Inspektor Jean Genette

Inspektor Jean Genette ermittelte bereits seit vielen Jahren für die Interplanetare Polizei und war entsprechend erfahren. Morgens machte Genette immer gerne einen Spaziergang zu einem Eckcafé mit Terrasse oder Tischen an der Straße, trank dort einen großen, ungesüßten türkischen Kaffee und ließ sich von Passepartout die neuesten Nachrichten aus dem Sonnensystem anzeigen. Anschließend spazierte Genette normalerweise weiter durch die Stadt, die der entsprechende Morgen bereithielt, um schließlich beim örtlichen Interplan-Büro, das immer aus einigen wenigen Zimmern in der Nähe des Regierungsgebäudes bestand, mit der Arbeit zu beginnen. Da Interplan unglücklicherweise nicht überall als Polizeibehörde anerkannt wurde, handelte es sich dabei eher um eine Art quasiautonome Instanz, die die Einhaltung von Verträgen überwachte. Das machte einem die Arbeit oft schwer, und Genette kam sich vor wie jemand von einer Privatdetektei oder irgendeiner nervigen Nichtregierungsorganisation; aber immerhin hatten sie bei Interplan gutes Datenmaterial.

Genette spazierte gerne in diesen Daten umher. Die Behörde an sich war in Ordnung, auf die Kollegen konnte man sich verlassen, das Datenmaterial war wichtig, aber letztlich ging es um das Spazierengehen. Beim Spazieren erlebte Genette die kleinen Einsichten und Erleuchtungen, die nicht nur Probleme lösten, sondern auch zu den besten Momenten im Leben gehörten.

Manchmal geschah das im Büro, bei der Beschäftigung mit neuen Daten oder Archivmaterial, bei der Überprüfung einer über dem morgendlichen Kaffee entstandenen Hypothese. Bei den Grafikzimmern von Interplan handelte es sich immer um höchst leistungsfähige Darstellungsräume, mit dreidimensionalen, zeitverzögerten virtuellen Strömen, die ebenso interessant wie schön waren. Natürlich verwirrten einen die Wolken aus bunten Punkten und Linien manchmal nur noch mehr. Doch bei anderen Gelegenheiten sah Genette etwas in den Darstellungen, um anschließend wieder in die Welt hinauszutreten und Dinge zu bemerken, die zuvor niemandem aufgefallen waren, und das war höchst beglückend; es war das Beste überhaupt.

Weniger erfreulich waren die Anstrengungen, die man unternehmen musste, um die erworbenen Einsichten in Taten umzusetzen. Insbesondere in Umfeldern mit unklarer Rechtslage – weniger nachsichtig konnte man es auch als Anarchie bezeichnen – hatte Genette schon viel zu oft Deals abschließen müssen, damit auf Ermittlungsergebnisse reales Handeln folgte. Doch bislang hatte niemand ernsthafte Vorwürfe gegenüber Interplan erhoben, und mehr konnte man in diesem Geschäft eigentlich nicht erwarten.

Genette gehörte zu den altgedienten Mitarbeitern, die sich normalerweise die Fälle aussuchen konnten. Aber die Zerstörung Terminators hatte natürlich Vorrang vor allen anderen Fälle und verlangte überall im Sonnensystem sofortige Aufmerksamkeit. Und da Terminator dem Mondragon angehörte und Interplan zu diesem Weltenbund engere politische Bande hatte als zu irgendeinem anderen politischen Gebilde, verstand es sich von selbst, dass die Behörde sich einmischte. Außerdem hatte es so einen Fall im Prinzip noch nie gegeben. Jemand hatte die einzige Stadt des Merkur in Brand gesetzt (allerdings baute man gerade die Stadt Phosphor, deren Schienen auf der Nordhalbkugel des Planeten verliefen; damit musste man sich mal näher befassen, wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Landstreitigkeiten Brandstiftung zur Folge hatten): Natürlich schlug ein solches Ereignis das ganze Sonnensystem in seinen Bann. Nach wie vor war unklar, was geschehen war, wie oder warum es geschehen war und wer dahintersteckte, und die Menschen waren ganz vernarrt in solche Rätsel und verlangten Antworten. Tatsächlich würde es mehrere konkurrierende Ermittlungsverfahren in dieser Sache geben. Doch die Löwin vom Merkur war eine gute Freundin Genettes gewesen, und sobald die Jungen der Löwin sich nach der Evakuierung wieder zusammengefunden und dem Merkur die Führungsrolle bei den Ermittlungen gesichert hatten, hatten sie Genette darum gebeten, sich der Sache anzunehmen. Ein solches Gesuch, das gleichzeitig eine Gelegenheit darstellte, die gemeinsamen Projekte mit Alex und Wahram weiter voranzutreiben, ließ sich unmöglich ablehnen. Tatsächlich vertrat Genette die Meinung, dass die Zerstörung Terminators so kurz nach dem Angriff auf Io und dem Tod von Alex möglicherweise Teil eines Musters war. Eine Autopsie hatte bestätigt, dass Alex eines natürlichen Todes gestorben war, aber Genette verspürte nach wie vor eine nagende Ungewissheit – bei manchen natürlichen Todesarten konnte man durchaus nachhelfen.

