EINE GUTE EHE

1

Das Einzige, wonach in lockerer Unterhaltung niemand fragt, dachte Darcy in den Tagen nach ihrem Fund in der Garage, war Folgendes: Wie ist Ihre Ehe? Die Leute fragten stattdessen: Wie war Ihr Wochenende? und Wie war Ihr Trip nach Florida? und Wie geht’s gesundheitlich? und Was machen die Kinder? Manchmal fragten sie wohl auch: Wie geht’s, wie steht’s? Aber niemand fragte: Wie ist Ihre Ehe?

Gut, hätte sie vor jener Nacht auf diese Frage geantwortet. Alles bestens.

Sie war in dem Jahr, in dem John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt wurde, als Darcellen Madsen (Darcellen, ein Name, den nur Eltern, die von einem frisch gekauften Buch mit Kindernamen fasziniert waren, lieben konnten) auf die Welt gekommen. Sie wuchs in Freeport, Maine, auf, als es noch eine Kleinstadt war, kein bloßes Anhängsel von L. L. Bean’s, Amerikas erstem Superstore, und einem halben Dutzend weiterer übergroßer Einzelhandelsgeschäfte, die sich »Outlets« nannten (als wären sie Gullyabflüsse statt Verkaufsstellen). Sie besuchte die Freeport High School, dann die Addison Business School, wo sie eine Sekretärinnenausbildung erhielt. Angestellt wurde sie von der Firma Joe Ransome Chevrolet, die bei ihrem Ausscheiden im Jahr 1986 der größte Autohändler Portlands war. Sie war farblos, lernte aber von zwei etwas kultivierteren Freundinnen genügend Make-up-Tricks, um sich an Werktagen hübsch zu machen und an Freitag- und Samstagabenden, wenn sie

Im Jahr 1982 heuerte Joe Ransome eine Steuerberatungsfirma aus Portland an, die ihm helfen sollte, seine kompliziert gewordene steuerliche Situation zu klären (»Die Art Problem, die man gern hätte«, hörte Darcy ihn zu einem der Seniorverkäufer sagen). Zwei Männer mit Aktenkoffer kamen heraus; der eine alt, der andere jung. Beide trugen eine Brille und konservative Anzüge; beide kämmten ihr Haar auf eine Weise aus der Stirn zurück, die Darcy an die Fotos in MEMORIES OF’54 erinnerte, das Highschool-Jahrbuch ihrer Mutter mit dem Bild (in Blindprägung) eines Jungen, der als Cheerleader mit einem Megafon am Mund den Kunstlederband schmückte.

Der jüngere Steuerberater war Bob Anderson. Sie kam am zweiten Tag seiner Arbeit im Haus mit ihm ins Gespräch und erkundigte sich im Lauf der Unterhaltung, ob er irgendwelche Hobbys habe. Ja, sagte er, er sei Numismatiker.

Er wollte ihr erklären, was das sei, aber sie sagte: »Ich weiß Bescheid. Mein Vater sammelt Lady-Liberty-Dimes und Büffelkopf-Nickels. Er sagt, dass sie sein numismatisches Steckenpferd sind. Haben Sie auch ein Steckenpferd, Mr. Anderson?«

Er hatte eines: Weizen-Pennys. Seine größte Hoffnung war es, eines Tages auf einen Cent aus dem Jahr 1955 mit Doppeldatum zu stoßen, der …

Aber auch das wusste sie. Diese Münze mit Doppeldatum war eine Fehlprägung. Eine wertvolle Fehlprägung.

Der junge Mr. Anderson, der mit dem dichten, sorgfältig gescheitelten braunen Haar, war von dieser Antwort entzückt. Er forderte sie auf, ihn Bob zu nennen. Später beim Lunch - den sie auf einer Bank hinter der Karosseriewerkstatt Ein gutes Stück zu einem fairen Preis war eine Redewendung, die ihr in den kommenden Jahren behaglich vertraut werden würde.

Er war so farblos wie sie selbst, nur irgendein Kerl, an dem man auf der Straße vorbeigehen würde, ohne ihn zu bemerken, und würde niemals Make-up auftragen, um hübscher auszusehen … aber an diesem Tag auf der Bank trug er welches. Er errötete nämlich leicht, als er sie das fragte, eben genug, um ihn lebhafter erscheinen zu lassen und ihm etwas Farbe zu verleihen.

»Keine Münzsammlungen?«, neckte sie ihn.

Er lächelte und ließ dabei ebenmäßige Zähne sehen. Kleine Zähne, gut gepflegt und weiß. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, der Gedanke an diese Zähne könnte sie erschaudern lassen … wieso denn auch?

»Einen hübschen Satz Münzen würde ich mir natürlich ansehen«, sagte er.

»Vor allem Weizen-Pennys?« Noch immer neckend, aber nur ein bisschen.

»Die ganz besonders. Möchten Sie kommen, Darcy?«

Sie kam. Und sie kam auch in ihrer Hochzeitsnacht. Danach nicht mehr so schrecklich oft, aber doch ab und zu. Oft genug, um sich als normal und erfüllt zu empfinden.

Im Jahr 1986 wurde Bob befördert. Außerdem machte er (von Darcy ermutigt und unterstützt) einen kleinen Versandhandel für amerikanische Sammlermünzen auf. Er war von Anfang an erfolgreich und nahm ab 1990 auch Baseball-Tauschbilder

Wie ist Ihre Ehe?

Sie war gut. Eine gute Ehe. Donnie wurde 1986 geboren - sie gab ihre Arbeit auf, um ihn zu bekommen, und nahm danach keinen Job mehr an, außer dass sie bei Anderson Coins & Collectibles mithalf -, und Petra wurde 1988 geboren. Unterdessen wurde Bob Andersons dichtes braunes Haar vom Wirbel ausgehend dünn, und im Jahr 2002, als Darcys Macintosh-Computer den gesamten Inhalt ihrer Rolodex-Kartei schluckte, hatte er dort oben eine große glänzende kahle Stelle. Er experimentierte mit verschiedenen Methoden, die verbliebenen Haare drüberzukämmen, was die kahle Stelle ihrer Meinung nach nur auffälliger machte. Und er irritierte sie, indem er zwei der magischen Alles-wächst-wieder-Mittel ausprobierte - Zeug von der Sorte, die von verschlagen aussehenden Propagandisten spätnachts im Kabelfernsehen vertrieben wurde (Bob Anderson war eine Art Nachteule geworden, als er ins mittlere Alter glitt). Er erzählte ihr nicht, dass er das Zeug bestellt hatte, aber sie teilten sich ein Schlafzimmer, und Das ist Magie natürlich nie.

Aber irritiert oder nicht, sie hatte in Bezug auf die magischen Haarwuchsmittel den Mund gehalten - und auch in Bezug auf den gebrauchten Chevy Suburban, den er aus irgendeinem Grund ausgerechnet in dem Jahr kaufen musste, in dem die Benzinpreise wirklich zu steigen begannen. Wie er seinen Mund gehalten hatte, nahm sie an (eigentlich wusste sie das sogar), als sie auf guten Sommercamps für die Kinder, einer E-Gitarre für Donnie (er hatte zwei Jahre lang gespielt, lange genug, um überraschend gut zu werden, und dann plötzlich damit aufgehört) und Reitstunden für Petra bestanden hatte. Eine erfolgreiche Ehe war ein Balanceakt - das war etwas, was jeder wusste. Eine erfolgreiche Ehe hing auch davon ab, dass man viel Ärger hinunterschluckte - das war etwas, was Darcy wusste. Wie es in einem Song von Stevie Winwood hieß: You just roll widdit, baby.

Sie rollte mit. Und er auch.

Im Jahr 2004 nahm Donnie sein Studium an einem College in Pennsylvania auf. Ab 2006 studierte Petra am Colby College, ganz in der Nähe in Waterville. Unterdessen war Darcy Madsen-Anderson sechsundvierzig Jahre alt. Bob war neunundvierzig und betreute Jungpfadfinder gemeinsam mit dem Bauunternehmer Stan Morin, der eine halbe Meile von ihnen entfernt wohnte. Sie fand, ihr kahl werdender Ehemann sehe in Khakishorts und den braunen

Im Jahr 2009, fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Jawort in einer kleinen Baptistenkirche, die es nicht mehr gab (wo sie gestanden hatte, lag jetzt ein Parkplatz), schmissen Donnie und Petra im The Birches in Castle View eine Überraschungsparty für sie. Es gab über fünfzig Gäste, Champagner (vom Feinsten), Filetspitzen, einen dreistöckigen Kuchen. Das Jubelpaar tanzte wie damals bei der Hochzeit ihm peinlichen) kahlen Stelle passte, war er für einen Steuerberater noch immer extrem flink auf den Beinen.

Aber alles das war nur Geschichte, der Stoff, aus dem Nachrufe waren, und sie waren noch zu jung, um an die zu denken. Es ignorierte die Details einer Ehe, und solche gewöhnlichen Mysterien waren nach ihrer Überzeugung (ihrer festen Überzeugung) der Kitt, der eine Partnerschaft dauerhaft machte. Wie damals, als sie verdorbene Shrimps gegessen und sich die ganze Nacht hatte übergeben müssen: auf der Bettkante sitzend, während ihr schweißnasses Haar ihr im Nacken klebte und Tränen über ihr hektisch gerötetes Gesicht liefen. Bob hatte neben ihr gesessen, geduldig den Eimer gehalten und ihn nach jedem Spuckanfall ins Bad getragen und ausgespült - damit ihr von dem Geruch nicht noch schlechter wurde, hatte er gesagt. Er hatte den Wagen warm laufen lassen, um sie um sechs Uhr am nächsten Morgen in die Notaufnahme zu fahren, als die schreckliche Übelkeit dann endlich abzuklingen begann. Er hatte sich bei B, B & A krankgemeldet; außerdem hatte er eine Geschäftsreise nach White River abgesagt, um ihr für den Fall, dass die Übelkeit zurückkam, zur Seite stehen zu können.

Solche Dinge basierten auf Gegenseitigkeit; was dem einen dieses Jahr recht war, war dem anderen nächstes Jahr billig. Sie hatte mit ihm im St. Stephen’s Hospital im Wartezimmer gesessen - das war 1994 oder 95 gewesen -, um auf das Ergebnis der Gewebeuntersuchung zu warten, nachdem er (beim Duschen) eine verdächtige Schwellung unter

Der Anblick eines Kreuzworträtselhefts auf seinen Knien, das durch die halb geöffnete Badezimmertür zu sehen war, während er auf der Toilette saß. Der Geruch von Rasierwasser auf seinen Wangen, der bedeutete, dass der Suburban ein bis zwei Tage nicht in ihrer Einfahrt stehen und seine Hälfte des Betts ein bis zwei Nächte leer bleiben würde, weil er die Buchhaltung irgendeiner Firma in Vermont oder New Hampshire in Ordnung bringen musste (B, B & A hatte jetzt Klienten in allen nördlichen Neuenglandstaaten. Manchmal bedeutete der Duft eine Reise zur Besichtigung einer Münzsammlung bei einer Nachlassversteigerung, weil nicht alle An- und Verkäufe ihrer numismatischen Nebentätigkeit am Computer abgewickelt werden konnten, das wussten sie beide. Der Anblick seines alten schwarzen Rollenkoffers, den er hartnäckig behielt, sosehr sie auch nörgelte, im Dielenschrank. Seine Pantoffeln am Fußende des Betts, einer immer in den anderen gesteckt. Das Glas Wasser mit der orangeroten Vitaminpille daneben auf der neuesten Ausgabe von Coin & Currency Collecting. Wie er immer »draußen ist mehr Platz als drinnen« sagte, wenn er gerülpst hatte, und »Vorsicht, Gasangriff!«, nachdem er einen hatte fahrenlassen. Sein Mantel am ersten Haken in der Diele. Das Bild seiner Zahnbürste im Spiegel (er hätte weiter die aus dem ersten Ehejahr benutzt, glaubte Darcy, wenn sie sie nicht regelmäßig ersetzt hätte). Seine Angewohnheit, sich beim Essen nach jedem zweiten oder dritten Bissen die Lippen mit der Serviette abzutupfen. Sein sorgfältig gepacktes Marschgepäck (immer mit einem zusätzlichen Kompass), bevor Stan und er mit einer Gruppe von Neunjährigen den Dead Man’s Trail in

Sie wusste, dass er seine eigene Geschichte von ihr haben musste: mit allem von dem Lippenbalsam mit Zimtgeschmack, den sie im Winter benutzte, bis zum Duft ihres Shampoos, wenn er ihren Nacken küsste (das passierte jetzt nicht mehr so oft, aber hin und wieder doch), und dem Klicken ihrer Computertastatur um zwei Uhr morgens in jenen zwei bis drei Nächten im Monat, in denen sie aus irgendeinem Grund keinen Schlaf fand.

Jetzt waren es siebenundzwanzig Jahre oder - sie hatte sich eines Tages damit amüsiert, das mit der Rechnerfunktion ihres Computers auszurechnen - neuntausendachthundertfünfundfünfzig Tage. Fast eine Viertelmillion Stunden und über vierzehn Millionen Minuten. Natürlich war er zur Arbeit außer Haus gewesen, und sie hatte selbst einige Reisen gemacht (die traurigste nach Minneapolis, um bei ihren Eltern zu sein, nachdem ihre Schwester Brandolyn auf tragische Weise tödlich verunglückt war), aber meistens waren sie zusammen gewesen.

Wusste sie alles über ihn? Natürlich nicht. So wenig, wie er alles über sie wusste - beispielsweise wie sie manchmal (meist an Regentagen oder in den Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte) Butterfinger oder Baby Ruths verschlang, weiter Schokoriegel in sich hineinstopfte, wenn sie schon längst keine mehr wollte, sogar noch, wenn ihr davon bereits schlecht war. Oder dass sie den neuen Briefträger irgendwie süß fand. Alles konnte man niemals wissen, aber sie glaubte, nach siebenundzwanzig Jahren alles

Bis zu jener Nacht in der Garage.


2

Die TV-Fernbedienung gab den Geist auf, und im Küchenschrank links neben dem Ausguss fanden sich keine AA-Batterien. Dort lagen Batterien der Größen C und D, sogar eine ungeöffnete Packung der klitzekleinen AAA-Batterien, aber keine verflixten Drecksbatterien der Größe AA. Also ging sie in die Garage hinaus, weil sie wusste, dass Bob dort Duracells gebunkert hatte, und das war alles, was erforderlich war, um ihr gesamtes Leben zu verändern. Als ob jeder in der Luft wäre, hoch oben in der Luft. Ein lächerlicher kleiner Schritt in die falsche Richtung, und schon stürzte man ab.

Zwischen Küche und Garage verlief ein gedeckter Verbindungsgang. Darcy hastete ihn entlang, hielt sich den Hausmantel mit einer Hand am Hals zu - vor zwei Tagen war das lange außergewöhnlich warme Spätherbstwetter umgeschlagen, und jetzt schien es eher November als Oktober zu sein. Der Wind schnappte nach ihren Fesseln. Sie hätte lieber Socken und eine Hose anziehen sollen, aber Two and a Half Men würde in weniger als fünf Minuten kommen, und der verflixte Fernseher steckte bei CNN fest. Wäre Bob da gewesen, hätte sie ihn gebeten, das Programm manuell zu wechseln - dafür gab es irgendwo Knöpfe, vermutlich auf der Rückseite, wo sie nur ein Casa Anderson verantwortlich.

Sie fummelte nach den drei Schaltern neben der Tür, fand sie und drückte sie mit dem Handballen hoch. Die Neonröhren an der Decke flammten summend auf. Die Garage war geräumig und sauber, das Werkzeug hing an Haken in Lochplatten, und Bobs Werkbank war ordentlich aufgeräumt. Der Zementestrich des Fußbodens war in Schlachtschiffgrau gestrichen. Auf dem Fußboden waren keine Ölflecken zu sehen, Bob sagte, Ölflecken bedeuteten, dass die Leute, denen die Garage gehörte, Schrottautos fuhren oder Wartungsarbeiten schlampig ausführten. Der ein Jahr alte Prius, mit dem er werktags nach Portland pendelte, stand hier; nach Vermont war er mit seinem SUV-Dinosaurier gefahren, der schon viele Meilen auf dem Tacho hatte. Ihr Volvo war draußen geparkt.

»Es ist genauso leicht reinzufahren«, hatte Bob mehr als einmal gesagt (nach siebenundzwanzig Ehejahren waren originelle Kommentare eher dünn gesät). »Du brauchst nur den Toröffner an der Sonnenblende zu benutzen.«

»Ich habe ihn lieber dort, wo ich ihn sehen kann«, antwortete sie immer, obwohl sie in Wirklichkeit befürchtete, sie könnte beim Zurückstoßen den linken oder rechten Torrahmen streifen. Sie hasste das Rückwärtsfahren. Und sie vermutete, dass er das wusste … genau wie sie wusste, dass er merkwürdig zwanghaft darauf achtete, Banknoten immer richtig herum in seine Geldbörse zu stecken, und nie ein

Wenigstens war die Garage warm; große silberne Blechröhren (wahrscheinlich hießen sie Warmluftkanäle, aber Darcy war sich ihrer Sache nicht ganz sicher) verliefen kreuz und quer unter der Decke. Sie trat an die Werkbank, auf der mehrere sauber beschriftete quadratische Blechdosen aufgereiht waren: SCHRAUBEN, MUTTERN, SCHARNIERE, HASPEN & WINKEL, DICHTUNGEN und - das fand sie geradezu rührend - KRIMSKRAMS. An der Wand hing ein Kalender mit einer Badenixe aus Sports Illustrated, die deprimierend jung und sexy aussah; links neben dem Kalender waren mit Reißzwecken zwei Fotos befestigt. Eines war ein alter Schnappschuss von Donnie und Petra auf dem Little-League-Feld in Yarmouth, beide in Trikots der Boston Red Sox. Darunter hatte Bob mit Magic Marker DIE HEIMMANNSCHAFT, 1999 geschrieben. Das andere Foto, viel neuer, zeigte die fast zu einer Schönheit herangewachsene Petra mit ihrem Verlobten Michael, der einen Arm um sie gelegt hatte, in Old Orchard Beach vor einem Muschelstand. Unter diese Aufnahme hatte Bob mit Magic Marker geschrieben: DAS GLÜCKLICHE PAAR!

Das Schränkchen mit den Batterien trug einen Dymo-Tape-Streifen mit dem Wort ELEKTROKRAM und hing links neben den Fotos. Darcy bewegte sich in diese Richtung, ohne darauf zu achten, wohin sie ging - weil sie sich auf Bobs fast manische Ordnungsliebe verließ -, und stolperte über einen nicht ganz unter die Werkbank geschobenen Karton. Sie taumelte und klammerte sich dann im letzten Augenblick an die Werkbank. Sie brach sich dabei einen Fingernagel ab - schmerzhaft und ärgerlich -, bewahrte sich aber vor einem hässlichen Sturz, was gut war. Sehr gut, wenn man bedachte, dass niemand im Haus gewesen wäre, um die Notrufnummer zu wählen, wenn sie

Sie hätte den Karton einfach mit dem Innenrist unter die Werkbank zurückschieben können - das würde sie später erkennen und angestrengt darüber nachgrübeln wie ein Mathematiker, der eine abstrus komplizierte Gleichung zu lösen versuchte. Schließlich hatte sie es eilig. Aber sie sah oben in dem Karton einen Strickwarenkatalog von Patternworks und kniete nieder, um ihn an sich zu raffen und mit den Batterien ins Haus mitzunehmen. Aber als sie ihn herausnahm, lag darunter ein Katalog von Brookstone, den sie verlegt zu haben glaubte. Und darunter Paula Young … Talbots … Forzieri … Bloomingdale’s …

»Bob!«, rief sie, nur kam sein Name in zwei empörten Silben heraus (wie manchmal, wenn er Schmutz ins Haus schleppte oder seine nassen Handtücher auf dem Fußboden im Bad liegen ließ, als wäre dies ein Luxushotel mit Zimmermädchen), nicht wie Bob, sondern als BO-hob! Weil sie wirklich in ihm lesen konnte wie in einem Buch. Er fand, sie bestelle zu viel aus Versandhauskatalogen, hatte einmal sogar behauptet, sie sei süchtig nach ihnen (was lächerlich war; es waren Butterfinger, nach denen sie süchtig war). Diese kleine psychologische Analyse hatte ihm eine zweitägige kalte Schulter eingebracht. Aber er wusste, wie ihr Verstand arbeitete und dass sie bei Dingen, die nicht unbedingt lebenswichtig waren, das originale »Aus den Augen, aus dem Sinn«-Mädchen war. Daher hatte er ihre Kataloge eingesammelt, der Leisetreter, und hier aufbewahrt. Als Nächstes wären sie vermutlich in den Papiercontainer geflogen.

Danskin … Express … Computer Outlet … Macworld … Monkey Ward … Layla Grace …

Je tiefer sie grub, desto empörter wurde sie. Man hätte glauben können, sie stünden wegen ihrer Verschwendungssucht Two and a Half Men war längst vergessen; sie überlegte bereits, wie sie Bob die Meinung sagen würde, wenn er aus Montpelier anrief (er rief immer an, wenn er zu Abend gegessen hatte und wieder in seinem Motel war). Aber als Erstes würde sie alle diese Kataloge in das verflixte Haus zurückschaffen, auch wenn sie dazu drei- oder viermal gehen musste, weil der Stapel mindestens einen halben Meter hoch und diese Hochglanzkataloge schwer waren. Wirklich kein Wunder, dass sie über den Karton gestolpert war.

Tod durch Kataloge, dachte sie. Was für eine verrückte Art, aus dem Leben …

Dieser Gedanke brach so sauber ab wie ein dürrer Ast. Sie hatte beim Nachdenken weitergeblättert, war jetzt im zweiten Viertel des Stapels und stieß unter Gooseberry Patch (County Décor) auf etwas, das kein Katalog war. Nein, überhaupt kein Katalog. Es war ein Magazin, das Bondage Bitches hieß. Sie nahm es beinahe nicht heraus und hätte es vermutlich nicht angefasst, wenn sie es in einer seiner Schubladen oder in dem oberen Fach bei den Wunderhaarwuchsmitteln gefunden hätte. Aber weil sie es hier fand, in einem Stapel von mindestens zweihundert Katalogen - ihren Katalogen - versteckt … nun, darin lag etwas, was über die Verlegenheit hinausging, die ein Mann wegen bizarrer sexueller Vorlieben empfinden mochte.

Die Frau auf dem Cover war an einen Stuhl gefesselt und bis auf eine schwarze Kapuze nackt, aber die Kapuze bedeckte nur ihre obere Gesichtshälfte, so dass zu sehen war, wie sie schrie. Sie war mit dicken Stricken gefesselt, die in Brüste und Bauch einschnitten. An Kinn, Hals und Armen hatte sie Theaterblut. Unten auf dem Cover stand in schrillem Gelb eine widerliche Anpreisung: BAD BITCH BRENDA WOLLTE ES HABEN UND KRIEGT ES AUF SEITE 49!

Darcy hatte nicht die Absicht, Seite neunundvierzig oder irgendeine andere Seite aufzuschlagen. Sie erklärte sich bereits selbst, was das war: männlicher Forscherdrang. Darüber Bescheid wusste sie aus einem Artikel im Cosmo, den sie beim Zahnarzt im Wartezimmer gelesen hatte. Eine Frau hatte an einen der vielen Ratgeber der Zeitschrift geschrieben (in diesem Fall an die fest angestellte Psychologin, die auf das oft rätselhafte Sexualleben von Männern spezialisiert war), weil sie im Aktenkoffer ihres Mannes ein paar Schwulenmagazine gefunden hatte. Sehr deutliche Darstellungen, hatte die Leserin geschrieben, und nun mache sie sich Sorgen, ihr Mann könne heimlich schwul sein. Aber wenn er das sei, fügte sie hinzu, verberge er das im Schlafzimmer recht gut.

Keine Sorge, sagte die Briefkastentante. Männer seien von Natur aus abenteuerlustig, und viele von ihnen interessierten sich für sexuelle Verhaltensweisen, die alternativ - schwuler Sex an erster Stelle, gleich dahinter Gruppensex - oder fetischistisch seien: Natursekt, Crossdressing, Sex in der Öffentlichkeit, Latex. Und natürlich Bondage. Sie hatte hinzugefügt, es gebe auch Frauen, die von Bondage fasziniert seien, was Darcy ein Rätsel gewesen war, aber sie hätte als Erste zugegeben, nicht alles zu wissen.

Männlicher Forscherdrang, mehr steckte nicht dahinter. Vielleicht hatte er das Magazin an irgendeinem Zeitungsstand gesehen (als Darcy sich diesen speziellen Titel an einem Zeitungsstand vorzustellen versuchte, streikte allerdings ihr Verstand) und war neugierig gewesen. Oder vielleicht hatte er es in einem Tankstellenshop aus einem Abfallkorb geangelt. Er hatte es mit nach Hause genommen, hatte es hier draußen in der Garage durchgeblättert, war ebenso entsetzt gewesen wie sie (das Blut an dem Penthouse - sie wusste, dass die meisten Männer auf Spitzen und Seide standen, und Bob war da keine Ausnahme -, aber nichts mehr im Genre von Bondage Bitches.

Als sie den Titel erneut betrachtete, fiel ihr etwas Seltsames auf: Er trug keinen Preisaufdruck. Auch keinen Strichcode. Weil sie neugierig war, was solch ein Magazin kosten konnte, sah sie sich die Rückseite an und zuckte wegen des dortigen Bildes noch mal zusammen: eine nackte Blondine war auf etwas festgeschnallt, was ein stählerner Operationstisch zu sein schien. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck wirkte jedoch ungefähr so echt wie ein Dreidollarschein, was irgendwie beruhigend war. Und der Dicke, der mit etwas, was wie ein Ginsu-Messer aussah, über ihr stand, sah mit den Armstulpen und dem Lederslip ebenso lächerlich aus - mehr wie ein Buchhalter als jemand, der gleich die Bondage Bitch du jour zerstückeln würde.

