt ähnlich. Dann sah sie ihn doppelt, weil sie in Tränen ausbrach. Daran war die Erinnerung an ihre unbekümmerte Redeweise schuld. Der Klang der Lüge, mit der sie jetzt leben würde, bis sie ihr wie die Wahrheit vorkam. »Du Drecksack«, rief sie. »Du Scheißkerl! Ich hasse dich!«

Obwohl sie geduscht hatte, fühlte sie sich schmutzig. Sie hatte geduscht, aber sie glaubte, ihn noch immer in sich zu spüren, seinen …

»Seinen Schwanzschleim.«

Sie sprang auf, sah aus den Augenwinkeln heraus, wie ihre verschreckte Katze in die Diele flüchtete, und erreichte den Ausguss gerade noch rechtzeitig, um sich nicht auf den Fußboden zu übergeben. Ihr Kaffee und die Cheerios kamen in einem einzigen krampfartigen Würgeanfall hoch. Als sie sich sicher war, dass sie fertig war, nahm sie den Revolver mit und ging nach oben, um zum zweiten Mal an diesem Morgen zu duschen.


21

Abgetrocknet und in einen behaglichen Frotteebademantel gehüllt, legte sie sich aufs Bett, um darüber nachzudenken, von wo aus sie die Polizei anonym anrufen sollte. Am besten von einem Ort aus, der weitläufig und belebt war. Mit reichlich Parkplätzen, damit sie den Hörer einhängen und sofort abhauen konnte. Die Stoke Village Mall klang richtig. Außerdem war zu überlegen, bei welcher Dienststelle sie anrufen sollte. Colewich … oder war das zu sehr auf dem einfältigen Niveau von Deputy Dawg? Vielleicht war

In einem Streifen Sonnenlicht auf ihrem Bett liegend, döste Tess ein.


22

Das Telefon klingelte weit entfernt, in einem benachbarten Universum. Dann gab es auf, und Tess hörte ihre eigene Stimme, die freundlich unpersönliche Aufnahme, die mit den Worten Dies ist der Anschluss von … begann. Dann hinterließ irgendjemand eine Nachricht. Eine Frau. Bis Tess sich in den wachen Zustand zurückgekämpft hatte, hatte die Anruferin aufgelegt.

Ein Blick auf ihren Radiowecker zeigte ihr, dass es Viertel vor zehn war. Sie hatte weitere zwei Stunden geschlafen. Im ersten Augenblick war sie besorgt: Vielleicht hatte sie doch eine Gehirnerschütterung oder einen Schädelbruch erlitten. Dann entspannte sie sich wieder. Sie hatte letzte Nacht viel Bewegung gehabt. Viel davon war äußerst unangenehm gewesen, aber Bewegung war Bewegung. Noch mal einzuschlafen war ganz natürlich. Vielleicht würde sie heute Nachmittag sogar ein zweites Nickerchen machen (und bestimmt nochmals duschen), aber zuvor hatte sie etwas zu erledigen. Einer Verantwortung nachzukommen.

Sie zog einen langen Tweedrock und einen Rollkragenpulli an, der ihr eigentlich zu groß war; er reichte bis zur Unterseite ihres Kinns hinauf. Tess war das nur recht. Auf die Prellung auf ihrer Wange hatte sie Abdeckcreme aufgetragen. Es verdeckte sie nicht völlig, und auch ihre größte Sonnenbrille konnte die blauen Augen nicht ganz tarnen

Im Erdgeschoss drückte sie die Play-Taste ihres Anrufbeantworters. Die Anruferin war vermutlich Ramona Norville gewesen, die am Tag danach wie üblich nachgefasst hatte: uns hat’s Spaß gemacht, hoffentlich hat’s auch Ihnen Spaß gemacht, das Echo war großartig, kommen Sie bitte wieder (verdammt unwahrscheinlich), bla-bla-bla. Aber es war nicht Ramona. Die Nachricht kam von einer Frau, die sich als Betsy Neal vorstellte. Sie sagte, sie rufe aus dem Stagger Inn an.

»Im Rahmen unserer Kampagne gegen Alkohol am Steuer rufen wir routinemäßig alle Leute an, die ihre Autos nach Lokalschluss auf unserem Parkplatz stehen lassen«, sagte Betsy Neal. »Ihr Ford Expedition, Kennzeichen 775-NSD aus Connecticut, kann bis heute Nachmittag fünf Uhr abgeholt werden. Nach fünf Uhr wird er auf Ihre Kosten zu Excellent Auto Repair, 1500 John Higgins Road, North Colewich, abgeschleppt. Bitte beachten Sie, dass wir Ihre Schlüssel nicht haben, Ma’am. Sie müssen sie mitgenommen haben.« Betsy Neal machte eine Pause. »Wir haben etwas aus Ihrem Besitz, also kommen Sie bitte ins Büro. Denken Sie daran, dass Sie sich irgendwie ausweisen müssen. Danke und schönen Tag noch.«

Tess ließ sich aufs Sofa fallen und lachte. Bevor sie die Tonbandnachricht gehört hatte, hatte sie mit dem Expedition zu dem Einkaufszentrum fahren wollen. Ihre Handtasche war weg, ihr Schlüsselring war weg, ihr verdammtes Auto war weg, aber sie hatte trotzdem in die Einfahrt hinausgehen, einsteigen und …

Sie lehnte sich in die Polster zurück, lachte schallend laut und hämmerte sich mit einer Faust auf den Oberschenkel. Wir sind hier alle verrückt, also nehmen Sie noch eine Tasse Tee, dachte sie und lachte noch lauter als zuvor.

Als sie endlich aufhörte (nur kam es ihr eher so vor, als liefe ein Federwerk ab), hörte sie sich die Nachricht noch einmal an. Diesmal konzentrierte sie sich auf den Teil, wo Betsy Neal sagte, sie hätten etwas aus ihrem Besitz. Ihre Handtasche? Vielleicht sogar die Brillantohrringe? Aber das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, oder?

Vor dem Stagger Inn in einem schwarzen Wagen von Royal Limousine vorzufahren wäre vielleicht etwas zu auffällig gewesen, deshalb rief sie die Firma Stoke Village Taxi an. Der Mann von der Zentrale sagte, sie würden sie gegen eine Pauschale von fünfzig Dollar gern zu »The Stagger« (so nannte er den Club) hinausbringen. »Tut mir leid, dass es nicht billiger geht«, sagte er, »aber der Fahrer muss leer zurückfahren.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Tess erstaunt.

»Sie haben Ihren Wagen dortgelassen, stimmt’s? Das passiert dauernd, vor allem an Wochenenden. Natürlich bekommen wir auch Anrufe nach Karaoke-Donnerstagen. Ihr Taxi kommt in spätestens fünfzehn Minuten.«

Tess aß eine Pop-Tart (das Schlucken tat weh, aber sie hatte den ersten Frühstücksversuch nun einmal von sich gegeben und war hungrig), dann stand sie am Wohnzimmerfenster, hielt Ausschau nach dem Taxi und spielte dabei mit dem Reserveschlüssel des Expedition. Sie hatte sich dazu entschlossen, ihren Plan abzuändern. Die Stoke Village Mall war out; sobald sie ihren Wagen wiederhatte (und den Gegenstand aus ihrem Besitz, den Betsy Neal für sie aufbewahrte), würde sie ungefähr eine halbe Meile weit zu dem Gas & Dash fahren und die Polizei von dort aus anrufen.

Das erschien ihr nur passend.


23

Als ihr Taxi auf die Stagg Road abbog, begann Tess’ Puls zu jagen. Bis sie das Stagger Inn erreichten, schien er mit hundertdreißig Schlägen in der Minute zu galoppieren. Der Taxifahrer musste etwas im Innenspiegel bemerkt haben … vielleicht hing seine Frage aber auch nur mit den sichtbaren Spuren von Gewalt auf ihrem Gesicht zusammen.

»Alles okay, Ma’am?«

»Bestens«, sagte sie. »Ich hatte bloß nicht vor, heute Vormittag hierher zurückzukommen.«

»Das tun wenige«, sagte der Fahrer. Er kaute auf einem Zahnstocher herum, der eine lässige langsame Reise von einem Mundwinkel zum anderen machte. »Ihre Schlüssel sind doch hier, oder? Sie haben sie beim Barkeeper abgegeben, oder nicht?«

»Oh, da gibt’s keine Schwierigkeiten«, sagte sie heiter. »Aber sie bewahren noch etwas anderes auf, was mir gehört - die Lady, die angerufen hat, wollte nicht sagen, was, und ich komme nicht um alles in der Welt darauf, was es sein könnte.« Großer Gott, ich rede wie eine meiner alten Detektivinnen.

Der Taxifahrer ließ den Zahnstocher zum Ausgangspunkt zurückwandern. Das war seine einzige Antwort.

»Sie bekommen zehn Dollar extra, wenn Sie warten, bis ich wieder rauskomme«, sagte Tess, indem sie zu dem Rasthaus hinübernickte. »Ich möchte sichergehen, dass mein Wagen anspringt.«

»Kein Problem«, sagte der Taxifahrer.

Und wenn ich schreie, weil er mir drinnen au flauert, kommen Sie schleunigst gerannt, okay?

Aber das hätte sie nie gesagt, auch wenn sie es hätte tun können, ohne völlig übergeschnappt zu klingen. Der Taxifahrer war fünfzig, dick und kurzatmig. Wenn das Ganze

Zurückgelockt, dachte Tess trübselig. Durch den Anruf der Freundin des Riesen zurückgelockt, die so verrückt ist wie er.

Eine törichte, paranoide Idee, aber der Weg zum Eingang des Stagger Inn erschien ihr lang, und auf dem harten, unbefestigten Untergrund klangen ihre Sportschuhe sehr laut: stampf-polter-stampf. Der Parkplatz, der nachts ein Automeer gewesen war, war jetzt bis auf vier Autoinseln leer, eine davon ihr Expedition. Er stand ganz weit hinten - klar, der Riese würde nicht gewollt haben, dass ihn jemand beim Abstellen beobachtete -, und sie konnte den linken Vorderreifen sehen. Er war ein alter schwarzer Reifen, der nicht zu den drei anderen passte, aber er schien die richtige Größe zu haben. Der Kerl hatte ihr den Reifen gewechselt. Natürlich hatte er das getan. Wie hätte er sonst von seiner … seiner … herkommen sollen?

Von seiner Freizeitoase aus. Von seiner Killzone aus. Er ist damit hergefahren, hat ihn geparkt, ist zu dem verlassenen Laden zurückgegangen und mit seinem alten F- 1 50 fortgefahren. Gut, dass ich nicht früher zu mir gekommen bin; er hätte mich benommen umherirren sehen, und ich wäre jetzt nicht hier.

Sie sah sich um. In einem der Filme, an die sie jetzt ständig denken musste, hätte sie bestimmt gesehen, wie das Taxi davonraste (und mich meinem Schicksal überlässt), aber es stand noch da. Sie winkte dem Fahrer zu, und er winkte zurück. Alles in Ordnung. Ihr Wagen war hier, aber der Riese nicht. Der Riese war in seinem Haus (seinem Schlupfwinkel), schlief sich wahrscheinlich noch von den Anstrengungen der vergangenen Nacht aus.

An der Tür hing ein Schild, auf dem WIR HABEN GESCHLOSSEN stand. Tess klopfte an, aber drinnen reagierte

Tess sah sich noch einmal nach dem Taxi um, das weiter an seinem Platz stand, erinnerte sich daran, dass sie in ihrer Reservehandtasche einen geladenen Revolver hatte, und ging trotzdem hinein.


24

Sie betrat ein Foyer, das sich auf der Parkplatzseite über die ganze Gebäudelänge erstreckte. An den Wänden hingen Werbefotos: Bands in Leder, Bands in Jeans, eine Mädchenband in Miniröcken. Jenseits der Garderobenständer lag eine provisorische Bar; dort gab es keine Hocker, sondern nur ein Geländer, an dem man einen Drink bekommen konnte, während man auf jemanden wartete oder weil die Bar drinnen überfüllt war. Über den ordentlich aufgereihten Flaschen leuchtete ein einzelnes rotes Schild: BUDWEISER.

Du magst Bud, Bud mag dich, dachte Tess.

Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, um beim Weitergehen nicht gegen etwas zu rennen, und durchquerte das Foyer, um einen Blick in den Hauptraum zu werfen. Er war riesig und stank nach Bier. Die Discokugel an der Decke war jetzt dunkel und bewegte sich nicht. Der Holzboden erinnerte sie an die Rollschuhbahn, auf der ihre Freundinnen und sie in dem Sommer zwischen achter Klasse und Highschool praktisch gelebt hatten. Die Instrumente waren noch auf dem Podium, was darauf schließen ließ, dass die Zombie

»Hallo?« Ihre Stimme echote.

»Hier bin ich«, antwortete eine leise Stimme hinter ihr.


25

Wäre es eine Männerstimme gewesen, hätte Tess gekreischt. Sie schaffte es, das nicht zu tun, warf sich aber so rasch herum, dass sie leicht stolperte. Die in der Garderobennische stehende Frau - ein mageres kleines Ding, sicher nicht größer als einen Meter sechzig - blinzelte überrascht, dann sagte sie: »Brrr, ganz ruhig.«

»Sie haben mich erschreckt«, sagte Tess.

»Ja, das sehe ich.« Das schmale, perfekt ovale Gesicht der Frau war von einer Wolke aus toupiertem schwarzem Haar umgeben. Über dem rechten Ohr ragte ein Bleistift heraus. Sie hatte lebhafte blaue Augen, deren Farbe nicht ganz übereinstimmte. Ein Picasso-Girl, dachte Tess. »Ich war im Büro. Sind Sie die Expedition-Lady oder die Honda-Lady?«

»Expedition.«

»Haben Sie einen Ausweis?«

»Sogar zwei, aber nur einen mit Foto. Meinen Reisepass. Das andere Zeug war in meiner Handtasche. In der zweiten Handtasche. Ich dachte, die hätten Sie zufällig.«

»Nein, leider nicht. Haben Sie sie vielleicht unter dem Sitz oder so verstaut? Wir sehen nur im Handschuhfach nach. Und natürlich noch nicht einmal das, wenn der Wagen abgesperrt ist. Ihrer war es nicht, und Ihre Telefonnummer steht auf der Versicherungskarte. Aber wem erzähle ich das. Vielleicht finden Sie Ihre Handtasche ja zu Hause.« Neals

Neal führte Tess zu einer Tür hinter der Garderobe, dann einen schmalen gebogenen Flur entlang, der den Hauptraum umging. An den Wänden hingen weitere Fotos von Bands. An einer Stelle gingen sie durch eine Chlorgaswolke, die Tess in den Augen und ihrer empfindlichen Kehle brannte.

»Wenn Sie glauben, dass die Klos jetzt stinken, sollten Sie mal hier sein, wenn Hochbetrieb herrscht«, sagte Neal, dann fügte sie hinzu: »Oh, das hab ich vergessen - Sie waren ja hier.«

Tess äußerte sich nicht dazu.

Der Korridor endete an einer Tür mit der Aufschrift NUR FÜR PERSONAL. Der Raum dahinter war groß, freundlich und voller Morgensonne. An einer Wand hing ein gerahmtes Foto von Barack Obama über einem Stoßstangenaufkleber mit dem Slogan YES WE CAN. Tess konnte ihr Taxi nicht sehen - das Gebäude versperrte ihr die Sicht -, aber sie konnte seinen Schatten erkennen.

Das ist gut. Bleib dort stehen, und verdien dir deine zehn Scheinchen. Und geh nicht rein, wenn ich nicht rauskomme. Ru f nur die Polizei.

Neal setzte sich an den Schreibtisch, der in der Ecke des Raums stand. »Dann zeigen Sie mal Ihren Ausweis.«

Tess öffnete ihre Handtasche, griff an dem Revolver vorbei und holte ihren Reisepass und den Mitgliedsausweis der Authors Guild heraus. Neal warf nur einen flüchtigen Blick in den Pass, aber als sie den Schriftstellerausweis sah, bekam sie große Augen. »Sie sind die Willow-Grove-Lady!«

Tess lächelte tapfer, obwohl ihr davon die Lippen schmerzten. »Schuldig im Sinne der Anklage.« Ihre Stimme klang heiser, so als hätte sie eben eine schlimme Erkältung hinter sich.

»Meine Oma liebt diese Bücher!«

»Das tun viele Omas«, sagte Tess. »Sobald diese Vorliebe auf die nächste Generation übergeht - die noch keine Renten bezieht -, kaufe ich mir einen Landsitz in Frankreich.«

Der Spruch brachte ihr manchmal ein Lächeln ein. Nicht jedoch von Ms. Neal. »Hoffentlich ist das nicht hier passiert.« Genauer drückte sie sich nicht aus, aber das war auch nicht notwendig. Tess wusste, was sie meinte, und Betsy Neal wusste, dass sie es wusste.

Tess überlegte, ob sie die Story, die sie Patsy aufgetischt hatte, zum zweiten Mal erzählen sollte - der piepsende Rauchmelder, die Katze zwischen ihren Füßen, die Kollision mit dem Endpfosten des Treppengeländers -, und sparte sich dann die Mühe. Diese Frau war tagsüber sicher sehr tüchtig und besuchte das Stagger Inn vermutlich so selten wie möglich, wenn hier Betrieb herrschte, aber sie hegte offenbar keine Illusionen darüber, was hier manchmal abging, wenn die Gäste zu später Stunde betrunken waren. Schließlich war sie diejenige, die früh am Samstagmorgen herkam, um wieder ein paar Autobesitzer anzurufen. Vermutlich kannte sie vom Morgen danach schon mehr als genug Storys von mitternächtlichen Stürzen, Ausrutschern unter der Dusche et cetera, et cetera.

»Nicht hier«, sagte Tess. »Keine Sorge.«

»Auch nicht auf dem Parkplatz? Sollte das dort passiert sein, muss ich dafür sorgen, dass Mr. Ferrer mit dem Wachpersonal redet. Mr. Ferrer ist der Boss, und die Sicherheitsleute sollen die Monitore der Überwachungskameras regelmäßig kontrollieren, vor allem in Nächten mit viel Betrieb.«

»Es ist erst passiert, als ich weggefahren war.«

Jetzt muss ich wirklich anonym anru fen, wenn ich überhaupt Anzeige erstatten will. Weil ich lüge, und sie sich daran erinnern wird.

Wenn sie überhaupt Anzeige erstatten wollte? Natürlich wollte sie das. Richtig?

»Das tut mir sehr leid.« Neal machte eine Pause, als debattierte sie mit sich selbst. Dann sagte sie: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber in einem Lokal dieser Art haben Sie eigentlich nichts verloren. Ihr Besuch hat ein schlimmes Ende genommen, und wenn die Medien darüber berichten würden … nun, meine Oma wäre schrecklich enttäuscht.«

Tess stimmte ihr zu. Und weil sie sich darauf verstand, Storys überzeugend auszuschmücken (ein Talent, an dem sie zehn Jahre lang gefeilt hatte), tat sie es. »Ein schlimmer Freund nagt schärfer als ein Schlangenzahn. Das sagt die Bibel, glaube ich. Vielleicht war’s auch Dr. Phil. Jedenfalls habe ich mich von ihm getrennt.«

»Das sagen viele Frauen, bevor sie wieder schwach werden. Und ein Kerl, der so was ein Mal tut …«

»Tut es noch mal. Ja, ich weiß, das war dumm von mir. Was haben Sie denn aus meinem Besitz, wenn Sie meine Handtasche nicht haben?«

Ms. Neal drehte sich mit dem Sessel um (die Sonne glitt über ihr Gesicht und ließ kurz die ungewöhnlichen blauen Augen aufblitzen), zog eine Schrankschublade auf und brachte Tom das TomTom zum Vorschein. Tess war entzückt, ihren alten Reisegefährten wiederzusehen. Das machte zwar nicht alles wieder gut, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.

»Wir sollen nichts aus Gästeautos mitnehmen, sondern nur Adresse und Telefonnummer feststellen, wenn das möglich ist, und den Wagen dann absperren, aber ich wollte Ihr Navi nicht zurücklassen. Um an gute Geräte heranzukommen, schlagen Diebe sogar Scheiben ein, und das hier hat gut sichtbar in seiner Halterung auf dem Instrumentenbrett gesteckt.«

»Danke.« Tess spürte, dass ihr hinter der Sonnenbrille die Tränen in die Augen traten, und drängte sie zurück. »Das war sehr aufmerksam von Ihnen.«

Betsy Neal lächelte, was ihre geschäftsmäßig strenge Miene augenblicklich erstrahlen ließ. »Nichts zu danken. Und wenn Ihr Freund zurückgekrochen kommt und um eine zweite Chance bettelt, denken Sie bitte an meine Oma und alle Ihre übrigen treuen Leserinnen und schicken ihn zum Teufel.« Sie überlegte kurz. »Aber tun Sie’s mit eingehakter Sicherungskette. Weil ein schlimmer Freund wirklich schärfer nagt als ein Schlangenzahn.«

»Das ist ein guter Rat. Also, ich muss jetzt gehen. Ich habe dem Taxifahrer gesagt, dass er warten möchte, bis feststeht, dass ich meinen Wagen zurückbekomme.«

Und das hätte alles sein können - wirklich schon alles -, aber dann fragte Neal auf gewinnende Weise schüchtern, ob Tess ihr ein Autogramm für ihre Großmutter geben könne. Tess beteuerte, das sei ihr ein Vergnügen, und sah dann trotz allem, was passiert war, aufrichtig amüsiert zu, wie Neal einen Briefbogen des Stagger Inn hervorzog, die Kopfzeile abtrennte und ihr den Rest des Blatts über den Schreibtisch zuschob.