Bob ist ein Buchhalter, warf ihr Verstand ein.

Ein dummer Gedanke aus dem leider nur allzu großen Dummen Bereich ihres Gehirns. Sie schob ihn von sich weg, genau wie sie das bemerkenswert widerliche Magazin wieder unter die Kataloge schob, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass auch hinten kein Preis aufgedruckt war. Und als sie den Karton unter die Werkbank zurückschob - sie wollte die Kataloge nun doch nicht ins Haus mitnehmen -, fiel ihr die Lösung des Kein-Preis/kein-Strichcode-Rätsels ein. Es handelte sich um eines der Magazine, die in einer festen Plastikhülle verkauft wurden, die

Vielleicht hat er es übers Internet gekauft. Bestimmt gibt es Anbieter, die auf solchen Schund spezialisiert sind. Von jungen Frauen, die wie Zwölfjährige angezogen und zurechtgemacht sind, ganz zu schweigen.

»Schon gut«, sagte sie und nickte einmal knapp. Damit wäre das erledigt, abgehakt, aus und vorbei. Würde sie ihren Fund am Telefon erwähnen, wenn er später anrief - oder nach seiner Rückkehr -, würde er beschämt und defensiv reagieren. Er würde sie wahrscheinlich sexuell naiv nennen, was sie vermutlich auch war, und ihr eine Überreaktion vorwerfen, die sie aber unbedingt vermeiden wollte. Was sie tun wollte, war: Roll widdit, Baby. Eine Ehe glich einem ständig im Bau befindlichen Haus, das jedes Jahr um neue Zimmer erweitert wurde. Eine Ehe im ersten Jahr war ein Cottage; nach siebenundzwanzig Jahren war sie eine riesige, weitläufige Villa. Darin musste es Winkel und Lagerräume geben, von denen manche ein paar unangenehme Relikte enthielten, die man lieber nicht gefunden hätte. Aber das war kein Drama. Man warf diese Relikte auf den Müll oder gab sie für karitative Zwecke im Goodwill Store ab.

Dieser Gedanke (der ihr schlüssig erschien) gefiel ihr so gut, dass sie ihn laut aussprach: »Kein Drama.« Und um sich das zu beweisen, schob sie den Karton mit beiden Händen kräftig an, so dass er bis an die Wand rutschte.

Wo ein Poltern zu hören war. Was war das?

Ich will’s gar nicht wissen, sagte sie sich, und war sich ziemlich sicher, dass dieser Gedanke nicht aus dem Dummen, sondern aus dem Cleveren Bereich kam. Unter der

Darcy stand auf, klopfte sich die Knie ab und verließ in ihrem Hausmantel die Garage. Auf halbem Weg ins Haus hörte sie das Telefon klingeln.


3

Sie war schon in der Küche, bevor der Anrufbeantworter sich einschaltete, aber sie wartete. Wenn es Bob war, würde sie das Gerät antworten lassen. Sie wollte nicht gleich jetzt mit ihm reden. Sie befürchtete, er könnte etwas in ihrer Stimme hören. Er würde annehmen, sie sei zum Laden an der Ecke oder vielleicht zum Video Village gefahren, und in einer Stunde noch einmal anrufen. In einer Stunde, wenn ihre unangenehme Entdeckung Zeit gehabt hatte, sich etwas zu setzen, würde sie wieder weitgehend normal sein, so dass sie sich angenehm unterhalten konnten.

Aber es war nicht Bob, es war Donnie. »Ach, Mist, eigentlich wollte ich mit euch reden.«

Sie nahm den Hörer ab, lehnte sich an die Arbeitsplatte und sagte: »Dann red. Ich war nur in der Garage.«

Donnie sprudelte geradezu über vor Neuigkeiten. Er lebte jetzt in Cleveland, Ohio, und nach zweijähriger undankbarer Plackerei in untergeordneter Stellung in der größten Werbeagentur der Stadt hatten sein Freund und er beschlossen, sich selbstständig zu machen. Bob hatte ihm nachdrücklich davon abgeraten und Donnie erklärt, sein Partner und er hätten keine Chance, den Gründerkredit zu bekommen, den sie brauchten, um das erste Jahr zu überstehen.

»Wach auf!«, hatte er gesagt, nachdem Darcy ihm das Telefon übergeben hatte. Das war im zeitigen Frühjahr gewesen, als sich unter Bäumen und Büschen im Garten noch vereinzelte Schneereste gehalten hatten. »Du bist vierundzwanzig, Donnie, und dein Kumpel Ken ist so alt wie du. Ihr beiden Lümmel könnt noch ein weiteres Jahr lang keine Kaskoversicherung für eure Autos bekommen, nur eine Haftpflichtversicherung. Keine Bank gibt euch siebzigtausend Dollar Gründerkredit - erst recht nicht in diesen schwierigen Zeiten.«

Aber sie hatten den Kredit bekommen, und jetzt hatten sie zwei Großkunden gewonnen, beide am gleichen Tag. Einer war ein Autohändler, der einen neuen Ansatz für eine Werbekampagne suchte, die Mittdreißiger ansprechen sollte. Der andere war dieselbe Bank, die Anderson & Hayward den Gründerkredit gewährt hatte. Donnie jubelte geradezu, und seine Mutter stimmte freudig ein. Sie sprachen ungefähr zwanzig Minuten miteinander. Einmal wurde ihr Gespräch durch das Doppelpiepsen unterbrochen, mit dem ein eingehender Anruf gemeldet wurde.

»Willst du den annehmen?«, fragte Donnie.

»Nein, das ist nur dein Vater. Er ist in Montpelier und besichtigt eine Sammlung von Stahlpennys. Er ruft noch mal an, bevor er ins Bett geht.«

»Wie geht’s ihm denn?«

Gut, dachte sie. Entwickelt neue Interessen.

»Aufrecht und die Luft schnüffelnd«, sagte sie. Das war einer von Bobs Lieblingsausdrücken, und er brachte Donnie zum Lachen. Sie liebte es, ihn lachen zu hören.

»Und Pets?«

»Ruf an und frag sie selbst, Donald.«

»Das werde ich, das werde ich. Irgendwann komme ich schon dazu. Bis dahin reicht mir eine Kurzfassung.«

»Ihr geht es sehr gut. Macht Heiratspläne.«

»Man könnte glauben, die Hochzeit wäre schon nächste Woche - nicht erst im kommenden Juni.«

»Donnie, wenn du dich nicht bemühst, Frauen zu verstehen, wirst du nie heiraten.«

»Das hat keine Eile. Ich amüsiere mich zu gut.«

»Aber hoffentlich vorsichtig.«

»Ich bin sehr vorsichtig und sehr höflich. Ich muss jetzt weg, Ma. In einer halben Stunde treffe ich mich mit Ken auf einen Drink. Wir wollen mit dem Brainstorming wegen dieser Autosache anfangen.«

Sie hätte ihn beinahe ermahnt, nicht zu viel zu trinken, hielt sich aber gerade noch zurück. Er sah vielleicht noch immer wie ein Highschool-Junior aus, und ihr stand sehr deutlich vor Augen, wie er als Fünfjähriger in einem roten Cordsamtjumper unermüdlich mit seinem Roller auf den betonierten Wegen im Joshua Chamberlain Park in Pownal unterwegs gewesen war, aber jetzt war er keiner dieser Jungen mehr. Er war ein junger Mann und - so unwahrscheinlich das klingen mochte - ein Jungunternehmer, der seinen Weg machen würde.

»Okay«, sagte sie. »Danke für den Anruf, Donnie. Es war schön, mit dir zu reden.«

»Gleichfalls. Bestell dem alten Knaben einen schönen Gruß von mir, wenn er anruft.«

»Wird gemacht.«

»Aufrecht und die Luft schnüffelnd«, sagte Donnie und kicherte. »Wie vielen Jungpfadfindern er das wohl beigebracht hat?«

»Bestimmt allen.« Darcy öffnete den Kühlschrank, um zu sehen, ob darin zufällig ein Butterfinger lag, der gekühlt auf ihre gierigen Lippen wartete. Pech. »Eine erschreckende Vorstellung.«

»Hab dich lieb, Mama.«

»Ich dich auch.«

Sie legte auf und fühlte sich wieder gut. Und lächelte. Aber ihr Lächeln verblasste, während sie an die Arbeitsplatte gelehnt dastand.

Ein Poltern.

Als sie den schweren Karton mit den Katalogen unter die Werkbank zurückgeschoben hatte, hatte sie ein Poltern gehört. Kein Klirren oder Scheppern wie von einem dort liegenden Werkzeug, sondern ein Poltern. Irgendwie hatte es hohl geklungen.

Das ist mir egal.

Leider war dem nicht so. Das Poltern verkörperte etwas Unerledigtes. Der Karton übrigens auch. Waren darin weitere Magazine wie Bondage Bitches versteckt?

Ich will’s nicht wissen.

Richtig, richtig, aber vielleicht sollte sie es trotzdem rausbekommen. Sollte es nur das eine Magazin geben, hatte sie recht, wenn sie annahm, es handle sich um sexuelle Neugier, die durch einen einzigen Blick in eine zwielichtige (und gestörte, wie sie für sich selbst hinzufügte) Welt völlig befriedigt worden war. Gab es jedoch mehrere, konnte das noch immer in Ordnung sein - schließlich war er dabei, sie wegzuwerfen -, aber vielleicht sollte sie davon wissen.

Vor allem … dieses Poltern. Es beschäftigte sie mehr als die Sache mit den Magazinen.

Sie schnappte sich die Stablampe aus dem Besenschrank und machte sich wieder auf den Weg in die Garage. Diesmal hielt sie die Aufschläge ihres Hausmantels gleich zusammen und wünschte sich, sie hätte eine Jacke darübergezogen. Es begann wirklich kalt zu werden.


4

Darcy kniete sich hin, schob den Karton mit Katalogen beiseite und leuchtete mit der Stablampe unter die Werkbank. Im ersten Augenblick begriff sie nicht, was sie sah: zwei dunkle Linien, die die glatte Fußleiste senkrecht durchschnitten, eine etwas breiter als die andere. Dann bildete sich in ihrer Körpermitte ein Strahl aus Unbehagen, der vom Brustbein bis in die Magengrube reichte. Dies war ein Versteck.

Lass die Finger davon, Darcy. Das geht nur ihn etwas an, und um des eigenen Seelenfriedens willen solltest du es dabei belassen.

Ein guter Rat, nur war sie schon zu sehr in diese Sache verwickelt, um ihn zu beherzigen. Sie kroch mit der Stablampe in der Hand unter die Werkbank und machte sich darauf gefasst, Spinnweben zu spüren, aber es gab keine. Wenn sie das originale »Aus den Augen, aus dem Sinn«-Mädchen war, war ihr kahl werdender, Münzen sammelnder, Pfadfinder spielender Ehemann der originale Mr. Saubermann.

Außerdem ist er selbst hier druntergekrochen, so dass keine Spinnweben entstehen konnten.

Stimmte das? Das wusste sie doch nicht wirklich, oder?

Aber sie glaubte es zu wissen.

Die Spalten befanden sich an beiden Enden eines zwanzig Zentimeter langen Abschnitts der Fußbodenleiste, durch den eine senkrechte Mittelachse zu führen schien, so dass er sich drehen ließ. Sie hatte ihn mit dem Karton hinreichend angestoßen, dass er etwas aufgesprungen war, aber damit war das Poltern noch nicht erklärt. Sie drückte gegen ein Ende des Abschnitts. Es schwang nach innen, und das andere Ende kam heraus, so dass ein Versteck sichtbar wurde, das zwanzig Zentimeter breit, dreißig hoch und ungefähr

Sie griff hinein, bekam das Kästchen zu fassen - mit bösen Vorahnungen, die fast greifbar waren - und holte es heraus. Das Kästchen war die kleine Kassette aus Eichenholz, die sie ihm vor fünf oder vielleicht mehr Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Oder war es zu einem Geburtstag gewesen? Das wusste Darcy nicht mehr, nur dass sie ein guter Kauf im Kunstgewerbeladen in Castle Rock gewesen war. Ihr Deckel war mit einer handgeschnitzten Kette im Flachrelief geschmückt. Unter der Kette stand, ebenfalls in Flachrelief, der Verwendungszweck der Kassette: MANSCHETTENKNÖPFE . Bob hatte eine Menge Manschettenknöpfe, und obwohl er werktags lieber Hemden mit Knöpfmanschetten trug, waren manche davon recht hübsch. Sie erinnerte sich, dass sie gedacht hatte, diese Kassette würde ihm helfen, sie ordentlich aufzubewahren. Darcy wusste, dass das Kästchen noch eine Zeit lang auf der Kommode in seiner Hälfte des Schlafzimmers gestanden hatte, nachdem das Geschenk ausgepackt und gebührend bewundert worden war, aber sie konnte sich nicht erinnern, es in letzter Zeit gesehen zu haben. Natürlich hatte sie das nicht. Es war hier draußen, in diesem Versteck unter seiner Werkbank, und sie hätte Haus und Hof verwettet (wieder eine von Bobs Redensarten), dass sie keine Manschettenknöpfe finden würde, wenn sie den Deckel aufklappte.

Dann sieh nicht hinein.

Wieder ein guter Rat, aber sie war nun schon viel zu weit gegangen, um ihn zu beherzigen. Als sie das Holzkästchen

Lass sie leer sein. Bitte, Gott, wenn du mich liebst, lass sie leer sein.

Aber das war sie nicht. Sie enthielt drei von einem Gummiband zusammengehaltene Plastikkarten. Darcy nahm den kleinen Packen heraus und fasste ihn nur mit spitzen Fingern an - wie eine Frau einen Putzlappen anfassen würde, von dem sie befürchtet, er könnte außer Schmutz auch Keime enthalten. Dann streifte sie das Gummiband ab.

Es waren keine Kreditkarten, wie sie zunächst vermutet hatte. Obenauf lag ein Blutspenderausweis des Roten Kreuzes, der auf eine Marjorie Duvall ausgestellt war. Ihre Blutgruppe war A Rhesus positiv, ihre Region Neuengland. Darcy drehte die Karte um und sah, dass Marjorie - wer immer das war - zuletzt am 16. August 2010 Blut gespendet hatte. Vor drei Monaten.

Wer zum Teufel war Marjorie Duvall? Woher kannte Bob sie? Und weshalb hatte sie eine schwache, aber sehr deutliche Erinnerung an diesen Namen?

Die nächste Karte war Marjorie Duvalls Bibliotheksausweis für die North Conway Library, auf dem auch ihre Adresse stand: 17 Honey Lane, South Gansett, New Hampshire.

Die letzte Plastikkarte war Marjorie Duvalls Führerschein aus New Hampshire. Sie sah wie eine ganz durchschnittliche Amerikanerin Mitte dreißig aus, nicht sehr hübsch (allerdings sah auf Führerscheinfotos niemand besonders vorteilhaft aus), aber vorzeigbar. Zurückgekämmtes dunkelblondes Haar, zu einem Nackenknoten oder Pferdeschwanz zusammengefasst; auf dem Foto war das

Darcy merkte, dass sie ein trostloses wimmerndes Geräusch machte. Es war entsetzlich, einen solchen Laut aus ihrer Kehle kommen zu hören, aber sie konnte nicht damit aufhören. Und ihr Magen war durch eine Bleikugel ersetzt worden; sie zog alle ihre inneren Organe herab und dehnte sie in neue, unangenehme Formen. Sie hatte Marjorie Duvalls Gesicht in der Zeitung gesehen. Auch in den Sechsuhrnachrichten.

Mit Händen, die absolut gefühllos waren, schlang sie das Gummiband wieder um die Ausweiskarten, legte sie in die Kassette zurück und schob sie in das Versteck zurück. Sie war im Begriff, es wieder zu verschließen, als sie sich sagen hörte: »Nein, nein, nein, das stimmt nicht. Ausgeschlossen!«

War das die Stimme der Cleveren Darcy oder der Dummen Darcy? Schwer zu sagen. Sicher wusste sie nur, dass die Dumme Darcy die Kassette geöffnet hatte. Und dank der Dummen Darcy stürzte sie jetzt ins Bodenlose.

Sie holte das Kästchen wieder heraus. Dachte dabei: Das ist ein Irrtum, es muss einer sein, wir sind über die Hälfte unseres Lebens miteinander verheiratet, ich würde es wissen, ich würde es wissen. Klappte den Deckel auf. Dachte: Kann man einen anderen wirklich kennen?

Vor diesem Abend hätte sie das fest geglaubt.

Marjorie Duvalls Führerschein lag jetzt auf dem kleinen Stapel obenauf. Zuvor hatte er unten gelegen. Darcy tat ihn dorthin. Aber welche der beiden anderen Karten hatte oben gelegen, der Blutspender- oder der Bibliotheksausweis? Das war einfach, es musste einfach sein, wenn es nur zwei Möglichkeiten gab, aber sie war zu durcheinander, um sich erinnern zu können. Sie legte den Bibliotheksausweis obendrauf und wusste gleich, dass das falsch war, weil

Sie tat sie dorthin, und als sie das Gummiband wieder um die kleine Kartenkollektion schlang, klingelte im Haus auf einmal wieder das Telefon. Das war er. Das war Bob, der aus Vermont anrief, und wäre sie in der Küche gewesen, um den Anruf entgegenzunehmen, hätte sie seine fröhliche Stimme (eine Stimme, die sie so gut kannte wie ihre eigene) fragen gehört: He, Schatz, wie geht’s dir?

Ihre Finger zuckten, und das Gummiband riss. Es flog weg, und sie schrie auf, ob aus Frustration oder Angst, konnte sie nicht sagen. Aber warum hätte sie Angst haben sollen? In siebenundzwanzig Ehejahren hatte er niemals die Hand gegen sie erhoben, außer um sie zu liebkosen. Und nur ganz wenige Male war er im Streit laut geworden.

Das Telefon klingelte noch mal … noch mal … dann brach das Klingeln mitten im Ton ab. Jetzt würde er eine Nachricht hinterlassen. Hab dich wieder verpasst! Verdammt! Ruf mich an, damit ich mir keine Sorgen mache, okay? Die Nummer ist …

Er würde auch seine Zimmernummer angeben. Bob überließ nichts dem Zufall, setzte nichts als gegeben voraus.

Was sie dachte, konnte niemals wahr sein. Es glich einer dieser monströsen Wahnvorstellungen, die manchmal grausig plausibel aus dem Bodensatz der menschlichen Psyche glitzernd auftauchten: dass ein Sodbrennen der Vorbote eines Herzanfalls war, Kopfschmerzen einen Tumor bedeuteten und Petras Sonntagnachmittagsanruf deshalb ausgeblieben war, weil sie einen Verkehrsunfall gehabt hatte und in irgendeinem Krankenhaus im Koma lag. Aber solche Wahnvorstellungen kamen gewöhnlich um vier Uhr morgens,

Sie fand es schließlich hinter dem Karton mit den Katalogen, die sie sich nie mehr ansehen wollte. Darcy steckte es ein, wollte aufstehen, um ein anderes zu suchen, hatte vergessen, wo sie war, und schlug sich den Kopf an der Unterseite der Werkbank an. Sie begann zu weinen.

In keiner der Werkbankschubladen fanden sich Gummibänder, und das ließ sie noch heftiger weinen. Sie hastete mit den schrecklichen, unerklärlichen Ausweiskarten in der Tasche ihres Hausmantels durch den Verbindungsgang zurück und holte ein Gummiband aus der Küchenschublade, in der sie allen möglichen halb nützlichen Scheiß aufbewahrte: Büroklammern, Bindedraht, Kühlschrankmagnete, die den größten Teil ihrer Magnetkraft verloren hatten: Einer davon, auf dem DARCY IST DER CHEF stand, war einmal eine zusätzliche Kleinigkeit von Bob zu Weihnachten gewesen.

Das Signallämpchen des Telefons auf der Arbeitsplatte blinkte stetig, um Nachricht, Nachricht, Nachricht zu melden.

Sie lief in die Garage zurück, ohne diesmal die Aufschläge des Hausmantels zuzuhalten. Die äußere Kälte spürte sie nicht mehr, weil die innere größer war. Dazu kam die Bleikugel, die ihre Eingeweide nach unten zog. Sie in die Länge zog. Darcy war sich vage bewusst, dass sie auf die Toilette musste, sogar dringend.

Nicht jetzt! Reiß dich zusammen. Stell dir vor, du wärst auf der Turnpike und hättest noch zwanzig Meilen bis zur nächsten Raststätte. Sieh zu, dass du fertig wirst. Lass alles so zurück, wie es war. Dann kannst du …

Dann konnte sie was? Alles vergessen?

Nicht sehr wahrscheinlich.

Sie schlang das Gummiband um die Ausweiskarten, merkte, dass der Führerschein irgendwie wieder obenauf gelangt war, und schalt sich eine blöde Schlampe … ein beleidigender Ausdruck, für den sie Bob geohrfeigt hätte, wenn er jemals versucht hätte, ihn ihr anzuhängen. Aber das hatte er natürlich nie getan.

»Eine blöde Schlampe, aber keine Bondage-Schlampe«, murmelte sie, und dann durchzuckte ein Krampf ihren Bauch. Sie sank auf die Knie und erstarrte in dieser Haltung, während sie darauf wartete, dass er abklang. Hätte es hier eine Toilette gegeben, wäre sie hingeflitzt, aber es gab keine. Als der Krampf nachließ - widerstrebend -, ordnete sie die Karten in der wahrscheinlich richtigen Reihenfolge an (Blutspender, Bibliothek, Führerschein) und legte sie dann in das Kästchen für MANSCHETTENKNÖPFE zurück. Kassette wieder in das Versteck. Drehbarer Fußleistenabschnitt fest angedrückt. Karton mit Katalogen dorthin zurück, wo sie über ihn gestolpert war: ein bisschen unter der Werkbank hervorstehend. Bob würde nie etwas merken.

Aber konnte sie sich dessen sicher sein? Wenn er war, was sie dachte - ungeheuerlich, dass sie an so etwas überhaupt denken konnte, wenn sie vor kaum einer halben Stunde nur ein paar Batterien für die verflixte Fernbedienung hatte holen wollen -, wenn er das war, dann war er seit langer Zeit sehr vorsichtig gewesen. Und er war umsichtig, er war pedantisch, er war der originale Mr. Saubermann, aber wenn er das war, worauf diese verflixten (nein, gottverdammten) Plastikkarten schließen ließen, musste er übernatürlich vorsichtig sein. Übernatürlich wachsam. Verschlagen.

Das war ein Wort, das sie bis zum heutigen Abend niemals mit Bob in Verbindung gebracht hatte.

»Nein«, erklärte sie der Garage. Sie schwitzte, ihr Haar klebte in unschönen Strähnen an ihrem Gesicht, sie litt Mein Mann ist nicht Beadie.«

Sie ging ins Haus zurück.


5

Sie beschloss, sich einen Tee zu machen. Tee war beruhigend. Als sie den Teekessel füllte, begann das Telefon wieder zu klingeln. Sie ließ den Kessel in den Ausguss fallen - sein Scheppern war so laut, dass sie einen kleinen Schrei ausstieß -, ging dann ans Telefon und wischte sich die nassen Hände am Hausmantel ab.

Ruhig, ruhig, ermahnte sie sich. Wenn er ein Geheimnis bewahren kann, dann kannst du das auch. Denk daran, dass es eine vernünftige Erklärung für das alles gibt …

Ach, wirklich?

… die du nur noch nicht kennst. Du brauchst Zeit, um über alles nachzudenken. Also: Ruhig.

Darcy nahm den Hörer ab und sagte munter: »Wenn du’s bist, Hübscher, dann kannst du gleich rüberkommen. Mein Mann ist verreist.«

Bob lachte. »He, Schatz, wie geht’s dir?«

»Aufrecht und die Luft schnüffelnd. Und dir?«

Darauf folgte langes Schweigen. Es fühlte sich jedenfalls lange an, obwohl es nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben konnte. In diesem Zeitraum hörte Darcy das irgendwie schreckliche Summen des Kühlschranks, das Wasser, das auf den Teekessel im Ausguss tropfte, und den Puls des eigenen Herzens, dessen Schläge nicht aus der Brust, sondern aus Kehle und Ohren zu kommen

»Deine Stimme klingt komisch«, sagte er. »Irgendwie ganz belegt. Alles in Ordnung, Süße?«

Sie hätte gerührt sein sollen. Stattdessen war sie verängstigt. Marjorie Duvall: Dieser Name stand ihr nicht nur vor Augen, sondern schien wie die Neonreklame einer Bar zu blinken. Sie war einen Augenblick lang sprachlos, und zu ihrem Entsetzen schwankte die Küche, die sie so gut kannte, vor ihren Augen, als ihr abermals die Tränen kamen. Auch die krampfartige Schwere im Unterleib kehrte zurück. Marjorie Duvall. Blutgruppe A Rhesus positiv. 17 Honey Lane. Nach dem Motto: Hallo, Schatz, wie geht’s, wie steht’s, aufrecht und die Luft schnüffelnd?

»Ich musste nur gerade an Brandolyn denken«, hörte sie sich selbst sagen.

»Oh, Baby«, sagte er, und das Mitgefühl in seiner Stimme war typisch für Bob. Sie kannte es gut. Hatte sie sich seit 1984 nicht oft darauf verlassen? Sogar schon vorher, als er noch um sie geworben und sie allmählich erkannt hatte, dass er der Richtige war? Gewiss hatte sie das getan. Wie er sich auf sie gestützt hatte. Die Idee, solches Mitgefühl könnte nichts als Zuckerguss auf einer vergifteten Torte sein, war verrückt. Die Tatsache, dass sie ihn in diesem Augenblick belog, war noch verrückter. Das heißt, falls es überhaupt Abstufungen von Verrücktheit gab. Oder vielleicht war »verrückt« ein Begriff wie »einzigartig«, für den es keine Steigerungsformen gab. Und was dachte sie wirklich? Was, um Himmels willen?

Aber er redete, und sie hatte keine Ahnung, was er eben gesagt hatte.

»Erzähl’s mir noch mal. Ich habe gerade nach meinem Tee gegriffen.« Noch eine Lüge, ihre Hände waren viel zu zittrig, um nach irgendetwas greifen zu können, aber eine plausible Notlüge. Und ihre Stimme zitterte nicht. Wenigstens glaubte sie das.

»Ich habe gefragt: Wie bist du darauf gekommen?«

»Donnie hat angerufen und nach seiner Schwester gefragt. Dabei habe ich an meine denken müssen. Ich bin rausgegangen und ein bisschen herumgelaufen. Ich bin ins Schniefen gekommen, aber daran war zum Teil auch die Kälte schuld. Das hast du wahrscheinlich in meiner Stimme gehört.«

»Ja, sofort«, sagte er. »Hör zu, ich könnte morgen Burlington auslassen und gleich nach Hause kommen.«

Darcy hätte beinahe Nein! gerufen, aber das wäre genau die falsche Reaktion gewesen. Sie konnte bewirken, dass er bei Tagesanbruch losfuhr, ganz der besorgte Ehemann.

»Wenn du das tust, verpasse ich dir ein blaues Auge«, sagte sie und war erleichtert, als er lachte. »Charlie Frady hat dir erzählt, dass es sich lohnt, zu dieser Nachlassversteigerung in Burlington zu fahren, und er hat gute Kontakte. Und einen guten Riecher. Das hast du immer selbst gesagt.«

»Genau, aber mir gefällt es nun mal nicht, wenn du so deprimiert klingst.«

Dass er gespürt hatte (und zwar sofort! sofort!), dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, war schlecht. Dass sie hatte lügen müssen, was den Grund dafür betraf … ach, das war noch schlimmer. Sie schloss die Augen, sah Bad Bitch Brenda unter der schwarzen Kapuze schreien, und öffnete sie wieder.

»Ich war ein bisschen down, aber das ist vorbei«, sagte sie. »Nur eine vorübergehende Anwandlung. Sie war meine

»Ja, ich weiß«, sagte er. Wohl wahr. Der Tod ihrer Schwester war zwar nicht der Grund dafür gewesen, dass sie sich in Bob Anderson verliebt hatte, aber sein Verständnis für ihren Kummer hatte ihren Zusammenhalt gestärkt.

Brandolyn Madsen war beim Langlaufen von einem betrunkenen Schneemobilfahrer angefahren und tödlich verletzt worden. Er hatte Fahrerflucht begangen und die Tote eine halbe Meile vom Haus der Familie Madsen entfernt im Wald liegen lassen. Als Brandi um acht Uhr abends noch nicht zurück war, waren zwei Polizeibeamte und die örtliche Bürgerwehr zu einer Suchaktion aufgebrochen. Darcys Vater hatte die Leiche gefunden und durch den Wald nach Hause getragen. Darcy, die im Wohnzimmer stationiert war, um das Telefon zu überwachen und ihre Mutter zu beruhigen, hatte ihn als Erste gesehen. Er hatte weiße Atemwolken ausgestoßen, als er im harten Licht des Wintervollmonds über den Rasen gekommen war. Darcys erster Gedanke (der ihr noch heute peinlich war) war eine Erinnerung an die kitschigen Liebesfilme in Schwarz-Weiß gewesen, die manchmal auf dem TCM-Spielfilmkanal gezeigt wurden - in denen irgendein Kerl seine Frischangetraute über die Schwelle ihres Flitterwochenhäuschens trug, während fünfzig Violinen Sirup auf die Tonspur gossen.

Bob Anderson, das hatte Darcy entdeckt, konnte sich in andere hineinversetzen, wie es nur wenige Menschen konnten. Er hatte zwar keinen Bruder, keine Schwester verloren, aber seinen besten Freund. Der Junge war auf die Straße gelaufen, um einen beim Pick-up-Baseball danebengegangenen Ball zu fangen (wenigstens nicht Bobs Wurf; da er

»Bleib in Vermont, Bob. Geh zu der Nachlassversteigerung. Ich liebe dich dafür, dass du besorgt bist, aber wenn du jetzt heimgerannt kommst, komme ich mir kindisch vor. Und dann werde ich wütend.«

»Okay. Aber ich rufe dich morgen früh um halb acht an. Du bist gewarnt!«

Sie lachte und hörte erleichtert, dass das echt klang … wenigstens so real, dass kein Unterschied zu erkennen war. Und weshalb sollte ihr kein richtiges Lachen gestattet sein? Warum zum Teufel eigentlich nicht? Sie liebte ihn und würde die Unschuldsvermutung für ihn gelten lassen. Rückhaltlos. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Man konnte Liebe nicht abstellen - sogar die geistesabwesende, oft als selbstverständlich vorausgesetzte Liebe nach siebenundzwanzig Ehejahren -, wie man einen Wasserhahn zudrehte. Liebe kam aus dem Herzen, und das Herz hatte seine eigenen Erfordernisse.

»Bobby, du rufst immer um halb acht an.«

»Schuldig im Sinne der Anklage. Ruf mich jederzeit an, wenn du …«

»… etwas brauchst, und wenn’s noch so spät ist«, ergänzte Darcy für ihn. Jetzt fühlte sie sich fast wieder wie sie selbst. Wirklich erstaunlich, wie viele schwere Schläge die menschliche Psyche einstecken konnte, ohne am Boden zerstört zu sein. »Das tue ich.«

»Liebe dich, Schatz.« Die Schlussformel so vieler Telefongespräche über die Jahre hinweg.

»Liebe dich auch«, sagte sie lächelnd. Dann legte sie den Hörer auf, drückte die Stirn an die Wand und begann zu weinen, bevor das Lächeln ihr Gesicht verlassen konnte.


6

Ihr Computer, ein iMac, der alt genug war, um modisch retro zu wirken, stand im Hauswirtschaftsraum. Sie benutzte ihn selten für etwas anderes als E-Mails und eBay, aber jetzt öffnete sie Google und tippte den Namen Marjorie Duvall ein. Sie zögerte, bevor sie auch Beadie in das Suchfeld schrieb, aber nicht lange. Wozu die quälenden Zweifel künstlich verlängern? Er würde in diesem Zusammenhang ohnehin auftauchen, dessen war sie sich sicher. Sie drückte die Eingabetaste, und während sie zusah, wie der kleine Wartekreis sich immer wieder um sich selbst drehte, kamen die Krämpfe von vorhin zurück. Sie lief ins Bad, sank aufs WC und bedeckte ihr Gesicht dort sitzend mit den Händen. Auf der Innenseite der Badezimmertür klebte ein großer Spiegel, in dem sie sich nicht sehen wollte. Wieso war er überhaupt dort? Wieso hatte sie zugelassen, dass er dort war? Wer wollte sich auf dem Topf sitzen sehen? Selbst in besten Zeiten, zu denen dieser Abend ganz sicher nicht gehörte?

Darcy kehrte langsam an ihren Computer zurück, schlurfte dahin wie ein Kind, das genau wusste, dass es eine Strafe für etwas zu erwarten hatte, was ihre Mutter etwas gaaanz Schlimmes genannt hätte. Sie sah, dass Google über fünf Millionen Suchergebnisse geliefert hatte: O allmächtiges Google, so freigebig und so schrecklich. Über das erste musste sie jedoch tatsächlich lachen; es forderte sie auf, Marjorie Duvall Beadie auf Twitter zu verfolgen. Darcy

Das zweite Ergebnis kam vom Portland Press-Herald, und als Darcy es anklickte, war das Foto, das sie begrüßte (nur fühlte diese Begrüßung sich wie eine Ohrfeige an), die Aufnahme, an die sie sich aus dem Fernsehen erinnerte - und vermutlich aus genau diesem Artikel, weil der Press-Herald ihre Zeitung war. Der Bericht war vor zehn Tagen erschienen und damals der Aufmacher gewesen. FRAU AUS NEW HAMPSHIRE KÖNNTE »BEADIES« ELFTES OPFER GEWESEN SEIN, verkündete die Schlagzeile. Und darunter: Polizeisprecher: »Wir sind uns zu 90 Prozent sicher.«

Auf dem Zeitungsfoto sah Marjorie Duvall viel hübscher aus: Es war eine Atelieraufnahme, die sie in klassischer Pose in einem schulterfreien schwarzen Chiffonabendkleid zeigte. Sie trug das Haar offen und war auf diesem Bild viel heller blond. Darcy fragte sich, ob ihr Ehemann dieses Foto zur Verfügung gestellt hatte. Sie vermutete, dass er es getan hatte. Sie vermutete, es habe im Haus 17 Honey Lane auf dem Kaminsims gestanden oder in der Diele gehangen. Die attraktive Dame des Hauses, die die Gäste mit ihrem ewigen Lächeln begrüßte.

Gentlemen bevorzugen Blondinen, weil sie nicht warten wollen, bis sie schwarz werden.

Eine von Bobs Redensarten. Diese hatte sie nie sehr gemocht, und sie hasste es, sie jetzt im Kopf zu haben.

Marjorie Duvall war sechs Meilen von ihrem Haus in South Gansett entfernt in einer Schlucht knapp jenseits der Stadtgrenze von North Conway aufgefunden worden. Der County Sheriff spekulierte, der Tod sei wahrscheinlich durch Erwürgen eingetreten, aber das könne er nicht mit Bestimmtheit sagen; diese Feststellung sei Sache des Leichenbeschauers

Das ergab eine natürliche Überleitung zu einer vollständigen Aufzählung der bisherigen Morde. Der erste hatte sich im Jahr 1977 ereignet. Im Jahr 1978 hatte es zwei gegeben, einen weiteren 1980 und zwei weitere 1981. Zwei der Morde waren in New Hampshire verübt worden, zwei in Massachusetts, der fünfte und sechste in Vermont. Danach war eine Pause von sechzehn Jahren eingetreten. Die Polizei vermutete, dass eines von drei Ereignisse eingetreten war: Beadie war innerhalb Amerikas umgezogen und ging seinem Hobby nun andernorts nach, Beadie war wegen einer anderen Straftat verurteilt worden und saß im Gefängnis, oder Beadie hatte Selbstmord verübt. Wie ein Psychiater ausführte, den der Reporter für seine Story befragt hatte, sei als Einziges nicht wahrscheinlich, dass Beadie seiner Verbrechen überdrüssig geworden sei. »Solche Kerle langweilen sich nicht«, sagte der Psychiater. »Das ist ihr Sport, ein für sie unwiderstehlicher Drang. Mehr noch, es ist ihr geheimes Leben.«

Ihr geheimes Leben. Was für ein vergiftetes Bonbon dieser Ausdruck war.

Beadies sechstes Opfer war eine Frau aus Barre gewesen, die der Fahrer eines Schneepflugs in der Woche vor Weihnachten in einer Schneewehe entdeckt hatte. Was für ein Weihnachten das für ihre Angehörigen gewesen sein muss, dachte Darcy. Nicht dass ihr eigenes Weihnachten in jenem Jahr viel erfreulicher gewesen wäre. Sie hatte schrecklich

Dann war Bob Anderson mit einem Lächeln auf den Lippen in ihr Leben getreten - Bob, der sie zum Mitkommen eingeladen und sich nicht hatte abwimmeln lassen. Das musste kein Vierteljahr nach dem Tag gewesen sein, an dem der Schneepflugfahrer das letzte Opfer aus Beadies »erstem Zyklus« entdeckt hatte. Sie hatten sich verliebt. Und Beadie hatte sechzehn Jahre lang nicht mehr gemordet.

Ihretwegen? Weil er sie liebte? Weil er aufhören wollte, gaaanz schlimme Dinge zu tun?

Oder nur ein Zufall? Auch das wäre denkbar.

Netter Versuch, aber die Plastikkarten, die sie in der Garage versteckt gefunden hatte, machten die Vorstellung, alles könnte ein Zufall gewesen sein, weit weniger wahrscheinlich.

Beadies siebtes Opfer, das erste aus seinem »neuen Zyklus«, wie die Zeitung schrieb, war Stacey Moore gewesen, eine Frau aus Waterville, Maine. Ihr Mann hatte sie in ihrem Keller aufgefunden, als er aus Boston zurückgekommen war, wo er sich mit Freunden ein paar Spiele der Red Sox angesehen hatte. Das war im August 1997 gewesen. Ihr Kopf hatte in einem Kasten mit Zuckermais gesteckt, den die Moores an der Route 106 frisch von der Farm verkauften.

Zwei Tage später waren Stacey Moores Führerschein und ihre Blue-Cross-Karte von einem Gummiband zusammengehalten in Augusta eingetroffen - in Druckschrift an BLÖDMANN JUSTIZMINNISTER ABT. KRINIMAL-ERMITTLUNGEN adressiert. Beigelegt war eine Mitteilung: HALLO! BIN WIEDER DA! BEADIE!

Diese Sendung erkannten die auf den Fall Moore angesetzten Kriminalbeamten sofort wieder. Ähnliche gestohlene Ausweiskarten - und ähnlich gut gelaunte Mitteilungen - waren nach allen bisherigen Morden eingetroffen. Der Täter wusste, wann seine Opfer allein waren. Er folterte sie, vor allem durch Bisse; er vergewaltigte oder missbrauchte sie sexuell; er ermordete sie; er schickte ihre Ausweise einige Wochen oder Monate später an irgendeine Polizeidienststelle. Verspottete sie damit.

Um sicherzustellen, dass die Tat ihm zugeschrieben wird, dachte Darcy bedrückt.

Im Jahr 2004 hatte Beadie einen weiteren Mord verübt, dann seinen neunten und zehnten im Jahr 2007. Diese beiden waren die scheußlichsten gewesen, weil eines der Opfer ein Kind gewesen war. Der zehnjährige Sohn der Frau war wegen Magenschmerzen aus der Schule heimgeschickt worden und hatte Beadie offenbar bei der Arbeit überrascht. Die Leiche des Jungen war mit der seiner Mutter in einem Bach aufgefunden worden. Als die Ausweise der Frau - zwei Kreditkarten und ein Führerschein - bei der Massachusetts State Police eingegangen waren, hatte auf der beigelegten Karte gestanden: HALLO! DER JUNGE WAR EIN UNFALL! SORRY! ABER ES IST SCHNELL GEGANGEN, ER MUSSTE NICHT »LEIDEN«! BEADIE!

Es gab viele weitere Artikel, die sie hätte aufrufen können (o allmächtiges Google), aber zu welchem Zweck? Der süße Traum von einem weiteren gewöhnlichen Abend in einem gewöhnlichen Leben war in einem Albtraum untergegangen. Würde er sich vertreiben lassen, indem sie mehr über Beadie las? Die Antwort darauf lag auf der Hand.

Ihre Magennerven verkrampften sich. Sie rannte ins Bad - in dem es trotz des Ventilators noch immer schlecht roch; meistens konnte man ignorieren, was für eine übelriechende Sache das Leben war, aber eben nicht immer -, sank vor dem WC auf die Knie und starrte mit offenem Mund in das blau gefärbte Wasser. Einen Augenblick lang glaubte sie, sich doch nicht übergeben zu müssen, dann dachte sie an Stacey Moore, deren Kopf mit schwarz angelaufenem Gesicht im Mais steckte und deren Gesäßbacken mit angetrocknetem Blut von der Farbe von Schokoladenmilch bedeckt waren. Das gab ihr den Rest. Sie übergab sich zweimal so heftig, dass ihr Gesicht Spritzer des blauen Desinfektionsmittels Ty-D-Bol und von ihrem eigenen Erbrochenen abbekam.

Weinend und keuchend, betätigte sie die Klospülung. Das WC würde geputzt werden müssen, aber vorerst schloss sie nur den Deckel und legte ihre heiße Wange auf den kühlen beigefarbenen Kunststoff.

Was soll ich nur tun?

Der naheliegende erste Schritt wäre ein Anruf bei der Polizei gewesen, aber was war, wenn sich nach diesem Anruf alles als Irrtum herausstellte? Bob war immer der großzügigste und am wenigsten nachtragende aller Männer gewesen - als sie mit ihrem alten Van einen Baum am Rand des Parkplatzes vor der Post gerammt hatte, so dass die Windschutzscheibe zersplittert war, hatte er nur besorgt gefragt, ob sie Schnittwunden im Gesicht habe -, aber würde er ihr verzeihen, dass sie ihm elf grausame Morde zutraute, die er

Darcy raffte sich auf, nahm die Klobürste aus dem Ständer und machte das WC sauber. Sie arbeitete langsam. Ihr Rücken schmerzte. Anscheinend hatte sie sich so heftig übergeben, dass sie sich eine Muskelzerrung zugezogen hatte.

Während sie arbeitete, traf die nächste Erkenntnis sie wie ein Keulenschlag. Nicht nur Bob und sie würden in Pressespekulationen und den schmutzigen Spülzyklus von 24-stündigen Kabelnachrichten hineingezogen werden; sie musste auch an die Kinder denken. Donnie und sein Freund Ken hatten eben die ersten Kunden gewonnen, aber die Bank und der Autohändler auf der Suche nach neuen Ideen würden binnen drei Stunden abspringen, wenn diese Scheißebombe platzte. Die Firma Anderson & Hayward, die heute ihren ersten richtigen Atemzug getan hatte, würde morgen tot sein. Darcy wusste nicht, wie viel Ken Hayward investiert hatte, aber Donnie hatte alles eingebracht, was er besaß. Das war zwar nicht allzu viel Kapital, aber man investierte auch andere Dinge, wenn man die eigene Lebensreise begann. Sein Herz, seinen Verstand, sein ganzes Selbstwertgefühl.

Außerdem gab es Petra und Michael, die vielleicht in diesem Augenblick die Köpfe zusammensteckten und weitere Heiratspläne schmiedeten, ohne zu ahnen, dass ein Zweitonnengeldschrank an einem stark ausgefransten Seil über ihnen hing. Pets hatte ihren Vater immer vergöttert. Was würde sie tun, wenn sie erfuhr, dass die Hände, die sie früher auf der Gartenschaukel angestoßen hatten, elf Frauen erwürgt hatten? Dass sich unter den Lippen, die ihr Gutenachtküsse gegeben hatten, Zähne verbargen, die elf Frauen gebissen hatten, in einigen Fällen bis auf die Knochen?

Als Darcy wieder am Computer saß, stieg vor ihrem inneren Auge eine schreckliche Schlagzeile auf. Darunter war ein Foto abgebildet, das Bob mit seinem Halstuch, absurden Khakishorts und braunen Kniestrümpfen zeigte. Die Schlagzeile war so deutlich, als wäre sie schon gedruckt:

MASSENMÖRDER »BEADIE«

17 JAHRE LANG PFADFINDERFÜHRER

Darcy schlug sich eine Hand vor den Mund. Sie konnte spüren, wie ihre Augen in den Höhlen pulsierten. Sie dachte an Selbstmord, und einige Augenblicke lang (die ihr endlos vorkamen) erschien ihr diese Idee völlig rational, die einzig vernünftige Lösung. Sie konnte in einem Abschiedsbrief behaupten, sie habe gefürchtet, Krebs zu haben. Oder früh einsetzende Alzheimer-Krankheit, das war noch besser. Nur warfen auch Selbstmorde tiefe Schatten über eine Familie - und was war, wenn sie sich geirrt hatte? Wenn Bob die drei Ausweiskarten irgendwo am Straßenrand gefunden hatte?

Weißt du, wie unwahrscheinlich das ist?, höhnte die Clevere Darcy.

Okay, ja, aber unwahrscheinlich war nicht das Gleiche wie unmöglich, oder? Und es gab noch etwas, was den Käfig, in dem sie steckte, endgültig ausbruchssicher machte: Was war, wenn sie recht hatte? Würde ihr Selbstmord Bob nicht die Möglichkeit geben, noch mehr zu morden, weil er dann kein Doppelleben mehr würde führen müssen? Darcy wusste nicht genau, ob sie an eine bewusste Existenz nach dem Tod glaubte, aber wenn es eine gab? Und wenn dort nicht elysisches Grün und Flüsse, in denen Milch und Honig floss, auf sie warteten, sondern ein gespenstisches Empfangskomitee aus erwürgten Frauen mit Bissspuren von Bobs Zähnen, die ihr alle vorwarfen, an ihrem Tod

Sie dachte: Ich wollte, ich wäre tot.

Aber das war sie nicht.

Zum ersten Mal seit Jahren glitt Darcy Madsen Anderson von ihrem Stuhl auf die Knie und begann zu beten. Das half nichts. Sie blieb im Haus ganz allein.


7

Sie hatte nie Tagebuch geführt, aber in ihrem Schreibtisch bewahrte sie noch alle Terminkalender der letzten zehn Jahre auf. Und Bobs Reiseunterlagen, die Jahrzehnte zurückreichten, füllten mehrere Ordner in dem Aktenschrank, der in seinem Büro hier im Haus stand. Als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater (noch dazu mit einer ordnungsgemäß als Firma eingetragenen Nebenbeschäftigung) führte er seine Aufzeichnungen pedantisch genau und nahm jede Möglichkeit, etwas steuerlich abzusetzen, jeden Freibetrag und jeden Cent an Autoabschreibung mit, den er bekommen konnte.

Sie stapelte seine Ordner mit ihren Terminkalendern neben dem Computer. Sie rief nochmals Google auf, zwang sich zu den erforderlichen Recherchen und notierte sich die Namen und den Todeszeitpunkt (manchmal notwendigerweise bloß geschätzt) von Beadies Opfern. Während die Digitaluhr in der Taskleiste ihres Computers lautlos die

Sie hätte zehn Jahre ihres Lebens dafür gegeben, irgendetwas zu finden, was ihn auch nur in einem Fall unwiderlegbar als möglichen Täter eliminierte, aber ihre Terminkalender machten alles noch schlimmer. Kellie Gervais aus Keene, New Hampshire, war am 15. März 2004 im Wald hinter der örtlichen Mülldeponie aufgefunden worden. Seit drei bis fünf Tagen tot, wie der Leichenbeschauer in seinem Bericht festgestellt hatte. In Darcys Terminkalender für 2004 war für den 10. bis 12. März groß eingetragen: Bob bei Fitzwilliam, Brat. George Fitzwilliam war ein reicher Mandant von Benson, Bacon & Anderson. Brat war ihre Abkürzung für Fitzwilliams Wohnort Brattleboro. Von dort aus war Keene, New Hampshire, mit dem Auto leicht zu erreichen.

Helen Shaverstone und ihr Sohn Robert waren am 11. November 2007 am Rand der Kleinstadt Amesbury im Newrie Creek aufgefunden worden. Die beiden hatten ungefähr zwölf Meilen entfernt in Tassel Village gelebt. Auf dem Novemberblatt ihres Terminkalenders für 2007 hatte sie den Zeitraum vom 8. bis 10. November markiert und dazugeschrieben: Bob in Saugus, 2 Nachlassversteigerungen plus Münzauktion Boston. Und erinnerte sie sich nicht, an einem dieser Abende in seinem Motel in Saugus angerufen zu haben, ohne ihn zu erreichen? Hatte sie nicht vermutet, er sei mit irgendeinem Münzhändler beim Abendessen, auf der Jagd nach Schnäppchen oder unter der Dusche? Daran schien sie sich zu erinnern. Aber war er dann an diesem Abend mit dem Auto unterwegs gewesen? War er auf der Rückfahrt von einem Job (eine kleine Auslieferung) in der Kleinstadt Amesbury gewesen? Oder falls er unter der Dusche gestanden hatte, was um Himmels willen hatte er von sich abgespült?

Als die Taskleistenuhr über 23 Uhr hinausging und sich der Mitternacht näherte - der Geisterstunde, in der sich angeblich die Gräber öffneten -, wandte sie sich seinen Reiseunterlagen und -abrechnungen zu. Sie arbeitete sorgfältig und kontrollierte vieles mehrfach. Das Zeug aus den späten Siebzigerjahren war lückenhaft und nicht sehr aussagekräftig - Bob war damals nur ein kleiner Mitarbeiter seiner Firma gewesen -, aber ab den Achtzigerjahren war alles da, und die Übereinstimmungen mit den Beadie-Morden der Jahre 1980 und 1981 waren eindeutig und unwiderlegbar. Er war zur passenden Zeit in den richtigen Gebieten unterwegs gewesen. Und wenn man in jemands Haus genügend Katzenhaare fand, argumentierte die Clevere Darcy, dann musste man fast zwangsläufig annehmen, dort gebe es irgendwo eine Katze.

Was soll ich jetzt tun?

Die Antwort schien zu lauten: Nimm deinen angstvoll verwirrten Kopf mit nach oben. Sie bezweifelte, dass sie würde schlafen können, aber wenigstens konnte sie heiß duschen und sich dann hinlegen. Sie war erschöpft, hatte Rückenschmerzen, weil sie sich krampfhaft übergeben hatte, und stank nach ihrem eigenen Schweiß.

Sie schaltete den Computer aus und schleppte sich mühsam in den ersten Stock hinauf, wobei sie das Geländer umklammerte, weil sie zu wissen glaubte, dass sie sonst ohnmächtig werden und die Treppe hinunterstürzen würde. Das heiße Wasser linderte ihre Rückenschmerzen, und ein paar Tylenol würden sie bis gegen zwei Uhr vermutlich weiter lindern; sie war davon überzeugt, dass sie dann noch immer wach sein würde. Als sie das Tylenol in den Medizinschrank zurückstellte, nahm sie das Fläschchen mit Ambien heraus, behielt es fast eine Minute lang in der Hand und stellte es dann ebenfalls zurück. Es würde ihr keinen Schlaf bringen, sondern sie nur benommen

Sie legte sich hin und sah zu dem Nachttisch auf der anderen Seite des Betts hinüber. Bobs Wecker. Bobs Ersatzlesebrille. Ein Buch mit dem Titel Die Hütte. Du solltest es auch lesen, Darce, es kann wirklich dazu führen, dass man sein Leben ändert, hatte er zwei oder drei Abende vor dieser letzten Reise gesagt.

Sie knipste ihre Lampe aus, sah Stacey Moore mit gefesselten Händen tot vor dem Maiskasten knien, in dem ihr Kopf steckte, und machte wieder Licht. In den meisten Nächten war das Dunkel ihr Freund - der gütige Vorbote des Schlafs -, aber nicht in dieser Nacht. Heute Nacht war das Dunkel von Bobs unaussprechlichem Harem bevölkert.