»Bitte schreiben Sie ›Für Mary, einen wahren Fan‹. Geht das?«

Natürlich ging das. Und während Tess das Datum hinzufügte, fiel ihr eine weitere Ausschmückung ein. »Ein Mann hat mir geholfen, als mein Freund und ich uns … na ja, gezofft haben. Ohne sein Eingreifen hätte ich noch schlimmer verletzt werden können.« Ja! Sogar vergewaltigt! »Ich würde mich gern bei ihm bedanken, aber ich weiß nicht, wie er heißt.«

»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen kann. Ich bin nur die Bürokraft.«

»Aber Sie sind doch von hier, oder?«

»Ja …«

»Ich bin ihm in dem kleinen Laden an der Kreuzung mit der US 47 begegnet.«

»Dem Gas & Dash?«

»Ja, so heißt er, glaube ich. Dort haben mein Freund und ich uns gestritten. Wegen des Autos. Ich wollte nicht mehr fahren, aber auch nicht ihn ans Steuer lassen. Darüber haben wir gestritten, als wir auf der Straße unterwegs waren … die Straße entlanggestolpert sind … die Stagg Road hinabgestolpert sind …«

Neal lächelte wie jemand, der einen Scherz schon oft gehört hat.

»Jedenfalls ist dieser Kerl mit einem großen alten Pick-up vorbeigekommen, der um die Scheinwerfer herum mit diesem Plastikzeug gegen Rost beschichtet war.«

»Bondo?«

»Ja, so heißt das, glaube ich.« Dabei wusste sie verdammt gut, dass das Zeug so hieß. Ihr Vater hatte den Hersteller fast im Alleingang erhalten. »Als er ausgestiegen ist, habe ich gedacht, der fährt seinen Pick-up nicht, der hat ihn wie ein Kleidungsstück an. Das weiß ich noch gut.«

Als sie das Blatt mit dem Autogramm über den Schreibtisch zurückschob, sah sie, dass Betsy Neal jetzt grinste. Irgendwie ließ das den leichten Farbunterschied zwischen den Augen noch deutlicher hervortreten. »Gott, ich weiß vielleicht tatsächlich, wen Sie meinen!«

»Wirklich?«

»War er groß oder richtig groß?«

»Richtig groß«, sagte Tess. Sie empfand ein seltsam aufmerksames Glücksgefühl, das aber nicht im Kopf, sondern mitten in ihrer Brust zu sitzen schien. So fühlte sie sich sonst, wenn die Fäden irgendeines ungewöhnlichen Plots sich zu straffen begannen und ihn wie einen Seesack zusammenzogen. Wenn das passierte, war sie jedes Mal überrascht

»Ist Ihnen aufgefallen, ob er am kleinen Finger einen Ring getragen hat? Mit einem roten Stein?«

»Ja! Wie ein Rubin! Nur zu groß, um echt zu sein. Und eine braune Mütze …«

Neal nickte eifrig. »Mit weißen Flecken. Dieses verdammte Ding trägt er seit zehn Jahren. Der Kerl, von dem Sie reden, ist unter dem Spitznamen Big Driver bekannt. Ich weiß nicht genau, wo er wohnt, aber er ist von hier, aus Colewich oder Nestor Falls. Ich sehe ihn manchmal - Supermarkt, Baumarkt, Wal-Mart, in solchen Läden. Und wer ihn einmal gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr. Sein richtiger Name ist Al Irgendwas-Polnisches. Sie wissen schon, einer dieser Zungenbrecher. Strelkowicz, Stancowitz, irgendwas in dieser Art. Ich wette, dass ich ihn im Telefonbuch finden könnte, seinem Bruder und ihm gehört nämlich ein Fuhrunternehmen. Es heißt Hawkline, glaube ich. Oder vielleicht auch Eagle Line. Jedenfalls irgendwas mit einem Vogel. Soll ich versuchen, ihn zu finden?«

»Nein danke«, sagte Tess freundlich. »Sie haben mir sehr geholfen, und mein Taxifahrer wartet.«

»Okay. Tun Sie sich nur selbst einen Gefallen, und meiden Sie in Zukunft Ihren Freund. Und meiden Sie das Stagger Inn! Aber wenn Sie jemandem erzählen, dass ich das gesagt habe, muss ich Sie natürlich aufspüren und umlegen.«

»Das wäre nur fair«, sagte Tess lächelnd. »Ich hätte es verdient.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Tun Sie mir einen Gefallen?«

»Wenn ich kann.«

»Sollten Sie Al Irgendwas-Polnisches in der Stadt begegnen, erwähnen Sie bitte nicht, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Sie lächelte breiter. Das tat zwar ihren geschwollenen

»Kein Problem.«

Tess hielt noch einen Augenblick länger inne. »Ich mag Ihre Augen.«

Neal zuckte mit den Achseln. »Was angeborene Defekte betrifft, ist das ein guter. Als Kind bin ich oft damit aufgezogen worden, aber jetzt …«

»Jetzt ist er ein Vorteil für Sie«, sagte Tess. »Sie sind in ihn hineingewachsen.«

»Das stimmt wohl. Als ich Anfang zwanzig war, habe ich gelegentlich sogar als Model gearbeitet. Aber wissen Sie was? Manchmal ist es besser, aus etwas herauszuwachsen. Zum Beispiel seinen Geschmack für gewalttätige Männer zu überwinden.«

Dazu gab es eigentlich nichts weiter zu sagen.


26

Tess überzeugte sich davon, dass der Motor ihres Expedition ansprang, dann gab sie dem Taxifahrer zwanzig statt zehn Dollar Trinkgeld. Er bedankte sich und fuhr in Richtung I-84 davon. Sie folgte ihm, aber nicht bevor sie Toms Kabel wieder in die Buchse des Zigarettenanzünders gesteckt und ihn eingeschaltet hatte.

»Hallo, Tess«, sagte Tom. »Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«

»Nur nach Hause, Tommy-Boy«, sagte sie, verließ den Parkplatz und war sich sehr bewusst, dass sie auf einem Vorderreifen fuhr, den ein Mann montiert hatte, der sie fast umgebracht hatte. Al Irgendwas-Polnisches. Ein Lastwagen fahrender Hundesohn. »Mit einem Zwischenstopp.«

»Ich weiß nicht, was du denkst, Tess, aber du solltest vorsichtig sein.«

Wäre sie statt in ihrem Wagen zu Hause gewesen, und hätte Fritzy das gesagt, wäre sie genauso wenig überrascht gewesen. Stimmen und Gespräche hatte sie schon seit ihrer Kindheit erfunden, aber mit acht oder neun Jahren aufgehört, das in Gegenwart anderer Leute zu tun, außer um einen komischen Effekt zu erzielen.

»Ich weiß auch nicht, was ich denke …«, sagte sie, obwohl das nicht ganz stimmte.

Vor ihnen lagen die Kreuzung Stagg Road und US 47 mit dem Gas & Dash. Sie setzte den Blinker, bog ab und parkte den Expedition genau mittig vor den beiden Kartentelefonen. An der Hohlblocksteinwand sah sie die in den Staub geschriebene Telefonnummer von Royal Limousine. Die Ziffern waren krumm und schief, von einem Finger geschrieben, der nicht hatte still halten können. Bei diesem Anblick lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und drückte fest zu. Dann stieg sie aus und ging zu dem Kartentelefon, das noch funktionierte.

Die Gebrauchsanweisung war zerkratzt, vielleicht von einem Betrunkenen mit einem Autoschlüssel, aber die wichtigen Informationen waren noch lesbar: Anrufe bei der Notrufnummer waren kostenlos, man brauchte nur den Hörer abzunehmen und die Nummer einzutippen. Kinderleicht.

Sie tippte die 9 ein, zögerte, tippte die 1, zögerte dann erneut. Sie stellte sich eine Piñata und eine Frau vor, die sie mit einem Stock herunterschlagen wollte. Bald würde ihr gesamter Inhalt herausstürzen. Ihre Eltern würden wissen, dass ihre einzige Tochter vergewaltigt worden war. Patsy McClain würde wissen, dass die Geschichte, sie sei über Fritzy gestolpert, eine aus Scham geborene Lüge gewesen war … und das Tess ihr nicht genug vertraut hatte, um ihr

Nur …

»Was bringt mir das?« Sie sprach ziemlich leise, während sie die Telefonnummer betrachtete, die sie in den Staub geschrieben hatte. »Was ist für mich drin?«

Und sie dachte: Ich habe eine Waffe. Ich habe einen Revolver und weiß, wie man ihn gebraucht.

Tess hängte den Hörer ein und ging zu ihrem Wagen zurück. Sie sah auf Toms Bildschirm, der die Kreuzung Stagg Road und US 47 zeigte. »Ich muss noch etwas länger darüber nachdenken«, sagte sie.

»Was gibt’s da zu überlegen?«, fragte Tom. »Wenn du ihn umlegst und dann geschnappt wirst, sperren sie dich ein. Ob vergewaltigt oder nicht.«

»Genau darüber muss ich nachdenken«, sagte sie und bog auf die US 47 ab, die sie zur I-84 bringen würde.

Wie immer am Samstagmorgen war der Verkehr auf der Interstate schwach, und am Steuer ihres Expedition zu sitzen fühlte sich gut an. Beruhigend. Normal. Tom schwieg, bis sie an dem Schild AUSFAHRT 9 STOKE VILLAGE 2 MEILEN vorbeifuhren. Dann sagte er: »Weißt du bestimmt, dass das nur Zufall war?«

»Was?« Tess zuckte überrascht zusammen. Sie hatte Toms Stimme aus dem eigenen Mund kommen hören: in der tieferen Gedanke zu sein. »Soll das heißen, dass der Scheißkerl mich versehentlich vergewaltigt hat?«

»Nein«, antwortete Tom. »Ich sage nur, dass du dieselbe Strecke zurückgefahren wärst, wenn es nach dir gegangen wäre. Diese Strecke. Die I-84. Aber irgendwer hatte eine bessere Idee, stimmts? Irgendjemand hat eine Abkürzung gewusst.«

»Ja«, bestätigte sie. »Ramona Norville hat eine gewusst.« Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist ziemlich weit hergeholt, mein Freund.«

Dazu äußerte Tom sich nicht.


27

Bei der Abfahrt vom Gas & Dash hatte sie vorgehabt, online zu gehen und zu sehen, ob sie ein Fuhrunternehmen, vielleicht eine selbstständige kleine Firma, finden konnte, das seinen Sitz in Colewich oder einer der umliegenden Kleinstädte hatte. Eine Firma mit einem Vogelnamen, vielleicht Hawk oder Eagle. Das hätten die Willow-Grove-Ladys getan; sie liebten ihre Computer und schrieben sich wie Teenager dauernd E-Mails. Abgesehen von anderen Erwägungen wäre es interessant, zu sehen, ob ihre Version von amateurhafter Detektivarbeit im richtigen Leben funktionierte.

Als sie die eineinhalb Meilen von ihrem Haus entfernte Ausfahrt 9 nahm, beschloss sie, erst ein bisschen über Ramona Norville in Erfahrung zu bringen. Wer weiß, vielleicht männliche Lesbe, und so veranlagte Frauen hatten oft nicht einmal etwas für Männer übrig, die keine Vergewaltiger waren.

»Viele Brandstifter gehören der örtlichen freiwilligen Feuerwehr an«, bemerkte Tom, als sie auf ihre Straße abbog.

»Was soll denn das wieder heißen?«, fragte Tess.

»Dass du niemanden nach seinen augenscheinlichen Zugehörigkeiten beurteilen solltest. Das würden die Ladys des Strickclubs nie tun. Aber ihren Lebenslauf solltest du dir unbedingt ansehen.« Tom sprach in einem leicht gönnerhaften Ton, den Tess nicht erwartet hatte und der sie leicht irritierte.

»Wie liebenswürdig von dir, mir das zu erlauben, Thomas«, sagte sie.


28

Aber als sie in ihrem Arbeitszimmer vor dem hochgefahrenen Computer saß, starrte sie nur fünf Minuten lang den Begrüßungsbildschirm von Apple an und fragte sich, ob sie wirklich vorhatte, den Riesen aufzuspüren und ihren Revolver zu gebrauchen - oder ob das Ganze nur die Art Phantasie war, auf die berufsmäßige Lügner wie sie selbst nur allzu leicht hereinfielen. In diesem Fall eine Rachephantasie. Auch derartige Filme mied sie, obwohl sie natürlich wusste, dass es solche gab; wenn man nicht als völliger Einsiedler lebte, konnte man sich gegen den Puls der Gegenwartskultur nicht völlig abschotten. In den Rachefilmen machten bewundernswürdig muskulöse Männer wie Die mutige Frau? Jedenfalls irgendwas in dieser Art.

Ihr Computer wechselte zum Bildschirmschoner mit dem Wort des Tages über. Das heutige Wort war Kormoran, ganz zufällig ein Vogel.

»Wenn Sie Ihre Waren mit Cormorant Trucking versenden, fliegen sie förmlich«, sagte Tess mit ihrer tiefen Stimme, die Tom gehören sollte. Dann drückte sie eine Taste, und der Bildschirmschoner verschwand. Sie ging online, aber zu keiner Suchmaschine, zumindest nicht gleich zu Anfang. Als Erstes rief sie YouTube auf und tippte RICHARD WIDMARK ein, ohne irgendeine Idee zu haben, weshalb sie das tat. Jedenfalls keine bewusste.

Vielleicht will ich rauskriegen, ob der Kerl es wirklich wert ist, Fans zu haben, dachte sie. Nach Ramonas Meinung eindeutig.

Es gab jede Menge Filmchen. Am besten bewertet war eine sechsminütige Zusammenstellung mit dem Titel ER IST BÖSE, ER IST ECHT BÖSE. Mehrere Hunderttausend Leute hatten sie sich schon angesehen. Sie enthielt kurze Szenen aus drei Filmen, aber wirklich fasziniert war Tess von der ersten. Sie war schwarz-weiß und wirkte fast billig … aber sie stammte eindeutig aus einem dieser Filme. Das besagte schon der Titel: Der Todeskuss.

Tess sah sich das ganze Video an und kehrte dann noch zweimal zu dem Todeskuss-Segment zurück. Widmark spielte einen kichernden Gangster, der eine alte Frau in einem Rollstuhl bedroht. Er verlangt Informationen. »Wo ist Ihr

Die alte Lady schoss er jedoch nicht in den Bauch. Er fesselte sie mit einer Lampenschnur an ihren Rollstuhl und stieß sie die Treppe hinunter.

Tess verließ YouTube, bingte nach Richard Widmark und fand, was sie angesichts dieses kraftvollen Filmausschnitts erwartet hatte: Obwohl er in zahlreichen weiteren Filmen mitgespielt hatte, zunehmend in der Rolle des Helden, war er am besten als der kichernde, psychotische Tommy Udo aus Der Todeskuss bekannt.

»Na und?«, sagte Tess. »Manchmal ist eine Zigarre bloß eine Zigarre.«

»Was soll das heißen?«, fragte Fritzy von der Fensterbank her, auf der er sich sonnte.

»Das soll heißen, dass Ramona sich vermutlich in ihn verknallt hat, als sie ihn als heldenhaften Sheriff oder tapferen Schlachtschiffkommandanten oder irgendwas in dieser Art gesehen hat.«

»So muss es gewesen sein«, stimmte Fritzy zu. »Wenn du nämlich recht hast, was ihre sexuelle Orientierung betrifft, dann himmelt sie wahrscheinlich keine Männer an, die alte Ladys in Rollstühlen ermorden.«

Das stimmte natürlich. Klug gedacht, Fritzy.

Die Katze musterte Tess mit skeptischem Blick, dann sagte sie: »Aber vielleicht hast du damit nicht recht.«

»Auch wenn’s anders wäre«, sagte Tess, »kann niemand sich für verrückte böse Kerle begeistern.«

Wie dämlich diese Behauptung war, erkannte sie, sobald sie ausgesprochen war. Wenn die Leute sich nicht für Psychos begeistern könnten, würden nicht ständig Filme über den Verrückten in der Hockeymaske und das Verbrennungsopfer

»Lieber nicht«, sagte Tess. »Solltest du versucht sein, denk daran, wer deinen Fressnapf füllt.«

Sie googelte nach Ramona Norville, erzielte fast 44 000 Treffer, fügte Chicopee hinzu und bekam dann realistischere zwölfhundert (obwohl auch die meisten davon, das wusste sie, zufälliger Dreck sein würden). Der erste relevante stammte aus der Wochenzeitung Chicopee Weekly Reminder und betraf Tess selbst: BIBLIOTHEKARIN RAMONA NORVILLE KÜNDIGT »WILLOW-GROVE-FREITAG« AN.

»Das bin ich, die große Zugnummer«, murmelte Tess. »Ein Hoch auf Tessa Jean. Mal sehen, wie die Schauspielerin in der Nebenrolle aussieht.« Als sie die Meldung aufrief, sah sie jedoch nur ein Foto von sich selbst: die PR-Aufnahme mit dem schulterfreien Kleid, die ihre Teilzeit-Assistentin routinemäßig verschickte. Sie rümpfte die Nase und rief noch einmal Google auf; sie hätte nicht sagen können, wieso sie sich Ramona erneut ansehen wollte, sondern wusste nur, dass sie das wollte. Als sie endlich ein Foto der Bibliothekarin fand, sah sie, was ihr Unterbewusstsein anscheinend schon vermutet hatte - zumindest nach Toms Kommentaren auf der Heimfahrt zu schließen.

Das Bild gehörte zu einer Meldung im Weekly Reminder vom 3. August. BROWN BAGGERS STELLEN REDNER DES HERBSTPROGRAMMS VOR, lautete die Schlagzeile. Darunter stand Ramona Norville auf den Stufen vor der Bibliothek und blinzelte lächelnd in die Sonne. Ein schlechtes Foto, das ein Hobbyfotograf ohne viel Talent gemacht hatte, und eine schlechte (aber vermutlich typische) Wahl, was Norvilles Kleidung betraf. Der männlich geschnittene Blazer ließ sie so breitschultrig wie einen Footballverteidiger erscheinen. Ihre Schuhe waren hässliche braune

»Heiliger gottverdammter Scheiß, Fritzy«, sagte sie. Ihre Stimme troff vor Entsetzen. »Sieh dir das an!« Fritzy kam nicht herüber, um es sich anzusehen, und gab auch keine Antwort - wie denn auch, wo sie doch zu entsetzt war, um seine Stimme zu imitieren?

Überzeug dich davon, was du siehst, ermahnte sie sich. Du hast einen schrecklichen Schock erlitten, Tessa Jean, vielleicht den schlimmsten, den eine Frau außer einer tödlichen Diagnose in einem Sprechzimmer erleben kann. Also vergewissere dich.

Sie schloss die Augen und rief sich den Mann aus dem alten Ford F-150 mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer herum ins Gedächtnis zurück. Anfangs hatte er so freundlich gewirkt. Sie haben nicht erwartet, hier draußen in der Pampa dem Jolly Green Giant zu begegnen, was?

Nur war er nicht grün gewesen; er war ein sonnengebräunter hünenhafter Mann gewesen, der seinen Pick-up nicht fuhr, sondern anhatte.

Ramona Norville, kein Big Driver, aber offensichtlich eine Große Bibliothekarin, war zu alt, um seine Schwester zu sein. Und auch wenn sie jetzt eine Lesbe war, war sie das nicht schon immer gewesen, denn die Ähnlichkeit war unverkennbar.

Wenn ich mich nicht gewaltig täusche, habe ich ein Foto der Mutter meines Vergewaltigers vor mir.


29

Sie ging in die Küche und trank etwas Wasser, aber Wasser genügte diesmal nicht. Ganz hinten in ihrem Kühlschrank lag seit undenklichen Zeiten eine halbvolle Flasche Tequila. Tess holte sie heraus, überlegte, ob sie ein Glas brauchte, und nahm dann einen kleinen Schluck aus der Flasche. Das Zeug brannte in Mund und Kehle, wirkte sich sonst jedoch positiv aus. Sie trank noch einen Schluck - diesmal einen etwas größeren -, dann legte sie die Flasche zurück. Sie hatte nicht die Absicht, sich zu betrinken. Wenn sie jemals einen klaren Kopf gebraucht hatte, dann heute.

Wut - der größte, tiefste Zorn ihres Erwachsenenlebens - hatte wie ein Fieber von ihr Besitz ergriffen. Aber es war kein Fieber wie alle anderen, die sie bisher kennengelernt hatte. Es kreiste wie ein unheimliches Serum in ihrem Körper: in der rechten Hälfte kalt, dann links, wo ihr Herz saß, heiß. Aber es schien nicht in die Nähe ihres Kopfs zu kommen, der klar blieb. Er war sogar klarer, seit sie den Tequila getrunken hatte.

Sie ging mehrmals hastig im Kreis herum durch die Küche - den Kopf gesenkt, während sie sich mit einer Hand die Würgemale am Hals massierte. Ihr war nicht bewusst, dass sie auf die gleiche Weise durch ihre Küche lief, wie sie den verlassenen Laden umkreist hatte, nachdem sie aus der Wellblechröhre gekrochen war, die Big Driver zu ihrem Grab bestimmt hatte. Glaubte sie wirklich, dass Ramona Norville sie, Tess, ihrem psychotischen Sohn wie eine Art Opferlamm zugetrieben hatte? War das wahrscheinlich? Das war es nicht. Konnte sie auf der Basis eines schlechten Fotos und der eigenen Erinnerung auch nur annehmen, dass die beiden Mutter und Sohn waren?