Das weißt du doch gar nicht! Merk dir, dass du das absolut nicht weißt.

Aber wenn man genügend Katzenhaare findet …

Jetzt auch Schluss mit den Katzenhaaren.

Sie lag da, sogar noch wacher, als sie zu sein befürchtet hatte, und ihre Gedanken bewegten sich im Kreis, mal dachte sie an die Opfer, mal an ihre Kinder, mal an sich selbst, sogar an eine längst vergessene Geschichte aus der Bibel über Jesus, der im Garten Gethsemane betete. Als sie glaubte, mindestens eine Stunde mit diesem elend sorgenvollen Rundlauf verbracht zu haben, sah sie auf Bobs Wecker, dass nur zwölf Minuten verstrichen waren. Sie richtete sich kurz auf einem Ellbogen auf, um den Wecker von sich weg zum Fenster hinzudrehen.

Er kommt morgen nicht vor sechs Uhr abends nach Hause, dachte sie … obwohl er streng genommen heute Abend heimkam, sagte sie sich, weil es nun schon eine Viertelstunde nach Mitternacht war. Trotzdem blieben ihr so achtzehn Stunden. Bestimmt Zeit genug, um zu irgendeiner Marjorie Duvall oder an Stacey Moore oder (das war am schlimmsten) an Robert Shaverstone, zehn Jahre alt, ER MUSSTE NICHT »LEIDEN«. Und dann war jeglicher Schlaf wieder unmöglich. Ihr kam sogar der Gedanke, sie würde nie mehr wieder schlafen können. Das war natürlich ausgeschlossen, aber als sie so dalag und noch Kotzegeschmack im Mund hatte, obwohl sie mit Scope gegurgelt hatte, erschien ihr das völlig plausibel.

Irgendwann merkte sie, dass sie sich an ein Jahr in früher Kindheit erinnerte, in dem sie auf der Suche nach Spiegeln durchs Haus gestreift war. Sie hatte sich vor ihnen aufgebaut, beide Hände seitlich ans Gesicht gelegt und mit der Nasenspitze das Glas berührt, ohne jedoch zu atmen, damit der Spiegel nicht beschlug.

Wenn ihre Mutter sie so antraf, war sie immer weggeschubst worden. Davon bleibt ein Fleck, den ich wieder wegputzen muss. Warum interessierst du dich überhaupt so für dich selbst? Du wirst niemals wegen Schönheit gehenkt werden. Und wieso stehst du so dicht davor? Aus dieser Nähe kannst du nichts erkennen, was sich zu sehen lohnt.

Wie alt war sie damals gewesen? Vier? Fünf? Zu jung, um zu erklären, dass sie sich ohnehin nicht für ihr Spiegelbild interessierte - jedenfalls nicht in erster Linie. Sie war davon überzeugt gewesen, Spiegel seien Portale in eine andere Welt, und was sie darin sah, sei nicht ihr Wohnzimmer oder Bad, sondern das Wohnzimmer oder Bad irgendeiner anderen Familie. Vielleicht das der Matsons statt dem der Madsens. Weil hinter dem Glas alles ähnlich, aber nicht gleich war; wenn man nur lange genug hineinsah, konnte unheimlichen Grund) in Kirchen, in denen Hochzeiten stattgefunden hatten, Reiskörner auflesen.

Im Lichtkreis ihrer Nachttischlampe dösend, ohne es recht zu merken, vermutete Darcy, dass sie einige Zeit bei einem Kinderpsychiater hätte verbringen müssen, wenn sie imstande gewesen wäre, ihrer Mutter zu erklären, wonach sie Ausschau hielt, und ihr von dem Dunkleren Mädchen erzählt hätte, das nicht ganz sie selbst war. Dabei war es nicht das Mädchen gewesen, das sie interessiert hatte, es war niemals das Mädchen gewesen. Interessiert hatte sie die Vorstellung, hinter den Spiegeln liege eine ganze neue Welt, und wenn man durch dieses andere Haus (das Dunklere Haus) gehen und aus der Tür treten könne, erwarte einen dort der Rest jener Welt.

Natürlich hatte diese Idee sich wieder gegeben, und dank einer neuen Puppe (die sie nach dem Pfannkuchensirup, den sie so liebte, Mrs. Butterworth nannte) und einer neuen Puppenstube war sie zu akzeptableren Kleinmädchenphantasien übergegangen: kochen, putzen, einkaufen, das Baby ausschimpfen, sich zum Abendessen umziehen. Jetzt, nach all den Jahren, hatte sie doch einen Weg durch den Spiegel gefunden. Nur erwartete sie in dem Dunkleren Haus kein kleines Mädchen; stattdessen gab es anscheinend einen Dunkleren Ehemann, der die ganze Zeit hinter dem Spiegel gelebt und dort schreckliche Dinge getan hatte.

Ein gutes Stück zu einem fairem Preis, sagte Bob gern - ein Buchhaltermotto, wenn es je eines gegeben hatte.

Aufrecht und die Luft schnüffelnd - eine Antwort auf Na, wie geht’s?, die jeder Junge in jeder Gruppe von Jungpfadfindern, die er jemals auf dem furchterregenden Dead Man’s Trail hinter dem Einkaufszentrum Golden Grove geführt hatte, gut kannte. Eine Antwort, die manche der Jungen zweifellos noch als erwachsene Männer wiederholen würden.

Gentlemen bevorzugen Blondinen, vergiss den nicht. Weil sie nicht warten wollen …

Aber dann überwältigte der Schlaf Darcy, und obwohl diese sanfte Nährmutter sie nicht weit tragen konnte, glätteten die Falten auf ihrer Stirn und in den Winkeln ihrer geröteten, verschwollenen Augen sich etwas. Sie war dem Bewusstsein nahe genug, um sich zu bewegen, als ihr Mann in die Einfahrt abbog, aber nicht genug, um aufzuwachen. Das hätte sie vielleicht getan, wären die Scheinwerferstrahlen des Suburban über die Zimmerdecke gehuscht, aber Bob hatte sie schon eine halbe Straße vorher ausgeschaltet, um sie nicht aufzuwecken.


8

Eine Katze streichelte ihre Wange mit samtweicher Pfote. Ganz leicht, aber sehr nachdrücklich.

Darcy versuchte sie wegzuwischen, aber ihre Hand schien eine halbe Tonne zu wiegen. Und dies war ohnehin nur ein Traum - es musste einer sein, weil sie keine Katze hatten. Gibt es andererseits in einem Haus genügend Katzenhaare, muss es irgendwo eine geben, sagte ihr Verstand, der ums Aufwachen kämpfte, ihr durchaus vernünftig.

Jetzt streichelte die Pfote ihren Pony und die Stirn darunter, und das konnte keine Katze sein, weil Katzen nicht reden konnten.

»Wach auf, Darce. Wach auf, Schatz. Wir müssen miteinander reden.«

Eine Stimme, sanft und wohltuend wie die Berührung. Bobs Stimme. Und keine Katzenpfote, sondern eine Hand. Bobs Hand. Nur konnte das nicht seine sein, weil er in Montp…

Sie riss die Augen auf, und da war er tatsächlich, saß neben ihr auf der Bettkante und streichelte ihr Gesicht und ihr Haar, wie er es manchmal tat, wenn sie gesundheitlich nicht ganz auf dem Posten war. Er trug einen Dreiteiler von Joseph A. Bank (dort kaufte er alle seine Anzüge und nannte das Geschäft - ein weiterer seiner halb amüsanten Ausdrücke - »Joss-Bank«), aber Weste und Hemdkragen waren aufgeknöpft. Sie konnte sehen, dass ein Ende seiner Krawatte wie eine rote Zunge aus seiner Jackentasche ragte. Der Bauch quoll ihm über den Gürtel, und ihr erster zusammenhängender Gedanke war: Du musst wirklich etwas gegen dein Übergewicht tun, Bobby, es ist nicht gut für dein Herz.

»Wa…?« Es kam als fast unverständliches Krächzen heraus.

Er lächelte und streichelte weiter ihr Haar, ihre Wange, ihren Nacken. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal.

»Was machst du hier, Bobby? Es muss schon …« Sie hob den Kopf, um auf seinen Wecker zu sehen, aber das nutzte natürlich nichts. Sie hatte das Zifferblatt zum Fenster hin weggedreht.

Er sah auf seine Armbanduhr. Er hatte gelächelt, während er sie wachgestreichelt hatte, und er lächelte auch jetzt. »Viertel vor drei. Nachdem wir telefoniert haben, habe ich

Seine Hand, die ihr Gesicht streichelte. Diese Berührung war ihr vertraut, selbst der Geruch war vertraut, und sie hatte sein Streicheln immer geliebt. Jetzt tat sie es nicht, und das lag nicht nur an den schrecklichen Entdeckungen dieser Nacht. Wie konnte ihr bisher entgangen sein, wie selbstgefällig besitzergreifend seine Berührung war? Du bist eine alte Hündin, aber du bist meine alte Hündin, schien sie zu sagen. Nur hast du diesmal eine Pfütze gemacht, während ich weg war, und das ist schlimm. Das ist sogar gaaanz schlimm.

Sie schob seine Hand weg und setzte sich auf. »Um Himmels willen, wovon redest du? Du schleichst dich hier rein, du weckst mich auf …«

»Ja, du hast bei Licht geschlafen - das habe ich gleich gesehen, als ich in die Einfahrt eingebogen bin.« Sein Lächeln war nicht im Geringsten schuldbewusst. Auch nicht bedrohlich. Es war das gutmütige Bob-Anderson-Lächeln, das sie fast von Anfang an geliebt hatte. Einen Augenblick lang hing sie der Erinnerung nach, wie sanft er in ihrer Hochzeitsnacht gewesen war, wie er sie nicht gedrängt hatte. Wie er ihr Zeit gelassen hatte, sich an das Neue zu gewöhnen.

Was er auch diesmal tun wird, dachte sie. Und sie wusste, dass ihre Vermutung zutreffen würde.

»Du schläfst sonst nie bei Licht, Darce. Und obwohl du dein Nachthemd anhast, trägst du darunter einen Büstenhalter, was du ebenfalls nie tust. Hast einfach vergessen, ihn auszuziehen, nicht wahr? Armer Schatz. Armes müdes Mädchen.«

Er berührte flüchtig ihre Brust, dann nahm er - Gott sei Dank - die Hand wieder weg.

»Außerdem hast du meinen Wecker umgedreht, um die Uhrzeit nicht sehen zu müssen. Du hast einen Schock erlitten, und ich bin schuld daran. Das tut mir leid, Darce. Aus tiefster Seele leid.«

»Ich habe etwas gegessen, das mir nicht bekommen ist.« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

Er lächelte geduldig. »Du hast mein spezielles Versteck in der Garage gefunden.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Oh, du hast dich bemüht, alles so zu hinterlassen, wie du es vorgefunden hattest, aber ich bin in solchen Dingen sehr penibel, und der kleine Klebstreifen, den ich am oberen Rand der Klappe angebracht hatte, war zerrissen. Das hast du nicht gemerkt, stimmt’s? Wie denn auch? Diese Sorte Klebeband ist fest angedrückt fast unsichtbar. Und die Kassette steht zwei, drei Fingerbreit weiter links, als ich sie abgestellt habe - als ich sie immer hinstelle.«

Er streckte eine Hand aus, um abermals ihre Wange zu streicheln, und zog sie (anscheinend ohne Groll) sofort zurück, als Darcy den Kopf wegdrehte.

»Bobby, ich merke, dass du irgendeine fixe Idee hast, aber ich weiß wirklich nicht, wovon du redest. Vielleicht bist du überarbeitet.«

Er verzog die Lippen zu einer betrübten kleinen Grimasse, und seine Augen wurden tränenfeucht. Unglaublich. Sie musste sich beherrschen, um ihn nicht zu bemitleiden.

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«

Bob seufzte. »Ich hatte auf einer langen Rückfahrt Zeit, über diese Sache nachzudenken, Schatz. Und je länger, je intensiver ich darüber nachgedacht habe, desto klarer ist mir geworden, dass tatsächlich nur eine einzige Frage beantwortet werden muss: WWDT.«

»Ich verstehe nicht …«

»Pst«, sagte er und legte ihr sanft einen Finger auf die Lippen. Sie konnte Seife riechen. Er musste geduscht haben, bevor er das Motel verlassen hatte - etwas, was für Bob typisch war. »Ich werde dir alles erzählen. Ich will dir alles gestehen. Ich glaube, dass ich mir im Innersten stets gewünscht habe, alles zu bekennen.«

Und obwohl sie vielleicht noch Schlimmeres erwartete, war dies das Schrecklichste, zumindest vorerst. »Ich will nichts hören. Ich weiß nicht, welche fixe Idee dich umtreibt, aber ich will nichts davon wissen.«

»In deinem Blick lese ich etwas anderes, Schatz, und ich bin sehr gut darin geworden, die Blicke von Frauen zu deuten. Darin bin ich geradezu Experte. WWDT bedeutet: Was würde Darcy tun? In diesem Fall: Was würde Darcy tun, wenn sie mein spezielles Versteck und den Inhalt meiner speziellen Kassette fände? Ich habe dieses Kästchen übrigens immer geliebt, weil du es mir geschenkt hast.«

Er beugte sich vor und drückte ihr rasch einen Kuss auf die Stirn. Seine Lippen waren feucht. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfüllte diese Berührung ihrer Haut sie mit Abscheu, und ihr kam in den Sinn, dass sie tot sein könnte, bevor die Sonne aufging. Weil tote Frauen nichts ausplauderten. Allerdings, dachte sie, würde er möglichst dafür sorgen, dass ich nicht »leide«.

»Als Erstes habe ich mich gefragt, ob der Name Marjorie Duvall dir etwas sagen würde. Als Antwort auf diese Frage hätte ich mir ein großes altes Nein gewünscht, aber manchmal muss man Realist sein. Du bist nicht der größte Nachrichtenjunkie der Welt, aber ich habe lange genug mit dir zusammengelebt, um zu wissen, dass du die wichtigsten Meldungen im Fernsehen und in der Zeitung verfolgst. Ich habe angenommen, dass du den Namen oder zumindest das Führerscheinfoto erkennen würdest. Außerdem habe ich mich gefragt: Wird sie nicht neugierig sein, wie ich zu diesen Ausweiskarten gekommen bin? Frauen sind immer neugierig. Sieh dir Pandora an.«

Oder Blaubarts Frau, dachte Darcy. Die Frau, die einen Blick in den abgesperrten Raum warf und darin die abgeschlagenen Köpfe aller ihrer Vorgängerinnen entdeckte.

»Bob, ich schwöre dir, dass ich keine Ahnung habe, wovon du re…«

»Also habe ich nach meiner Ankunft als Erstes deinen Computer hochgefahren, Firefox geöffnet - das ist der Browser, den du immer benutzt - und mir den Verlauf angesehen.«

»Den was?«

Er schmunzelte, als wäre ihm eine besonders witzige Pointe gelungen. »Du weißt nicht einmal, was ich meine. Das habe ich mir gedacht, denn bei jeder Kontrolle war immer alles da. Du löschst ihn nie!« Und er schmunzelte erneut, so wie es ein Mann tat, wenn eine Frau eine Eigenschaft bewies, die er besonders liebenswert fand.

Darcy spürte die ersten schwachen Zornregungen. Unter diesen Umständen vielleicht absurd, aber trotzdem deutlich spürbar.

»Du kontrollierst meinen Computer? Du Schnüffler! Dreckiger Schnüffler!«

»Natürlich kontrolliere ich ihn. Ich habe einen sehr bösen Freund, der sehr schlimme Dinge tut. Ein Mann in meiner Lage muss auf dem Laufenden bleiben, was seine private Umgebung betrifft. Seit die Kinder aus dem Haus sind, besteht sie nur noch aus dir.«

Ein böser Freund? Ein böser Freund, der schlimme Dinge tat? Ihr schwindelte, aber eines war ihr nur allzu klar: Weiteres Leugnen wäre zwecklos gewesen. Sie wusste Bescheid, und er wusste, dass sie es wusste.

»Du hast dich nicht nur über Marjorie Duvall informiert.« In seiner Stimme hörte sie weder Schuldbewusstsein noch Rechtfertigungsversuche, sondern nur ein grausiges Bedauern darüber, dass es so weit gekommen war. »Du hast dich über alle informiert.« Dann lachte er und sagte: »Hoppla!«

Sie setzte sich auf und lehnte sich ans Kopfende des Betts, wodurch sich der Abstand zu ihm leicht vergrößerte. Das war gut. Abstand war gut. In all diesen Jahren hatte sie Hüfte an Hüfte, Schenkel an Schenkel mit ihm gelegen, aber jetzt war Abstand gut.

»Welcher böse Freund? Von wem redest du überhaupt?«

Er legte den Kopf schräg, Bobs Körpersprache für: Du bist begriffsstutzig, aber auf niedliche Weise. »Brian.«

Anfangs hatte sie keine Ahnung, von wem er sprach, und vermutete, das müsse ein Arbeitskollege sein. Vielleicht ein Komplize? Auf den ersten Blick erschien das kaum wahrscheinlich, denn sie hätte behauptet, Bob habe so wenig Talent dafür, Freunde zu gewinnen, wie sie selbst, aber Männer, die solche Verbrechen begingen, hatten manchmal Komplizen. Schließlich jagten auch Wölfe in Rudeln.

»Brian Delahanty«, sagte er. »Erzähl mir bloß nicht, dass du Brian vergessen hast. Ich habe dir alles über ihn erzählt, nachdem du mir erzählt hast, was Brandolyn zugestoßen ist.«

Ihr stand der Mund offen. »Dein Freund aus der Highschool? Bob, der ist tot! Er ist unter einen Lastwagen geraten, als er einen Baseball fangen wollte, und jetzt ist er tot

»Nun …« Bobs Lächeln wurde zaghaft. »Ja … und nein. Ich habe ihn fast ausschließlich Brian genannt, als ich dir von ihm erzählt habe, aber in der Schule habe ich ihn anders angesprochen, weil er seinen Vornamen gehasst hat. Ich habe ihn mit seinen Anfangsbuchstaben angesprochen. Ich habe ihn BD genannt.«

Sie wollte ihn fragen, was das mit dem bisherigen Thema zu tun habe, aber dann wusste sie es. Natürlich wusste sie das. BD.

Beadie.


9

Er sprach lange, und je länger er sprach, desto mehr steigerte sich ihr Entsetzen. In all diesen Jahren hatte sie mit einem Verrückten zusammengelebt, aber woher hätte sie das wissen sollen? Seine Geistesgestörtheit glich einem unterirdischen See, über dem eine Felsschicht und eine Humusdecke lagen, auf der Blumen wuchsen. Man konnte zwischen den Blumen umherspazieren, ohne jemals zu ahnen, dass die Verrücktheit da war … aber das war sie. Sie war schon immer da gewesen. Bob machte BD (der erst Jahre später, in seinen Mitteilungen an die Polizei, zu Beadie geworden war) für alles verantwortlich, aber Darcy ahnte, dass er das wider besseres Wissen tat; indem er Brian Delahanty alle Schuld zuschob, konnte er seine beiden Leben leichter auseinanderhalten und so die notwendige Maskerade beibehalten.

Zum Beispiel sei es BDs Idee gewesen, Waffen in die Schule mitzunehmen und dort Randale zu machen. Wie fasziniert waren - und sie mit in die Schule zu nehmen. Damals hat es natürlich noch keine Leibesvisitation, keine Metalldetektoren gegeben.

Wir hatten vor, uns im Laborflügel zu verbarrikadieren. Wir würden die Türen mit Ketten sichern, ein paar Leute erschießen - hauptsächlich Lehrer, aber auch ein paar Mitschüler, die wir nicht mochten - und die anderen Schüler dann durch den Notausgang am Ende des Flurs ins Freie treiben. Na ja … die meisten halt. Die Mädchen, die uns hochnäsig behandelt hatten, wollten wir als Geiseln zurückbehalten. Das alles wollten wir natürlich tun - BD wollte es tun -, bevor die Cops eintreffen konnten. Er hat Pläne gezeichnet und hatte eine Liste mit allen erforderlichen Schritten in seinem Geometrieheft. Ich glaube, dass es von ›Feueralarm auslösen, um Verwirrung zu erzeugen‹ insgesamt etwa zwanzig Schritte waren.« Er lachte glucksend. »Und sobald wir alle Zugänge gesichert hatten …«

Er bedachte sie mit leicht verschämtem Lächeln, aber sie glaubte zu wissen, dass er sich vor allem dafür genierte, wie dumm ihr ganzer Plan gewesen war.

»Na, das kannst du dir vermutlich denken. Zwei Teenager mit einem so hohen Hormonspiegel, dass wir geil

Er nickte bedächtig.

»Sie hätten gefickt, um zu leben. Da hatte BD recht.«

Er ging ganz in seiner Erzählung auf. Seine Augen waren von (grotesker, aber echter) Nostalgie getrübt. Wonach? Nach diesen verrückten Jugendträumen? Darcy befürchtete, es könnte tatsächlich so sein.

»Wir hatten auch nicht vor, wie diese Heavy-Metal-Blödmänner in Colorado Selbstmord zu verüben. Niemals! Der Laborflügel war unterkellert, und Brian meinte, dass es dort unten einen Tunnel gab. Er hat gesagt, er würde vom Lagerraum bis zu der alten Feuerwache jenseits der Route 119 führen. Brian hat gesagt, als die Schule in den Fünfzigerjahren nur vom Kindergarten bis zur achten Klasse gereicht hat, hätte dort drüben ein Park gelegen, in dem die Kinder in der Pause gespielt hätten. Der Tunnel wäre gebaut worden, damit sie auf dem Hin- und Rückweg nicht über die Straße mussten.«

Bob lachte, was sie zusammenfahren ließ.

»Ich habe ihm alles geglaubt, aber in Wirklichkeit hat er lauter Scheiß erzählt. Im folgenden Herbst war ich selbst unten, um mich umzusehen. Der Lagerraum war voller Papier und hat nach der Vervielfältigertinte gestunken, die man damals benutzt hat, aber selbst ich konnte keinen Tunnel finden, obwohl ich schon damals sehr gründlich war. Ich weiß nicht, ob er uns beide oder nur sich selbst belügen wollte; ich weiß nur, dass es keinen Tunnel gab. Wir hätten oben festgesessen - und wer weiß, vielleicht hätten wir doch Selbstmord verübt. Was Vierzehnjährige tun werden, weiß man nie, oder? Sie rollen herum wie Bombenblindgänger.«

Aber du bist schon explodiert, dachte sie. Hab ich recht, Bob?

»Vermutlich wären wir ohnehin zu feige dafür gewesen. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hätten wir versucht, die Sache durchzuziehen. BD hat mich ganz aufgeregt gemacht, indem er davon gesprochen hat, wie wir sie erst befummeln und dann dazu zwingen würden, sich gegenseitig auszuziehen …« Er betrachtete sie ernst. »Ja, ich weiß, wie das klingt, bloß pubertäre Wichsphantasien, aber diese Mädchen waren wirklich hochnäsig. Wenn man mit ihnen reden wollte, haben sie gelacht und sind weggegangen. Dann haben sie an der Ecke der Mensa gestanden, die ganze Gänseherde, haben uns angestarrt und noch mehr gelacht. Also konnte man uns eigentlich keinen Vorwurf machen, oder?«

Er betrachtete seine Finger, die rastlos auf seinen Hosenbeinen trommelten, die sich über den Schenkeln spannten, dann sah er wieder zu Darcy auf.

»Verstehen - wirklich begreifen - musst du, wie überzeugend Brian argumentieren konnte. Er war viel schlimmer als ich. Er war echt verrückt. Wir waren sauer auf diese Mädchen, wir waren geil, uns sind alle diese Filme im Kopf herumgegangen … Bonnie und ClydeEasy Rider … Damals war eine Zeit, in der ganz Amerika rebelliert hat, vergiss das nicht, und das Ganze hat dazugehört.«

Das bezweifle ich, dachte sie.

Das Erstaunliche war, wie er es verstand, das alles fast normal klingen zu lassen, so als gehörten Vergewaltigung und Mord zu den sexuellen Phantasien jedes Heranwachsenden. Vermutlich glaubte er das auch, genau wie er an Brian Delahantys angeblichen Fluchttunnel geglaubt hatte. Oder hatte er das nicht getan? Woher sollte sie das wissen? Schließlich hörte sie sich die Erinnerungen eines Wahnsinnigen

»Jedenfalls«, sagte er schulterzuckend, »ist es nie dazu gekommen. Das war der Sommer, in dem Brian hinter einem Baseball her auf die Straße gelaufen ist und überfahren wurde. Nach der Beerdigung hat es bei ihm zu Hause Kaffee und Kuchen gegeben, und seine Mutter hat gesagt, wenn ich wollte, könnte ich in sein Zimmer hinaufgehen und etwas mitnehmen. Gewissermaßen als Andenken. Und ob ich wollte! Worauf du Gift nehmen kannst! Ich habe sein Geometrieheft mitgenommen, damit niemand darin blättern und seinen Plan für die ›Die große Baller- und Fickparty in Castle Rock‹ finden konnte. So hat er sie nämlich genannt.«

Bob lachte wehmütig, dann wurde er wieder ernst.

»Wäre ich ein gläubiger Mensch, würde ich sagen, dass Gott mich vor mir selbst gerettet hat. Und wer weiß, ob es nicht irgendetwas gibt … irgendein Schicksal … das seinen eigenen Plan für uns hat?«

»Und dieses Schicksal hätte dich dazu bestimmt, Frauen zu foltern und zu ermorden?«, sagte Darcy. Sie konnte einfach nicht anders.