Aber mein Gedächtnis ist gut. Vor allem mein Gedächtnis für Gesichter.

Nun, das glaubte sie zumindest, aber das tat vermutlich jeder. Richtig?

Ja, und die ganze Idee ist verrückt. Das musst du zugeben.

Das gab sie zu, aber in Fernsehsendungen über wahre Verbrechen (die sie sich häufig ansah) hatte sie schon verrücktere Dinge gesehen. Die Besitzerinnen eines Mietshauses in San Francisco, die jahrelang ältere Mieter ermordet und im Garten verscharrt hatten, um deren Rentenschecks zu kassieren. Den Flugkapitän, der seine Frau umgebracht und die Leiche dann tiefgekühlt hatte, um sie durch den Häcksler schieben zu können. Den Mann, der seine Kinder mit Benzin übergossen und wie Moorhühner aus Cornwall gegrillt hatte, damit seine Frau das ihr gerichtlich zugesprochene Sorgerecht niemals würde ausüben können. Eine Frau, die dem eigenen Sohn Opferlämmer zutrieb, war schockierend und unwahrscheinlich … aber nicht unmöglich. Was die verbrecherisch dunkle Seite des menschlichen Herzens betraf, schien es keine Grenze zu geben.

»O Mann«, hörte sie sich mit einer Stimme sagen, die eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung war. »O Mann, o Mann, o Mann.«

Finde es heraus. Verschaff dir Gewissheit. Wenn du kannst.

Tess setzte sich wieder an den Computer. Die Hände zitterten ihr so sehr, dass sie drei Anläufe brauchte, um COLEWICH FUHRUNTERNEHMEN ins Suchfeld der Google-Seite zu tippen. Nachdem sie es richtig hinbekommen hatte, drückte sie die Eingabetaste und sah sofort den gesuchten Namen ganz oben auf der Liste: RED HAWK TRUCKING. Als sie den Eintrag anklickte, gelangte sie zur Homepage von Red Hawk, auf der ein ruckelnd gezeichneter Sattelschlepper mit etwas, das wohl ein Habicht sein sollte, auf der Seite und einem bizarren Fahrer mit

Wer mehr als die Begrüßungsseite sehen wollte, hatte die Wahl zwischen vier, fünf Möglichkeiten, darunter Kontaktadresse, Frachttarife und Empfehlungen von zufriedenen Kunden. Tess übersprang sie und klickte auf die letzte, die SEHEN SIE SICH DIE NEUESTE ERGÄNZUNG UN-SERER FLOTTE AN! lautete. Und als das Foto erschien, fiel das letzte Stück des Puzzles an seinen Platz.

Die Aufnahme war viel besser als die andere, die Ramona Norville auf der Treppe vor der Bibliothek zeigte. Auf diesem Foto saß Tess’ Vergewaltiger am Steuer eines auf Hochglanz polierten Frontlenkers, eines Sattelschleppers der Marke Peterbilt, auf dessen Tür in verschnörkelter Zierschrift RED HAWK TRUCKING COLEWICH, MASSACHUSETTS stand. Diesmal trug er seine braune Mütze mit den Bleichmittelflecken nicht, und der auf diese Weise sichtbare blonde Bürstenhaarschnitt machte ihn seiner Mutter auf fast unheimliche Weise noch ähnlicher. Sein fröhliches Mir-können-Sie-vertrauen-Grinsen kannte Tess von gestern Nachmittag nur allzu gut. Er hatte es noch zur Schau getragen, als er gefragt hatte: Wie wär’s, wenn ich dich ficken würde, statt deinen Reifen zu wechseln? Wie wäre das?

Der Anblick des Fotos bewirkte, dass das unheimliche Wutserum rascher durch ihren Organismus kreiste. In ihren Schläfen pochte etwas, das eigentlich kein Kopfschmerz war; eigentlich war es sogar angenehm.

Er trug einen roten Glasring.

Die Bildunterschrift lautete: »Al Strehlke, Präsident von Red Hawk Trucking, am Steuer des neuesten Fahrzeugs der

Sie hörte, wie er sie eine Schlampe nannte, eine weinerliche Hurenschlampe, und ballte die Hände zu Fäusten. Sie grub die Fingernägel in die Handflächen, drückte noch fester zu, genoss den Schmerz.

Stolzer Papa. Dorthin kehrte ihr Blick immer wieder zurück. Stolzer Papa. Der Zorn pulsierte schneller und immer schneller, kreiste durch ihren Körper, wie sie im Kreis durch die Küche gelaufen war. Wie sie letzte Nacht den verlassenen Laden umkreist hatte: mal bei Bewusstsein, mal weggetreten - einer Schauspielerin gleich, die sich durch die Lichtkreise von Punktscheinwerfern bewegte.

Dafür wirst du bezahlen, Al. Und die Cops lassen wir außen vor; ich komme selbst kassieren.

Und dann gab es noch Ramona Norville. Die stolze Mama des stolzen Papas. Obwohl Tess sich in Bezug auf sie noch nicht ganz sicher war. Teils weil sie nicht glauben wollte, dass eine Frau zulassen könnte, dass einer anderen Frau etwas so Schreckliches zustieß, aber auch weil eine harmlose Erklärung denkbar war. Chicopee war nicht allzu weit von Colewich entfernt, und Ramona würde die Stagg Road ständig als Abkürzung benutzen, wenn sie dorthin fuhr.

»Um ihren Sohn zu besuchen«, sagte Tess und nickte. »Um den stolzen Papa mit dem neuen Peterbilt-Frontlenker zu besuchen. Vielleicht hat sie sogar die Aufnahme von ihm am Steuer gemacht.« Und wieso sollte sie der Gastautorin nicht ihre Lieblingsroute empfehlen?

Aber warum hatte sie nicht gesagt: »Diese Strecke fahre ich oft, um meinen Sohn zu besuchen«? Wäre das nicht irgendwie selbstverständlich gewesen?

»Vielleicht spricht sie über die Strehlke-Phase ihres Lebens nicht mit Fremden«, sagte Tess. »Die Phase, bevor sie kurze Haare und bequeme Schuhe entdeckt hat.« Das war möglich, aber es gab auch die mit Nägeln gespickten verstreuten Bretter zu bedenken. Die Falle. Norville hatte sie dorthin geschickt, und die Falle war rechtzeitig aufgestellt worden. Weil sie ihn angerufen hatte? Weil sie angerufen und gesagt hatte: Ich schicke dir eine Leckere, verpass sie nicht?

Das heißt noch immer nicht, dass sie beteiligt war … wissentlich beteiligt. Der stolze Papa kann verfolgt haben, wer bei ihr in der Bibliothek sprechen würde - wie schwierig wäre das?

»Gar nicht«, sagte Fritzy, nachdem er auf ihren Karteischrank gesprungen war. Er machte sich daran, eine Pfote zu putzen.

»Und wenn er ein Foto von einer gesehen hat, die ihm gefallen hat … eine halbwegs attraktive Frau … hat er wahrscheinlich gewusst, dass seine Mutter sie über die Stagg Road heimschicken …« Sie hielt inne. »Nein, so kann’s nicht gewesen sein. Wie hätte er ohne Input von seiner Mama gewusst, dass ich nicht nach Boston heimfahre? Oder nach New York zurückfliege?«

»Du hast nach ihm gegoogelt«, sagte Fritz. »Vielleicht hat er nach dir gegoogelt. Genau wie sie es getan hat. Heutzutage steht alles im Internet; das hast du selbst gesagt.«

Das hing logisch zusammen, wenn auch nur an einem hauchdünnen Faden.

Ihrer Ansicht nach gab es nur eine Möglichkeit, das zweifelsfrei festzustellen: durch einen Überraschungsbesuch bei Ms. Norville. Ihr in die Augen zu sehen, wenn sie Tess sah. Wenn in ihnen nichts als Überraschung und Neugier wegen der Rückkehr der Willow-Grove-Autorin - in Ramonas Heim statt in ihre Bibliothek - stand, war das eine Wieso bist du hier statt in einem rostigen Durchlass unter der Stagg Road ausgelöst haben konnte … nun, dann …

»Das wäre etwas anderes, Fritzy? Oder nicht?«

Fritzy betrachtete sie mit cleveren grünen Augen und putzte sich weiter die Pfote. Sie sah harmlos aus, diese Pfote, aber sie besaß verborgene Krallen. Tess hatte sie nicht nur gesehen, sondern manchmal auch gespürt.

Sie hat herausbekommen, wo ich wohne; mal sehen, ob ich mich revanchieren kann.

Tess wandte sich wieder ihrem Computer zu und suchte diesmal die Website der Books & Brown Baggers. Sie war sich sicher, dass sie eine finden würde - heutzutage hatte jeder eine Website, es gab zu »lebenslänglich« verurteilte Häftlinge, die eine Website hatten -, und wurde nicht enttäuscht. Die Brown Baggers stellten Buchbesprechungen, interessante Nachrichten über ihre Mitglieder und lockere Zusammenfassungen - nicht ganz Protokolle - ihrer Treffen ins Netz. Tess entschied sich für Letztere und begann zu scrollen. Sie brauchte nicht lange, um herauszubekommen, dass das Treffen am 10. Juni in Ramona Norvilles Haus in Brewster stattgefunden hatte. Tess war noch nie dort gewesen, aber sie wusste, wo diese Kleinstadt lag, und war erst gestern auf der Fahrt zu ihrem Gig an einem grünen Turnpike-Wegweiser mit der Aufschrift »Brewster« vorbeigefahren. Es lag nur zwei oder drei Ausfahrten südlich von Chicopee.

Als Nächstes rief sie die Steuerunterlagen der Brewster Township auf und scrollte nach unten, bis sie Ramonas Namen fand. Sie hatte im Vorjahr für ihr Grundstück 75 Lacemaker Lane eine Grundsteuer von 913,06 Dollar gezahlt.

»Hab dich, Schätzchen«, murmelte Tess.

»Du musst überlegen, wie du diese Sache anfangen willst«, sagte Fritzy. »Und wie weit du zu gehen bereit bist.«

»Wenn ich recht habe«, sagte Tess, »vielleicht ziemlich weit.«

Als sie den Computer herunterfahren wollte, fiel ihr noch etwas ein, das sich zu überprüfen lohnte, obwohl vermutlich nichts dabei herauskommen würde. Sie rief die Homepage des Weekly Reminder auf und klickte NACHRUFE an. Dort gab es ein Feld, in das man den Namen schreiben konnte, der einen interessierte, und Tess gab STREHLKE ein. Der einzige Treffer war ein gewisser Roscoe Strehlke. In dem Nachruf aus dem Jahr 1999 hieß es, er sei 48-jährig ganz plötzlich zu Hause verstorben. Die trauernden Hinterbliebenen waren seine Frau Ramona und zwei Söhne: Alvin (23) und Lester (17). Für eine Krimiautorin, selbst wenn sie nur unblutige Romane für alte Ladys schrieb, die man gern »Häkel-Krimis« nannte, war plötzlich verstorben eine rote Flagge. Sie durchsuchte die allgemeine Datenbank des Reminder, ohne jedoch mehr zu finden.

Sie blieb einen Augenblick sitzen und trommelte mit den Fingern auf ihre Sessellehne, wie sie das immer tat, wenn ihr bei der Arbeit ein Wort, ein Satz oder ein treffender Ausdruck fehlte. Dann suchte sie eine Aufstellung von Zeitungen im Westen und Süden von Massachusetts und fand den Springfield Republican. Als sie den Namen von Ramona Norvilles Ehemann eingab, war die dazugehörige Schlagzeile knapp und prägnant: GESCHÄFTSMANN AUS CHICOPEE VERÜBT SELBSTMORD.

Strehlke war in seiner Garage an einem Dachbalken hängend aufgefunden worden. Er hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, und Ramona wurde nicht zitiert, aber ein Nachbar sagte, Mr. Strehlke sei wegen »irgendwelcher Schwierigkeiten, die sein Ältester hatte«, sehr beunruhigt gewesen.

»Was für Schwierigkeiten hatte Al, die dir so zugesetzt haben?«, fragte Tess den Bildschirm. »Irgendwas mit einem Mädchen? Vielleicht Körperverletzung? Sexueller Missbrauch? Hat er sich schon damals auf Größeres vorbereitet? Wenn du dich deswegen aufgehängt hast, warst du als Vater eine schöne Niete.«

»Vielleicht hatte Roscoe Hilfe«, sagte Fritzy. »Von Ramona. Eine große, starke Frau, weißt du. Das müsstest du wissen; du hast sie gesehen.«

Auch das klang wieder nicht wie die Stimme, mit der sie im Prinzip Selbstgespräche führte. Sie starrte Fritzy verblüfft an. Fritzy erwiderte ihren Blick mit ruhigen grünen Augen, die zu fragen schienen: Wer, ich?

Was Tess tun wollte: mit ihrem Revolver in der Handtasche direkt zur Lacemaker Lane fahren. Was sie hätte tun sollen: das Detektivspielen bleibenlassen und die Polizei anrufen. Das hätte die Alte Tess getan, aber diese Frau war sie nicht mehr. Diese Frau erschien ihr jetzt wie eine entfernte Verwandte von der Sorte, der man zu Weihnachten eine Karte schickte, um sie dann wieder bis zum nächsten Mal zu vergessen.

Weil sie sich nicht entscheiden konnte - und sich wie zerschlagen fühlte -, ging sie wieder nach oben und legte sich ins Bett. Sie schlief vier Stunden lang und war beim Aufstehen so steif, dass sie kaum gehen konnte. Sie nahm zwei extrastarke Tylenol, wartete, bis sie zu wirken begannen, und fuhr dann zu Blockbuster Video. Den Smith & Wesson hatte sie in der Handtasche dabei. Sie glaubte, dass sie ihn in Zukunft immer bei sich haben würde, wenn sie allein unterwegs war.

Sie betrat den Videoverleih kurz vor Ladenschluss und fragte nach einem Jodie-Foster-Film mit dem Titel Die mutige Frau. Der Angestellte (der grünes Haar hatte, in einem Ohr eine Sicherheitsnadel trug und volle achtzehn Jahre alt Der Fremde in dir. Mr. Retro Punk ergänzte, für fünfzig Cent extra bekäme sie zu dem Film einen Beutel Mikrowellen-Popcorn dazu. Tess hätte fast Nein gesagt, überlegte sich die Sache dann aber anders. »Scheiße, warum nicht?«, sagte sie zu Mr. Retro Punk. »Man lebt nur einmal, stimmt’s?«

Er musterte sie verblüfft und schien sein Urteil über sie zu revidieren; dann lächelte er und bestätigte, in der Tat erhalte jeder Kunde nur ein Leben.

Zu Hause bereitete sie das Popcorn zu, legte die DVD ein, machte es sich auf der Couch bequem und stopfte sich ein Kissen in den Rücken, um die tiefe Kratzwunde abzupolstern. Fritzy leistete ihr Gesellschaft, und sie sahen sich gemeinsam an, wie Jodie Foster Jagd auf die Männer (auf die Kerle, wie in Scheißkerle) machte, die ihren Freund umgebracht hatten. Im Lauf der Handlung legte Foster alle möglichen Kerle um - alle mit einer Pistole. Der Fremde in dir gehörte eindeutig zu jenen Filmen, aber Tess genoss ihn trotzdem. Sie fand, dass er völlig schlüssig war. Sie glaubte auch, in all den Jahren etwas versäumt zu haben: die schwache, aber authentische Katharsis, die Filme wie Der Fremde in dir bewirkten. Als er zu Ende war, sagte sie zu Fritzy: »Ich wollte, Richard Widmark wäre Jodie Foster statt dieser alten Lady im Rollstuhl begegnet, findest du nicht auch?«

Fritzy stimmte tausendprozentig zu.


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Als Tess an diesem Abend im Bett war, während der Oktoberwind immer stürmischer ums Haus heulte und Fritzy eng zusammengerollt neben ihr lag, traf sie eine Übereinkunft mit sich selbst: Wenn sie morgen früh in derselben Stimmung wie jetzt aufwachte, würde sie Ramona Norville aufsuchen und anschließend - je nachdem was sich in der Lacemaker Lane ergab - vielleicht Alvin »Big Driver« Strehlke einen Besuch abstatten. Eher würde sie allerdings wieder einigermaßen vernünftig aufwachen und die Polizei anrufen. Auch nicht anonym; sie würde die Suppe, die andere ihr eingebrockt hatten, auslöffeln. Eine Vergewaltigung nach über vierzig Stunden nachzuweisen würde vermutlich schwierig sein, aber die Spuren körperlicher Misshandlungen waren unverkennbar.

Und die Frauen in der Röhre: Sie war deren Advokatin, ob ihr das passte oder nicht.

Morgen werden dir alle diese Rachevorstellungen lächerlich vorkommen. Wie die Wahnideen, die Leute mit hohem Fieber haben.

Als sie am Sonntag aufwachte, war sie jedoch weiter voll im Neue-Tess-Modus. Sie starrte den Revolver auf dem Nachttisch an und dachte: Ich will ihn gebrauchen. Ich will diese Sache selbst erledigen, und wenn man bedenkt, was ich durchgemacht habe, hab ich es verdient, sie selbst zu erledigen.

»Aber ich muss mir sicher sein, und ich will natürlich nicht geschnappt werden«, sagte sie zu Fritzy, der aufgestanden war, sich umständlich streckte und sich auf einen weiteren anstrengenden Tag vorbereitete, an dem er herumliegen und häufig aus seinem Napf fressen würde.

Tess duschte, zog sich an und setzte sich dann mit einem Notizblock auf die Glasveranda. Sie starrte den Rasen hinter


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Gegen zehn Uhr war sie heißhungrig. Sie machte sich einen Riesenbrunch und aß ihn bis zum letzten Bissen auf. Dann brachte sie den Film zu Blockbuster zurück und fragte nach Der Todeskuss. Den hatten sie nicht, aber nach zehnminütiger Suche entschied sie sich für einen Ersatz, der Das letzte Haus links hieß. Sie nahm ihn mit nach Hause und sah ihn sich aufmerksam an. In dem Film vergewaltigten Männer ein junges Mädchen und ließen es als tot liegen. Das Ganze war ihrem eigenen Schicksal so ähnlich, dass Tess in Tränen ausbrach und so laut weinte, dass Fritzy aus dem Zimmer flüchtete. Aber sie hielt durch und wurde mit einem Happy End belohnt: Die Eltern des jungen Mädchens ermordeten die Vergewaltiger.

Sie steckte die DVD wieder in ihre Hülle und legte sie auf den Tisch in der Diele. Den Film würde sie morgen zurückbringen, wenn sie dann noch lebte. Das hatte sie zwar vor, aber nichts war gewiss; es gab viele seltsame Wendungen und Irrwege, während man den überwucherten Häschenpfad namens Leben hinunterhoppelte. Wie Tess aus leidvoller eigener Erfahrung wusste.

Weil sie noch Zeit totzuschlagen hatte - die Tageslichtstunden schienen quälend langsam zu vergehen -, surfte sie

»Aber vielleicht ist er schlimmer geworden«, erklärte sie Fritzy.

»Solche Kerle werden oft schlimmer«, stimmte Fritzy zu. (Das war ungewöhnlich; im Allgemeinen war eher Tom ihrer Meinung. Fritzys Rolle war meist die des Advocatus diaboli.)

»Einige Jahre später ist dann wieder etwas passiert. Etwas Schlimmeres. Vielleicht hat Mama ihm geholfen, es zu vertuschen …«

»Vergiss den jüngeren Bruder nicht«, sagte Fritzy. »Lester. Auch er kann darin verwickelt gewesen sein.«

»Verwirr mich nicht mit zu vielen Personen, Fritzy. Ich weiß nur, dass Al ›Big Driver‹, dieser Scheißkerl, mich vergewaltigt hat und dass seine Mutter als Komplizin infrage kommt. Das genügt mir.«

»Vielleicht ist Ramona ja auch seine Tante«, sagte Fritzy.

»Ach, halt die Klappe«, sagte Tess, und Fritzy gehorchte.


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Sie legte sich um vier Uhr nachmittags hin und rechnete damit, keine Sekunde schlafen zu können, aber ihr heilender Körper setzte eigene Prioritäten. Sie war fast augenblicklich weg, und als sie von dem drängenden Dah-dah-dah ihres Radioweckers aufwachte, war sie froh, ihn gestellt zu haben. Draußen kämmte ein böiger Oktoberwind Blätter von den Bäumen und ließ sie in bunten Wolken über den Rasen wirbeln. Das Licht hatte die seltsame Goldfärbung ohne Tiefe angenommen, die eine exklusive Eigenschaft von Spätherbstnachmittagen in Neuengland zu sein schien.

Ihrer Nase ging es besser - dort waren die Schmerzen zu einem dumpfen Pochen abgeklungen -, aber ihr Hals tat noch immer weh, und sie humpelte eher ins Bad, als dass sie normal ging. Sie stellte sich unter die Dusche, drehte das Wasser so heiß auf, wie sie es aushalten konnte, und blieb in der Kabine, bis ihre Haut krebsrot und das Bad so neblig wie ein englisches Moor in einem Sherlock-Holmes-Roman war. Das Duschen hatte geholfen. Ein paar Tylenol aus dem Medizinschränkchen würden noch mehr bringen.

Sie frottierte sich die Haare, dann rieb sie den beschlagenen Spiegel ein Stück weit frei. Das Spiegelbild erwiderte ihren Blick mit Augen, in denen Zorn und Vernunft glosten. Das Glas beschlug rasch wieder, blieb jedoch lange genug klar, um Tess zweifelsfrei erkennen zu lassen, dass sie diese Sache wirklich ohne Rücksicht auf Konsequenzen durchziehen wollte.

Zu dem schwarzen Rollkragenpullover zog sie eine schwarze Cargohose mit geräumigen aufgesetzten Taschen an. Dann fasste sie ihr Haar zu einem Knoten zusammen und stülpte eine große schwarze Baseballmütze darüber. Der Haarknoten beulte die Mütze hinten etwas aus, aber wenigstens würde kein potenzieller Zeuge sagen können: Ihr Gesicht hab ich nicht richtig erkannt, aber sie hatte langes blondes Haar. Es war hinten mit einem dieser Haargummis zusammengefasst. Sie wissen schon, die Dinger, die man bei J. C. Penney kriegt.

Sie ging in den Keller hinunter, in dem ihr Kajak seit Anfang September lagerte, und nahm die Rolle mit gelber Bootsleine aus dem Regal darüber. Mit der Heckenschere schnitt sie zwei Meter davon ab, wickelte die Leine über dem Unterarm auf und verstaute das Bündel dann in einer ihrer geräumigen Hosentaschen. Oben in der Küche steckte sie ihr Schweizer Messer in dieselbe Tasche - die linke. In die rechte Tasche kam der Smith & Wesson Kaliber.38 … und ein weiterer Gegenstand, den sie aus der Schublade neben dem Herd nahm. Dann füllte sie Fritzys Fressnapf mit einer doppelten Portion. Bevor sie ihn fressen ließ, drückte sie ihn jedoch erst noch an sich und küsste ihn oben auf den Kopf. Der alte Kater legte die Ohren an (wahrscheinlich mehr aus Überraschung als aus Widerwillen; sie war normalerweise kein küssendes Frauchen) und lief zu seinem Napf, sobald sie ihn absetzte.

»Teil dir das gut ein«, ermahnte Tess ihn. »Falls ich nicht zurückkomme, sieht zwar Patsy irgendwann nach dir, aber das kann ein paar Tage dauern.« Sie lächelte schwach und fügte hinzu: »Ich liebe dich, du klappriges altes Ding.«

Fritzy gab keine Antwort. Er war zu sehr mit Fressen beschäftigt.

Tess überflog noch einmal ihren NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel, überprüfte in Gedanken ihre Ausrüstung und rekapitulierte die Schritte, die sie unternehmen wollte, sobald sie die Lacemaker Lane erreichte. Vor allem würde sie darauf gefasst sein müssen, dass bei weitem nicht alles so ablief, wie erhofft. Bei solchen Sachen enthielt der Kartenstapel immer ein paar Joker. Ramona war vielleicht nicht zu Hause. Oder sie war da, hatte Besuch von ihrem Saw. Der jüngere Bruder - in Colewich bestimmt als Little Driver bekannt - konnte ebenfalls dort sein. Vielleicht war Ramona an diesem Abend Gastgeberin einer Tupperparty oder eines Literaturzirkels. Wichtig war vor allem, sich nicht durch unerwartete Ereignisse verwirren zu lassen. Wenn sie nicht entsprechend improvisieren konnte, hielt Tess es für sehr wahrscheinlich, dass sie ihr Haus in Stoke Village heute zum letzten Mal verlassen würde.

Sie verbrannte den NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel im Kamin, verteilte die Asche mit dem Schüreisen, zog dann ihre Lederjacke an und streifte dünne schwarze Lederhandschuhe über. Die Jacke hatte eine tiefe Innentasche. Tess steckte eines ihrer Küchenmesser hinein, nur als Rückversicherung, und ermahnte sich dann, nicht zu vergessen, dass es dort war. Das Letzte, was sie an diesem Wochenende brauchte, war eine versehentliche Brustamputation.

Kurz bevor sie aus der Haustür trat, schaltete sie die Alarmanlage ein.

Der Wind fiel sofort über sie her und ließ ihren Jackenkragen und die Beine der Cargohose flattern. Minizyklone wirbelten Laub auf. An dem nicht ganz dunklen Himmel über ihrem geschmackvollen kleinen Stück des vorstädtischen Connecticut zogen Wolken vor einem Dreiviertelmond vorbei. Eine wundervolle Nacht für einen Horrorfilm, fand Tess.

Sie stieg in den Expedition und knallte die Fahrertür zu. Ein Blatt fiel auf die Windschutzscheibe, wurde aber gleich wieder fortgeweht. »Ich habe den Verstand verloren«, sagte sie nüchtern. »Er ist rausgefallen und in der Wellblechröhre gestorben - oder als ich im Kreis um den Laden geirrt bin.

Sie ließ den Motor an. Tom das TomTom wurde hell und sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«

»Richtig, mein Freund.« Tess beugte sich nach vorn und gab die Adresse 75 Lacemaker Lane, Brewster, in Toms aufgeräumtes elektronisches Gedächtnis ein.


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Sie hatte sich Ramonas Wohnviertel mit Google Earth angesehen, und als sie hinkam, sah dort alles unverändert aus. So weit, so gut. Brewster war eine Kleinstadt in Neuengland, die Lacemaker Lane lag am Ortsrand, und die Häuser standen auf großen Grundstücken. Tess fuhr mit gemächlichen kleinstädtischen zwanzig Meilen in der Stunde an der Nummer 75 vorbei und stellte fest, dass im Haus Licht brannte und in der Einfahrt nur ein Auto stand: ein fast neuer Subaru, der förmlich »Bibliothekarin« schrie. Nirgends eine Spur von einem Frontlenker-Pete oder einem anderen großen Sattelschlepper. Auch von keinem alten blauen Pick-up.

Die Straße endete an einer Wendefläche. Tess benutzte sie, kam zurück und bog in Norvilles Einfahrt ab, ohne sich eine Chance zu geben, es sich noch einmal anders zu überlegen. Sie schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und atmete lange und tief durch.

»Komm heil wieder, Tess«, sagte Tom von seinem Platz auf dem Instrumentenbrett aus. »Komm heil wieder, dann leite ich dich zu deinem nächsten Ziel.«

»Okay, ich tue mein Bestes.« Sie griff nach ihrem Notizblock (auf dem jetzt nichts mehr stand) und stieg aus. Den Notizblock hielt sie an ihre Jacke gedrückt, während sie zu


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Norvilles Haustür war auf beiden Seiten mit stark facettierten Glasstreifen eingefasst. Obwohl das dicke Glas den Blick verzerrte, konnte Tess eine hübsche Tapete und einen Flur mit Parkettboden erkennen. Auf einem Beistelltisch lag ein Stapel Zeitschriften. Vielleicht waren es auch Kataloge. Der Flur ging in einen großen Raum über, in dem ein Fernseher lief. Sie hörte singende Stimmen, also sah Ramona sich vermutlich nicht Saw an. Viel eher - wenn Tess recht hatte und der Song »Climb Ev’ry Mountain« hieß - sah sie sich Meine Lieder - meine Träume an.

Tess klingelte. Drinnen ertönte ein Dreifachgong, der die ersten drei Noten von »Dixie« zu spielen schien - eine für Neuengland seltsame Wahl, aber wenn Tess sie richtig beurteilte, war Ramona Norville ja auch eine seltsame Frau.

Sie hörte das Trampeln großer Füße und drehte sich halb zur Seite, damit das durchs Glas fallende Licht ihr Gesicht nur teilweise erhellte. Sie hielt den leeren Notizblock nun leicht schräg und machte mit einer behandschuhten Hand Schreibbewegungen. Dabei ließ sie die Schultern etwas hängen. Sie war eine Frau, die irgendeine Umfrage machte. Es war Sonntagabend, sie war müde, sie wollte nur noch die Lieblingszahncreme der Hausherrin erfragen (oder vielleicht ob sie Prince Albert in der Dose habe) und dann heimfahren.

Keine Sorge, Ramona, Sie können ruhig aufmachen, jeder kann sehen, dass ich harmlos bin, dass ich keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie hinter dem facettierten Glas ein verzerrtes Fischgesicht in ihr Blickfeld schwimmen. Dann folgte eine Pause, die ihr sehr lang erschien, bevor Ramona Norville die Haustür öffnete. »Ja? Was kann ich für Sie …«

Tess wandte sich ihr zu. Das durch die Tür fallende Licht beleuchtete ihr Gesicht. Und der Schock, den sie auf Norvilles Gesicht sah, dieser starke Schock, der ihr die Kinnlade herabsacken ließ, sagte ihr alles, was sie wissen musste.

»Sie? Was machen Sie h…«

Tess zog den Smith & Wesson Kaliber.38 aus der rechten Vordertasche. Auf der Fahrt von Stoke Village hierher hatte sie sich ausgemalt, wie er sich darin verhakte - hatte sich das mit albtraumhafter Klarheit vorgestellt -, aber der Revolver kam glatt heraus.

»Weg von der Tür! Wenn Sie sie zuzumachen versuchen, erschieße ich Sie.«

»Das werden Sie nicht«, sagte Norville. Sie trat nicht zurück, aber sie machte auch keine Anstalten, die Haustür zu schließen. »Sind Sie übergeschnappt?«

»Zurück!«

Norville trug einen weiten blauen Morgenmantel, und als Tess ihn vorn gewaltig anschwellen sah, hob sie den Revolver. »Beim ersten Laut schieße ich. Glauben Sie mir lieber, Sie Miststück, das ist mein voller Ernst.«

Norvilles üppiger Busen verlor schlagartig die Luft. Ihre Lippen waren von den Zähnen zurückgezogen, und die Augen irrlichterten von einer Seite zur anderen. So sah sie nicht wie eine Bibliothekarin aus, wirkte nicht jovial und herzlich. Tess fand eher, dass sie wie eine Ratte aussah, die außerhalb ihres Lochs überrascht worden war.

»Wenn Sie mit dem Ding schießen, hört das die ganze Nachbarschaft.«

Das bezweifelte Tess, aber sie widersprach nicht. »Ihnen kann das egal sein, weil Sie dann tot sind. Los, rein mit Ihnen! Wenn Sie sich zusammenreißen und meine Fragen beantworten, leben Sie morgen früh vielleicht noch.«

Norville wich zurück, und Tess, die den Revolver mit fast ausgestrecktem Arm hielt, trat in die Diele. Sowie sie die Haustür hinter sich schloss - was sie mit der Ferse tat -, blieb Norville neben dem Tischchen mit den Katalogen reglos stehen.

»Kein Grapschen, kein Werfen«, sagte Tess - und merkte an Ramonas zuckenden Mundwinkeln, dass die Frau genau das vorgehabt hatte. »Ich kann in Ihnen lesen wie in einem Buch. Weshalb wäre ich sonst hier? Los, weiter! Ganz bis ins Wohnzimmer zurück. Ich liebe die Trapp-Familie, wenn sie richtig rockt!«

»Sie sind verrückt«, sagte Ramona, aber sie setzte sich wieder in Bewegung. Sie trug Schuhe. Sogar zu ihrem Morgenmantel trug sie große hässliche Schuhe. Herrenschnürschuhe. »Ich habe keine Ahnung, was Sie hier wollen, aber …«

»Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Mama. Trauen Sie sich das bloß nicht. Alles hat auf Ihrem Gesicht gestanden, als Sie die Tür geöffnet haben. Restlos alles. Sie dachten, ich wär tot, was?«

»Ich weiß nicht, was Sie …«

»Wir Mädels sind hier unter uns, Schätzchen, warum nicht einfach alles zugeben?«

Jetzt waren sie im Wohnzimmer. An den Wänden hingen kitschige Ölbilder - Clowns, Waisen mit großen Augen -, und viele der Tische und Regale waren mit Kitsch vollgestellt: Schneekugeln, Trollbabys, Hummel-Figuren, Glücksbärchis, ein Pfefferkuchenhaus à la Hänsel und Gretel aus Porzellan. Obwohl Norville von Beruf Bibliothekarin war, waren nirgends Bücher zu sehen. Dem Fernseher gegenüber stand ein La-Z-Boy mit einem Lederkissen als Fußhocker. TV Guide. Auf dem Fernseher stand ein gerahmtes Foto, das Ramona und eine weitere Frau zeigte, die sich umarmten und dabei die Wangen aneinanderlegten. Es schien auf einem Jahrmarkt oder in einem Vergnügungspark gemacht worden zu sein. Vor diesem Foto stand eine gläserne Konfektschale, die unter der Deckenleuchte von innen heraus glitzerte.

»Wie lange machen Sie das schon?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Wie lange sind Sie schon Zuhälterin für den Vergewaltiger und Mörder, der Ihr Sohn ist?«

Norvilles Blick flackerte erneut, aber sie leugnete wieder … was Tess vor ein Problem stellte. Als sie hergekommen war, war ihr die Ermordung Ramona Norvilles nicht nur als Möglichkeit, sondern als wahrscheinlichstes Ende erschienen. Tess war sich ziemlich sicher gewesen, dass sie das hinbekam, dass die Bootsleine in der linken Vordertasche ihrer Cargohose unbenutzt bleiben würde. Nun stellte sie jedoch fest, dass sie nicht weitermachen konnte, bevor die Frau ihre Komplizenschaft gestand. Was auf deren Gesicht gestanden hatte, als sie Tess vor der Haustür hatte stehen sehen - grün und blau geschlagen, aber sonst sehr lebendig -, reichte nämlich nicht aus.

Nicht ganz.

»Wann hat es angefangen? Wie alt war er? Fünfzehn? Hat er behauptet, er hätte ›nur Spaß gemacht‹? Das behaupten anfangs viele von denen.«

»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Sie kommen in die Bibliothek, liefern eine ganz annehmbare Lesung ab - etwas glanzlos, Sie waren offenbar nur wegen des Geldes da, aber damit war wenigstens die Lücke im Veranstaltungsplan ausgefüllt -, und als Nächstes stehen Sie vor meiner

»Sparen Sie sich die Mühe, Ramona. Ich habe sein Foto auf der Website von Red Hawk gesehen. Mitsamt dem roten Ring. Er hat mich vergewaltigt und wollte mich umbringen. Er dachte, er hätte mich umgebracht. Und Sie haben mich zu ihm geschickt.«

Norvilles Mund öffnete sich in einer gruseligen Kombination aus Schock, Verzweiflung und Schuldgefühlen. »Nein, das stimmt nicht! Du blöde Fotze, du weißt nicht, wovon du redest!« Sie setzte sich wieder in Bewegung.

Tess hob den Revolver. »Ähäh, tun Sie das nicht. Nein.«

Norville machte halt, aber Tess glaubte nicht, dass die Frau lange stehen bleiben würde. Sie sammelte ihren Mut, um zu flüchten oder zu kämpfen. Und weil sie wusste, dass Tess sie verfolgen würde, wenn sie tiefer ins Haus flüchtete, würde sie wahrscheinlich kämpfen.

Die Trapp-Familie sang wieder. In der Situation, in der Tess sich befand - in die sie sich selbst gebracht hatte -, war all dieser fröhliche Choralscheiß unerträglich. Tess ließ den Smith & Wesson mit der rechten Hand auf Norville gerichtet, griff mit der linken nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab. Als sie die Fernbedienung wieder hinlegen wollte, erstarrte sie. Auf dem Fernseher standen zwei Dinge, aber anfangs hatte sie nur das Foto von Ramona und ihrer Freundin richtig wahrgenommen; die Konfektschale hatte sie lediglich mit einem Blick gestreift.

Jetzt sah sie, dass das Glitzern, das sie dem Kristallglasschliff der Schale zugeschrieben hatte, nicht von außen kam. Es rührte von etwas her, das darin lag. In der Schale lagen ihre Ohrringe. Ihre Brillantohrringe.

Norville griff sich das Pfefferkuchenhaus aus dem Regal und warf es. Und zwar mit voller Kraft. Tess duckte sich, und das Pfefferkuchenhaus flog zwei Fingerbreit über ihren

Beide stürzten sich darauf. Norville ließ sich auf die Knie fallen und rammte ihre Schulter gegen Tess’ Arm und Schulter wie ein Footballverteidiger, der einen Quarterback umnieten wollte. Sie griff sich den Revolver, jonglierte erst noch damit und bekam ihn dann richtig zu fassen. Tess griff in ihre Jacke, umklammerte den Griff des Küchenmessers, das ihre Reservewaffe war, und wusste schon jetzt, dass sie damit nichts mehr würde ausrichten können. Norville war zu groß … und zu gluckenhaft. Ja, so war es! Sie hatte ihren verbrecherischen Sohn viele Jahre lang beschützt und war entschlossen, das auch jetzt zu tun. Tess hätte sie in der Diele erschießen sollen, sobald die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Aber ich konnte nicht, dachte sie, und selbst in diesem Augenblick war das Wissen, dass dies die Wahrheit war, ein kleiner Trost. Sie richtete sich Ramona Norville gegenüber auf den Knien auf.

»Sie sind eine beschissene Schreiberin, und Sie waren eine beschissene Rednerin«, sagte Norville. Sie lächelte und sprach immer schneller. Ihre Stimme hatte die näselnde Redeweise eines Versteigerers angenommen. »Sie haben Ihren Vortrag hingehauen, genau wie Sie Ihre dämlichen Bücher hinhauen. Sie waren perfekt für ihn, und er war kurz davor, wieder jemanden umzulegen, ich kenne die Anzeichen. Ich habe Sie zu ihm geschickt, und es hat geklappt, und ich bin froh, dass er Sie gefickt hat. Ich weiß nicht, was Sie sich erwartet haben, als Sie hier aufgekreuzt sind, aber jetzt müssen Sie mit dem hier vorliebnehmen.«

Norville drückte ab … und es war nichts als ein trockenes Klicken zu hören. Bei dem Schießunterricht, den Tess

Ein Ausdruck fast komischer Überraschung zog über Norvilles Gesicht. Er machte sie wieder jung. Während sie auf den Revolver in ihrer Hand hinunterstarrte, zog Tess das Messer aus der Jackeninnentasche, taumelte vorwärts und stieß es Norville bis zum Heft in den Bauch.

Die Frau ließ einen glasigen »OOO-OOOO«-Laut hören, der ein Schrei zu sein versuchte, es aber nicht schaffte. Tess’ Revolver fiel scheppernd zu Boden, und Ramona, die weiter auf den Messergriff hinabstarrte, torkelte rückwärts gegen die Wand. Mit dem fuchtelnden Arm traf sie eine Reihe von Hummel-Figuren. Sie kippten vom Regal und zerschellten auf dem Fußboden. Sie machte noch einmal diesen »OOO-OOOO«-Laut. Die Vorderseite des Morgenmantels war noch unbefleckt, aber unter dem Saum begann Blut auf Ramona Norvilles Männerschuhe zu platschen. Sie umklammerte den Messergriff mit beiden Händen und wollte die Klinge herausziehen, wobei sie zum dritten Mal den »OOO-OOOO«-Laut hören ließ.

Sie sah ungläubig zu Tess auf. Tess erwiderte den Blick. Sie musste an etwas denken, das sich an ihrem zehnten Geburtstag ereignet hatte. Ihr Vater hatte ihr eine Steinschleuder geschenkt, und sie war losgezogen, um Dinge zu suchen, auf die sie damit schießen konnte. Irgendwo, fünf oder sechs Straßen von ihrem Haus entfernt, hatte sie einen räudigen Straßenköter gesehen, der in einer Mülltonne wühlte. Sie hatte einen kleinen Stein in die Schleuder gelegt und auf den Hund geschossen, nur um ihn zu verscheuchen (hatte sie sich eingeredet), aber dann hatte sie ihn am Rumpf getroffen. Der Köter hatte jämmerlich aufgeheult und war

»Ramona«, sagte sie, »im Augenblick fühle ich eine gewisse Verwandtschaft mit Richard Widmark. So machen wir’s mit Verrätern, Schätzchen.«

Norville stand in einer Lache aus eigenem Blut, und auf ihrem Morgenmantel waren schließlich blutige Mohnblüten erschienen. Sie war kreidebleich im Gesicht. Ihre unnatürlich geweiteten Augen glitzerten vor Schock. Die Zungenspitze erschien und glitt langsam über die Unterlippe.

»Jetzt können Sie sich lange rumwälzen und darüber nachdenken - wie finden Sie das?«

Norville sackte zusammen. Ihre Männerschuhe machten in der Blutlache quatschende Geräusche. Sie tastete nach einem der anderen Regale und riss es dabei von der Wand. Ein Trupp Glücksbärchis kippte nach vorn und verübte Selbstmord.

Obwohl Tess nach wie vor weder Reue noch Bedauern empfand, merkte sie, dass sie trotz ihres großspurigen Geredes wenig von Tommy Udo in sich hatte; sie verspürte keinen Drang, Norvilles Leiden zu beobachten oder zu verlängern. Der Strickclub Willow Grove macht eine Fahrt ins Blaue geschrieben hatte.

Man wusste nie, wann Recherchen sich als nützlich erweisen würden.

»Sie verstehen das nicht.« Norvilles Stimme war ein heiseres Flüstern. »Das dürfen Sie nicht tun. Sie machen einen Fehler. Bringen Sie mich … Krankenhaus.«

»Den Fehler haben Sie gemacht.« Tess zog den Topfhandschuh über den Revolver in ihrer rechten Hand. »Als Sie Ihren Sohn nicht haben kastrieren lassen, sobald Sie wussten, wie er veranlagt ist.« Sie presste den Handschuh an Ramona Norvilles Schläfe, drehte den Kopf leicht zur Seite und drückte ab. Dabei war ein dumpfes, nachdrückliches Plah! zu hören, so als räusperte sich ein großer Mann energisch.

Das war alles.


35

Nach Al Strehlkes Adresse hatte sie nicht gegoogelt; sie hatte erwartet, sie von Ramona Norville zu erfahren. Aber wie sie sich schon selbst mahnend gesagt hatte, liefen solche Dinge nie nach Plan ab. Für sie kam es jetzt darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren und den Job zu Ende zu bringen.