Er starrte sie vorwurfsvoll an. »Sie waren hochnäsig«, sagte er mit lehrerhaft erhobenem Zeigefinger. »Außerdem war das nicht ich. Es war Beadie, der diese Sachen gemacht hat - und ich sage bewusst gemacht hat, Darce. Ich sage gemacht hat statt macht, weil das nun alles hinter mir liegt.«

»Bob … dein Freund BD ist tot. Er ist seit fast vierzig Jahren tot. Das muss dir doch bewusst sein. Ich meine, auf irgendeiner Ebene musst du es doch wissen.«

Er warf die Hände hoch: eine Geste gutwilliger Kapitulation. »Willst du es Schuldverdrängung nennen? Das würde ein Seelenklempner vermutlich tun, und meinetwegen kannst du das auch tun. Aber hör zu, Darcy!« Er war Brian. Er hat mich … na ja, mit bestimmten Ideen infiziert, sagen wir’s mal so. Von manchen Ideen kann man sich nicht mehr frei machen, sobald man sie im Kopf hat. Man kann …«

»Man bekommt die Zahnpasta nicht wieder in die Tube zurück?«

Er klatschte so laut in die Hände, dass sie fast aufgeschrien hätte. »Ja, genau! Man bekommt die Zahnpasta nicht wieder in die Tube zurück. Brian war tot, aber seine Ideen waren lebendig. Diese Ideen - sich Frauen schnappen, ihnen irgendetwas antun, welche verrückte Idee einem gerade in den Sinn kommt -, sie sind sein Geist geworden.«

Als er das sagte, wanderte sein Blick nach links oben. Darcy hatte irgendwo gelesen, eine solche Mimik bedeute, dass der Betreffende bewusst log. Aber war es wichtig, ob er das tat? Oder wen von ihnen er belog? Wahrscheinlich nicht.

»Ich will nicht ins Detail gehen«, sagte er. »Das ist nichts für ein Sweetheart wie dich, und ob es dir nun gefällt oder nicht - im Augenblick wohl eher nicht -, bleibst du mein Sweetheart. Aber du sollst wissen, dass ich dagegen angekämpft habe. Ich habe sieben Jahre dagegen gekämpft, aber diese Ideen - Brians Ideen - sind immer stärker geworden. Bis ich mir schließlich gesagt habe: ›Ich werde es mal versuchen, nur um es aus dem Kopf zu bekommen. Um ihn aus meinem Kopf zu bekommen. Wenn ich gefasst werde, werde ich eben gefasst - aber ich kann wenigstens aufhören, daran zu denken. Vermutungen darüber anzustellen. Wie es wohl sein würde.‹«

»Du erzählst mir, das sei männlicher Forscherdrang gewesen?«, sagte sie bedrückt.

»Na ja, so könnte man es irgendwie nennen.«

»Oder als ob man einen Joint probiert, nur um zu sehen, was die ganze Aufregung soll.«

Er zuckte bescheiden, jungenhaft mit den Achseln. »Irgendwie.«

»Das war keine Erkundung, Bobby. Das war nicht, als ob man einen Joint versucht. Das war Mord an einer Frau

Sie hatte weder Schuldbewusstsein noch Schamgefühl gesehen, absolut nichts - er schien außerstande zu sein, solche Gefühle zu empfinden, so als wäre der Schalter, der sie kontrollierte, defekt geworden, möglicherweise schon vor der Geburt -, aber jetzt bedachte er sie mit einem schmollenden, gekränkten Blick. Mit dem Du-verstehst-mich-nicht-Blick eines Teenagers.

»Darcy, sie waren hochnäsig

Sie wollte ein Glas Wasser, fürchtete sich aber davor, aufzustehen und ins Bad zu gehen. Sie fürchtete, er würde sie aufhalten, und was würde danach kommen? Was dann?

»Außerdem«, fuhr er fort, »habe ich nicht erwartet, gefasst zu werden. Nicht wenn ich sorgfältig vorging und einen Plan machte. Also keinen unausgereiften, geilen Plan eines Vierzehnjährigen, sondern einen richtigen. Einen realistischen Plan. Und mir ist noch etwas klargeworden: Ich konnte es nicht allein schaffen. Selbst wenn ich es nicht aus Nervosität vermasseln würde, könnte mein schlechtes Gewissen alles verderben. Weil ich einer der guten Kerle war. So habe ich mich gesehen, und ob du’s glaubst oder nicht, so sehe ich mich noch immer. Und das kann ich beweisen, oder nicht? Ein schönes Heim, eine gute Frau, zwei ansehnliche Kinder, die jetzt erwachsen sind und ihr eigenes Leben beginnen. Und ich habe dem Gemeinwesen

Du hättest Marjorie Duvall um eine Blutspende bitten sollen, dachte Darcy. Sie hatte Blutgruppe A positiv.

Dann sagte er, indem er sich wie ein Mann, der seine Argumente mit einem letzten unwiderlegbaren Punkt untermauerte, leicht aufplusterte: »Das steckt auch hinter meiner Arbeit mit den Jungpfadfindern. Du hast geglaubt, ich würde aufhören, als Donnie zu den Pfadfindern gegangen ist. Ich weiß, dass du das geglaubt hast. Aber ich hab’s nicht getan. Weil es mir niemals nur um ihn gegangen ist. Sondern um das Gemeinwesen, dem ich etwas zurückgeben wollte.«

»Dann gib Marjorie Duvall ihr Leben zurück. Oder Stacey Moore. Oder Robert Shaverstone.«

Der letzte Name erreichte sein Ziel; Bob zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. »Der Junge war ein Unfall. Er hätte nicht dort sein sollen.«

»Aber dass du dort warst, war kein Unfall?«

»Das war nicht ich«, sagte er und fügte dann die endgültige surreale Absurdität an: »Ich bin kein Ehebrecher. Das war BD. Es ist immer BD. Es war seine Schuld, dass er mir diese Ideen überhaupt in den Kopf gesetzt hat. Allein wäre ich nie darauf gekommen. Meine Mitteilungen an die Polizei habe ich mit seinem Namen unterzeichnet, nur damit das klar war. Natürlich habe ich die Schreibweise geändert, weil ich ihn einige Male BD genannt habe, als ich dir damals von ihm erzählt habe. Du hättest dich vielleicht nicht daran erinnert, aber ich wusste es natürlich.«

Wie zwanghaft er alles Erdenkliche tat, beeindruckte sie wider Willen. Kein Wunder, dass er nicht geschnappt worden

»Keine von denen hatte irgendetwas mit mir oder mit meinem Beruf zu tun. Auch nicht mit meiner Nebenbeschäftigung. Das wäre sehr schlecht gewesen. Sehr gefährlich. Aber ich reise viel und halte dabei die Augen offen. Das tut auch BD - der BD in meinem Inneren. Wir achten auf die Hochnäsigen. Die sind immer leicht zu erkennen. Sie tragen viel zu kurze Röcke und lassen absichtlich ihre BH-Träger sehen. Sie locken Männer an. Zum Beispiel diese Stacey Moore. Von der hast du bestimmt gelesen. Verheiratet, aber das hat sie nicht daran gehindert, mich mit ihren Möpsen am Arm zu streifen. Sie hat als Serviererin in einem Café gearbeitet - im Sunnyside in Waterville. Da war ich oft bei Mickleson’s Coins, weißt du noch? Du bist sogar ein paarmal mitgefahren, als Pets am Colby war. Das war, bevor George Mickleson gestorben ist und sein Sohn den ganzen Lagerbestand verschleudert hat, um nach Neuseeland oder sonst wohin ziehen zu können. Diese Frau hat mich bedrängt, Darce! Hat ständig gefragt, ob ich noch etwas heißen Kaffee will, wollte meine Meinung zu den Red Sox hören, hat sich über mich gebeugt, ihre Möpse an meiner Schulter gerieben und ihr Bestes getan, um mich aufzugeilen. Was ihr auch gelungen ist, das muss ich zugeben, immerhin bin ich ein Mann mit Männerbedürfnissen, und obwohl du mich nie abgewiesen oder Nein gesagt hast … na ja, selten … bin ich ein Mann mit Männerwünschen und einem schon immer starken Sexualtrieb. Manche Frauen spüren das und spielen gern damit. Das bringt sie zum Orgasmus.«

Er starrte mit dunklen, nachdenklichen Augen in seinen Schoß. Dann schien ihm etwas anderes einzufallen, und er riss den Kopf hoch. Sein schütter werdendes Haar flog auf und legte sich dann wieder.

»Immer mit einem Lächeln! Roter Lippenstift und immer lächelnd! Aber ich kenne dieses Lächeln. Das tun die meisten Männer. ›Haha, ich weiß, dass du’s willst, ich kann es an dir riechen, aber dieses kleine Reiben ist alles, was du kriegst, also find dich damit ab.‹ Ich konnte es! Ich konnte mich damit abfinden! Aber nicht BD, der nicht.«

Er schüttelte langsam den Kopf.

»Solche Frauen gibt es viele. Es ist einfach, ihre Namen zu erfahren. Dann kann man sie im Internet aufspüren. Dort gibt es allerhand Informationen, wenn man sich aufs Suchen versteht, und das tut man in meinem Beruf. Das habe ich … ach, Dutzende von Malen gemacht. Vielleicht schon hundertmal. Man könnte es ein Hobby nennen, glaube ich. Man könnte sagen, dass ich außer Münzen auch Informationen sammle. Meistens wird nichts daraus. Aber manchmal sagt BD: ›Sie ist diejenige, bei der du weitermachen musst, Bobby. Genau diese hier. Wir machen gemeinsam einen Plan, und wenn es so weit ist, überlässt du die Sache einfach mir.‹ Und das tue ich dann.«

Er nahm ihre Hand und umschloss ihre kalten, schlaffen Finger mit seinen.

»Du hältst mich für verrückt. Das sehe ich dir an. Aber das bin ich nicht, Schatz. BD ist verrückt … oder Beadie, wenn dir sein für die Öffentlichkeit bestimmter Name besser gefällt. Wenn du die Zeitungsmeldungen verfolgt hast, weißt du übrigens, dass ich in meine Mitteilungen an die Polizei absichtlich viele Rechtschreibfehler einstreue. Ich schreibe sogar die Adressen falsch. Ich habe eine Liste mit Rechtschreibfehlern in meiner Geldbörse, damit es immer die gleichen sind. So was nennt man Desinformation. Sie sollen Beadie für dumm halten - zumindest für ungebildet -, und genau das tun sie. Weil sie dumm sind. Ich bin nur ein einziges Mal als Zeuge vernommen worden - ungefähr zwei Wochen nachdem BD Stacey Moore umgebracht

Er gluckste lautlos, wie er es manchmal tat, wenn sie sich zusammen Modern Family oder Two and a Half Men ansahen. Bis heute Nacht hatte diese Art zu lachen stets ihre eigene Belustigung gesteigert.

»Soll ich dir was sagen, Darce? Sollte ich auf frischer Tat ertappt werden, würde ich alles gestehen - wenigstens vermute ich das, ich glaube nicht, dass jemand hundertprozentig weiß, was er in einer solchen Situation tun würde -, aber ich könnte kein großes Geständnis ablegen. Weil ich keine allzu genauen Erinnerungen an die wirklichen … nun … Taten habe. Beadie verübt sie, und ich verfalle … ich weiß nicht … in eine Art Bewusstlosigkeit. Eine Art Amnesie. Irgendeine verdammte Sache.«

Lügner! Du erinnerst dich an alles. Das steht in deinem Blick, es liegt sogar in der Art, wie du die Mundwinkel hängen lässt.

»Und jetzt … liegt alles in Darcellens Hand.« Er führte sie an die Lippen und küsste den Handrücken, als wolle er seine Aussage unterstreichen. »Du kennst diese alte Redensart: ›Ich könnte’s dir erzählen, aber dann müsste ich dich kaltmachen‹? Die gilt hier nicht. Ich könnte dich niemals umbringen. Was ich gemacht, was ich aufgebaut habe - so bescheiden es manchen Leuten erscheinen mag -, habe ich für dich gemacht und aufgebaut. Natürlich auch für die Kinder, aber hauptsächlich für dich. Du bist in mein Leben getreten, und weißt du, was daraufhin passiert ist?«

»Du hast aufgehört«, sagte sie.

Er brach in strahlendes Grinsen aus. »Über zwanzig Jahre lang!«

Sechzehn, dachte sie, sagte aber nichts.

»In den meisten dieser Jahre, als wir die Kinder großgezogen und darum gekämpft haben, den Münzhandel zu etablieren - obwohl das hauptsächlich du warst, weil ich ständig in Neuengland unterwegs gewesen bin, um Klienten steuerlich und bei Stiftungsgründungen zu beraten …«

»Der Erfolg war dein Verdienst«, sagte sie und war leicht schockiert darüber, was sie in ihrer Stimme hörte: Ruhe und Wärme. »Du hattest das nötige Fachwissen.«

Er wirkte fast wieder zu Tränen gerührt, und als er weitersprach, klang seine Stimme heiser. »Danke, Schatz. Es bedeutet mir unendlich viel, dich das sagen zu hören. Du hast mich gerettet, ehrlich. Und zwar in mehr als einer Beziehung.«

Er räusperte sich.

»Ein Dutzend Jahre lang hat BD keinen Muckser getan. Ich dachte, er wäre fort. Ich hab das wirklich geglaubt. Aber dann ist er zurückgekommen. Wie ein Geist.« Bob schien darüber nachzudenken, dann nickte er bedächtig. »Genau das ist er. Ein Geist, ein böser Geist. Er hat angefangen, mich auf Frauen aufmerksam zu machen, wenn ich auf Reisen war. ›Sieh dir bloß mal die an, die will, dass du ihre Brustwarzen siehst, aber würdest du eine berühren, würde sie die Polizei rufen und dann mit ihren Freundinnen lachen, wenn du abgeführt wirst. Oder sieh dir die an, wie sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen fährt; sie auch, dass du dir wünschst, sie würde sie in deinen Mund stecken, und auch, dass du weißt, dass sie das nie tun wird. Und sieh dir die an, die ihren Slip blitzen lässt, wenn sie aus dem Auto steigt, und wenn du das für Zufall hältst, bist du ein Idiot. Die ist nur noch so ein hochnäsiges Weibsbild, das sich sicher ist, niemals zu kriegen, was es verdient.‹«

Er hielt inne und starrte wieder düster und bedrückt vor sich hin. In seinem Blick lag der Bobby, der sich siebenundzwanzig

»Als dieser Drang zurückgekehrt ist, habe ich dagegen angekämpft. Es gibt da so Zeitschriften … bestimmte Magazine … ich habe vor unserer Ehe mal welche gekauft, und ich dachte, wenn ich das wieder tue … oder bestimmte Internetseiten … ich dachte, ich könnte … ich weiß nicht recht … die Realität durch Phantasie ersetzen, könnte man vielleicht sagen … aber sobald man das Original kennt, ist die Phantasie nichts mehr wert.«

Er redete, fand Darcy, wie ein Mann, der eine teure Delikatesse lieben gelernt hatte. Kaviar. Trüffeln. Belgische Pralinen.

»Aber das Entscheidende ist, dass ich aufgehört habe. In all diesen Jahren hatte ich aufgehört. Und ich könnte es wieder schaffen, Darcy. Dieses Mal endgültig. Wenn es eine Chance für uns gibt. Wenn du mir verzeihen und einfach eine neue Seite aufschlagen könntest.« Er sah sie mit feuchten Augen ernst an. »Ist es denn denkbar, dass du das könntest?«

Sie dachte an die in einer Schneewehe verscharrte Frau, deren nackte Beine ein achtlos vorbeifahrender Schneepflug freigelegt hatte - die Tochter irgendeiner Mutter, einst der Liebling irgendeines Vaters, als sie in einem rosa Tutu unbeholfen über eine Grundschulbühne getanzt war. Sie dachte an die in einem eiskalten Bach aufgefundene Mutter mit ihrem Sohn, deren Haar sich in dem eisrandigen schwarzen Wasser kräuselte. Sie dachte an die Frau mit dem Kopf im Mais und hinter dem Rücken gefesselten Händen.

»Darüber müsste ich erst nachdenken«, sagte sie sehr vorsichtig.

Er fasste sie an den Oberarmen und beugte sich ihr entgegen. Sie musste sich dazu zwingen, seinen Blick zu erwidern Vielleicht ist an dieser Geistersache doch was dran, dachte sie.

»Das hier ist keiner dieser Filme, in denen ein verrückter Ehemann seine kreischende Frau durchs ganze Haus jagt. Wenn du beschließt, zur Polizei zu gehen und mich anzuzeigen, rühre ich keinen Finger, um dich daran zu hindern. Aber ich weiß, dass du dir überlegt hast, was das für die Kinder bedeuten würde. Du wärst nicht die Frau, die ich geheiratet habe, wenn du darüber nicht nachgedacht hättest. Aber vielleicht hast du nicht genug darüber nachgedacht, was das für dich bedeuten würde. Niemand würde dir abnehmen, dass du all diese Jahre mit mir verheiratet warst, ohne das Geringste zu wissen … oder wenigstens zu ahnen. Du würdest wegziehen und von unseren wenigen Ersparnissen leben müssen, weil ich immer der Alleinverdiener war, was man hinter Gittern schlecht sein kann. Vielleicht würden die Schadenersatzklagen die Ersparnisse sogar auffressen. Und die Kinder müssten …«

»Schluss damit, lass sie aus dem Spiel, wenn du von dieser Sache redest, tu das nie wieder

Er nickte demütig, hielt sie aber weiter leicht an den Oberarmen gefasst. »Ich habe BD schon mal besiegt … ich habe ihn zwanzig Jahre lang besiegt …«

Sechzehn, dachte sie wieder. Sechzehn, das weißt du genau.

»… und ich kann ihn wieder besiegen. Mit deiner Hilfe, Darce. Mit deiner Hilfe kann ich alles schaffen. Und was wäre, wenn er in zwanzig Jahren zurückkäme? Na und? Dann wäre ich dreiundsiebzig. Schwierig, Jagd auf hochnäsige Weiber zu machen, wenn man mit einem Gehwägelchen umherschlurft.« Er lachte herzhaft über diese absurde Vorstellung, dann wurde er wieder ernst. »Aber - hör mir jetzt gut zu - wenn ich jemals rückfällig würde, auch nur ein einziges Mal, dann würde ich Selbstmord verüben. Die Stigma … leiden müssen, weil ich dafür sorgen würde, dass alles wie ein Unfall aussieht … aber du würdest es wissen. Und du würdest wissen, weshalb. Was sagst du also? Können wir das alles hinter uns lassen?«

Sie schien darüber nachzudenken. Sie überlegte tatsächlich, obwohl die Denkprozesse, zu denen sie jetzt imstande war, vermutlich in keine Richtung gingen, die er ohne weiteres verstanden hätte.

In Wirklichkeit dachte sie: Das ist das Gleiche, was Drogensüchtige sagen. »Ich nehme dieses Zeug nie wieder. Ich habe schon mal damit aufgehört, und diesmal höre ich endgültig auf. Das ist mein Ernst!« Aber sie meinen es nicht ernst, auch wenn sie glauben, dass sie es ernst meinen, tun sie’s nicht, und er tut es auch nicht.

In Wirklichkeit dachte sie: Was soll ich nur tun? Täuschen kann ich ihn nicht; dazu sind wir zu lange verheiratet.

Darauf antwortete eine kalte Stimme, die sie niemals in ihrem Inneren vermutet hätte - vielleicht mit der BD-Stimme verwandt, die Bob flüsternd auf die hochnäsigen Weibsbilder aufmerksam machte, die er in Restaurants, an Straßenecken lachen, teure Sportwagen mit offenem Verdeck fahren, auf den Balkonen von Apartmentgebäuden miteinander flüstern und lächeln sah.

Möglicherweise war es auch die Stimme des Dunkleren Mädchens.

Wieso nicht?, fragte die Stimme. Schließlich hat er auch dich reingelegt.

Und was dann? Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass jetzt jetzt war - und jetzt bewältigt werden musste.

»Du müsstest versprechen, damit aufzuhören«, sagte sie sehr langsam und widerstrebend. »Dein feierlichstes Versprechen ablegen, das du niemals brechen würdest.«

Die auf seinem Gesicht erscheinende Erleichterung war so total - so jungenhaft irgendwie -, dass sie gerührt war. Er hatte in der letzen Zeit nur selten so wie der Junge ausgesehen, der er einst gewesen war. Aber natürlich war das auch der Junge gewesen, der damals mit Waffen in die Schule hatte gehen wollen. »Das täte ich, Darce. Das tue ich. Ich versprech’s dir. Wie ich dir schon gesagt habe.«

»Und wir könnten nie wieder über diese Sache reden.«

»Das verstehe ich.«

»Und du darfst Marjorie Duvalls Ausweiskarten nicht der Polizei schicken.«

Sie sah sein enttäuschtes Gesicht (ebenfalls unheimlich jungenhaft), als sie das sagte, aber sie würde darauf beharren. Er musste das Gefühl haben, bestraft worden zu sein, wenn auch nur ein wenig. So würde er glauben, sie überzeugt zu haben.

Tut er das? Oh, Darcellen, tut er das?

»Ich brauche mehr als nur Versprechungen, Bobby. Taten sprechen lauter als Worte. Ich will, dass du die Ausweiskarten der Frau irgendwo im Wald vergräbst.«

»Und sobald ich das getan habe, sind wir …«

Sie streckte den Arm aus und hielt ihm den Mund mit der Hand zu. Sie bemühte sich, streng zu sprechen. »Still! Kein Wort mehr.«

»Okay. Danke, Darcy. Innigen Dank.«

»Ich weiß nicht, wofür du dich bedankst. Nichts ist passiert, außer dass du diesmal früher heimgekommen bist.« Und obwohl die Vorstellung, ihn neben sich liegen zu haben, sie mit Abscheu und Entsetzen erfüllte, zwang sie sich dazu, den Rest zu sagen.

»Jetzt zieh dich aus und komm ins Bett. Wir brauchen beide etwas Schlaf.«


10

Er war praktisch in dem Augenblick weg, in dem sein Kopf das Kissen berührte, aber lange nachdem sein leises, zurückhaltendes Schnarchen eingesetzt hatte, lag Darcy noch wach, weil sie befürchtete, von seinen Händen um den Hals aufzuwachen, wenn sie zuließ, dass sie eindöste. Schließlich teilte sie sich das Bett mit einem Wahnsinnigen. Wenn er sie mit dazunahm, hatte er genau ein Dutzend Morde verübt.

Aber er meint es ernst, dachte sie. Das war um die Zeit, als der Himmel im Osten hell zu werden begann. Er hat gesagt, dass er mich liebt, und meinte es ernst. Und als ich versprochen habe, sein Geheimnis zu bewahren - darum geht’s nämlich, sein Geheimnis soll bewahrt werden -, hat er mir geglaubt. Wieso auch nicht? Ich hab es beinahe selbst geglaubt.

War es nicht vorstellbar, dass er sein Versprechen halten würde? Schließlich misslang es nicht allen Drogenabhängigen, clean zu werden. Und war es nicht möglich, sein Geheimnis vor den Kindern zu bewahren, wenn sie es schon nicht für sich behalten konnte?

Das kann ich nicht. Das will ich nicht. Aber welche Wahl bleibt mir denn?

Welche gottverdammte Wahl?

Während sie über diese Frage nachdachte, gab ihr verwirrter, übermüdeter Verstand endlich auf, und sie schlief ein.

Sie träumte davon, ins Esszimmer zu kommen, in dem auf dem langen Ethan-Allen-Tisch eine Frau angekettet war. Die Frau war bis auf eine schwarze Lederkapuze, die ihre obere Kopfhälfte bedeckte, nackt. Ich kenne diese Frau nicht, diese Frau ist eine Fremde, dachte sie im Traum, und dann fragte Petra unter der Kapuze hervor: »Mama, bist du’s?«

Darcy wollte schreien, aber in Albträumen kann man das manchmal nicht.


11

Als sie mühsam zu sich kam - mit Kopfschmerzen, elend, irgendwie verkatert -, war die andere Betthälfte leer. Bob hatte seinen Wecker wieder umgedreht, und sie sah, dass es Viertel nach zehn war. So lange hatte sie seit Jahren nicht mehr geschlafen, aber sie war natürlich auch erst in der Dämmerung eingedöst, und ihr unruhiger, oft unterbrochener Schlaf war mit Schrecken bevölkert gewesen.

Sie ging auf die Toilette, nahm ihren Hausmantel vom Haken an der Badezimmertür und putzte sich dann die Zähne. Sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. Wie der Boden eines Vogelkäfigs, hatte Bob an den seltenen Morgen gesagt, nachdem er beim Abendessen ein zusätzliches Glas Wein oder bei einem Baseballspiel eine zweite Flasche Bier getrunken hatte. Sie spuckte aus, wollte ihre Zahnbürste schon ins Glas zurückstellen, erstarrte in der Bewegung und betrachtete ihr Spiegelbild. Heute Morgen sah sie eine Frau in mittleren Jahren, die alt aussah: fahle Haut, tiefe Falten auf beiden Seiten des Mundes, dunkle Ringe unter den Augen, das völlig zerzauste Haar, das man nur bekam, wenn man sich ruhelos im Bett wälzte. Aber das alles interessierte sie nur am Rande; ihr Aussehen beschäftigte sie am wenigsten. Sie spähte über die Schulter ihres Spiegelbilds und durch die offene Badezimmertür in ihr Schlafzimmer. Nur war es nicht ihr eigenes; es war das Dunklere Schlafzimmer. Sie konnte seine Pantoffeln sehen, die aber nicht seine waren. Sie waren eindeutig zu groß für Bob, fast die eines Riesen. Und das Doppelbett mit den verknitterten

Darcy beugte sich nach vorn, bis sie mit der Nasenspitze das Glas berührte. Sie hielt den Atem an und legte beide Hände seitlich ans Gesicht, wie sie es als Mädchen in grasfleckigen Shorts und rutschenden weißen Socken getan hatte. Sie sah in den Spiegel, bis sie die Luft nicht länger anhalten konnte, und atmete schließlich prustend aus, so dass der Spiegel beschlug. Sie wischte ihn mit einem Handtuch ab und ging dann unten, um sich ihrem ersten Tag als Frau des Ungeheuers zu stellen.