Norvilles Arbeitszimmer lag im Obergeschoss, ein Raum, der vermutlich als Gästezimmer gedacht gewesen war. Dort

Mich hat sie nicht gebeten, mein Foto zu signieren, dachte Tess. Natürlich nicht, weshalb sollte sie den Wunsch haben, an eine beschissene Schreiberin wie mich erinnert zu werden? Ich war im Prinzip nur eine Sprechpuppe, die eine Lücke in ihrem Veranstaltungskalender füllen sollte. Von Fleisch für den Fleischwolf ihres Sohns ganz zu schweigen. Was für ein glücklicher Zufall für die beiden, dass ich genau zur rechten Zeit aufgekreuzt bin.

Auf Norvilles Schreibtisch stand unter einer Pinnwand voller Rundschreiben und Bibliotheksnotizen ein Mac, der Tess’ Computer sehr ähnlich sah. Der Bildschirm war dunkel, aber das Signallämpchen des Rechners zeigte ihr, dass der Mac sich nur im Ruhezustand befand. Sie tippte mit einer behandschuhten Fingerspitze auf eine der Tasten. Der Bildschirm wurde neu aufgebaut, und sie hatte Norvilles elektronischen Schreibtisch vor sich. Ganz ohne diese verdammten Passwörter, wie nett.

Sie klickte das Adressbuch-Icon an, scrollte zum Buchstaben R hinunter und fand einen Eintrag für Red Hawk Trucking. Die Anschrift war 7 Transport Plaza, Township Road, Colewich. Sie scrollte zum Buchstaben S weiter und fand nicht nur ihren übergroßen Bekannten von Freitagnacht, sondern auch Lester, den Bruder ihres Bekannten. Big Driver und Little Driver. Beide wohnten in der Township Road in der Nähe der Firma, die sie von ihrem Vater geerbt haben mussten: Alvin in Nummer 23, Lester in Nummer 101.

Gäbe es einen dritten Bruder, dachte Tess, wären sie die Drei Kleinen Trucker. Einer in einem Haus aus Stroh, einer in einem Haus aus Stöcken, einer in einem Haus aus Ziegeln. Aber leider sind’s nur zwei.

Unten im Erdgeschoss nahm sie ihre Brillantohrringe aus der Glasschale und steckte sie in eine Tasche ihrer Lederjacke. Dabei sah sie die in sitzender Haltung an der Wand lehnende Tote an. In ihrem Blick lag kein Mitleid, nur die Befriedigung, mit der man zum Abschied ein hartes Stück Arbeit musterte, das nun vollbracht war. Wegen belastender Spuren brauchte sie sich keine Sorgen zu machen; Tess war davon überzeugt, keine hinterlassen zu haben - nicht mal ein einziges Haar. Der Topfhandschuh - jetzt mit einem Schussloch - steckte wieder in ihrer Tasche. Bisher war sie clean, aber der schwierige Teil stand ihr vielleicht erst noch bevor. Sie verließ das Haus, stieg in den Expedition und fuhr davon. Eine Viertelstunde später hielt sie kurz auf dem leeren Parkplatz eines Einkaufszentrums, um 23 Township Road, Colewich, in ihr Navi einzugeben.


36

Unter Toms Führung gelangte Tess wenige Minuten nach neun Uhr abends in unmittelbare Nähe ihres Ziels. Der Dreiviertelmond stand noch immer tief am Himmel. Der Nachtwind hatte noch mehr aufgefrischt.

Auch die Township Road zweigte von der US 47 ab - allerdings mindestens sieben Meilen vor dem Stagger Inn und noch weiter vor der Innenstadt von Colewich. Die Transport Plaza lag an der Kreuzung zweier Straßen. Den Firmenschildern nach hatten sich dort drei Fuhrunternehmen und eine Möbelspedition angesiedelt. Untergebracht waren

An die Parkfläche schloss sich ein Rasthof an. Die Zapfsäulen, bestimmt über ein Dutzend, wurden von den gleichen strahlend hellen Bogenlampen beleuchtet. Aus der rechten Hälfte des Hauptgebäudes fiel grellweißes Neonlicht; die linke Seite war dunkel. Im Hintergrund lag ein U-förmiges, ebenerdiges weiteres Gebäude. Dort parkten einige wenige Autos und Trucks. Das riesige Schild an der Straße war eine mit Informationen in leuchtendem Rot vollgepackte elektronische Anzeigetafel.

RICHIE’S RASTHOF TOWNSHIP ROAD

»IHR FAHRT SIE, WIR BETANKEN SIE«

NORMAL $ 2.99/GALLONE

DIESEL $ 2.69/GALLONE

NEUESTE LOTTERIELOSE IMMER VORRÄTIG

RESTAURANT SONNTAGABEND GESCHLOSSEN

SORRY, SONNTAGABEND KEINE DUSCHEN

SHOP & MOTEL »STÄNDIG GEÖFFNET«

WOHNMOBILE »IMMER WILLKOMMEN«

Und ganz unten:

UNTERSTÜTZT UNSERE SOLDATEN!

SIEGT IN AFGANDISTAN!

Mit ankommenden und wegfahrenden Truckern, die ihre Fahrzeuge und sich selbst versorgten (auch wenn das Restaurant jetzt dunkel dalag, erriet Tess, dass es zu denen gehörte, die immer Steak, Fritten, Hackbraten und Mama’s Brotpudding auf der Speisekarte hatten), ging es hier an Wochentagen vermutlich zu wie in einem Taubenschlag, aber jetzt am Sonntagabend herrschte gähnende Leere, weil es hier draußen nichts gab, nicht mal ein Rasthaus wie das Stagger Inn.

An den Zapfsäulen stand nur ein einziges Fahrzeug - mit dem Kühlergrill zur Straße, die Zapfpistole im Tank. Es war ein alter Pick-up, ein Ford F-150, mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer. In dem grellen Licht war die Lackfarbe unmöglich zu erkennen, aber darauf war Tess nicht angewiesen. Sie hatte diesen Pick-up ganz aus der Nähe gesehen und wusste, welche Farbe er hatte. Der Platz am Steuer war leer.

»Du scheinst nicht überrascht zu sein, Tess«, sagte Tom, als sie am Straßenrand hielt und mit zusammengekniffenen Augen zu dem Tankstellenshop hinübersah. Obwohl die Außenbeleuchtung sie blendete, konnte sie darin ein paar Leute erkennen, von denen einer ziemlich groß zu sein schien. War er groß oder richtig groß?, hatte Betsy Neal sie gefragt.

»Natürlich bin ich das nicht«, sagte sie. »Er wohnt hier draußen. Wohin sollte er sonst zum Tanken fahren?«

»Vielleicht bereitet er sich auf einen Trip vor.«

»So spät am Sonntagabend? Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass er zu Hause war und sich Meine Lieder - meine Träume angesehen hat. Ich glaube, dass ihm das Bier ausgegangen ist, so dass er hergekommen ist, um sich neues zu besorgen. Dabei ist ihm eingefallen, dass er auch gleich tanken könnte.«

»Aber du könntest dich irren. Wäre es nicht besser, hinter dem Shop zu warten und ihm zu folgen, wenn er wegfährt?«

Aber das wollte Tess nicht. Die Vorderfront der Raststätte war ganz verglast. Er konnte sie beim Hereinfahren zufällig sehen. Auch wenn ihr Gesicht in den Schlagschatten der grellen Beleuchtung schlecht zu sehen war, konnte er ihr Auto wiedererkennen. Schwarze Ford-Geländewagen waren häufig, aber seit Freitagnacht musste Al Strehlke für schwarze Ford Expedition besonders sensibilisiert sein. Und ihr Kennzeichen … als er auf dem verunkrauteten Parkplatz des verlassenen Ladens neben ihr gehalten hatte, musste er gesehen haben, dass ihr Wagen in Connecticut zugelassen war.

Und es gab noch etwas zu bedenken. Etwas noch Wichtigeres. Sie fuhr weiter, so dass Richie’s Rasthof Township Road im Rückspiegel zurückblieb.

»Ich will nicht hinter ihm sein«, sagte sie. »Ich will vor ihm sein. Ich will ihm auflauern.«

»Was ist, wenn er verheiratet ist, Tess?«, fragte Tom. »Wenn er eine Frau hat, die auf ihn wartet?«

Dieser Gedanke verblüffte sie im ersten Augenblick. Dann lächelte sie, was aber nicht nur daran lag, dass der einzige Ring, den er getragen hatte, zu groß gewesen war, um einer mit einem Rubin zu sein. »Kerle wie der haben keine Frau«, sagte sie. »Jedenfalls keine, die es bei ihnen aushält. In Als Leben hat es nur eine einzige Frau gegeben, und die ist jetzt tot.«


37

Anders als die Lacemaker Lane hatte die Township Road nichts Vorstädtisches an sich; sie war so ländlich wie Alan Jackson. Im Licht des Mondes glichen die Häuser schimmernden Inseln aus elektrischem Licht.

»Tess, du bist bald am Ziel«, sagte Tom mit seiner nicht imaginären Stimme.

Sie fuhr über eine kleine Kuppe und sah links voraus einen Briefkasten mit dem Namen Strehlke und der Nummer 23. Der Asphaltbelag der Zufahrt, die in einer langen ansteigenden Kurve verlief, war glatt wie schwarzes Eis. Tess bog, ohne zu zögern, auf sie ab, aber sobald die Township Road hinter ihr lag, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie musste sich beherrschen, um nicht scharf zu bremsen und wieder auf die Straße zurückzustoßen. Wenn sie jetzt weiterfuhr, gab es kein Zurück mehr. Dann glich sie einem Käfer in einer Flasche. Und was war, wenn er zwar nicht verheiratet war, aber heute Abend Besuch hatte? Zum Beispiel von Bruder Lester? Was war, wenn Big Driver bei Richie’s Rasthof nicht nur für einen, sondern für zwei Kerle Bier und Snacks gekauft hatte?

Tess schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr im Mondlicht weiter.

In ihrer Nervosität erschien ihr die Zufahrt endlos lang, aber sie war bestimmt keine zweihundert Meter weit gefahren, als sie die Lichter von Strehlkes Haus sah. Es stand auf einem Hügel: ein gepflegtes Gebäude, größer als ein Cottage, aber kleiner als ein Farmhaus. Kein Haus aus Ziegeln, aber auch keine bescheidene Strohhütte. In der Geschichte von den drei kleinen Schweinchen und dem großen bösen Wolf wäre dies das Haus aus Stöcken gewesen, schätzte Tess.

Links neben dem Haus war ein langer kastenförmiger Auflieger mit dem Schriftzug RED HAWK TRUCKING auf seiner Flanke abgestellt. Vor der Garage am Ende der Zufahrt parkte ein Peterbilt, die Zugmaschine von der Website. Im Mondschein sah sie gespenstisch aus. Tess fuhr langsamer, als sie sich ihr näherte, und geriet im nächsten Augenblick in eine weiße Lichtflut, die sie blendete und Rasen und Zufahrt strahlend hell beleuchtete. Es waren Halogenstrahler mit Bewegungsmeldern auf einem Lichtmast,

Sie bremste scharf und kam sich vor wie damals, als sie als Teenager einmal geträumt hatte, in der Schule völlig nackt zu sein. Sie hörte eine Frau stöhnen. Das musste sie selbst sein, aber es klang nicht wie sie, fühlte sich auch nicht an wie sie.

»Das ist nicht gut, Tess.«

»Schnauze, Tom.«

»Er kann jeden Augenblick zurückkommen, und du weißt nicht, wie lange das Licht jeweils brennt. Du hast schon mit der Mutter deine liebe Mühe gehabt. Und er ist viel größer als sie.«

»Schnauze, hab ich gesagt!«

Sie wollte nachdenken, aber das war in dem grellen Licht schwierig. Die Schatten der geparkten Zugmaschine und des langen silbrigen Kastens links neben ihr schienen mit spitzen schwarzen Fingern - Butzemannfingern - nach ihr zu greifen. Dieser gottverdammte Lichtmast! Natürlich hatte ein Mann wie er Scheinwerfer mit Bewegungsmeldern! Am besten fuhr sie sofort wieder, wendete einfach auf seinem Rasen und fuhr so schnell wie möglich zur Straße hinunter - nur würde sie ihm unweigerlich begegnen, wenn sie das tat. Das wusste sie. Und ohne das Überraschungsmoment auf ihrer Seite wäre das ihr Tod.

Denk nach, Tessa Jean, denk nach!

Und o Gott, um alles noch schlimmer zu machen, fing auf einmal ein Hund an zu bellen. Im Haus war ein Hund. Sie stellte sich einen heiser knurrenden Pitbull mit gefletschten Reißzähnen vor.

»Wenn du hierbleiben willst, musst du zusehen, dass du außer Sicht kommst«, sagte Tom … und nein, das klang nicht wie ihre Stimme. Nicht exakt wie ihre Stimme. Vielleicht

Sie sah in den Rückspiegel und biss sich auf die nach wie vor geschwollene Unterlippe. Noch keine näher kommenden Scheinwerfer. Aber würde sie die in der Helligkeit des Mondlichts und der verdammten Halogenscheinwerfer überhaupt sehen?

»Zu der Beleuchtung gehört eine Zeitschaltuhr«, sagte Tom, »aber ich würde etwas tun, bevor sie abläuft, Tess. Wenn du danach weiterfährst, dann löst du sie nur wieder aus.«

Sie schaltete den Allradantrieb des Expedition zu und wollte um die Zugmaschine herumfahren, bremste aber gleich wieder. Dahinter wuchs hohes Gras. Im unbarmherzigen Licht der Halogenscheinwerfer musste er die Spuren sehen, die sie hinterlassen würde. Selbst wenn die scheiß Scheinwerfer jetzt ausgingen, bei seiner Rückkehr würden sie erneut aufflammen, und er würde die Spuren sehen.

Drinnen im Haus machte der Hund sich weiterhin bemerkbar: Jark! Jark! JarkJarkJark!

»Fahr über den Rasen und stell ihn hinter den Auflieger«, sagte Tom.

»Aber die Spuren! Die Spuren

»Irgendwo musst du dich verstecken«, antwortete Tom. Er sprach zurückhaltend, aber energisch. »Wenigstens ist das Gras dort gemäht. Die meisten Leute sind nämlich schlechte Beobachter. Das sagt Doreen Marquis dauernd.«

»Strehlke ist keine alte Lady aus dem Strickclub, er ist ein gottverdammter Irrer.«

Aber weil sie effektiv keine andere Wahl hatte - nicht mehr, seit sie hier oben war -, fuhr Tess in dem gleißend hellen Licht, das wie die Mittagssonne blendete, über den

»Selbst wenn das Licht bei seiner Rückkehr noch brennt, wird er vielleicht nicht misstrauisch«, sagte Tom. »Ich wette, dass der Bewegungsmelder oft durch Wild ausgelöst wird. Vielleicht hat er sogar weitere Scheinwerfer, um es aus seinem Gemüsegarten zu verscheuchen.«

Das klang vernünftig (und wieder wie ihre spezielle Tom-Stimme), aber es beruhigte sie nicht sonderlich.

Jark! Jark! JarkJark! Was immer dort drinnen kläffte, schien einen Tobsuchtsanfall zu haben.

Der Boden hinter dem silbernen Kasten war abgefahren und holperig - anscheinend waren dort schon oft Auflieger abgestellt worden -, aber durchaus fest. Sie parkte den Expedition möglichst tief im Schatten des kastenförmigen Aufliegers und stellte den Motor ab. Sie schwitzte stark und produzierte einen scharfen Geruch, gegen den kein Deodorant angekommen wäre.

Sie stieg aus, und die Scheinwerfer mit Bewegungsmelder erloschen just in dem Moment, als sie die Tür zuknallte. Einen abergläubischen Moment lang glaubte Tess, das hätte an ihr gelegen, aber dann erkannte sie, dass nur die Schaltuhr von dem Scheißding abgelaufen war. Sie lehnte sich auf die warme Motorhaube des Expedition, holte schnaufend tief Luft und stieß sie wieder wie ein Läufer auf dem letzten halben Kilometer eines Marathons aus. Wie lange es gebrannt hatte, hätte eine nützliche Information sein können, aber diese Frage konnte sie nicht beantworten. Sie hatte zu viel Angst gehabt. Es war ihr stundenlang vorgekommen.

Als sie sich wieder im Griff hatte, machte sie Inventur und zwang sich dazu, langsam und systematisch vorzugehen.

Und in dem Revolver stecken nur noch vier Schuss, daran musst du denken, bevor du anfängst, ihn zu durchsieben. Wieso hast du nicht mehr Munition mitgenommen, Tessa Jean? Du hast zu planen geglaubt, aber du hast keine sehr gute Arbeit geleistet, finde ich.

»Halt die Klappe«, flüsterte sie. »Tom oder Fritzy oder wer immer du bist, halt einfach die Klappe.«

Die nörgelnde Stimme verstummte, und sobald sie das tat, merkte Tess, dass auch die reale Welt still war. Der Hund hatte sein verrücktes Kläffen eingestellt, als das Licht erloschen war. Das einzige Geräusch machte jetzt der Wind, das einzige Licht kam vom Mond.


38

Ohne das gleißend helle Scheinwerferlicht bot der lange Auflieger eine sehr gute Deckung, aber Tess durfte nicht dort bleiben. Nicht, wenn sie tun wollte, wozu sie hergekommen war. Sie hastete hinten ums Haus herum, hatte schreckliche Angst, sie könnte einen weiteren Bewegungsmelder auslösen, und wusste doch, dass ihr keine andere Wahl blieb. Scheinwerfer flammten keine auf, aber der Mond verschwand hinter einer Wolke, und sie stolperte im Dunkeln über den Rahmen eines Kellerfensters, ging in die

Während sie dort kniete, fragte sie sich einen Augenblick lang, was sie hier machte und in wen sie sich verwandelt hatte. Sie war ein Mitglied des Schriftstellerverbands, das vor kurzem eine Frau mit einem Kopfschuss erledigt hatte. Nachdem es ihr ein Messer in den Bauch gestoßen hatte. Ich bin aus dem Reservat abgehauen, wie man so sagt. Dann erinnerte sie sich daran, dass er sie eine Schlampe, eine weinerliche Hurenschlampe genannt hatte, und machte sich nichts mehr daraus, ob sie aus dem Reservat abgehauen war oder nicht. Das war ohnehin eine dumme Redensart. Vermutlich noch dazu rassistisch.

Strehlke hatte hinter dem Haus tatsächlich einen Gemüsegarten, aber der war anscheinend zu klein, als dass es sich gelohnt hätte, ihn durch einen Scheinwerfer mit Bewegungsmelder vor Wildverbiss zu schützen. Hier gab es sowieso nur noch ein paar Kürbisse, von denen die meisten an der Ranke verfaulten. Tess stieg über die Furchen hinweg, bog um die Hausecke und hatte nun die Zugmaschine vor sich. Der Mond zeigte sich wieder und verwandelte ihren Chrom in das flüssige Silber von Schwertklingen in Fantasy-Romanen.

Tess näherte sich dem Peterbilt von hinten, ging die linke Seite entlang und kniete neben dem kinnhohen (wenigstens für sie) Vorderrad nieder. Sie zog den Smith & Wesson aus der Tasche. In die Garage konnte Strehlke nicht fahren, weil davor die Zugmaschine stand. Selbst wenn die Zufahrt frei gewesen wäre, war die Garage vermutlich voller Junggesellenkrempel: Werkzeug, Angelzeug, Campingsachen, Autoersatzteile, Kästen mit Billig-Mineralwasser.

Das ist nur eine Vermutung. Vermutungen sind ge fährlich. Dafür würde Doreen dich ausschimpfen.

Natürlich würde sie das tun, niemand kannte die Ladys des Strickclubs besser als Tess, aber diese Desserts liebenden Mädels riskierten selten etwas. Wenn man das aber tat, war man auch gezwungen, eine gewisse Anzahl von Vermutungen anzustellen.

Tess sah auf ihre Armbanduhr und stellte überrascht fest, dass es erst kurz nach halb zehn war. Ihrem Gefühl nach war es vier Jahre her, dass sie Fritzy eine doppelte Ration gegeben und ihr Haus verlassen hatte. Vielleicht auch fünf. Auf einmal glaubte sie, einen näher kommenden Motor zu hören, was dann aber doch nicht zu stimmen schien. Sie wünschte sich, dass der Wind weniger laut heulen würde, aber wünsch dir in eine Hand und scheiß in die andere und sieh zu, welche schneller voll wird. Das war eine Redensart, die keine der Ladys des Strickclubs jemals benutzt hatte - Doreen Marquis und ihre Freundinnen tendierten eher zu Weisheiten wie Arbeit spart, wer Ordnung wahrt -, aber sie stimmte trotzdem.

Vielleicht hatte er wirklich einen Trip vor, Sonntagabend oder nicht. Vielleicht würde sie noch hier sein, wenn die Sonne aufging: durch den ständigen Wind, der über diesen einsamen Hügel strich, auf dem es nur Verrückte aushielten, bis auf die schon jetzt schmerzenden Knochen ausgekühlt.

Nein, er ist der Verrückte. Weißt du noch, wie er getanzt hat? Wie sein Schatten über die Wand hinter ihm geglitten ist? Wie er gesungen hat? Erinnerst du dich an seine Quiekstimme? Du wartest hier auf ihn, Tessa Jean. Du wartest, bis die Hölle zufriert. Du bist einen zu weiten Weg gegangen, um jetzt umzukehren.

Davor hatte sie tatsächlich sogar gewisse Angst.

Das hier wird kein dezenter Salonmord werden. Das verstehst du doch, oder?

Das tat sie. Dieser spezielle Mord - wenn sie es schaffte, ihn durchzuziehen - würde mehr Ähnlichkeit mit Der Pate 2 Der Strickclub Willow Grove hinter der Bühne haben. Strehlke würde vorfahren, hoffentlich gleich bis zu der Zugmaschine, hinter der sie versteckt war. Er würde die Scheinwerfer seines Pick-ups ausschalten, und bevor seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten …

Diesmal war es nicht der Wind. Sie erkannte das Brummen eines schlecht eingestellten Motors, noch bevor Scheinwerferlicht die Biegung der Einfahrt heraufkroch. Tess richtete sich auf einem Knie auf und zog ihre Mütze ruckartig tiefer in die Stirn, damit der Wind sie nicht wegwehen konnte. Sie würde sich ihm nähern müssen, was bedeutete, dass ihr Timing ungeheuer präzise sein musste. Sollte sie versuchen, ihn aus dem Hinterhalt zu treffen, konnte sie ihn selbst aus geringer Entfernung leicht verfehlen; ihr Schießausbilder hatte ihr erklärt, der Smith & Wesson sei nur auf Entfernungen unter drei Metern treffsicher. Er hatte ihr empfohlen, sich eine zuverlässigere Waffe zu kaufen, aber das hatte sie nie getan. Und nahe genug heranzukommen, um ihn sicher umlegen zu können, war nicht alles. Sie musste sich davon überzeugen, dass Strehlke in dem Truck saß - nicht sein Bruder oder irgendein Freund.

Ich habe keinen Plan.

Aber für einen Plan war es jetzt zu spät, denn da kam der blaue Pick-up, und als der Bewegungsmelder die Scheinwerfer aufflammen ließ, sah sie die braune Baseballmütze mit den Bleichmittelflecken. Sie sah auch, dass der Fahrer wie zuvor sie die Augen zusammenkniff, und wusste, dass er vorübergehend geblendet war. Jetzt oder nie!

Ich bin die Mutige Frau.

Ohne Plan, ohne auch nur nachzudenken, umrundete sie die Zugmaschine hinten: nicht rennend, sondern mit ruhigen großen Schritten. Der böige Wind ließ ihre Cargohose flattern. Sie riss die Beifahrertür auf und sah den Ring mit

»Nein, das ist er!« Tess stand mit dem Revolver in der Hand an der offenen Tür und starrte in den Wagen. »Er muss es sein!«

Sie rannte vorn um den Pick-up herum, rutschte unterwegs aus, sank auf ein Knie, rappelte sich auf und riss die Fahrertür auf. Der tote Strehlke fiel heraus und knallte mit dem Kopf auf den glatten Asphalt vor seiner Garage. Die Mütze flog weg. Das wegen der Kugel, die den Kopf dicht über der Braue durchschlagen hatte, schielende rechte Auge starrte den Mond an. Das linke Auge starrte Tess an. Und es war nicht das Gesicht, das sie letztlich überzeugte - dieses Gesicht mit Falten, die sie zum ersten Mal sah, dieses Gesicht mit tiefen alten Aknenarben, die am Freitag noch nicht da gewesen waren.

War er groß oder richtig groß?, hatte Betsy Neal gefragt.

Richtig groß, hatte Tess geantwortet … aber nicht so groß wie dieser Mann. Ihren Vergewaltiger hatte sie auf knapp zwei Meter geschätzt, als er aus seinem Pick-up gestiegen war (aus diesem Pick-up, das stand für sie fest). Gewaltiger Wanst, baumdicke Oberschenkel und türbreite Schultern. Aber dieser Mann hier musste mindestens zwei Meter zehn groß sein. Sie hatte Jagd auf einen Riesen gemacht und einen Leviathan erlegt.

»O Gott!«, sagte Tess, und der Wind riss ihr die Worte aus dem Mund. »O mein Gott, was habe ich getan?«

»Du hast mich erschossen, Tess«, sagte der vor ihr liegende Mann … und das klang angesichts des Lochs in seinem Kopf und des zweiten in seiner Kehle durchaus vernünftig. »Du bist hingegangen und hast Big Driver erschossen, genau wie du es vorhattest.«

Ihre Kräfte verließen sie. Sie sank neben ihm auf die Knie. Über ihr lächelte der Mond vom stürmischen Himmel herab.

»Der Ring«, flüsterte sie. »Die Mütze. Der Pick-up.«

»Ring und Mütze trägt er, wenn er auf die Jagd geht«, sagte Big Driver. »Und er fährt den Pick-up. Wenn er auf die Jagd geht, bin ich mit einem Sattelzug von Red Hawk auf der Straße unterwegs, und wenn irgendjemand ihn sieht - vor allem sitzend -, glaubt derjenige, mich zu sehen.«

»Weshalb sollte er das tun?«, fragte Tess den Toten. »Du bist sein Bruder

»Weil er verrückt ist«, sagte Big Driver geduldig.

»Und weil das schon früher funktioniert hat«, sagte Doreen Marquis. »Als sie noch jünger waren und Lester Schwierigkeiten mit der Polizei hatte. Die Frage ist, ob Roscoe Strehlke wegen dieser ersten Sache Selbstmord verübt hat - oder weil Ramona den großen Bruder dazu gezwungen hat, die Schuld auf sich zu nehmen. Vielleicht

Zu diesem Thema schwieg Al jedoch. Wie ein Grab.

»Ich will Ihnen sagen, was meiner Meinung nach passiert ist«, sagte Doreen im Mondschein. »Ich glaube, dass Ramona wusste, dass Ihr kleiner Bruder, wenn er im Vernehmungsraum an einen halbwegs cleveren Polizeibeamten geriete, etwas gestehen könnte, das weit schlimmer wäre, als im Schulbus ein Mädchen zu befummeln, im örtlichen Seufzergässchen Liebespaare zu beobachten oder welche Bagatellstraftat man ihm sonst anlasten wollte. Ich glaube, sie hat Sie dazu überredet, die Schuld auf sich zu nehmen, und ihren Ehemann dazu, den Mund zu halten. Oder sie hat ihn so unter Druck gesetzt, dass er nicht anders konnte. Und weil die Polizei das Mädchen nie aufgefordert hat, den Täter zu identifizieren, oder weil es keine Anzeige erstattet hat, sind Ramona und Lester damit durchgekommen.«

Al sagte nichts.

Tess dachte: Ich knie hier und rede mit imaginären Stimmen. Ich habe den Verstand verloren.

Trotzdem wusste ein Teil von ihr, dass sie versuchte, bei Verstand zu bleiben. Das konnte sie nur, wenn sie begriff, wie alles passiert war, und sie glaubte, dass die Geschichte, die sie mit Doreens Stimme erzählte, die Wahrheit war oder ihr zumindest sehr nahekam. Sie basierte auf Vermutungen und unbewiesenen Schlussfolgerungen, aber sie klang logisch. Und sie passte mit Ramonas letzten Äußerungen zusammen.

Du blöde Fotze, du weißt nicht, wovon du redest!

Und: Sie verstehen nicht. Das ist ein Fehler.

Es war ein Fehler, das stimmte. Alles, was sie in dieser Nacht getan hatte, war ein Fehler gewesen.

Nein, nicht alles. Sie war mitschuldig. Sie hat alles gewusst.

»Hast du es gewusst?«, fragte Tess den Mann, den sie erschossen hatte. Sie streckte eine Hand aus, um Strehlke am Arm zu fassen, und ließ sie dann sinken. Unter dem Ärmel würde er noch warm sein. Sich einbilden, er lebe noch. »Hast du es gewusst?«

Er gab keine Antwort.

»Lassen Sie es mich mal versuchen«, sagte Doreen. Und mit ihrer freundlichen Mir-können-Sie-alles-erzählen-Stimme einer alten Lady, die in Romanen immer wirkte, fragte sie: »Wie viel haben Sie gewusst, Mr. Driver?«

»Ich hatte manchmal einen Verdacht«, sagte er. »Aber die meiste Zeit hab ich nicht darüber nachgedacht. Ich musste mich um die Firma kümmern.«

»Haben Sie jemals Ihre Mutter gefragt?«

»Schon möglich«, sagte er, und Tess fand den Blick seines merkwürdig schielenden rechten Auges ausweichend. Aber wer konnte das in diesem abenteuerlichen Mondschein schon beurteilen? Wer konnte sich dessen sicher sein?

»Wenn Mädchen verschwunden sind? Haben Sie da gefragt?«

Darauf antwortete Big Driver nicht, vielleicht weil Doreen angefangen hatte, wie Fritzy zu sprechen. Und natürlich wie Tom das TomTom.

»Aber es hat nie einen Beweis gegeben, stimmt’s?« Das war wieder Tess selbst. Sie war sich nicht sicher, ob er auf ihre Stimme antworten würde, aber er tat es.

»Nein. Keinen Beweis.«

»Und du wolltest keinen Beweis, stimmt’s?«

Wieder keine Antwort, also stand Tess auf und ging unsicher zu der braunen Mütze mit den Bleichmittelflecken, die der Wind über die Einfahrt auf den Rasen geweht hatte. In dem Augenblick, in dem sie die Mütze aufhob, gingen die Scheinwerfer wieder aus. Drinnen hörte der Hund zu bellen auf. Sie musste unwillkürlich an Sherlock Holmes

Sie tippte an den Schirm der braunen Baseballmütze und fragte: »Ist das die Mütze, die du trägst, wenn du unterwegs bist?« Dabei wusste sie, dass sie es nicht war.

Strehlke schwieg, aber Doreen Marquis, die Doyenne des Strickclubs, antwortete für ihn. »Natürlich nicht. Wenn Sie für Red Hawk fahren, tragen Sie eine Red-Hawk-Mütze, nicht wahr, mein Lieber?«

»Ja«, sagte Strehlke.

»Und Sie tragen auch Ihren Ring nicht, hab ich recht?«

»Nein. Für Kunden zu protzig. Nicht geschäftsmäßig. Und was wäre, wenn in einer dieser miesen Truckerkneipen jemand, der zu bekifft oder betrunken ist, um es besser zu wissen, ihn für echt halten würde? Keiner würde riskieren, mich zu überfallen, dafür bin ich zu groß und stark - oder war es zumindest bis heute Nacht -, aber jemand könnte mich erschießen. Dabei hab ich’s nicht verdient, erschossen zu werden. Nicht wegen eines Talmirings, nicht wegen der schrecklichen Dinge, die mein Bruder vielleicht getan hat.«

»Ihr Bruder und Sie fahren nie gleichzeitig für die Firma, nicht wahr, mein Lieber?«

»Nein. Wenn er unterwegs ist, kümmere ich mich ums Büro. Und wenn ich unterwegs bin … na ja, ich denke, Sie wissen, was er tut, wenn ich unterwegs bin.«

»Du hättest ihn anzeigen müssen!«, kreischte Tess ihn an. »Auch wenn du nur einen Verdacht hattest, hättest du ihn anzeigen müssen!«

»Er hatte Angst«, sagte Doreen mit ihrer freundlichsten Stimme. »Nicht wahr, mein Lieber?«

»Ja«, sagte Al. »Ich hatte Angst.«

»Vor deinem Bruder?«, fragte Tess ungläubig oder bewusst zweifelnd. »Angst vor deinem kleinen Bruder?«

»Nicht vor ihm«, sagte Al Strehlke. »Vor ihr.«


39

Als Tess wieder am Steuer saß und den Motor anließ, sagte Tom: »Das konntest du unmöglich wissen, Tess. Und alles ist so schnell passiert.«

Das war sehr wahr, aber es ignorierte die entscheidende Tatsache, auf die allein es ankam: Indem sie in einem filmreifen Rachefeldzug Jagd auf ihren Vergewaltiger gemacht hatte, hatte sie sich selbst zur Hölle geschickt.

Sie hob den Revolver an die Schläfe, ließ ihn jedoch wieder sinken. Das durfte sie nicht, nicht jetzt. Sie musste weiter an die Frauen in der Wellblechröhre denken. An ihre Verpflichtung ihnen und den anderen gegenüber, die darin enden konnten, wenn Lester Strehlke entkam. Und nach dem, was sie vorhin getan hatte, war es wichtiger denn je, dass er nicht entkam.

Sie musste noch ein weiteres Ziel anfahren. Aber nicht mit ihrem Expedition.


40

Die Zufahrt zum Haus 101 Township Road war nicht lang, und sie war nicht asphaltiert. Sie bestand nur aus einer Fahrspur zwischen Büschen, die so eng standen, dass sie an den Seiten des alten blauen Ford F-150 kratzten, als Tess zu dem kleinen Haus fuhr. Dieses hatte nichts Aufgeräumtes an sich; dieses war ein schiefes altes Gruselhaus, das direkt aus The Texas Chainsaw Massacre hätte stammen können. Wie das Leben manchmal die Kunst imitierte! Und je primitiver die Kunst, desto realistischer die Imitation.

Tess machte sich nicht die Mühe, sich heimlich anzunähern - wozu die Scheinwerfer ausschalten, wenn Lester Strehlke das Motorengeräusch des Pick-ups seines Bruders fast so gut kannte wie die Stimme seines Bruders?

Sie trug weiter die fleckige braune Mütze, die Big Driver getragen hatte, wenn er nicht unterwegs gewesen war - seine Glücksbringermütze, die ihm zuletzt doch Unglück gebracht hatte. Der Ring mit dem falschen Rubin war für ihre Finger viel zu weit, aber sie hatte ihn in die linke Vordertasche ihrer Cargohose gesteckt. Little Driver hatte sich als sein großer Bruder getarnt, wenn er jagen gegangen war, und auch wenn er vielleicht nicht genug Zeit (oder genug Verstand) hatte, um die Ironie zu begreifen, die darin lag, dass sein letztes Opfer ihn mit diesen Requisiten aufsuchte, verstand Tess sie recht gut.

Tess parkte an der Hintertür, stellte den Motor ab und stieg aus. Ihre Waffe hielt sie in der Rechten. Die Tür war nicht abgesperrt. Sie betrat einen Anbau, in dem es nach Bier und verdorbenen Lebensmitteln roch. Von der Decke hing an einer schmutzigen Litze eine nackte 60-Watt-Birne herab. Vor sich hatte Tess vier überquellende Mülltonnen aus Kunststoff: 120-Liter-Tonnen, die es im Wal-Mart gab. Dahinter waren an der Wand des Anbaus mindestens fünf Onkel Henry’s Tauschführer gestapelt. Links sah sie eine weitere Tür, davor eine einzelne Stufe. Sie würde in die Küche führen. Diese Tür hatte keinen Knopf, sondern eine altmodische Klinke. Als Tess sie herunterdrückte und die Tür öffnete, quietschten ungeölte Angeln. Noch vor einer Stunde hätte ein solches Quietschen sie schreckensbleich erstarren lassen. Jetzt störte es sie nicht im Geringsten. Sie hatte ihre Arbeit zu tun. Darauf lief die Sache letztlich hinaus, und es war eine Erleichterung, von all dem emotionalen Ballast befreit zu sein. Sie trat in den Dunst irgendeines fettigen Stücks Fleisch, das Little Driver sich zum Abendessen gebraten hatte. Sie konnte TV-Lachen vom Band hören. Irgendeine Sitcom. Seinfeld, glaubte sie.

»Was zum Teufel machst du hier?«, rief Lester Strehlke aus der Umgebung der Lachkonserve. »Hab bloß noch eineinhalb Biere, wenn du deswegen kommst. Die trink ich noch, dann geh ich ins Bett.« Sie folgte dem Klang seiner Stimme. »Hättst du angerufen, hätt ich dir die Fahrt ersparen k…«

Sie betrat den Raum. Er sah sie. Tess hatte nie darüber nachgedacht, wie Lester reagieren könnte, wenn sein letztes Opfer hier aufkreuzte: mit einem Revolver in der Hand und der Baseballmütze, die er selbst trug, wenn ihn das Jagdfieber packte, auf dem Kopf. Auch wenn sie es getan hätte, hätte sie seine extreme Reaktion nie vorhersehen können. Seine Kinnlade sackte herab, dann erstarrte das ganze Gesicht. Die Bierdose fiel ihm aus der Hand, landete in seinem Schoß und tränkte seine vergilbten Boxershorts mit weiß schäumendem Bier.

Er sieht ein Gespenst, dachte sie, als sie auf ihn zutrat und die Waffe hob. Gut.

Sie hatte Zeit, festzustellen, dass es im Wohnzimmer, in dem zwar ein Junggesellenchaos herrschte, weder Schneekugeln TV Guide, das Heft mit Simon Cowell auf der Titelseite.

»Du bist tot«, flüsterte er.

»Nein«, antwortete Tess. Sie setzte ihm die Mündung des Lemon Squeezer an die Schläfe. Er unternahm den schwachen Versuch, ihr Handgelenk zu packen, aber diese Bewegung war viel zu kraftlos, kam viel zu spät. »Das bist du

Sie drückte ab. Blut trat aus seinem Ohr, und der Kopf schnellte zur Seite. Er sah wie ein Mann aus, der verspannte Nackenmuskeln zu lockern versuchte. Im Fernsehen sagte George Costanza: »Ich war im Pool, ich war im Pool.« Das Publikum lachte.


41

Es war fast Mitternacht, und der Wind wehte stürmischer als zuvor. In Böen erzitterte Lester Strehlkes ganzes Haus, und Tess musste jedes Mal an das kleine Schweinchen denken, das sein Haus aus Stöcken gebaut hatte.

Das kleine Schweinchen, das in diesem Haus hier gelebt hatte, würde sich nie mehr Sorgen machen müssen, sein beschissenes Haus könnte weggeweht werden, denn es lag tot in seinem La-Z-Boy. Und er war ohnehin kein kleines Schweinchen, dachte Tess. Er war ein großer böser Wolf.

Sie saß in der Küche und schrieb auf einem schmuddeligen Blue-Horse-Schreibblock, den sie oben in Strehlkes Schlafzimmer gefunden hatte. Im ersten Stock gab es vier National Geographic getarnt war. Sie enthielt ein Knäuel aus Damenslips. Ihr eigener Slip lag obenauf. Tess steckte ihn ein und ersetzte ihn nach Art einer Packratte durch die zwei Meter lange gelbe Bootsleine. Diese Leine in der Trophäentasche eines Mörders und Vergewaltigers würde niemanden überraschen. Außerdem würde Tess sie nicht mehr brauchen.

»Tonto«, sagte der Lone Ranger, »unsere Arbeit hier ist getan.«

Was sie schrieb, während nach Seinfeld Frasier kam und auf Frasier die Lokalnachrichten folgten (jemand aus Chicopee hatte in der Lotterie gewonnen, und jemand anders hatte sich beim Sturz von einem Baugerüst das Rückgrat gebrochen, was sich also irgendwie ausglich), war ein Geständnis in Briefform. Als sie auf Seite fünf anlangte, folgte auf die Lokalnachrichten ein scheinbar endloser Werbespot für Almighty Cleanse. Eben sagte Danny Vierra: »Manche Amerikaner haben nur alle zwei, drei Tage Stuhlgang, und weil das seit Jahren so ist, halten sie es für normal! Aber jeder Arzt, der etwas taugt, wird Ihnen sagen, dass es das nicht ist!«

Der Brief war AN DIE ZUSTÄNDIGEN BEHÖRDEN adressiert, und die ersten vier Seiten bestanden aus einem

Ich will keine Entschuldigungen dafür vorbringen, was ich getan habe. Auch kann ich nicht behaupten, bei meinen Taten geistig verwirrt gewesen zu sein. Ich war zornig, und ich habe einen Fehler gemacht. So einfach war das. Unter anderen Umständen - unter weniger schrecklichen, meine ich - könnte ich vielleicht sagen: »Das war ein verständlicher Fehler, weil die beiden sich fast wie Zwillinge ähnlich sehen.« Aber es liegen keine anderen Umstände vor.

Ich habe über Wiedergutmachung nachgedacht, während ich hier gesessen, diese Seiten geschrieben und auf seinen Fernseher und den ums Haus heulenden Wind gehorcht habe - nicht etwa weil ich auf Vergebung hoffe, sondern weil es mir falsch erscheint, etwas Böses zu tun, ohne wenigstens zu versuchen, es mit etwas Gutem auszugleichen. (Hier dachte Tess daran, wie der Lotteriegewinner und der Rückgratverletzte sich ausgeglichen hatten, aber dieser Gedanke würde schwierig auszudrücken sein, weil sie so müde war, und sie wusste ohnehin nicht, ob er stichhaltig war.) Ich habe daran gedacht, nach Afrika zu gehen und mit Aids-Opfern zu arbeiten. Ich habe daran gedacht, in New Orleans als Freiwillige in einem Obdachlosenheim oder einer Suppenküche zu arbeiten. Ich habe daran gedacht, die knapp eine Million Dollar, die ich für den Ruhestand zurückgelegt

Aber dann habe ich an etwas gedacht, was Doreen Marquis vom Strickclub in jedem Roman mindestens einmal sagt …

Mindestens einmal in jedem Roman sagte Doreen: Mörder übersehen immer das Offenkundige. Darau f könnt ihr euch verlassen, meine Lieben. Und noch während Tess von Wiedergutmachung schrieb, erkannte sie, dass es diese unmöglich geben würde. Weil Doreen völlig recht hatte.