Er hatte eine Nachricht für sie unter die Zuckerdose geklemmt.

Darce,

ich werde die Dokumente beseitigen, wie

Du’s verlangt hast. Ich liebe Dich, Schatz.

Bob

Um seinen Namen hatte er ein kleines Valentinsherz gemalt, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sie fühlte eine Woge der Liebe für ihn, sämig und süßlich wie der Duft verwelkender Blumen. Sie hätte am liebsten wie die Klageweiber des Alten Testaments laut geschrien, erstickte diesen Laut aber mit einer Serviette. Der Kühlschrank schaltete sich ein und begann sein herzloses Summen. Wasser tropfte in den Ausguss und zählte die Sekunden auf Geschirr platschend ab. Ihre Zunge füllte ihren Mund wie ein mit Essig getränkter Schwamm aus. Sie spürte, wie die Zeit -

Der Kühlschrank summte, das Wasser tropfte in den Ausguss, und die grausamen ersten Sekunden verstrichen. Dies war das Dunklere Leben, in dem jede Wahrheit rückwärts geschrieben wurde.


12

In den Jahren, in denen Donnie im Cavendish Hardware Team Baseball gespielt hatte, hatte ihr Mann auch die Little League trainiert (ebenfalls mit Vinnie Eschler, diesem Meister polnischer Witze und bärenhaft tollpatschiger Umarmungen), und Darcy wusste noch gut, was Bob zu den Jungen - von denen viele weinten - gesagt hatte, nachdem sie das Endspiel des Jahresturniers im Bezirk 19 verloren hatten. Das musste 1997 gewesen sein, wahrscheinlich nur einen Monat bevor er Stacey Moore ermordete und sie mit dem Kopf voraus in ihren eigenen Maiskasten stopfte. Seine Ansprache vor dieser Horde enttäuscht schniefender Jungen war kurz, klug und (das hatte sie damals gefunden und dachte es heute noch) unglaublich gütig gewesen.

Ich weiß, wie schlecht ihr euch fühlt, Jungs, aber trotzdem geht die Sonne morgen wieder auf. Und wenn sie es tut, dann werdet ihr euch wieder besser fühlen. Wenn sie übermorgen aufgeht, noch ein bisschen besser. Was heute passiert ist, war nur ein Teil eures Lebens, der jetzt vorbei ist. Ein Sieg wäre besser gewesen, aber so oder so ist es vorbei. Das Leben geht weiter.

Wie ihr eigenes nach dem verhängnisvollen Trip in die Garage, um Batterien zu holen. Als Bob nach ihrem ersten langen Tag zu Hause (sie konnte den Gedanken, selbst auszugehen, nicht ertragen, weil sie befürchtete, ihr Wissen müsse in Großbuchstaben auf ihrer Stirn zu lesen sein) aus dem Büro heimkam, sagte er: »Schatz, wegen letzter Nacht …«

»Letzte Nacht ist nichts passiert. Du bist vorzeitig zurückgekommen, das war alles.«

Er senkte auf seine jungenhafte Art den Kopf, und als er ihn langsam wieder hob, leuchtete auf seinem Gesicht ein breites dankbares Lächeln. »Also gut«, sagte er. »Fall abgeschlossen?«

»Zu den Akten gelegt.«

Er breitete die Arme aus. »Gib uns einen Kuss, Schatz.«

Das tat Darcy - und fragte sich dabei, ob er auch die Frauen geküsst hatte.

Gib dir richtig Mühe, lass deine flinke Zunge spielen, dann steche ich nicht zu, glaubte sie ihn sagen zu hören. Leg dein hochnäsiges kleines Herz rein.

Er legte ihr die Hände auf die Schultern und hielt sie auf Armeslänge von sich weg. »Weiter Freunde?«

»Weiter Freunde.«

»Bestimmt?«

»Ja. Ich habe nicht gekocht, will aber auch nicht ausgehen. Hast du nicht Lust, schnell deine Freizeitklamotten anzuziehen und uns eine Pizza zu holen?«

»Klar doch.«

»Und vergiss nicht, dein Prilosec zu nehmen.«

Er strahlte sie an. »Wird gemacht.«

Sie beobachtete, wie er die Treppe hinaufstürmte, und war kurz davor, ihm nachzurufen: Tu das nicht, Bobby, das belastet dein Herz.

Aber nein.

Nein.

Sollte er es doch belasten, so viel er wollte.


13

Die Sonne ging am nächsten Tag auf. Und am übernächsten. Eine Woche verstrich, dann zwei, dann ein Monat. Langsam und allmählich kehrten sie zu ihren alten Gewohnheiten zurück, den kleinen Angewohnheiten einer langen Ehe. Darcy putzte sich die Zähne, während er unter der Dusche stand (und meistens irgendeinen Hit aus den Achtzigern sang - tonartgetreu, aber mit nicht sonderlich melodischer Stimme), aber sie tat es nicht mehr nackt, weil sie sofort nach ihm unter die Dusche gehen wollte; sie duschte jetzt, nachdem er zu B, B & A abgefahren war. Falls ihm diese kleine Veränderung ihres Modus operandi auffiel, äußerte er sich nicht dazu. Sie ging wieder in ihren Literaturzirkel und erklärte den übrigen Ladys und den beiden pensionierten Gentlemen, die ihn bildeten, sie sei nicht ganz gesund gewesen und habe außer ihrer Meinung zur neuen Barbara Kingsolver nicht noch ein Virus weitergeben wollen. Darüber schmunzelten alle höflich. Eine Woche später ging sie wieder in ihren Strickkreis »Die neueste Masche«. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie auf der Rückfahrt von der Post oder dem Lebensmittelgeschäft mit dem Autoradio mitsang. Bob und sie sahen jeden Abend fern - immer Komödien, nie Krimiserien. Er kam jetzt meistens früh nach Hause; seit der Reise nach Montpelier hatte er keine mehr unternommen. Er installierte etwas namens Skype auf seinem PC und sagte, damit könne er Münzsammlungen ebenso leicht begutachten und noch dazu Benzin sparen. Er sagte nicht, dass das auch die Oft, dachte sie, sterben sie erst mit uns.

Tagsüber, während er fort war, stellte sie jetzt nur noch selten den Fernseher an. Ohne ihn war es leichter, dem Kühlschrank zuzuhören und auf das leise Knacken und Knarren zu lauschen, mit dem ihr hübsches Haus in Yarmouth sich auf einen weiteren strengen Winter in Maine einrichtete. Zudem konnte sie besser nachdenken. Und es war leichter, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Er würde es wieder tun. Er würde sich so lange wie irgend möglich beherrschen, das gestand sie ihm gern zu, aber früher oder später würde Beadie die Oberhand gewinnen. Die Ausweiskarten seines nächsten Opfers würde er nicht einschicken, weil er glaubte, sie damit täuschen zu können; andererseits würde er sich nicht viel daraus machen, wenn sie diesen Trick durchschaute. Weil, so würde er argumentieren, sie jetzt darin verwickelt ist. Sie würde zugeben müssen, dass sie es gewusst hat. Das bekämen die Cops aus ihr heraus, auch wenn sie es verheimlichen wollte.

Donnie rief aus Ohio an. Die Agentur lief großartig; sie hatten einen weiteren Kunden: einen Büroartikelhersteller, der vielleicht landesweit expandieren würde. Darcy beglückwünschte ihn (und das tat auch Bob, der unbekümmert zugab, Donnies Chancen auf beruflichen Erfolg in so jungen Jahren falsch eingeschätzt zu haben). Petra rief an,

Wenn ihr Mann seinen Aktenkoffer gepackt hatte und ins Büro gefahren war, ging Darcy in ihrem Haus durch die Zimmer, blieb zwischendurch stehen und sah in die verschiedenen Spiegel. Oft sehr lange. Um die Frau in jener anderen Welt zu fragen, was sie tun solle.

Die Antwort schien zusehends zu lauten, sie werde nichts tun.


14

Zwei Wochen vor Weihnachten kam Bob an einem für die Jahreszeit zu warmen Tag schon am frühen Nachmittag nach Hause und rief laut ihren Namen. Darcy war oben, hatte sich hingelegt und las ein Buch. Sie warf es auf den Nachttisch (neben den Handspiegel, der jetzt ständig dort lag), sprang auf und stürmte den Flur entlang zur Treppe. Ihr erster Gedanke (voller Entsetzen, in das sich Erleichterung mischte) war, dass endlich alles vorbei sei. Er war enttarnt

Nur lag in seiner Stimme keine Angst; was es war, wusste sie schon, bevor er unten an der Treppe stand und zu ihr hochsah. Es war Aufregung. Vielleicht sogar Jubel.

»Bob? Was …«

»Das glaubst du nie!« Sein Mantel stand offen, das Gesicht war bis zur Stirn hinauf gerötet, und das zerzauste schüttere Haar stand nach allen Richtungen ab. Als hätte er auf der Nachhausefahrt alle Autofenster offen gehabt. Weil es draußen so frühlingshaft warm war, traute Darcy ihm das sogar zu.

Sie ging vorsichtig hinunter und blieb auf der untersten Stufe stehen, so dass sie auf gleicher Augenhöhe waren. »Was gibt’s?«

»Ein unglaublicher Glückstreffer! Echt! Hätte ich jemals ein Zeichen dafür gebraucht, dass ich wieder auf dem richtigen Weg bin … dass wir das sind … Mann, dann wär’s das hier!« Er streckte ihr die Hände hin. Beide waren mit den Knöcheln nach oben zu Fäusten geballt. Seine Augen glänzten. Tanzten beinahe. »Welche Hand? Such dir eine aus.«

»Bob, ich habe keine Lust auf Spie…«

»Such dir eine aus!«

Sie deutete auf die rechte Hand, nur um es hinter sich zu haben. Er lachte. »Du hast meine Gedanken gelesen - aber das konntest du ja schon immer, oder?«

Er drehte die Faust um und öffnete sie. Auf der Handfläche lag eine einzelne Münze mit der Rückseite nach oben,

»Großer Gott, Bobby! Woher …? Hast du sie gekauft?« Erst vor kurzem war in Miami eine unzirkulierte Doppelprägung aus dem Jahr 1955 für über achttausend Dollar versteigert worden - ein neuer Rekord. Diese hier war natürlich nicht so gut erhalten, aber kein Münzhändler, der bei Verstand war, hätte sie für weniger als viertausend verkauft.

»Von wegen! Ein paar Kollegen wollten, dass ich mit ins Thairestaurant Eastern Promise gehe, und ich wäre auch fast mitgegangen, aber ich habe an der Abrechnung für die gottverdammten Vision Associates gesessen - du weißt schon, die Privatbank, von der ich dir erzählt habe -, also habe ich Monica zehn Dollar gegeben und sie gebeten, mir vom Subway ein Sandwich und ein Fruitopia zu holen. Als sie damit zurückgekommen ist, war das Wechselgeld in der Tüte. Ich habe sie ausgeleert … und da war er!« Er schnappte sich den Penny aus ihrer Hand, hielt ihn über dem Kopf hoch und lachte zu ihm hinauf.

Sie lachte mit ihm, dann dachte sie (was sie inzwischen oft tat): ER MUSSTE NICHT »LEIDEN«!

»Ist das nicht großartig, Schatz?«

»Ja«, sagte sie. »Ich freue mich für dich.« Und das tat sie wirklich, merkwürdig oder nicht (pervers oder nicht).

Er schloss sie in die Arme. Sie erwiderte seine Umarmung kurz und schob ihn dann sanft von sich fort. »Was hast du damit vor, Bobby? In einen Acrylglas-Würfel eingießen?«

Damit wollte sie ihn necken, das wusste er. Er legte mit dem Zeigefinger wie mit einer Pistole auf sie an und schoss ihr in den Kopf. Was in Ordnung war, denn wer mit einer Fingerpistole erschossen wurde, brauchte nicht zu »leiden«.

Sie lächelte ihn weiter an, aber jetzt sah sie ihn wieder (nach diesem kurzen liebevollen Intermezzo) als das, was er war: der Dunklere Ehemann. Gollum mit seinem Schatz.

»Ganz sicher nicht! Ich fotografiere ihn, hänge das Foto an die Wand und lege den Penny in unser Bankschließfach. Wie würdest du ihn einschätzen - als ›schön‹ oder ›sehr schön‹?«

Sie begutachtete ihn noch einmal und sah dann mit einem bedauernden Lächeln zu ihm auf. »Ich würde gern ›sehr schön‹ sagen, aber …«

»Genau, ich weiß, ich weiß - und eigentlich müsste mir das auch egal sein. Einem geschenkten Gaul soll man nicht

Meine ehrliche Meinung ist, dass du es wieder tun wirst.

»Eindeutig besser als ›sehr gut‹.«

Sein Lächeln verblasste. Einen Augenblick lang befürchtete sie, er habe erraten, was sie dachte, aber das konnte nicht sein; auf dieser Seite des Spiegels verstand auch sie sich darauf, Geheimnisse zu bewahren.

»Es geht ohnehin nicht um die Erhaltung. Das Finden ist wichtig. Nicht beim Händler kaufen oder aus einem Katalog heraussuchen, sondern tatsächlich einen in die Hände bekommen, wenn man es am wenigsten erwartet.«

»Ja, ich weiß.« Sie lächelte. »Wäre mein Dad jetzt hier, würde er eine Flasche Champagner aufmachen.«

»Diese Kleinigkeit erledige ich heute Abend beim Essen«, sagte er. »Aber nicht in Yarmouth. Wir fahren nach Portland. Ins Pearl of the Shore. Was hältst du davon?«

»Ach, Schatz, ich weiß nicht recht …«

Er fasste sie leicht an den Schultern, so wie er es immer tat, wenn sie begreifen sollte, dass etwas wirklich sein Ernst war. »Komm schon … heute Abend ist es so warm, dass du dein schönstes Sommerkleid tragen könntest. Ich hab auf der Rückfahrt den Wetterbericht gehört. Und du bekommst so viel Champagner, wie du willst. Wie konntest du zu diesem Vorschlag Nein sagen?«

»Tja …« Sie überlegte, dann lächelte sie. »Das kann ich wohl nicht.«


15

Sie tranken nicht nur eine sündteure Flasche Moët et Chandon, sondern zwei, und Bob trank das meiste davon. Folglich war es Darcy, die seinen leise summenden kleinen Prius nach Hause lenkte, während Bob auf dem Beifahrersitz saß und - tonartgetreu, aber nicht sonderlich melodisch - »Pennies from Heaven« sang. Sie merkte, dass er betrunken war. Nicht nur angeheitert, sondern tatsächlich betrunken. Es war das erste Mal seit zehn Jahren, dass sie ihn so erlebte. Normalerweise beobachtete er seinen Alkoholkonsum mit Argusaugen, und wenn er manchmal auf Partys gefragt wurde, warum er nichts trinke, antwortete er mit einem Zitat aus dem Westernfilm Der Marshal: »Ich würde keinen Dieb in meinen Mund tun, damit er mir den Verstand stiehlt.« Heute Abend hatte er in seiner Euphorie über den Münzfund zugelassen, dass ihm der Verstand gestohlen wurde, und sobald er die zweite Flasche Schampus bestellte, wusste Darcy, was sie tun würde. Im Restaurant war sie im Zweifel gewesen, ob sie es schaffen würde, aber als sie ihn auf der Heimfahrt singen hörte, war sie sich ihrer Sache sicher. Natürlich konnte sie es schaffen. Sie war jetzt die Dunklere Ehefrau, und die Dunklere Ehefrau wusste, dass sein vermeintliches Glück in Wirklichkeit ihres gewesen war.


16

Im Haus warf er sein Sportsakko über den Garderobenständer in der Diele und zog sie zu einem langen Kuss in die Arme. Sein Atem schmeckte nach Champagner und süßer Crème brulée. An sich keine schlechte Kombination,

»Ich gehe rauf und ziehe dieses Kleid aus«, sagte sie. »Im Kühlschrank steht eine Flasche Perrier. Wenn du mir ein Glas davon bringst - mit einer Scheibe Limone -, könntest du Glück haben, Mister.«

Daraufhin grinste er - sein altes Grinsen, das sie immer so geliebt hatte. Weil es ein lange bestehendes Eheritual gab, das sie seit der Nacht, in der er ihre Entdeckung gewittert hatte (ja, sie gewittert hatte, wie ein schlauer alter Wolf einen vergifteten Köder wittern würde) und eilig aus Montpelier zurückgekommen war, nicht wieder aufgenommen hatten. Tag für Tag hatten sie immer mehr zugemauert, was er war - ja, so gewiss, wie Montrésor seinen alten Freund Fortunato eingemauert hatte -, und Sex im Ehebett würde der letzte Ziegelstein sein.

Er knallte die Hacken zusammen und salutierte auf britische Art: Finger an der Schläfe, Handfläche nach außen gekehrt. »Jawohl, Ma’am.«

»Aber komm bald«, sagte sie freundlich. »Mama will, was Mama braucht.«

Auf dem Weg die Treppe hinauf dachte sie: Das klappt niemals. Es endet nur damit, dass er dich ermordet. Er glaubt vielleicht nicht, dazu imstande zu sein, aber du weißt das natürlich besser.

Aber vielleicht war das dann in Ordnung. Unter der Voraussetzung, dass er sie vorher nicht quälte, wie er diese Frauen gequält hatte. Vielleicht war jede Lösung in Ordnung. Sie konnte den Rest ihres Lebens nicht damit verbringen, in Spiegel zu starren. Sie war kein Kind

Sie ging ins Schlafzimmer, warf dort aber nur ihre Handtasche neben den Handspiegel auf den Nachttisch. Dann ging sie wieder hinaus und rief: »Kommst du, Bobby? Ich könnte wirklich eine Erfrischung brauchen!«

»Kommt sofort, Ma’am, tue nur noch Eis rein!«

Und schon trat er aus dem Wohnzimmer in den Flur hinaus, hielt eines ihrer teuren Kristallgläser wie ein Ober aus einer Komödie in Augenhöhe vor sich hoch und machte sich leicht schwankend auf den Weg zur Treppe. Als er die Stufen heraufkam, hielt er das Glas mit der obenauf schwimmenden Limonenscheibe weiter hoch. Die freie Hand lag locker auf dem Geländer; auf seinem Gesicht leuchteten Glück und Fröhlichkeit. Einen Augenblick lang wäre sie fast schwach geworden, aber dann standen ihr Helen und Robert Shaverstone wieder höllisch klar vor Augen: der Junge und seine gefolterte, sexuell missbrauchte Mutter, die in Massachusetts nebeneinander in einem Bach trieben, der an den Ufern schon Eis anzusetzen begonnen hatte.

»Ein Glas Perrier für die Lady, kommt so…«

Im letzten Moment sah sie das Wissen - etwas Uraltes und Vergilbtes und Unheimliches - in seinen Augen aufblitzen. Das war mehr als nur Überraschung; es war schockierte Wut. In diesem Augenblick verstand sie ihn endlich ganz. Er liebte nichts und niemanden, am wenigsten sie. Jede Freundlichkeit, jede Liebkosung, jedes jungenhafte Grinsen und jede rücksichtsvolle Geste - alles nur Tarnung. Er war eine leere Hülse, die nichts als heulende Leere enthielt.

Sie schubste ihn.

Der Stoß war so kräftig, dass Bob einen Dreiviertelsalto in der Luft machte, bevor er auf die Stufen krachte: erst mit

Darcy lief die Treppe hinunter. Auf halbem Weg trat sie auf einen Eiswürfel, rutschte aus und musste sich am Geländer festklammern. Unten sah sie, dass in seinem Genick eine riesige Beule entstanden war, über der sich die weiß werdende Haut spannte, und sagte: »Nicht bewegen, Bob, ich glaube, du hast dir einen Halswirbel gebrochen.«

Sein Auge rollte nach oben, um sie anzustarren. Aus der Nase, die ebenfalls gebrochen zu sein schien, sickerte Blut, und aus dem Mund kam noch weitaus mehr. Es strömte in einem breiten Schwall heraus. »Du hast mich geschubst«, sagte er undeutlich. »Oh, Darcy, warum hast du mich geschubst?«

»Weiß ich nicht«, sagte sie, obwohl sie dachte: Das wissen wir beide. Sie begann zu weinen. Dass sie weinte, war nur natürlich: Er war ihr Mann, und er war schwer verletzt. »O Gott, ich weiß es nicht. Irgendwas ist über mich gekommen. Tut mir leid. Beweg dich nicht, ich rufe die 911 an, damit sie einen Krankenwagen schicken.«

Sein linker Fuß scharrte über den Boden. »Gelähmt bin ich nicht«, sagte er. »Gott sei Dank nicht. Aber es tut weh

»Ich weiß, Schatz.«

»Ruf den Krankenwagen! Schnell!«

Sie ging in die Küche, sah kurz zu dem Telefon in seiner Ladestation hinüber und öffnete dann den Schrank unter dem Ausguss. »Hallo? Hallo? Ist dort die 911?« Sie griff nach der Schachtel Plastikbeutel - die mit den großen, in denen sie sonst immer die Reste von Roastbeef oder Geflügel aufbewahrte - und zog einen heraus. »Hier ist Darcellen Anderson, ich rufe aus der 24 Sugar Mill Lane in Yarmouth an! Haben Sie das?«

Sie zog eine Schublade auf und nahm ein Geschirrtuch von dem dort liegenden Stapel. Sie weinte noch immer. Sie hat nah am Wasser gebaut, hatte man in ihrer Kindheit von solchen Leuten gesagt. Weinen war gut. Sie musste weinen, und das nicht nur, weil es später besser aussehen würde. Er war ihr Mann, er war verletzt, sie musste weinen. Sie erinnerte sich an früher, als er noch volles Haar gehabt hatte. Sie erinnerte sich an seinen eleganten Breakaway, als sie zu »Footloose« getanzt hatten. Er hatte ihr zu jedem Geburtstag rote Rosen geschenkt. Das hatte er nie vergessen. Sie waren auf den Bermudas gewesen, wo sie vormittags geradelt waren und nachmittags miteinander geschlafen hatten. Sie hatten ein gemeinsames Leben aufgebaut, und nun war dieses Leben vorüber, und sie musste weinen. Sie wickelte sich das Geschirrtuch um die Hand, dann stopfte sie die Hand in den Plastikbeutel.

»Ich brauche einen Krankenwagen. Mein Mann ist die Treppe runtergefallen. Ich befürchte, dass er sich einen Halswirbel gebrochen hat … Ja! Ja! Sofort!«

Dann kam sie mit hinter dem Rücken gehaltener Hand auf den Flur zurück. Sie sah, dass er etwas weiter von der Treppe entfernt lag; er schien auch versucht zu haben, sich auf den Rücken zu wälzen, aber das war ihm nicht gelungen. Sie kniete neben ihm nieder.

»Ich bin nicht gefallen«, sagte er. »Du hast mich geschubst. Warum hast du mich geschubst?«

»Wegen Robert Shaverstone, glaube ich«, sagte Darcy und brachte ihre hinter dem Rücken gehaltene Hand zum Vorschein. Sie weinte jetzt heftiger als je zuvor. Er sah den Plastikbeutel. Er sah die darin steckende Hand mit dem zusammengeknüllten Geschirrtuch. Er begriff, was sie vorhatte. Vielleicht hatte er das selbst schon einmal getan. Das war sogar wahrscheinlich.

Er begann zu kreischen … nur waren seine Schreie keine richtigen Schreie. Sein Mund war voller Blut, und mit dem Kehlkopf schien irgendetwas nicht in Ordnung zu sein, weshalb die Laute, die er hervorbrachte, eher dumpfe Knurrlaute als wirkliche Schreie waren. Sie schob ihm den Plastikbeutel zwischen die Lippen und weiter tief in den Mund. Bei dem Sturz waren einige seiner Zähne abgebrochen, und sie konnte die gezackten Stummel spüren. Falls sie sich daran verletzte, würde das sehr schwierig zu erklären sein.

Sie riss die Hand heraus, bevor er zubeißen konnte, ließ aber den Plastikbeutel mit dem Geschirrtuch zurück. Mit einer Hand packte sie sein Kinn, die andere legte sie auf seinen kahl werdenden Schädel. Das Fleisch dort war sehr warm. Unter der Kopfhaut konnte sie seinen Puls spüren. Sie drückte sein Kinn hoch und sperrte auf diese Weise den Klumpen aus Plastikfolie und Stoff in seinem Mund ein. Er versuchte sie wegzustoßen, aber er hatte nur einen Arm frei, und das war der, den er sich bei dem Sturz mehrfach gebrochen hatte. Der andere lag verdreht unter ihm. Seine Füße zuckten krampfartig über den Hartholzboden. Dabei verlor er einen der Schuhe. Aus seiner Kehle kam ein Gurgeln. Sie schob ihr Kleid bis zur Taille hoch, so dass die Beine frei waren, und machte einen Ausfallschritt nach vorn, um sich rittlings auf ihn zu setzen. Auf diese Weise konnte sie ihm vielleicht die Nase zuhalten.

Bevor sie jedoch dazu kam, erzitterte sein Brustkorb unter ihr, und sein Gurgeln verwandelte sich in tief aus der Kehle kommende Grunzlaute. Die erinnerten sie daran, wie bei ihren ersten Fahrversuchen manchmal das Getriebe geknirscht hatte, wenn sie versucht hatte, den zweiten Gang zu finden, was in dem alten Chevrolet Standard ihres Vaters manchmal nicht einfach gewesen war. Bob bäumte sich auf, und das eine Auge, das sie sehen konnte, trat aus seiner Höhle hervor und wirkte irgendwie kuhartig. Das Gesicht, das zuvor hochrot gewesen war, begann sich nun purpurrot zu verfärben. Er sank wieder zurück. Sie wartete, während sie keuchend nach Atem rang, ihr Gesicht mit Rotz und Tränen verschmiert. Das Auge rollte nicht mehr, glänzte nicht mehr in Panik. Sie glaubt, er sei t…

Bob nahm all seine Kräfte zu einem letzten titanischen aufbäumen zusammen und warf sie ab. Als er sich aufsetzte, sah sie, dass die obere Körperhälfte nicht mehr richtig zur unteren passte; er hatte sich anscheinend nicht nur das Genick, sondern auch das Rückgrat gebrochen. Sein mit dem Plastikbeutel vollgestopfter Mund war weit aufgerissen. Den Blick, mit dem er sie anstarrte, würde sie nie vergessen - aber sie würde damit leben können, wenn sie diese Sache überstand.