Tess hatte eine Mütze getragen, um keine Haare für eine DNA-Analyse zu hinterlassen. Sie hatte Handschuhe getragen, die sie nie ausgezogen hatte - nicht einmal auf der Fahrt mit Al Strehlkes Pick-up. Es war noch nicht zu spät, dieses Geständnis in Lesters Holzherd zu verbrennen, zu Bruder Alvins sehr viel hübscherem Haus zu fahren (aus Ziegeln statt aus Stöcken), sich in ihren Expedition zu setzen und nach Connecticut zurückzufahren. Sie konnte heimfahren, wo Fritzy auf sie wartete. Auf den ersten Blick schien es keine zu ihr führende Spur zu geben, und die Polizei würde vielleicht ein paar Tage brauchen, um auf sie zu kommen, aber irgendwann würde sie unausweichlich auf sie kommen. Während Tess sich auf forensische Maulwurfshaufen konzentriert hatte, hatte sie nämlich den offenkundigen Berg übersehen - genau wie die Mörder in den Willow-Grove-Krimis.

Der offenkundige Berg hatte einen Namen: Betsy Neal. Eine aparte Frau mit ovalem Gesicht, leicht unterschiedlichen Picasso-Augen und einer Wolke aus schwarzem Haar. Sie hatte Tess erkannt und sich sogar ein Autogramm geben lassen, aber das würde nicht entscheidend sein. Den Ausschlag Hoffentlich ist das nicht hier passiert, hatte Neal gesagt) und die Tatsache geben, dass sie nach Alvin Strehlke gefragt, seinen Pick-up beschrieben und den Ring erkannt hatte, als Neal ihn erwähnt hatte. Wie ein Rubin, hatte Tess zugestimmt.

Neal würde die Story im Fernsehen sehen oder in der Zeitung lesen - wie ließ sich das bei drei Toten aus einer Familie vermeiden? - und zur Polizei gehen. Die Polizei würde zu Tess kommen. Sie würde routinemäßig das Waffenregister für Connecticut eingesehen und festgestellt haben, dass Tess einen jener als Lemon Squeezer bekannten Smith & Wesson Kaliber.38 besaß. Sie würde den Revolver verlangen, um nach Probeschüssen ballistische Vergleiche mit den in den drei Mordopfern aufgefundenen Geschossen anstellen zu können. Und was würde Tess sagen? Würde sie die Beamten mit zwei Veilchen ansehen und mit nach wie vor heiserer Stimme (weil Lester Strehlke sie gewürgt hatte) behaupten, sie habe ihn verloren? Würde sie bei dieser Story bleiben, selbst nachdem die toten Frauen in dem Durchlass unter der Straße aufgefunden worden waren?

Tess griff nach dem geliehenen Kugelschreiber und schrieb weiter.

… was Doreen Marquis vom Strickclub in jedem Roman mindestens einmal sagt: Mörder übersehen immer das Offenkundige. Doreen hat einmal auch eine Idee von Dorothy Sayers übernommen, einem Mörder eine geladene Waffe gelassen und ihn aufgefordert, den ehrenvollen Ausweg zu wählen. Ich habe eine Waffe. Mein einziger naher Verwandter ist mein Bruder Mike. Er lebt in Taos, New Mexico. Ich vermute, dass er mich allein beerben wird. Das hängt von den juristischen Konsequenzen meiner Verbrechen ab. Wenn er Alleinerbe wird, bekommt er hoffentlich auch diesen Brief zu sehen, der

Das mit Big Driver - Alvin Strehlke - tut mir leid. Er war nicht der Mann, der mich vergewaltigt hat, und Doreen ist sich sicher, dass er auch die anderen Frauen nicht vergewaltigt und ermordet hat.

Doreen? Nein, sie. Doreen war nicht real. Aber Tess war zu müde, das nachträglich zu ändern. Und zum Teufel damit - sie war sowieso schon fast fertig.

Was Ramona und dieses Stück Dreck nebenan betrifft, muss ich mich nicht entschuldigen. Sie sind tot besser dran als lebendig.

Ich natürlich auch.

Sie nahm sich die Zeit, den Text noch einmal zu überfliegen, um zu sehen, ob sie etwas vergessen hatte. Das schien nicht der Fall zu sein, deshalb setzte sie ihren Namen darunter - ihr letztes Autogramm. Der Kugelschreiber war nach dem letzten Buchstaben aufgebraucht, und sie legte ihn weg.

»Wolltest du noch irgendwas sagen, Lester?«, fragte sie.

Nur der Wind antwortete - mit einer Bö, die das schäbige kleine Haus in allen Fugen knarren ließ.

Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte ihm die braune Mütze auf und steckte ihm den Ring an den Finger. So sollte er aufgefunden werden. Auf dem Fernseher stand ein gerahmtes Foto. Es zeigte Lester und seine Mutter mit umeinandergelegten Armen. Beide lächelten. Nur ein Junge und seine Mama. Sie betrachtete es einige Zeit, dann ging sie hinaus.


42

Sie hatte das Gefühl, zu dem verlassenen Geschäft, wo alles passiert war, zurückfahren zu sollen, um dort zu tun, was noch getan werden musste. Sie konnte eine Zeit lang auf dem verunkrauteten Parkplatz stehen, zuhören, wie der Wind das Blechschild ticken ließ (DU MAGST ES ES MAG DICH), und über die Dinge nachdenken, an die Menschen in den letzten Augenblicken ihres Lebens dachten. In ihrem Fall würde es wahrscheinlich Fritzy sein. Vermutlich würde Patsy ihn bei sich aufnehmen, und das war in Ordnung. Katzen waren Überlebenskünstler. Wer sie fütterte, war ihnen ziemlich egal, solange ihr Fressnapf regelmäßig gefüllt wurde.

Die Fahrt zu dem Geschäft würde um diese Zeit nicht lange dauern, aber sie kam ihr trotzdem zu weit vor. Sie war sehr müde. Sie beschloss, sich in Al Strehlkes alten Pick-up zu setzen und es dort zu tun. Aber sie wollte ihr unter Schmerzen geschriebenes Geständnis nicht mit ihrem Blut beflecken - das erschien ihr falsch, weil darin doch so viel Blutvergießen geschildert wurde -, deshalb …

Sie nahm die Blätter von dem Blue-Horse-Block ins Wohnzimmer mit, wo weiter der Fernseher lief (jetzt verkaufte ein junger Mann, der wie ein Sträfling aussah, einen Putzroboter für Fußböden), und ließ sie in Strehlkes Schoß fallen. »Heb sie für mich auf, Les«, sagte sie.

»Kein Problem«, antwortete er. Sie bemerkte, dass ein Teil seines kranken Gehirns jetzt auf der Schulter seines ausgebleichten karierten Hemdes antrocknete. Das war in Ordnung.

Tess ging ins stürmische Dunkel hinaus und stieg langsam auf der linken Seite des Pick-ups ein. Das Kreischen der Angeln, als sie die Fahrertür schloss, klang eigenartig vertraut. Aber nein, von wegen eigenartig; hatte sie es nicht

Sie setzte die Mündung des kurzläufigen Smith & Wesson an die Schläfe, dann zögerte sie. Ein Schuss dieser Art war nicht immer tödlich. Sie wollte, dass ihr Geld misshandelten Frauen half, statt für ihre Pflege aufgebraucht zu werden, während sie Jahr um Jahr bewusstlos in einem Heim für Komapatienten lag.

In den Mund, das war besser. Sicherer.

Der Revolverlauf schmeckte ölig, und sie konnte spüren, wie die kleine Erhebung des Korns sich ihr in den Gaumen grub.

Ich habe ein gutes Leben gehabt - na ja, ein ziemlich gutes -, und obwohl ich zuletzt einen schrecklichen Fehler gemacht habe, wird er mir vielleicht nicht angelastet, falls es ein Leben nach diesem gibt.

Ah, aber der Nachtwind war so süß. Das waren auch die Düfte, die durch das halb geöffnete Fahrerfenster hereinwehten. Jammerschade, diese Welt zu verlassen, aber was blieb ihr anderes übrig? Es wurde Zeit zu gehen.

Tess schloss die Augen, nahm Druckpunkt am Abzug … und in diesem Augenblick meldete Tom sich zu Wort. Seltsam, dass er das konnte, war Tom doch in ihrem Expedition, der fast eine Meile von hier entfernt vor Al Strehlkes Haus stand. Und die Stimme, die sie hörte, war ganz anders als die, die sie gewöhnlich für Tom produzierte. Sie klang auch nicht wie ihre eigene Stimme. Wie denn auch? Schließlich hatte Tess einen Revolverlauf im Mund.

»Sie war nie eine sehr gute Detektivin, oder?«

»Wer? Doreen?«

Trotz allem war sie schockiert.

»Wer denn sonst, Tessa Jean? Und wie könnte sie eine gute sein? Sie entstammt deinem alten Ich. Hab ich recht?«

Tess vermutete, dass dem so war. Sie ließ die Waffe sinken, weil diese seltsame neue Stimme sie ablenkte. Sie kam aus ihrem Inneren, aber sie wusste ziemlich genau, dass sie diese Stimme noch nie gehört hatte. Wusste es ganz sicher.

»Doreen ist sich sicher, dass Big Driver diese anderen Frauen nicht vergewaltigt und ermordet hat. Hast du das nicht geschrieben?«

»Ich«, sagte Tess. »Ich bin mir dessen sicher. Das wollte ich schreiben. Ich war nur müde, das ist alles. Und habe vermutlich unter Schock gestanden.«

»Und du hast dich schuldig gefühlt.«

»Ja, auch das.«

»Glaubst du, dass Leute, die sich schuldig fühlen, logische Schlüsse ziehen?«

Nein. Möglicherweise taten sie das nicht.

»Was versuchst du mir zu sagen?«

»Dass du nur einen Teil des Rätsels gelöst hast. Bevor du es ganz lösen konntest - du, nicht irgendeine mit Klischees um sich werfende alte Detektivin -, ist etwas zugegebenermaßen Bedauerliches passiert.«

»Etwas Bedauerliches? Nennst du das so?« Tess hörte sich wie in weiter Ferne lachen. Irgendwo ließ der Wind ein loses Dachblech klappern. Es klang wie das 7Up-Schild auf der Veranda des verlassenen Geschäfts.

»Wieso denkst du nicht selbst nach«, fragte der neue, fremdartige Tom (dessen Stimme immer weiblicher klang), »bevor du dich erschießt? Aber nicht hier.«

»Wo sonst?«

Diese Frage beantwortete Tom nicht, aber das war auch nicht nötig. Stattdessen sagte er: »Und nimm das gottverdammte Geständnis mit.«

Tess stieg aus dem Pick-up und ging in Lester Strehlkes Haus zurück. Dann stand sie in der Küche des Toten und dachte nach. Das tat sie laut - und mit Toms Stimme (die immer mehr wie ihre eigene klang). Doreen schien sich verdrückt zu haben. Was eine Erleichterung war.

»Al Strehlkes Hausschlüssel hängt bestimmt an dem Ring mit dem Zündschlüssel«, sagte Tom, »aber in seinem Haus ist ein Hund. Den darfst du nicht vergessen.«

Nein, das wäre schlecht gewesen. Tess öffnete Lesters Kühlschrank. Nach kurzer Suche fand sie ganz hinten im untersten Fach eine Packung Hackfleisch für Hamburger. Sie benutzte eine Ausgabe von Onkel Henry’s, um sie doppelt einzupacken, dann ging sie ins Wohnzimmer zurück. Sie nahm ihr Geständnis von Strehlkes Schoß, tat es vorsichtig, war sich sehr bewusst, dass der Teil von ihm, der sie verletzt hatte - der Teil, der daran schuld war, dass heute Nacht drei Menschen umgekommen waren -, gleich unter diesen Blättern lag. »Ich nehme dein Hackfleisch mit, Lester, aber sei mir deswegen nicht böse. Ich tue dir sogar einen Gefallen. Es riecht schlecht, fast schon verdorben.«

»Eine Mörderin und eine Diebin dazu«, sagte Little Driver mit seiner eintönigen Totenstimme. »Ist das nicht nett?«

»Schnauze, Les«, sagte sie und ging.


43

Wieso denkst du nicht selbst nach, bevor du dich erschießt?

Das versuchte sie zu tun, als sie mit dem alten Pick-up wieder auf der windigen Straße zu Al Strehlkes Haus unterwegs war. Allmählich begann sie zu glauben, Tom - selbst wenn er nicht bei ihr im Auto war - sei ein besserer Detektiv als Doreen Marquis in Bestform.

»Ich will es kurz machen«, sagte Tom. »Wenn du nicht glaubst, dass Al Strehlke an allem beteiligt war - und nicht nur am Rande, meine ich -, bist du verrückt.«

»Natürlich bin ich verrückt«, antwortete sie. »Weshalb würde ich mir sonst einzureden versuchen, dass ich nicht den falschen Mann erschossen habe, obwohl ich weiß, dass ich’s getan habe?«

»Aus dir spricht Schuldbewusstsein, nicht Logik«, widersprach Tom. Das klang ärgerlich selbstgefällig. »Er war kein Unschuldslämmchen, nicht mal ein nur halb schwarzes Schaf. Wach auf, Tessa Jean. Die beiden waren nicht nur Brüder, sie waren Partner.«

»Geschäftspartner.«

»Brüder sind nie nur Geschäftspartner. Ihr Verhältnis ist immer komplizierter. Vor allem wenn man eine Frau wie Ramona als Mutter hat.«

Tess bog auf Al Strehlkes glatt asphaltierte Zufahrt ab. Vermutlich hatte Tom mit seiner Behauptung recht. Eines stand jedenfalls fest: Doreen und ihren Freundinnen aus dem Strickclub war nie eine Frau wie Ramona Norville begegnet.

Die Scheinwerfer auf dem Lichtmast flammten auf. Der Hund begann zu kläffen: jark-jark, jarkjarkjark. Tess wartete darauf, dass das Licht ausgehen und der Köter verstummen würde.

»Aber das kann ich niemals mit Sicherheit feststellen, Tom.«

»Richtig, das kannst du nicht, wenn du nicht nachsiehst.«

»Selbst wenn er es gewusst hat, war er nicht der Kerl, der mich vergewaltigt hat

Tom schwieg einen Augenblick lang. Sie glaubte schon, er habe aufgegeben. Dann sagte er: »Wenn jemand etwas Böses tut, und ein anderer weiß davon, ohne es zu unterbinden, sind beide gleich schuldig.«

»In den Augen des Gesetzes?«

»Auch in meinen Augen. Nehmen wir mal an, nur Lester habe gejagt, vergewaltigt und gemordet. Dass es so war, glaube ich nicht, aber nehmen wir das mal an. Wenn der große Bruder alles gewusst, aber nichts gesagt hat, dann hat er dafür den Tod verdient. Ich würde sogar sagen, dass Kugeln zu gut für ihn waren. Ihn mit einem glühenden Schüreisen zu pfählen wäre gerechter gewesen.«

Tess schüttelte müde den Kopf und berührte den Revolver auf dem rechten Sitz. Nur noch ein Schuss übrig. Wenn sie damit den Hund erlegen musste (und was war unter Freunden schon ein weiterer Todesschuss?), würde sie sich eine andere Waffe besorgen müssen, außer sie versuchte, sich aufzuhängen oder sonst was. Aber Kerle wie die Brüder Strehlke hatten meistens Schusswaffen. Das war das Schöne daran, wie Ramona gesagt hätte.

»Wenn er es gewusst hatte, ja. Aber für ein so großes Wenn hat er keine Kugel in den Kopf verdient. Bei seiner Mutter war das anders - in ihrem Fall waren die Ohrringe Beweis genug. Aber hier gibt es keinen Beweis.«

»Wirklich nicht?« Toms Stimme war fast unhörbar leise. »Sieh doch mal nach.«


44

Der Hund bellte nicht, als Tess die Stufen hinaufpolterte, aber sie konnte sich vorstellen, wie er mit gesenktem Kopf und gefletschten Zähnen gleich hinter der Haustür stand.

»Goober?« Hol’s der Teufel, für einen Landhund war das ein ebenso guter Name wie jeder andere. »Mein Name ist Tess. Ich habe etwas Hackfleisch für dich. Ich habe auch

Noch immer kein Bellen. Reagierte er vielleicht nur auf die Scheinwerfer auf dem Lichtmast? Oder auch auf leckere Einbrecherinnen? Tess versuchte es mit einem Schlüssel, dann mit einem weiteren. Ohne Erfolg. Sie passten vermutlich für Türen des Firmengebäudes. Der dritte ließ sich im Schloss drehen, und sie stieß rasch die Haustür auf, bevor der Mut sie verließ. Sie hatte sich eine Bulldogge oder einen Rottweiler oder Pitbull mit roten Augen und sabbernden Lefzen vorgestellt. Vor ihr saß ein Jack-Russell-Terrier, der hoffnungsfreudig zu ihr aufsah und mit dem Schwanz auf den Fußboden klopfte.

Tess steckte den Revolver in eine Jackentasche und tätschelte dem Hund den Kopf. »Meine Güte«, sagte sie. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich schreckliche Angst vor dir hatte.«

»Nicht nötig«, sagte Goober. »Hör mal, wo ist Al?«

»Frag lieber nicht«, sagte sie. »Möchtest du etwas Hackfleisch? Aber ich muss dich warnen, es könnte schon fast hinüber sein.«

»Nur her damit, Baby«, sagte Goober.

Tess fütterte ihn mit einem Brocken Hackfleisch, dann kam sie herein, schloss die Haustür und machte Licht. Wieso auch nicht? Schließlich war sie mit Goober allein im Haus.

Alvin Strehlkes Haus war ordentlicher als das seines jüngeren Bruders. Die Böden und Wände waren sauber, es gab keine Stapel von Onkel Henry’s Tauschführer, und in den Regalen standen sogar ein paar Bücher. Auffällig waren auch mehrere Gruppen von Hummel-Figuren und ein großes gerahmtes Foto von Mamazilla an der Wand. Tess fand das irgendwie vielsagend, aber es war noch längst kein unwiderlegbarer Hinge hier ein Foto von Richard Widmark in seiner berühmten Rolle als Tommy Udo, wäre das etwas anderes.

»Worüber lächelst du?«, fragte Goober. »Willst du’s mir nicht verraten?«

»Eher nicht«, sagte Tess. »Wo sollen wir anfangen?«

»Keine Ahnung«, sagte Goober. »Ich bin nur der Hund. Wie wär’s mit etwas mehr von dieser schmackhaften Kuh?«

Tess gab ihm einen weiteren Brocken Hackfleisch. Goober stellte sich auf die Hinterbeine und drehte sich zweimal um sich selbst. Tess fragte sich, ob er dabei war, durchzudrehen.

»Tom? Hast du irgendwas zu sagen?«

»Deinen Slip hast du im Haus des anderen Bruders gefunden, stimmt’s?«

»Ja, und ich habe ihn mitgenommen. Er ist zerrissen - und ich würde ihn nie mehr tragen wollen, selbst wenn er das nicht wäre -, aber er gehört mir

»Und was hast du noch gefunden?«

»Was meinst du mit ›was noch‹?«

Aber das brauchte Tom ihr nicht zu sagen. Es ging nicht darum, was sie gefunden hatte; viel wichtiger war, was sie nicht gefunden hatte: keine Handtasche, keine Schlüssel. Ihre Schlüssel hatte Lester Strehlke vermutlich in den Wald geworfen. Das hätte Tess an seiner Stelle getan. Aber die Handtasche war etwas anderes. Sie war ein sündteures Modell von Kate Spade mit einem eingenähten Seidenstreifen, auf dem der Name seiner Besitzerin stand. Wenn die Handtasche - und ihr Inhalt - nicht in Lesters Haus war und er sie nicht mit ihren Schlüsseln in den Wald geworfen hatte … wo war sie dann?

»Ich plädiere für hier«, sagte Tom. »Sehen wir uns doch mal um.«

»Fleisch!«, rief Goober und drehte eine weitere Pirouette.


45

Wo sollte sie anfangen?

»Das weißt du genau«, sagte Tom. »Männer bewahren ihre Geheimnisse immer an einem von zwei Orten auf: Arbeitszimmer oder Schlafzimmer. Doreen weiß das vielleicht nicht, du schon. Und hier gibt’s kein Arbeitszimmer.«

Sie ging (von Goober gefolgt) in Al Strehlkes Schlafzimmer, in dem sie ein extralanges Doppelbett vorfand, das militärisch schlicht gemacht war. Tess warf einen Blick darunter. Nada. Sie wollte sich dem Einbaukleiderschrank zuwenden, hielt inne und drehte sich wieder zum Bett um. Sie hob die Matratze hoch. Sah darunter. Nach fünf Sekunden - vielleicht zehn - sagte sie mit ausdruckslos trockener Stimme ein einziges Wort.

»Jackpot.«

Auf dem Sprungfederrahmen lagen drei Damenhandtaschen. Die mittlere war eine cremefarbene Unterarmtasche, die Tess überall wiedererkannt hätte. Sie griff danach und öffnete sie. Die Tasche war leer bis auf ein paar Kleenex und einen Augenbrauenstift mit einem raffinierten kleinen Wimpernkamm, der in der oberen Hälfte versteckt war. Sie suchte den Seidenstreifen mit ihrem Namen, aber der war weg. Er war sorgfältig entfernt worden, aber wo jemand die Naht aufgetrennt hatte, konnte sie in dem feinen italienischen Leder einen winzigen Schnitt sehen.

»Deine?«, fragte Tom.