»Dar! Arrrrrr!«

Er fiel nach hinten. Der auf den Boden knallende Schädel knackte wie ein Ei, das aufgeschlagen wurde. Darcy kroch näher an ihn heran, aber nicht so dicht, dass sie in die Blutlache geriet. Sie hatte sein Blut an sich, und das war in Ordnung - sie hatte ihm zu helfen versucht, das war nur natürlich -, aber das bedeutete nicht, dass sie darin baden wollte. Sie setzte sich auf eine Hand gestützt auf und beobachtete ihn, während sie darauf wartete, dass sie wieder zu Atem kam. Sie achtete scharf auf jede noch so kleine

Sie gingen eilig in die Küche. Die Ermittler mussten denken, dass sie so rasch wie möglich angerufen hatte; wenn sie sahen, dass es eine Verzögerung gegeben hatte (zum Beispiel daran, dass sein Blut schon zu stark geronnen war), konnte es peinliche Fragen geben. Notfalls sage ich, dass ich ohnmächtig geworden bin, dachte sie. Das werden sie glauben, und selbst wenn sie das nicht tun, können sie es nicht widerlegen. Zumindest glaube ich nicht, dass sie das können.

Sie holte die Stablampe aus dem Besenschrank, genau wie sie es in jener Nacht getan hatte, in der sie buchstäblich über sein Geheimnis gestolpert war. Mit der Lampe ging sie zu Bob zurück, der auf dem Rücken lag und mit glasigen Augen zur Decke hinaufstarrte. Sie zog den Plastikbeutel aus seinem Mund und begutachtete ihn sorgenvoll. Falls er zerrissen war, konnte es Probleme geben - und er wies tatsächlich zwei Risse auf. Sie leuchtete ihm mit der Stablampe in den Mund und entdeckte auf der Zunge ein winziges

Genug, das reicht, Darcellen.

Aber es reichte natürlich nicht. Sie dehnte seine Backen mit den Fingern, erst die rechte, dann die linke. Und auf der linken Seite entdeckte sie einen weiteren winzigen Plastikfetzen, der an seinem Gaumen klebte. Sie holte ihn mit den Fingerspitzen heraus und ließ ihn zu dem anderen in den Beutel fallen. Gab es weitere Stücke? Hatte er welche verschluckt? Dann waren sie für sie unerreichbar, und sie konnte nur hoffen, dass sie nicht entdeckt wurden, falls irgendjemand - wer, wusste sie nicht - genügend Fragen hatte, um eine Autopsie anzuordnen.

Unterdessen verflog die Zeit.

Sie hastete - ohne richtig zu rennen - durch den Verbindungsgang in die Garage. Sie kroch unter die Werkbank, öffnete sein Spezialversteck und verstaute den mit Blut befleckten Plastikbeutel mit dem Geschirrtuch darin. Sie drückte die Verschlussklappe wieder zu, schob den Karton mit den Versandhauskatalogen davor und lief ins Haus zurück. Sie stellte die Stablampe an ihren Platz zurück. Sie griff nach dem Telefon, merkte dann, dass sie nicht mehr weinte, und stellte es in die Ladestation zurück. Sie ging durchs Wohnzimmer zur Treppe und betrachtete ihn. Sie dachte an Rosen, aber das wirkte nicht. Rosen, nicht Patriotismus, sind das letzte Mittel eines Schurken, dachte sie und war schockiert, als sie sich lachen hörte. Dann dachte sie an Donnie und Pets, die ihren Vater vergötterten, und das klappte. Sie ging weinend ans Telefon in der Küche zurück und tippte die Notrufnummer ein. »Hallo, mein Name ist Darcellen Anderson, und ich brauche einen Krankenwagen in der …«

»Bitte etwas langsamer, Ma’am«, sagte die Frau in der Zentrale. »Ich kann Sie kaum verstehen.«

Gut, dachte Darcy.

Sie räusperte sich. »Ist es so besser? Verstehen Sie mich jetzt?«

»Ja, Ma’am, jetzt ist es besser. Nur nicht aufregen. Sie brauchen einen Krankenwagen, haben Sie gesagt?«

»Ja, in der 24 Sugar Mill Lane.«

»Sind Sie verletzt, Mrs. Anderson?«

»Nicht ich, mein Mann. Er ist die Treppe runtergefallen. Vielleicht ist er nur bewusstlos, aber ich befürchte, dass er tot ist.«

Die Frau versprach ihr, sofort einen Krankenwagen zu schicken. Darcy vermutete, dass sie auch einen Streifenwagen aus Yarmouth schicken würde. Und einen der State Police, falls zufällig einer in der Nähe war. Sie hoffte, dass das nicht der Fall war. Sie ging in die Diele zurück und setzte sich auf die dort stehende Bank - aber nicht für lange. Wegen seiner Augen, die sie ansahen. Sie beschuldigten.

Sie nahm sein Sportsakko vom Garderobenständer, wickelte es um sich und ging in die Einfahrt hinaus, um auf den Krankenwagen zu warten.


17

Der Polizeibeamte, der ihre Aussage zu Protokoll nahm, war Harold Shrewsbury, ein Einheimischer. Darcy kannte ihn nicht persönlich, aber zufällig seine Frau: Arlene Shrewsbury war in ihrem Strickkreis. Er sprach in der Küche mit ihr, während das Notarztteam Bob erst untersuchte und dann abtransportierte, ohne sich bewusst zu sein, dass in seinem Inneren noch eine zweite Leiche steckte. Die eines Kerls, der weit gefährlicher gewesen war als Robert Anderson, vereidigter Wirtschaftsprüfer.

»Möchten Sie einen Kaffee, Officer Shrewsbury? Das macht keine Mühe.«

Er betrachtete ihre zitternden Hände und erbot sich, Kaffee für sie beide zu kochen. »Ich kenne mich mit allem Küchenkram aus.«

»Das hat Arlene nie erwähnt«, sagte sie, als er aufstand. Sein Notizbuch blieb aufgeschlagen auf dem Küchentisch liegen. Bisher hatte er außer ihrem Namen, Bobs Namen und ihrer Telefonnummer nichts hineingeschrieben. Das hielt sie für ein gutes Zeichen.

»Nein, sie stellt mein Licht gern unter den Scheffel«, sagte er. »Mrs. Anderson - Darcy -, ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen und bin mir sicher, das auch in Arlenes Namen zu tun.«

Darcy begann wieder zu weinen. Officer Shrewsbury riss mehrere Papierhandtücher von der Rolle und gab sie ihr. »Haltbarer als Kleenex.«

»Darin haben Sie wohl Erfahrung«, sagte sie.

Er sah in der Bunn-Kaffeemaschine nach, stellte fest, dass Pulver eingefüllt war, und schaltete das Gerät ein. »Mehr als mir lieb ist.« Er kam zurück und setzte sich. »Können Sie mir erzählen, was passiert ist? Stehen Sie das durch?«

Sie erzählte ihm, wie Bob im Wechselgeld aus dem Subway einen Weizen-Penny mit dem Doppeldatum gefunden hatte und wie aufgeregt er darüber gewesen war. Von ihrem Dinner zur Feier des Tages im Pearl of the Shore und dass er zu viel getrunken hatte. Wie er den Clown gespielt hatte (sie erwähnte den komischen britischen Gruß, mit dem er ihre Bitte um ein Glas Perrier mit Limone quittiert hatte). Wie er das Glas feierlich wie ein Ober hoch haltend die Treppe heraufgekommen war. Wie er fast oben gewesen war, als er auf der vorletzten Stufe ausrutschte. Sie erzählte sogar, wie sie beinahe selbst auf einem der verstreuten Eiswürfel ausgerutscht sei, als sie zu ihm hinunterrannte.

Officer Shrewsbury kritzelte etwas in sein Notizbuch, klappte es zu und betrachtete sie ruhig. »Okay. Ich nehme Sie jetzt mit. Holen Sie Ihren Mantel.«

»Was? Wohin?«

Natürlich ins Gefängnis. Gehe nicht über Los, kassiere keine zweihundert Dollar, gehe direkt ins Gefängnis. Bob war mit fast einem Dutzend Morde davongekommen - und sie nicht mal mit einem einzigen (allerdings hatte er seine geplant, mit buchhalterischer Akribie geplant). Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte, aber es würde sich zweifellos als etwas ganz Offensichtliches erweisen. Officer Shrewsbury würde es ihr auf der Fahrt zum Polizeirevier erzählen. Das würde dann wie das Schlusskapitel eines Romans von Elizabeth George sein.

»Zu mir nach Hause«, sagte er. »Sie übernachten heute bei Arlene und mir.«

Sie starrte ihn an. »Ich möchte nicht … ich kann nicht …«

»Doch, Sie können«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Arlene würde mich umbringen, wenn ich Sie hier allein zurückließe. Wollen Sie an meiner Ermordung schuld sein?«

Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und lächelte schwach. »Nein, lieber nicht. Aber … Officer Shrewsbury …«

»Harry.«

»Ich muss erst noch telefonieren. Meine Kinder … sie wissen es noch nicht.« Dieser Gedanke brachte erneut Tränen, für die sie das letzte Papierhandtuch verwendete. Wer hätte geahnt, dass jemand so viel weinen konnte? Bisher hatte sie ihren Kaffee nicht angerührt; jetzt trank sie ihn mit drei großen Schlucken halb aus, obwohl er noch heiß war.

»Ich denke, wir können uns ein paar Ferngespräche leisten«, sagte Harry Shrewsbury. »Und noch etwas. Haben Sie irgendwas, was Sie einnehmen können? Sie wissen schon, irgendwas Beruhigendes?«

»Nichts dergleichen«, flüsterte sie. »Nur Ambien.«

»Dann hat Arlene bestimmt eine Valium für Sie«, sagte er. »Am besten nehmen Sie mindestens eine halbe Stunde vor dem ersten stressigen Telefongespräch eine. Ich sage ihr nur kurz Bescheid, dass ich Sie mitbringe.«

Er zog erst eine Küchenschublade, dann eine weitere, dann eine dritte auf. Darcy spürte, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug, als er die vierte Schublade aufzog. Er nahm ein Geschirrtuch heraus und gab es ihr. »Haltbarer als Papierhandtücher.«

»Danke«, sagte sie. »Vielen Dank.«

»Wie lange waren Sie verheiratet, Mrs. Anderson?«

»Siebenundzwanzig Jahre«, sagte sie.

»Siebenundzwanzig«, wiederholte er staunend. »Gott, das tut mir so leid.«

»Mir auch«, sagte sie und vergrub das Gesicht in dem Geschirrtuch.


18

Robert Emory Anderson wurde zwei Tage später auf dem Friedhof von Yarmouth beigesetzt. Donnie und Petra saßen rechts und links neben ihrer Mutter, als der Geistliche über das Thema »Ein jegliches hat seine Zeit« predigte. Das Wetter war trüb und kalt; ein eisiger Wind bewegte die unbelaubten Äste der Friedhofsbäume. B, B&A hatte an diesem Tag geschlossen, und alle waren zur Beerdigung gekommen. Die Wirtschaftsprüfer in ihren schwarzen Mänteln drängten sich wie ein Krähenschwarm zusammen. Unter ihnen gab es keine Frauen. Das war Darcy bisher nie aufgefallen.

In ihren Augen standen Tränen, die sie in regelmäßigen Abständen mit dem Taschentuch in ihrer schwarz behandschuhten Wenn er nur keinen Speck ansetzt wie Bob, dachte sie. Und natürlich keine Frauen umbringt. Aber so etwas war bestimmt nicht vererbbar. Oder doch?

Bald würde alles vorüber sein. Donnie würde nur ein paar Tage bleiben - länger könne er die Werbeagentur in der Aufbauphase nicht allein lassen, wie er sagte. Er hoffte, das werde sie verstehen, und sie sagte, das verstehe sie natürlich. Petra wollte eine Woche bleiben und sagte, sie könne auch länger bleiben, wenn Darcy sie brauche. Darcy versicherte ihr, das sei lieb von ihr, und hoffte insgeheim, dass es bei höchstens fünf Tagen bleiben würde. Sie musste allein sein. Sie musste … nein, eigentlich nicht nachdenken, sondern wieder zu sich finden. Wieder ihren Platz auf der richtigen Seite des Spiegels einnehmen.

Nicht dass irgendwas schiefgegangen wäre, ganz im Gegenteil. Sie bezweifelte, dass die Sache besser hätte klappen können, wenn sie die Ermordung ihres Mannes monatelang geplant hätte. Hätte sie das getan, hätte sie wahrscheinlich alles vermasselt, indem sie das Ganze zu kompliziert geplant hätte. Im Gegensatz zu Bob war Planung nicht ihre Stärke.

Es hatte keine Autopsie, keine bohrenden Fragen gegeben. Ihre Story war unkompliziert, glaubhaft und beinahe ja auch wahr. Ihr wichtigstes Plus war das felsenfeste Fundament, auf dem sie ruhte: Sie hatten fast drei Jahrzehnte lang eine gute Ehe geführt, die nie durch ernsthafte Auseinandersetzungen getrübt worden war. Was gab es da eigentlich noch zu fragen?

Der Geistliche bat die Angehörigen vorzutreten. Das taten sie.

»Ruhe in Frieden, Paps«, sagte Donnie und warf einen Klumpen Erde ins Grab. Der Brocken landete auf dem glänzend polierten Sargdeckel. Darcy fand, dass er wie ein Hundehäufchen aussah.

»Daddy, du fehlst mir so sehr«, sagte Petra und warf ihrerseits eine Handvoll Erde auf den Sarg.

Darcy kam als Letzte dran. Sie bückte sich, nahm eine lose Handvoll in ihren schwarzen Handschuh und ließ sie aus den Fingern rieseln. Sie sagte nichts.

Der Geistliche rief zu einem kurzen stillen Gebet auf. Die Trauergäste senkten den Kopf. Der Wind ließ die Äste der Friedhofsbäume knarren. In nicht allzu weiter Entfernung brauste der Verkehr auf der I-295. Darcy dachte: Gott, wenn es dich gibt, lass dies das Ende sein.


19

Das war es nicht.

Ungefähr sieben Wochen nach der Beerdigung - inzwischen hatte das neue Jahr begonnen, und das Wetter war blau und hart und kalt - wurde an der Tür des Hauses in der Sugar Mill Lane geklingelt. Als Darcy aufmachte, stand draußen ein älterer Gentleman, der zu einem schwarzen Mantel einen roten Schal trug. Mit behandschuhten Händen hielt er einen altmodischen Homburg vor sich. Das Gesicht war von tiefen Falten durchzogen (auch von Schmerzfalten, dachte Darcy), und was er noch an grauem Haar hatte, war zu flaumigen Stoppeln geschoren worden.

»Ja?«, sagte sie.

Er fummelte in der Manteltasche herum und ließ dabei seinen Hut fallen. Darcy bückte sich und hob ihn

»Holt Ramsey«, sagte er in einem Ton, als wollte er sich dafür entschuldigen. »Von der Generalstaatsanwaltschaft. Tut mir schrecklich leid, Sie belästigen zu müssen, Mrs. Anderson. Darf ich reinkommen? In Ihrem Kleid erfrieren Sie sonst noch hier draußen.«

»Bitte«, sagte sie und trat zur Seite.

Während sie beobachtete, dass er leicht hinkte und die rechte Hand unbewusst an die rechte Hüfte legte - als wollte er sie zusammenhalten -, erschien vor ihrem inneren Auge ein deutliches Bild: Bob, der neben ihr auf der Bettkante saß und ihre kalten Finger in seinen warmen gefangen hielt. Bob, der redete. Der sogar hämisch prahlte. Sie sollen Beadie für dumm halten, und genau das tun sie, weil sie dumm sind. Ich bin nur ein einziges Mal als Zeuge vernommen worden - ungefähr zwei Wochen nachdem BD Stacey Moore umgebracht hat. Von einem alten Kerl mit einem Hinkebein, halb pensioniert. Und hier war dieser alte Kerl nun und stand kein halbes Dutzend Schritte von der Stelle entfernt, an der Bob gestorben war. An der sie ihn umgebracht hatte. Ramsey sah krank aus und schien Schmerzen zu haben, aber seine Augen waren scharf. Sie bewegten sich flink von links nach rechts und wieder zurück, bevor sie wieder ihr Gesicht fixierten.

Sei vorsichtig, ermahnte sie sich. Nimm dich vor diesem Mann sehr in Acht, Darcellen.

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Ramsey?«

»Nun, ich könnte - wenn das nicht zu viel verlangt ist - bestimmt eine Tasse Kaffee brauchen. Ich bin ganz ausgekühlt. Bei meinem Dienstwagen funktioniert die Heizung

»Durchaus nicht. Aber ich denke gerade … könnte ich Ihren Dienstausweis noch mal sehen?«

Er überließ ihr bereitwillig die Lederhülle und hängte den Hut an den Garderobenständer, während sie den Ausweis studierte.

»Dieser Stempel ›a. D.‹ unter dem Dienstsiegel - bedeutet der, dass Sie pensioniert sind?«

»Ja und nein.« Seine Lippen teilten sich und ließen Zähne sehen, die viel zu gleichmäßig waren, um etwas anderes als ein Gebiss zu sein. »Mit achtundsechzig musste ich in den Ruhestand gehen, wenigstens offiziell, aber ich habe mein ganzes Leben lang in der State Police oder beim GSA gearbeitet - beim Generalstaatsanwalt, wissen Sie - und bin nun sozusagen ein altes Feuerwehrpferd, das einen Ehrenplatz im Stall hat. Eine Art Maskottchen, wissen Sie.«

Ich glaube, dass du weit mehr bist.

»Darf ich Ihren den Mantel abnehmen?«

»Nein danke, den behalte ich lieber an. So lange bleibe ich nicht. Wenn es draußen schneien würde, dann würde ich ihn natürlich aufhängen, damit er Ihnen nicht den Boden volltropft, aber das tut es ja nicht. Es ist nur verflixt kalt, wissen Sie. Zu kalt für Schnee, hätte mein Vater gesagt, und in meinem Alter spüre ich die Kälte viel mehr als vor fünfzig Jahren. Oder selbst vor fünfundzwanzig.«

Während sie in die Küche vorausging - langsam, damit Ramsey Schritt halten konnte -, fragte sie ihn, wie alt er sei.

»Im Mai achtundsiebzig.« Er sagte das hörbar stolz. »Wenn ich es erlebe. Das füge ich immer an, damit es Glück bringt. Bisher hat es funktioniert. Was für eine hübsche Küche Sie haben, Mrs. Anderson - einen Platz für alles, und alles

Seine blinzelnden Augen - jung und alert in von Schmerzfalten umgebenen Höhlen - musterten ihr Gesicht.

Er weiß es. Ich weiß nicht, woher, aber er weiß es.

Sie überzeugte sich davon, dass in der Maschine Kaffee war, und schaltete das Gerät ein. Als sie Tassen aus dem Schrank nahm, fragte sie: »Wie kann ich Ihnen heute behilflich sein, Mr. Ramsey? Oder sollte ich Detective Ramsey sagen?«

Er lachte, aber das Lachen ging in ein Husten über. »Oh, mich hat schon ewig kein Mensch mehr Detective genannt. Ramsey können Sie auch auslassen; wenn Sie gleich zu Holt übergehen, ist es mir am liebsten. Und eigentlich wollte ich mit Ihrem Mann reden, wissen Sie, aber er ist natürlich dahingegangen - nochmals mein Beileid -, also kommt das nicht mehr infrage. Tja, das kommt gar nicht mehr infrage.« Er schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen der Hocker, die um den Hackklotz-Tisch standen. Sein Mantel raschelte. Irgendwo in seinem hageren Körper knarrte ein Gelenk. »Aber ich will Ihnen was erzählen: Ein alter Mann, der in einem möblierten Zimmer wohnt - was ich tue, auch wenn es ganz hübsch ist -, langweilt sich manchmal, wenn er nur den Fernseher als Gesellschaft hat, und deshalb habe ich mir gedacht, hol’s der Teufel, fahr einfach nach Yarmouth und stell deine paar kleinen Fragen trotzdem. Sie wird nicht viele davon beantworten können, habe ich mir gesagt, vielleicht überhaupt keine, aber wozu nicht trotzdem hinfahren? Du musst mal wieder raus, bevor du hier Rost ansetzt, habe ich mir gesagt.«

»An einem Tag, für den höchstens minus zwanzig Grad vorausgesagt sind«, sagte sie. »In einem Dienstwagen mit defekter Heizung.«

»Jaja, aber ich habe meine Thermounterwäsche an«, sagte er bescheiden.

»Haben Sie kein eigenes Auto, Mr. Ramsey?«

»Doch, doch«, sagte er, als wäre ihm das erst jetzt eingefallen. »Kommen Sie, setzen Sie sich, Mrs. Anderson. Ich bin zu alt, um zu beißen.«

»Nein, der Kaffee ist gleich fertig«, sagte sie freundlich. Sie hatte Angst vor diesem alten Mann. Auch Bob hätte Angst vor ihm haben sollen, aber darüber war Bob jetzt natürlich hinaus. Dafür hatte sie gesorgt. »Vielleicht können Sie mir inzwischen erzählen, worüber Sie mit meinem Mann reden wollten.«

»Nun, Sie werden’s nicht glauben, Mrs. Anderson …«

»Nennen Sie mich einfach Darcy, ja?«

»Darcy!«, wiederholte er entzückt. »Wenn das nicht der hübscheste altmodische Name ist!«

»Danke. Nehmen Sie Sahne?«

»Schwarz wie mein Hut, so trinke ich ihn. Bloß sehe ich mich in Wirklichkeit als einen der White-Hats. Tja, das ist verständlich, nicht wahr? Als Verbrecherjäger und so. Davon habe ich dieses schlimme Bein, wissen Sie. Von einer wilden Verfolgungsjagd mit dem Auto damals im Jahr 1989. Ein Kerl hatte seine Frau und seine beiden Kinder ermordet. Solche Taten werden gewöhnlich im Affekt begangen - von einem Mann, der betrunken oder bekifft oder im Kopf nicht ganz richtig ist.« Ramsey tippte sich mit einem von Arthritis verkrümmten Zeigefinger an seinen Haarflaum. »Nicht jedoch dieser Kerl. Er hat es getan, um ihre Lebensversicherung zu kassieren. Hat versucht, die Tat als … wie sagt man gleich wieder … Hausfriedensbruch hinzustellen. Ich spare mir die Einzelheiten, aber ich habe herumgeschnüffelt und herumgeschnüffelt. Drei Jahre lang habe ich herumgeschnüffelt. Und endlich glaubte ich, genug in der Hand zu haben, um ihn verhaften zu können. ihm nicht zu erzählen, nicht wahr?«

»Vermutlich nicht«, sagte Darcy. Der Kaffee war heiß, und sie schenkte ein. Sie beschloss, ihren ebenfalls schwarz zu trinken. Und das so schnell wie möglich. Dann würde das Koffein sofort wirken und sie hellwach werden lassen.

»Danke«, sagte er, als sie ihm seine Tasse hinstellte. »Sie sind die Freundlichkeit in Person. Heißer Kaffee an einem kalten Tag - was könnte besser sein? Vielleicht gewürzter heißer Apfelwein; sonst fällt mir nichts ein. Also, wo war ich gleich wieder? Oh, ich weiß. Dwight Cheminoux. Weit oben in der County war das. Knapp südlich der Hainesville Woods.«

Darcy trank noch einen Schluck Kaffee. Sie betrachtete Ramsey über den Rand ihrer Tasse hinweg und hatte plötzlich das Gefühl, wieder verheiratet zu sein - eine lange Ehe, in vieler (aber nicht in jeder) Beziehung eine gute Ehe von der Art, die sich am besten mit einem Scherzwort beschreiben ließ: Sie wusste, dass er es wusste, und er wusste, dass sie wusste, dass er es wusste. Eine solche Beziehung war nicht viel anders, als sähe man bei einem Blick in einen Spiegel einen weiteren Spiegel und darin eine ins Unendliche fortgesetzte Reihe weiterer Spiegel. Die eigentliche Frage war jetzt, was er mit seinem Wissen anfangen würde. Was er tun konnte.

»Nun«, sagte Ramsey, indem er seine Kaffeetasse abstellte und sich unbewusst das schmerzende Bein zu reiben begann, »es war einfach so, dass ich gehofft habe, diesen Kerl provozieren zu können. Ich meine, er hatte das Blut einer Frau und zweier Kinder an den Händen, daher habe ich mich berechtigt gefühlt, mit nicht ganz sauberen Methoden zu arbeiten. Und das hat geklappt. Er ist geflüchtet, und ich habe ihn in die Hainesville Woods verfolgt, in

»Das tut mir leid. Und der Mann, den Sie verfolgt haben? Was hat er bekommen?«

Ramseys Mundwinkel gingen zu einem schmallippigen, einzigartig kalten Lächeln nach oben. Seine jungen Augen blitzten. »Den Tod, Darcy. Hat dem Staat vierzig oder fünfzig Jahre Kost und Logis in Shawshank gespart.«

»Sie sind ein regelrechter Himmelhund, nicht wahr, Mr. Ramsey?«

Statt verständnislos dreinzusehen, legte er seine missgebildeten Hände mit den Handflächen nach vorn neben den Kopf und leierte im eintönigen Singsang eines Schuljungen herunter: »›Ich verfolgt ihn die Nächte und die Tage hinab, ich verfolgt ihn durch der Jahre Bogen, ich verfolgt ihn durchs Labyrinth meiner …‹ Und so weiter.«

»Haben Sie das in der Schule gelernt?«

»Nein, Ma’am, im Jugendverband der Methodisten. Ach, das liegt schon viele Jahre zurück. Habe damit eine Bibel gewonnen, die ich im Jahr darauf im Sommerlager verloren habe. Nur habe ich sie nicht verloren; sie ist mir gestohlen worden. Können Sie sich vorstellen, dass jemand so tief sinkt, dass er eine Bibel stiehlt?«

»Ja«, sagte Darcy.

Ramsey lachte. »Kommen Sie, Darcy, nennen Sie mich einfach Holt. Bitte. Das tun alle meine Freunde.«

Bist du mein Freund? Bist du’s?

Das wusste sie nicht, aber eines stand für sie fest: Bobs Freund wäre er nicht gewesen.

»Ist dies das einzige Gedicht, das Sie auswendig können? Holt?«

»Nun, früher habe ich ›Der Tod des Taglöhners‹ aufsagen können«, sagte er bescheiden, »aber jetzt erinnere ich mich nur noch an den Teil, in dem es heißt, dass die Heimat der Ort ist, an dem sie einen aufnehmen müssen, wenn man dorthin zurückkehrt. Das ist wahr, finden Sie nicht auch?«

»Unbedingt.«

Seine hellen haselnussbraunen Augen sahen forschend in ihre. Die Intimität dieses Blicks war unanständig, als musterte er sie unbekleidet. Und angenehm, vielleicht aus demselben Grund.

»Was wollten Sie meinen Mann fragen, Holt?«

»Nun, ich hatte schon mal mit ihm gesprochen, wissen Sie, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass er sich daran erinnern würde, wenn er noch lebte. Das liegt schon lange zurück. Wir waren beide erheblich jünger, und Sie müssen fast noch ein Kind gewesen sein, wenn man bedenkt, wie jung und hübsch Sie heute sind.«

Sie bedachte ihn mit einem eisigen Ersparen-Sie-mir-das-Lächeln, dann stand sie auf und goss sich noch einen Kaffee ein. Ihre erste Tasse war schon ausgetrunken.

»Sie wissen wahrscheinlich von den Beadie-Morden«, sagte er.

»Sie meinen den Mann, der Frauen ermordet und ihre Ausweise der Polizei schickt?« Sie hielt die Tasse völlig ruhig in der Hand und kam an den Tisch zurück. »Davon können die Zeitungen gar nicht genug bekommen.«

Er zeigte auf sie - Bobs Fingerpistolen-Geste - und blinzelte ihr zu. »Da haben Sie recht. Ja, Sir. Ich war zufällig ein bisschen mit dem Fall befasst. Damals noch nicht im Ruhestand, aber kurz davor. Ich stand in einem gewissen Ruf, jemand zu sein, der beim Herumschnüffeln gelegentlich Erfolg hat … wenn er sich auf seinen Dingsbums verließ …«

»Instinkt?«

Wieder die Fingerpistole. Wieder ein Blinzeln. »Jedenfalls schickt man mich los, damit ich allein arbeite, wissen Sie - der alte hinkende Holt zeigt seine Bilder vor, stellt seine Fragen und … na ja, er schnüffelt eben herum, wissen Sie. Ich habe immer eine Nase für solche Fälle gehabt, Darcy, und diese Fähigkeit eigentlich nie verloren. Das war im Herbst 1997, kurz nach der Ermordung einer Frau namens Stacey Moore. Kommt Ihnen der Name bekannt vor?«

»Ich glaube nicht«, sagte Darcy.

»Sie würden sich an ihn erinnern, wenn Sie die Fotos vom Tatort gesehen hätten. Ein grausiger Mord … wie die arme Frau gelitten haben muss. Aber dieser Kerl, der sich Beadie nennt, hatte eine lange Pause gemacht, über fünfzehn Jahre, und muss im Kessel viel Druck aufgebaut haben, der nur darauf wartete, explodieren zu können. Und dabei ist sie verbrüht worden.

Jedenfalls hat der damalige GSA mich auf diesen Fall angesetzt. ›Der alte Holt soll sich mal daran versuchen‹, hat er gesagt, ›er tut ohnehin nicht viel und ist dann wenigstens beschäftigt.‹ Schon damals war ich für jedermann der alte Holt. Wegen des Hinkens, würde ich vermuten. Ich habe mit ihren Freunden, ihren Nachbarn draußen an der Route 106 und ihren Arbeitskolleginnen in Waterville geredet. Oh, ich habe viel mit ihnen gesprochen. Sie war Serviererin im Restaurant Sunnyside in dieser Kleinstadt. Viele der Gäste da sind nur auf der Durchreise, weil der Turnpike ganz in der Nähe vorbeiführt, aber mich haben mehr die Stammgäste interessiert. Die männlichen Stammgäste.«

»Ja, natürlich«, murmelte sie.

»Einer davon war ein passabel aussehender, gut gekleideter Kerl Anfang bis Mitte vierzig. Ist alle drei bis vier

»Sie haben sich ganz verheddert«, sagte Darcy unwillkürlich amüsiert. »Tun Sie sich einen Gefallen, und sagen Sie’s einfach, ich bin schon erwachsen. Sie hat mit ihm geflirtet? Läuft es darauf hinaus? Sie wäre nicht die erste Serviererin gewesen, die mit einem Mann auf Reisen flirtet, auch wenn dieser Mann einen Ehering am Finger hat.«

»Nein, so war’s nicht ganz. Nach allem, was ihre Kolleginnen mir erzählt haben - und das ist natürlich nicht ganz wörtlich zu nehmen, weil alle sie gern gemocht haben -, hat er mit ihr geflirtet. Und nach Aussage der anderen hat ihr das nicht sehr gefallen. Sie hat gesagt, der Kerl sei ihr unheimlich.«

»Das klingt nicht nach meinem Mann.« Und es passte übrigens nicht zu dem, was Bob ihr erzählt hatte.

»Nein, aber er scheint’s gewesen zu sein. Ihr Mann, meine ich. Und eine Ehefrau weiß nicht immer, was ihr Mann auf Reisen macht, auch wenn sie’s zu wissen glaubt. Jedenfalls hat mir eine der Serviererinnen erzählt, der Kerl habe einen Toyota 4Runner gefahren. Das wusste sie, weil sie selbst einen hatte. Und wissen Sie was? In den Tagen vor dem Mord an Stacey Moore haben Nachbarn einen 4Runner wie diesen mehrmals in der Umgebung des Verkaufsstands der Familie Moore gesehen. Zuletzt nur einen Tag vor dem Mord.«

»Aber nicht am Tag der Tat.«

»Nein, aber ein umsichtiger Mann wie dieser Beadie würde auf so etwas achten, nicht wahr?«

»Vermutlich.«

»Nun, ich hatte eine Personenbeschreibung und habe damit die Umgebung des Restaurants abgegrast. Ich hatte nichts Besseres zu tun. Eine Woche lang habe ich mir nur Blasen gelaufen und ein paar Tassen Mitleidskaffee bekommen - allerdings keinen so guten wie Ihren! -, so dass ich schon aufgeben wollte. Dann bin ich in ein Geschäft in der Innenstadt geraten. Mickleson’s Coins. Kommt Ihnen der Name bekannt vor?«

»Natürlich. Mein Mann war Numismatiker, und Mickleson’s war einer der drei bis vier besten Münzhändler in Maine … obwohl er jetzt nicht mehr existiert, glaube ich. Soviel ich weiß, ist der alte Mr. Mickleson gestorben, und sein Sohn hat das Geschäft aufgegeben.«

»Richtig. Na ja, Sie wissen, wie es in dem Song heißt: Zuletzt raubt die Zeit einem alles - das Sehvermögen, den elastischen Schritt, sogar das beschissene Sprungvermögen, entschuldigen Sie den Ausdruck. Aber damals hat George Mickleson noch gelebt …«

»Aufrecht und die Luft schnüffelnd«, murmelte Darcy.

Holt Ramsey lächelte. »Genau wie Sie sagen. Jedenfalls hat er die Personenbeschreibung erkannt. ›He, das klingt wie Bob Anderson‹, hat er gesagt. Und wissen Sie was? Er hat einen Toyota 4Runner gefahren.«

»Oh, aber den hat er vor langer Zeit in Zahlung gegeben«, sagte Darcy. »Für einen …«

»Chevrolet Suburban, nicht wahr?« Ramsey sprach den Hersteller als Shivvalay aus.

»Ja.« Darcy faltete die Hände und betrachtete Ramsey gelassen. Nun waren sie fast zum Kern der Sache vorgedrungen. Die Frage war nur, für welchen Partner der nicht mehr existierenden Ehe der Andersons dieser alte Mann mit dem scharfen Blick sich mehr interessierte.

»Den Suburban haben Sie wohl nicht mehr?«

»Nein. Ich habe ihn etwa einen Monat nach dem Tod meines Mannes verkauft. Ich habe eine Anzeige in Onkel Henry’s Tauschführer gesetzt, und jemand wollte ihn sofort haben. Ich dachte, wegen des hohen Meilenstands und weil Benzin so teuer ist, würde es Probleme geben, aber das war nicht der Fall. Viel habe ich natürlich nicht bekommen.«

Und zwei Tage vor der Abholung durch den Käufer hatte sie den Suburban sorgfältig von vorn bis hinten abgesucht - sogar unter dem Teppichboden im Laderaum. Sie hatte nichts gefunden, aber trotzdem fünfzig Dollar dafür gezahlt, ihn außen waschen (was ihr egal war) und innen mit Dampf reinigen (worauf sie großen Wert legte) zu lassen.

»Ah. Der gute alte Uncle Henry’s. So habe ich den Ford meiner verstorbenen Frau auch verkauft.«

»Mr. Ramsey …«

»Holt.«

»Holt, haben Sie Bob eindeutig als den Mann identifizieren können, der mit Stacey Moore geflirtet hat?«

»Nun, als ich mit Mr. Anderson gesprochen habe, hat er zugegeben - bereitwillig zugegeben -, gelegentlich im Sunnyside gewesen zu sein, aber behauptet, nie besonders auf die Serviererinnen geachtet zu haben. Seiner Darstellung nach ist er immer mit irgendwelchem Papierkram beschäftigt gewesen. Aber ich habe natürlich sein Bild herumgezeigt - aus seinem Führerschein, verstehen Sie -, und das Personal hat ihn wiedererkannt.«

»Hat mein Mann gewusst, dass Sie … speziell an ihm interessiert waren?«

»Nein. Für ihn war ich nur ein altes Hinkebein auf der Suche nach Zeugen, die irgendwas gesehen haben könnten. Vor einem alten Knaben wie mir hat niemand Angst, wissen Sie.«

Ich habe große Angst vor dir.

»Recht dürftige Beweise«, sagte sie. »Falls Sie versucht haben sollten, jemandem etwas nachzuweisen.«

»Gar keine!« Er lachte fröhlich, aber die haselnussbraunen Augen blieben kalt. »Hätte ich welche gehabt, hätten Mr. Anderson und ich unser kleines Gespräch nicht in seinem Büro geführt, Darcy. Wir hätten es in meinem Büro geführt. Das niemand verlässt, bevor ich sage, dass er gehen kann. Oder natürlich, bevor sein Anwalt ihn freibekommt.«

»Vielleicht wird’s Zeit, dass Sie aufhören, um den heißen Brei herumzuschleichen, Holt.«

»Also gut«, stimmte er zu. »Warum nicht? Weil mir inzwischen schon jeder normale Schritt verdammt wehtut. Der Teufel soll diesen alten Dwight Cheminoux holen! Und ich will Sie nicht den ganzen Vormittag belästigen, also machen wir’s kurz. Ich konnte nachweisen, dass ein Toyota 4Runner am Tatort - oder in der Nähe des Tatorts - zweier Morde aus Beadies erster Serie war. Nicht derselbe Wagen, ein andersfarbiger. Aber ich konnte auch nachweisen, dass Ihrem Mann in den Siebzigerjahren ein weiterer 4Runner gehört hat.«

»Das stimmt. Der Wagen hat ihm gefallen, also hat er ihn für ein neueres Modell in Zahlung gegeben.«

»Genau, das tun Männer manchmal. Und der 4Runner ist in Gegenden beliebt, in denen fast ein verdammtes halbes Jahr lang Schnee liegt. Aber nach dem Mord an Stacey Moore - und nach unserem Gespräch - hat er ihn gegen einen Suburban eingetauscht.«

»Nicht sofort«, sagte Darcy lächelnd. »Den 4Runner hatte er bis lange nach der Jahrtausendwende.«

»Ich weiß. Er hat ihn 2004 in Zahlung gegeben, nicht lange bevor Andrea Honeycutt drunten bei Nashua ermordet wurde. Ein graublauer Suburban, Baujahr 2002. Ein genau dieser Farbgebung ist in den Wochen vor Mrs. Honeycutts Ermordung verhältnismäßig oft in ihrem Wohnviertel gesehen worden. Aber nun kommt etwas Merkwürdiges.« Er beugte sich vor. »Ich habe einen Zeugen gefunden, der ausgesagt hat, der Suburban sei in Vermont zugelassen gewesen, und eine andere Zeugin - eine kleine alte Dame von der Art, die aus Mangel an besserer Beschäftigung den ganzen lieben Tag lang am Wohnzimmerfenster sitzt und die Ereignisse in der Nachbarschaft beobachtet - hat gesagt, der eine, den sie gesehen habe, habe New Yorker Kennzeichen gehabt.«

»Bob hatte Kennzeichen aus Maine«, sagte Darcy. »Wie Sie recht gut wissen.«

»Natürlich, natürlich, aber Kennzeichen kann man stehlen, wissen Sie.«

»Was ist mit den Shaverstone-Morden, Holt? Ist in Helen Shaverstones Wohnviertel ein graublauer Suburban gesehen worden?«

»Wie ich sehe, haben Sie den Fall Beadie etwas genauer verfolgt als die meisten Leute. Auch etwas genauer, als Sie anfangs haben erkennen lassen.«

»Ist einer gesehen worden?«

»Nein«, sagte Ramsey. »Das nicht. Aber ein graublauer Suburban ist bei Amesbury in der Nähe des Baches, in den die Leichen geworfen wurden, gesehen worden.« Er lächelte wieder, während seine kalten Augen sie musterten. »Wie Müll abgeladen.«

Sie seufzte. »Ich weiß.«

»An die Kennzeichen des Suburban bei Amesbury konnte sich niemand erinnern, aber hätte jemand darauf geachtet, wären sie wohl aus Massachusetts gewesen. Oder aus Pennsylvania. Oder sonst woher, nur nicht aus Maine.«

Er beugte sich wieder vor.

»Beadie hat Mitteilungen beigelegt, wenn er uns die Ausweise seiner Opfer geschickt hat. Hat uns verspottet, wissen Sie - hat uns herausgefordert, ihn zu erwischen. Vielleicht wollte er irgendwie sogar geschnappt werden.«

»Vielleicht«, sagte Darcy, obwohl sie das in Wirklichkeit nicht glaubte.

»Seine Mitteilungen waren in Druckbuchstaben geschrieben. Leute, die das tun, glauben, Druckschrift lasse sich nicht identifizieren, aber meistens ist das doch möglich. Die Ähnlichkeiten treten hervor. Sie haben wahrscheinlich keine Akten Ihres Mannes mehr im Haus?«

»Die nicht an seine Firma zurückgegangen sind, habe ich entsorgt. Aber ich vermute, dass es dort reichlich Schriftproben gibt. Wirtschaftsprüfer werfen nie etwas weg.«

Er seufzte. »Genau, aber solche Firmen rücken ohne richterliche Anordnung nichts heraus, und um die zu bekommen, müsste ich meinen Verdacht begründen können. Was ich einfach nicht kann. Ich habe eine Menge Zufälle - die meiner Überzeugung nach allerdings keine Zufälle sind. Und ich habe eine Anzahl von … nun, Annäherungen, so könnte man sie nennen, aber nicht entfernt so viele, dass sie als Indizienbeweise gelten könnten. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Darcy. Ich dachte erst, Sie würden mich sofort rausschmeißen, aber Sie waren sehr freundlich.«

Sie sagte nichts.

Er beugte sich noch weiter vor und kauerte jetzt fast über dem Tisch. Wie ein Raubvogel. Aber in der Eiseskälte seiner Augen war noch etwas anderes sichtbar. Sie glaubte, es könnte Güte sein. Sie betete darum, dass es Güte war.

»Darcy, war Ihr Mann Beadie?«

Sie war sich darüber im Klaren, dass er ihr Gespräch möglicherweise aufzeichnete; das war immerhin denkbar.

»Sie haben sehr lange nichts geahnt, nicht wahr?«

Sie sagte nichts. Sah ihn nur an. Sah in ihn hinein, wie man es manchmal bei Leuten tat, die man gut kannte. Nur musste man dabei vorsichtig sein, weil man nicht immer das sah, was man zu sehen glaubte. Das wusste sie inzwischen.

»Und dann haben Sie’s gewusst? Eines Tages haben Sie’s gewusst?«

»Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee, Holt?«

»Eine halbe«, sagte er. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. »Von mehr bekäme ich Sodbrennen, und ich habe vergessen, heute Morgen mein Zantac einzunehmen.«

»Ich glaube, dass ich oben im Medizinschränkchen ein paar Prilosec habe«, sagte sie. »Die haben Bob gehört. Soll ich sie holen?«

»Ich würde nichts von ihm einnehmen, auch wenn ich innerlich in Flammen stünde.«

»Wie Sie wollen«, sagte sie mild und schenkte ihm etwas Kaffee nach.

»Entschuldigung«, sagte er. »Aber manchmal gehen meine Gefühle mit mir durch. Diese Frauen … all diese Frauen … und der Junge, der sein ganzes Leben noch vor sich hatte. Das war das Schlimmste.«

»Ja«, sagte sie und gab ihm die Tasse. Sie sah, wie seine Hand zitterte, und vermutete, dass dies sein letztes Rodeo war, ganz gleich, wie clever er war - und er war erschreckend clever.

»Eine Frau, die erst sehr spät im Spiel rausbekommt, was ihr Mann ist, befände sich in einer schwierigen Lage«, sagte Ramsey.

»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Darcy.

»Wer würde ihr glauben, wenn sie behauptet, sie habe all diese Jahre mit einem Mann zusammengelebt und nie geahnt, was er war? Nun, dann wäre sie ein Wie-heißt-er-gleichwieder, dieser Vogel, der im Maul eines Krokodils lebt?«

»Angeblich«, sagte Darcy, »lässt das Krokodil den Vogel leben, weil der ihm die Zähne säubert. Pickt die Körner in den Zwischenräumen heraus.« Mit den Fingern der rechten Hand machte sie Pickbewegungen. »Das stimmt vermutlich nicht … wahr dagegen ist, dass ich Bobby häufig zum Zahnarzt gefahren habe. Hätte ich’s nicht getan, hätte er seine Termine oft absichtlich ›vergessen‹. In Bezug auf Schmerzen war er schrecklich wehleidig.« Ihre Augen füllten sich unerwartet mit Tränen. Sie verwünschte sich und wischte sie mit den Handballen weg. Dieser Mann würde keine um Robert Anderson vergossenen Tränen respektieren.

Vielleicht täuschte sie sich da aber auch. Ramsey nickte ihr lächelnd zu. »Und ihre Kinder. Die würden unter die Räder geraten, wenn die Welt erführe, dass ihr Vater reihenweise Frauen gefoltert und ermordet hat. Und dann zum zweiten Mal, wenn die Welt glauben müsste, ihre Mutter habe ihn viele Jahre lang gedeckt. Ihm vielleicht sogar geholfen, wie Myra Hindley diesem Ian Brady geholfen hat. Wissen Sie, wer die beiden waren?«

»Nein.«

»Schön, lassen wir das. Aber stellen Sie sich folgende Frage: Was würde eine Frau in einer solch schwierigen Situation tun?«

»Was würden Sie tun, Holt?«

»Das weiß ich nicht. Meine Situation liegt etwas anders. Ich bin vielleicht nur ein alter Klepper - das älteste Pferd im Feuerwehrstall -, aber ich trage eine Verantwortung gegenüber den Angehörigen der ermordeten Frauen. Sie haben ein Recht darauf, dass diese Fälle abgeschlossen werden.«

»Das verdienen sie, gewiss … aber brauchen sie’s auch?«

»Robert Shaverstones Penis war abgebissen, wussten Sie das?«

Das wusste sie nicht. Natürlich nicht. Sie schloss die Augen und spürte heiße Tränen durch die Wimpern quellen. Er musste nicht »leiden«, von wegen!, dachte sie, und wäre Bob jetzt mit bittend erhobenen Händen vor ihr erschienen, hätte sie ihn wieder umgebracht.

»Sein Vater weiß es«, sagte Ramsey. Er sprach leise. »Und er muss tagaus, tagein mit diesem Wissen über sein geliebtes Kind leben.«

»Das tut mir leid«, flüsterte sie. »Das tut mir schrecklich leid.«

Sie spürte, wie er über den Tisch hinweg ihre Hand ergriff. »Wollte Sie nicht aufregen.«

Darcy schüttelte die Hand ab. »Natürlich wollten Sie das! Aber glauben Sie, dass ich das nicht war? Glauben Sie, dass ich das nicht längst war, Sie … Sie neugieriger alter Schnüffler?«

Er lachte glucksend und ließ dabei seine glänzenden falschen Zähne sehen. »O nein, das glaube ich keineswegs. Ich hab’s gleich gesehen, als Sie die Tür geöffnet haben.« Er machte eine Pause, dann fügte er bedächtig hinzu: »Ich habe alles gesehen.«

»Und was sehen Sie jetzt?«

Er stand auf, schwankte leicht, fand sein Gleichgewicht wieder. »Ich sehe eine tapfere Frau, die in Ruhe gelassen werden sollte, damit sie ihre Hausarbeit erledigen kann. Und für den Rest ihres Lebens sowieso.«

Sie stand ebenfalls auf. »Und die Familien der Opfer? Die ein Recht darauf haben, dass die Fälle abgeschlossen werden?« Sie zögerte, weil sie den Rest nicht sagen wollte. Aber das musste sie. Dieser Mann war trotz starker Schmerzen - vielleicht fast unerträglicher Schmerzen - hergekommen,

»Der Junge ist tot, und sein Vater ist’s praktisch auch.« Ramsey sprach in einem ruhigen, nüchtern urteilenden Ton, den Darcy wiedererkannte. So hatte Bob gesprochen, wenn klar gewesen war, dass ein Mandant seiner Firma vom Finanzamt vorgeladen werden würde und sich auf unangenehme Fragen gefasst machen musste. »Hängt von morgens bis abends an der Whiskeyflasche. Würde sich daran etwas ändern, wenn er wüsste, dass der Mörder seines Sohns - der Verstümmler seines Sohns - tot ist? Das glaube ich nicht. Würde auch nur eines der Opfer dadurch wieder lebendig? Nein. Brennt der Mörder jetzt wegen seiner Schandtaten im Fegefeuer und leidet selbst unter Verstümmelungen, die bis in alle Ewigkeit bluten werden? Das sagt die Bibel. Zumindest im Alten Testament, und nachdem unsere Gesetze von dort stammen, genügt mir das. Danke für den Kaffee. Auf der Rückfahrt werde ich an jedem Rastplatz zwischen hier und Augusta anhalten müssen, aber das ist’s mir wert. Sie kochen guten Kaffee.«

Als Darcy ihn zur Tür begleitete, wurde ihr klar, dass sie zum ersten Mal, seit sie in der Garage gegen den Karton gestoßen war, wieder das Gefühl hatte, auf der richtigen Seite des Spiegels zu sein. Es war gut zu wissen, dass er gefasst worden wäre. Dass er nicht so überragend clever gewesen war, wie er geglaubt hatte.

»Danke für Ihren Besuch«, sagte sie, während er seinen Homburg penibel gerade aufsetzte. Sie öffnete die Tür, und ein Schwall kalter Luft wehte herein. Aber das störte sie nicht. Die Kälte auf ihrer Haut fühlte sich gut an. »Sehen wir uns wieder?«

»Nein. Nächste Woche ist für mich Schluss. Voll im Ruhestand. Ziehe nach Florida. Allerdings nicht für lange, sagt mein Arzt.«

»Tut mir leid, das zu …«

Er zog sie plötzlich in die Arme. Sie waren dünn, aber sehnig und überraschend stark. Darcy war überrascht, aber nicht erschrocken. Die Krempe seines Homburgs drückte gegen ihre Schläfe, als er ihr ins Ohr flüsterte. »Sie haben das Rechte getan.«

Und sie auf die Wange küsste.


20

Er ging langsam und vorsichtig den Weg entlang und achtete auf die Eisplatten. So bewegte sich ein alter Mann. Er sollte wirklich einen Stock benutzen, dachte Darcy. Er ging vorn um den Wagen herum, weiter mit gesenktem Kopf, um aufs Eis zu achten, als sie seinen Namen rief. Er drehte sich halb nach ihr um und zog die Augenbrauen hoch.

»Als Junge hatte mein Mann einen Freund, der dann tödlich verunglückt ist.«

»Tatsächlich?« Das Wort wurde mit einer dampfenden Atemwolke ausgestoßen.

»Ja«, sagte Darcy. »Sie könnten nachlesen, was damals passiert ist. Ein tragischer Unfall, obwohl er nach Aussage meines Mannes kein sehr netter Junge war.«

»Nein?«

»Nein. Er war einer dieser Jungen, die gefährlichen Phantasien nachhängen. Sein Name war Brian Delahanty, aber Bob hat ihn immer nur BD - Beadie - genannt.«

Ramsey blieb einige Sekunden lang neben seinem Wagen stehen und schien zu überlegen. Dann nickte er. »Das ist sehr interessant. Vielleicht sehe ich mir die Berichte darüber auf dem Computer an. Oder vielleicht auch nicht; schließlich liegt alles lange zurück. Danke für den Kaffee.«

»Danke für das Gespräch.«

Sie beobachtete, wie er die Straße entlang davonfuhr (er fuhr mit dem Selbstbewusstsein eines weit jüngeren Mannes, fiel ihr auf - vielleicht weil er noch so scharfe Augen hatte), dann ging sie wieder hinein. Sie fühlte sich jünger, leichter. Als sie vor den Spiegel in der Diele trat, sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild, und das war gut.

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