»Du weißt, dass es sie ist.«

»Was ist mit dem Augenbrauenstift?«

»Diese Dinger werden in Drugstores in ganz Amerika zu Tausenden ver…«

»Ist das deine?«

»Ja. Das ist meine.«

»Bist du jetzt überzeugt?«

»Ich …« Tess schluckte trocken. Sie empfand etwas, aber sie wusste nicht genau, was. Erleichterung? Entsetzen? Beides? »Ich denke schon. Aber warum? Wieso waren beide darin verwickelt?«

Tom gab keine Antwort. Das war auch überflüssig. Doreen hätte es vielleicht nicht gewusst (oder es nicht zugeben wollen, weil die alten Ladys, die ihren Abenteuern nachgingen, kein ekliges Zeug mochten), aber Tess glaubte es zu wissen. Weil Mama beide versaut hatte. Das würde ein Psychiater sagen. Lester war der Vergewaltiger gewesen; Alvin war der Fetischist gewesen, der indirekt daran partizipiert hatte. Vielleicht hatte er bei einer oder sogar beiden Frauen in der Röhre mitgeholfen. Was sie aber niemals mit Sicherheit wissen würde.

»Das ganze Haus zu durchsuchen würde vermutlich bis Tagesanbruch dauern«, sagte Tom, »aber du kannst den Rest dieses Raums unter die Lupe nehmen, Tessa Jean. Wahrscheinlich hat er alles aus der Handtasche vernichtet - die Kreditkarten zerschnitten und in den Colewich River geworfen, würde ich mal vermuten -, aber du musst sichergehen, weil irgendetwas mit deinem Namen darauf die Polizei geradewegs zu dir führen würde. Fang mit dem Schrank an.«

In dem Einbauschrank fand Tess weder ihre Kreditkarten noch sonst etwas, was ihr gehörte, aber sie fand etwas anderes. Es lag im obersten Fach. Sie stieg von dem Stuhl, auf dem sie gestanden hatte, herab und betrachtete es mit wachsender Verzweiflung: eine Plüschente, die einst das Lieblingsspielzeug eines Kindes gewesen sein mochte. Sie hatte nur noch ein Auge, und ihr Nylonplüsch war verfilzt. An einigen Stellen fehlte er sogar ganz, als wäre die Ente halb totgeschmust worden.

Der verblasste gelbe Schnabel hatte einen dunklen kastanienbraunen Fleck.

»Ist es das, was ich vermute?«, fragte Tom.

»Oh, Tom, ich fürchte, ja.«

»Die Leichen, die du in der Wellblechröhre gesehen hast … war eine davon klein? Könnte es eine Kinderleiche gewesen sein?«

Nein, klein war keine der beiden gewesen. Aber vielleicht war der Durchlass unter der Stagg Road nicht das einzige Leichenversteck der Brüder Strehlke gewesen.

»Leg sie wieder hin, wo du sie gefunden hast. Die Polizei soll sie finden. Du musst dich davon überzeugen, dass er keinen Computer hat, in dem Zeug über dich gespeichert ist. Danach musst du schleunigst verschwinden.«

Etwas Feuchtkaltes schnüffelte an ihrer Hand. Sie hätte beinah aufgeschrien. Es war Goober, der mit glänzenden Augen zu ihr aufsah.

»Mehr Fleisch!«, sagte Goober, und Tess gab ihm noch etwas.

»Wenn Al Strehlke einen Computer hat«, sagte Tess, »kannst du dir sicher sein, dass er mit einem Passwort geschützt ist. Und seiner wird nicht eingeschaltet sein, damit ich darin herumschnüffeln kann.«

»Dann nimmst du ihn mit und wirfst ihn auf der Heimfahrt in den gottverdammten Fluss. Soll er doch bei den Fischen schlafen.«

Aber hier gab es keinen Computer.

An der Haustür verfütterte Tess das restliche Hackfleisch an Goober. Vielleicht würde er alles auf den Teppich kotzen, aber das würde Big Driver nicht mehr stören.

»Bist du nun zufrieden, Tessa Jean?«, fragte Tom. »Bist du jetzt davon überzeugt, keinen Unschuldigen getötet zu haben?«

Das würde sie wohl sein müssen, weil Selbstmord keine Option mehr zu sein schien. »Was ist mit Betsy Neal, Tom? Was ist mit ihr?«

Tom gab keine Antwort … weil das wieder überflüssig war. Schließlich war sie er.

Oder etwa nicht?

Das wusste Tess nicht genau. Aber spielte das eine Rolle, solange sie wusste, was sie als Nächstes zu tun hatte? Was morgen betraf, war das ein anderer Tag. Zumindest damit hatte Scarlett O’Hara recht gehabt.

Am wichtigsten war, dass die Polizei von den Frauenleichen in dem Durchlass unter der Straße erfahren musste. Und sei es nur, weil es Freunde und Angehörige gab, die sich ihretwegen noch sorgten. Außerdem auch …

»Weil die Plüschente darauf schließen lässt, dass es weitere geben könnte.«

Das war ihre eigene Stimme.

Und das war in Ordnung.


46

Um halb acht Uhr am folgenden Morgen, nach weniger als drei Stunden unruhigen, von Albträumen gestörten Schlafs, fuhr Tess ihren Computer hoch. Aber nicht, um zu schreiben. Nichts hätte ihr ferner liegen können.

War Betsy Neal ledig? Tess glaubte es. Sie hatte an jenem Tag in Neals Büro keinen Ehering bemerkt, den sie aber übersehen haben konnte, und dort hatte es auch keine Familienbilder gegeben. Das einzige Bild, an das sie sich erinnern konnte, war ein gerahmtes Foto von Barack Obama … und der war schon verheiratet. Also ja - Betsy Neal war vermutlich ledig oder geschieden. Und sie stand vermutlich nicht im Telefonbuch. In diesem Fall würde eine Computerrecherche ihr überhaupt nichts nutzen. Tess hätte natürlich zum Stagger Inn hinausfahren und sie dort aufsuchen

»Wieso machst du die Sache künstlich schwierig?«, fragte Fritzy vom Fensterbrett aus. »Sieh wenigstens im Telefonbuch von Colewich nach. Und was rieche ich da an dir? Ist das etwa Hund

»Ja. Das ist Goober.«

»Verräterin«, sagte Fritzy verächtlich.

Im Telefonbuch standen genau ein Dutzend Neals. Ein Eintrag lautete E Neal. E wie Elizabeth? Das ließ sich nur auf eine Weise feststellen.

Ohne zu zögern - jedes Zögern hätte ihr bestimmt den Mut geraubt -, tippte Tess die Nummer ein. Sie schwitzte, und ihr Herz jagte.

Das Telefon klingelte einmal. Zweimal.

Wahrscheinlich ist sie das nicht. Das könnte eine Edith Neal sein. Eine Edwina Neal. Sogar eine Elvira Neal.

Dreimal.

Wenn das Betsy Neals Telefon ist, dann ist sie bestimmt nicht zu Hause. Sie macht wahrscheinlich Urlaub in den Catskills …

Viermal.

… oder ist mit einem der Zombie Bakers zusammen, wie wäre das? Mit dem Lead-Gitarristen. Vielleicht singen sie unter der Dusche »Can Your Pussy Do the Dog?«, nachdem sie …

Am anderen Ende wurde abgenommen, und Tess erkannte die Stimme aus dem Hörer sofort.

»Hallo, hier ist der Anschluss von Betsy, aber ich kann gerade nicht ans Telefon kommen. Jetzt folgt ein Piepston, und ihr wisst, was ihr dann tun könnt. Schönen Tag noch.«

Ich hatte einen schlimmen Tag, danke, und die Nacht war noch weit …

Der Piepston kam, und Tess hörte sich sprechen, bevor sie überhaupt wusste, dass sie das wollte. »Hallo, Ms. Neal, hier ist Tessa Jean - die Willow-Grove-Lady? Wir haben uns im Stagger Inn kennengelernt. Sie haben mir mein TomTom zurückgegeben und mich um ein Autogramm für Ihre Oma gebeten. Sie haben gesehen, wie ich zugerichtet war, und ich habe Ihnen ein paar Lügen erzählt. Es war nicht mein Freund, Ms. Neal.« Tess begann rascher zu sprechen, weil sie fürchtete, das Tonband könnte zu Ende sein, bevor sie alles erzählt hatte … und entdeckte, dass sie unbedingt alles erzählen wollte. »Ich bin vergewaltigt worden, und das war schlimm, aber dann wollte ich mich dafür rächen und … Ich … ich muss mit Ihnen darüber reden, weil …«

Ein Klicken in der Leitung, dann hörte Tess Betsy Neals Stimme. »Fangen Sie noch mal von vorn an«, sagte sie, »aber reden Sie langsam. Ich schlafe noch halb.«


47

Sie trafen sich zum Lunch im Stadtpark von Colewich. Dort saßen sie auf einer Bank in der Nähe des Musikpodiums. Tess glaubte, nicht hungrig zu sein, aber Betsy Neal drängte ihr ein Sandwich auf, und Tess merkte überrascht, dass sie es mit großen Bissen aß, die sie daran erinnerten, wie Goober Lester Strehlkes Hackfleisch verschlungen hatte.

»Fangen Sie vorn an«, sagte Betsy. Sie war ruhig, fand Tess - fast unnatürlich ruhig. »Fangen Sie vorn an, und erzählen Sie mir alles.«

Tess begann mit der Einladung von Books & Brown Baggers. Betsy Neal sagte wenig und warf nur ab und zu ein »Mhm« oder »Okay« ein, damit Tess wusste, dass sie weiter

Als sie fertig war, war es kurz nach eins. Die wenigen Leute, die in den Park gekommen waren, um hier ihre Mittagspause zu machen, waren wieder fort. Zwei junge Mütter schoben Kinderwagen vor sich her, aber sie waren ziemlich weit entfernt.

»Mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte Betsy Neal. »Sie wollten sich erschießen, aber dann hat Ihnen eine Phantomstimme geraten, stattdessen zu Alvin Strehlkes Haus zurückzufahren.«

»Ja«, bestätigte Tess. »Wo ich erst meine Handtasche gefunden habe. Und dann die Plüschente mit dem Blut am Schnabel.«

»Ihren Slip haben Sie im Haus des jüngeren Bruders gefunden.«

»In Little Drivers Haus, ja. Er liegt in meinem Expedition. Die Handtasche auch. Wollen Sie sie sehen?«

»Nein. Was ist mit dem Revolver?«

»Der liegt auch in meinem Wagen. Noch mit einer Patrone geladen.« Sie musterte Neal neugierig und dachte wieder: Das Mädchen mit den Picasso-Augen. »Haben Sie denn keine Angst vor mir? Sie sind die letzte Mitwisserin. Zumindest die einzige, die mir einfällt.«

»Wir sind in einem öffentlichen Park. Außerdem habe ich zu Hause auf meinem Anrufbeantworter Ihr ziemlich ausführliches Geständnis.«

Tess blinzelte. Noch etwas, woran sie nicht gedacht hatte.

»Selbst wenn Sie es irgendwie schaffen würden, mich umzulegen, ohne dass die beiden jungen Mütter dort drüben etwas merken …«

»Ich bin zu erledigt, um noch jemanden umzubringen. Weder hier noch sonst wo.«

»Freut mich, das zu hören. Wenn Sie es nämlich täten - und auch wenn Sie meinen Anrufbeantworter verschwinden ließen -, würde früher oder später jemand den Taxifahrer finden, der Sie am Samstagmorgen zum Stagger Inn hinausgebracht hat. Und wenn die Polizei dann zu Ihnen käme, würde sie auf Ihrem Gesicht eine Menge belastender Spuren finden.«

»Ja«, sagte Tess und berührte die schlimmsten Prellungen. »Das ist wahr. Und wie geht’s jetzt weiter?«

»Zum einen glaube ich, dass Sie gut beraten wären, sich möglichst wenig sehen zu lassen, bis Ihr hübsches Gesicht wieder hübsch aussieht.«

»Da kann mir nichts passieren, denke ich«, sagte Tess und erzählte Betsy die Geschichte, die sie sich für Patsy McClain ausgedacht hatte.

»Gut. Das ist gut.«

»Ms. Neal … Betsy … glauben Sie mir?«

»O ja«, sagte sie fast geistesabwesend. »Passen Sie jetzt auf. Hören Sie mir zu?«

Tess nickte.

»Wir sind zwei Frauen, die ein kleines Picknick im Park machen, und das ist okay. Aber nach dem heutigen Tag sehen wir uns nie wieder. Richtig?«

»Wenn Sie meinen«, sagte Tess. Ihr Gehirn fühlte sich an wie ihr Kiefer, wenn ihr Zahnarzt ihr eine ordentliche Dosis Novocain gespritzt hatte.

»Das tue ich. Und Sie müssen sich eine weitere Geschichte für den Fall zurechtlegen, dass die Polizei mit dem Limo-Fahrer redet, der Sie heimgefahren hat …«

»Manuel. Er hat Manuel geheißen.«

»… oder mit dem Taxifahrer, der Sie am Samstagmorgen zum Stagger Inn rausgefahren hat. Ich glaube nicht, dass jemand Sie mit den Strehlkes in Verbindung bringt, solange keine Ihrer Karten auftaucht, aber wenn die Story bekanntwird, mich nie erfasst. Weil ich das nicht verdient habe.«

Nein. Das hatte sie absolut nicht.

»Was könnten Sie den Cops erzählen, Schätzchen? Eine gute Story, in der ich nicht vorkomme. Also los, Sie sind die Autorin!«

Tess überlegte eine volle Minute. Betsy ließ sie in Ruhe nachdenken.

»Ich würde sagen, dass Ramona Norville mir nach meinem Vortrag von der Abkürzung über die Stagg Road erzählt hat - was übrigens stimmt - und ich das Stagger Inn im Vorbeifahren gesehen habe. Ich würde sagen, dass ich ein paar Meilen weiter zu Abend gegessen und dann beschlossen habe, zurückzufahren und mir ein paar Drinks zu genehmigen. Und der Band zuzuhören.«

»Das ist gut. Sie heißt …«

»Ich weiß, wie sie heißt«, sagte Tess. Vielleicht klang die Wirkung des Novocains ab. »Ich würde sagen, dass ich ein paar Männer kennengelernt, etwas zu viel getrunken und dann gemerkt habe, dass ich nicht mehr fahrtüchtig war. Sie kommen in meiner Story nicht vor, weil Sie nicht nachts arbeiten. Ich könnte auch sagen …«

»Okay, das reicht«, sagte Betsy. »Wenn Sie erst mal in Fahrt kommen, sind Sie ziemlich gut. Schmücken Sie die Story bloß nicht zu sehr aus.«

»Das tue ich nicht«, sagte Tess. »Möglicherweise ist es ja auch eine Story, die ich nie erzählen muss. Sobald die Cops die Strehlkes und ihre Opfer gefunden haben, werden sie nach einem ganz anderen Täter fahnden als nach einer Bücher schreibenden kleinen Lady wie mir.«

Betsy Neal lächelte. »Bücher schreibende kleine Lady, dass ich nicht lache! Sie sind ein übles Weibsbild.« Dann sah sie offenbar den plötzlich besorgten Ausdruck auf Tess’ Gesicht. »Was? Was gibt’s denn jetzt wieder?«

»Sie können doch eine Verbindung zwischen den Leichen in der Wellblechröhre und den Strehlkes herstellen, oder? Wenigstens zu Lester?«

»Hat er einen Gummi übergestreift, bevor er Sie vergewaltigt hat?«

»Nein. Gott, nein. Sein Zeug war noch an meinen Schenkeln, als ich heimgekommen bin. Und in mir.«

»Dann hat er es bei den anderen auch ohne gemacht. Reichlich Beweismaterial. Daraus ziehen die Ermittler bestimmt die richtigen Schlüsse. Wenn die Kerle den Inhalt Ihrer Handtasche wirklich vernichtet haben, dürfte Ihnen nichts passieren. Und es hat keinen Zweck, sich wegen etwas Sorgen zu machen, was man nicht beeinflussen kann, stimmt’s?«

»Ja.«

»Was Sie betrifft … Sie haben nicht vor, nach Hause zu fahren und sich in der Badewanne die Pulsadern aufzuschneiden? Oder die letzte Kugel zu benutzen?«

»Nein.« Tess dachte daran, wie süß die Nachtluft geduftet hatte, als sie mit dem kurzen Lauf des Lemon Squeezer im Mund in Big Drivers Pick-up gesessen hatte. »Nein, ich komme zurecht.«

»Dann wird’s Zeit, dass Sie gehen. Ich bleibe noch eine Weile hier sitzen.«

Tess erhob sich, setzte sich dann aber wieder auf die Bank. »Eines muss ich noch wissen. Sie machen sich freiwillig zu meiner Komplizin. Wieso tun Sie das für eine Frau, die Sie nicht mal kennen? Der Sie nur einmal begegnet sind?«

»Weil meine Oma Ihre Bücher liebt und sehr enttäuscht wäre, wenn Sie wegen dreifachen Mordes hinter Gitter kämen - würden Sie das glauben?«

»Kein bisschen«, sagte Tess.

Betsy schwieg eine Zeit lang. Sie griff nach ihrer Dose Dr. Brown’s und stellte sie dann wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Es werden viele Frauen vergewaltigt, nicht wahr? Ich meine, Sie sind in dieser Beziehung nicht einzigartig, oder?«

Nein, Tess wusste natürlich, dass sie in dieser Beziehung nicht einzigartig war, aber dieses Wissen machte die Schmerzen und das Schamgefühl nicht geringer. Es würde auch ihre Nerven nicht beruhigen, während sie auf das Ergebnis des Aids-Tests wartete, zu dem sie bald gehen würde.

Betsy lächelte. Ihr Lächeln war weder hübsch anzusehen noch heiter. »Während wir hier reden, werden auf der ganzen Welt Frauen vergewaltigt. Auch Mädchen, von denen einige bestimmt Lieblingsplüschtiere haben. Manche werden ermordet, und manche überleben. Wie viele der Überlebenden zeigen Ihrer Meinung nach ihre Vergewaltigung an?«

Tess zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Betsy, »aber ich weiß, was die Statistik bei Verbrechensopfern sagt, weil ich danach gegoogelt habe. Sechzig Prozent aller Vergewaltigungen werden nicht angezeigt, heißt es dort. Fast zwei Drittel! Ich glaube, dass dieser Prozentsatz zu niedrig ist, aber wer könnte das mit Sicherheit sagen? Außer im Matheunterricht ist es schwierig, etwas Negatives zu beweisen. Eigentlich sogar unmöglich.«

»Wer hat Sie vergewaltigt?«, fragte Tess.

»Mein Stiefvater«, sagte Betsy. »Ich war damals zwölf. Er hat mir ein Buttermesser vors Gesicht gehalten, während er es getan hat. Ich habe stillgehalten - ich hatte Angst -, aber es hat gezuckt, als er gekommen ist. Wahrscheinlich nicht absichtlich, aber wer weiß das schon?«

Betsy zog das untere Lid ihres linken Auges mit zwei Fingern der Linken herunter. Die rechte Hand hielt sie gewölbt darunter, und das Glasauge rollte glatt in die Handfläche. Die leicht nach oben zeigende leere Augenhöhle war schwach gerötet und schien überrascht in die Welt hinauszustarren.

»Die Schmerzen waren … na ja, solche Schmerzen lassen sich unmöglich beschreiben, wirklich nicht. Mir ist es vorgekommen, als würde die Welt untergehen. Und das viele Blut! Unmengen. Meine Mutter ist mit mir zum Arzt gegangen. Sie hat mir eingeschärft, ihm zu erzählen, ich wäre auf Strumpfsocken durch die Küche gelaufen und auf dem frisch gebohnerten Linoleum ausgerutscht. Ich wäre unglücklich gestürzt und hätte mir das Auge an einer Schrankecke ausgeschlagen. Sie hat gesagt, der Arzt würde allein mit mir reden wollen, aber sie verlasse sich auf mich. ›Ich weiß, dass er dir was Schlimmes angetan hat‹, hat sie gesagt, »aber wenn die Leute davon erfahren, machen sie mich dafür verantwortlich. Bitte, Schatz, tu mir diesen einen Gefallen, dann sorge ich dafür, dass dir nie wieder was Schlimmes passiert.‹ Also hab ich’s getan.«

»Und? Ist es wieder passiert?«

»Klar. Drei- oder viermal, das weiß ich nicht mehr genau. Und ich habe immer stillgehalten, weil ich nur noch ein Auge hatte, das ich für die gute Sache hätte opfern können. Hören Sie, sind wir hier fertig oder nicht?«

Tess wollte sie umarmen, aber Betsy wich zurück - wie ein Vampir, der ein Kruzifix sieht, dachte Tess.

»Tun Sie das nicht«, sagte Betsy.

»Aber …«

»Ich weiß, ich weiß, mucho Dank, Solidarität, auf ewig Schwestern, bla-bla-bla. Ich mag nur nicht umarmt werden. Sind wir hier fertig oder nicht?«

»Wir sind fertig.«

»Und an Ihrer Stelle würde ich den Revolver auf der Heimfahrt in den Fluss werfen. Haben Sie das Geständnis verbrannt?«

»Ja. Klar doch.«

Betsy nickte. »Und ich lösche die Nachricht, die Sie auf meinen Anrufbeantworter gesprochen haben.«

Tess ging davon. Sie sah sich dabei einmal um. Betsy Neal saß noch auf der Bank. Sie hatte ihr Auge wieder eingesetzt.


48

Als sie in ihrem Expedition saß, erkannte Tess, dass es eine extrem gute Idee sein könnte, die letzten Fahrten aus ihrem Navi zu löschen. Sie drückte den Einschaltknopf, und der Bildschirm leuchtete auf. Tom sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«

Tess löschte die gespeicherten Routen, dann schaltete sie das Navi wieder aus. Sie machte eigentlich keinen Trip, sondern wollte nur nach Hause. Und sie traute sich zu, den Weg zurück selbst zu finden.


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