Dann, zu Beginn der Reise zum Merkur, auf dem Weg durch den Raumhafen zu dem Tor, hinter dem die Fähre wartete, beim Anblick all der Menschen, die kein bisschen überlegen mussten, um sich zurechtzufinden, fiel Genette mit einem Mal des Rätsels Lösung ein, was den Angriff auf Terminator betraf. Das lebhafte Bild war wie das letzte Überbleibsel eines Traums, und es brachte eine ganze Reihe brauchbarer Ermittlungsansätze mit sich, die sich auf dem Flug ins Innere des Systems weiterverfolgen ließen, vor allem aber ein sehr angenehmes Gefühl der Gewissheit; und Erleichterung von einer potenziell großen Sorge.

Als Genette den Merkur erreichte, hielten die Bewohner Terminators sich bereits entweder in Flüchtlingsunterkünften auf oder hatten den Planeten eilig verlassen. Es hatte 83 Tote gegeben, die meisten davon aufgrund gesundheitlicher Probleme oder infolge von Raumanzug- und Luftschleusenunfällen; die übliche Kombination von Fehleinschätzungen, Ausrüstungsversagen und Panik, die in Notsituationen entsteht. Evakuierungen waren dafür bekannt, zu den gefährlichsten menschlichen Aktivitäten zu gehören, noch vor Geburten.

Deshalb, und weil Terminator immer noch dort draußen in der Sonne briet, standen die Ermittler noch ganz am Anfang. Man hatte festgestellt, dass die Kameras auf dem betreffenden Schienenabschnitt durch den Aufschlag zerstört worden waren, zusammen mit einem Bahnsteig namens Hammersmith. Man ging davon aus, dass dabei eine Gruppe von Konzertbesuchern und Musikern ums Leben gekommen war. Allerdings gab es für den entsprechenden Zeitraum Aufzeichnungen des Meteorabwehrsystems in der Umlaufbahn Terminators, und weder per Radar noch visuell noch im Infrarotbereich war vor dem Einschlag etwas von einem Meteor zu sehen gewesen. Die Satellitenbilder von der Unglücksstelle zeigten keine Reste eines eingeschlagenen Körpers. Angriff aus der fünften Dimension!, sagten die Leute dazu.

Genette hatte die Antwort auf diesen Teil der Frage bereits erkannt und beschlossen, dass vorgetäuschte Unwissenheit dem Täter vielleicht Zeit geben würde, einen Fehler zu machen. Außerdem konnte niemand das Verbrechen nachahmen, solange keine Einzelheiten bekannt waren. Also hielt Genette den Mund und verhörte in einem Zimmer im Rilke-Raumhafen Zeugen. Ein heller Lichtblitz. Ah, vielen Dank. Vielleicht war es an der Zeit, Wang Bescheid zu geben, Genettes Theorie auf ihre Durchführbarkeit hin zu überprüfen.

Dann wurde bekannt, dass man auf der Tagseite zwei weitere Flüchtlinge aufgegriffen hatte, und dass es sich bei einem der beiden um Alex’ Enkelin Swan Er Hong handelte. Es war seltsam, dass man die beiden mitten auf der Tagseite gerettet hatte. Genette ging sie im Krankenhaus von Schubert besuchen.

Swan lag in einem Bett und war an mehre Infusionsnadeln angeschlossen. Sie war sehr blass und musste sich offenbar von der Strahlenkrankheit erholen, die eine Sonneneruption bei ihr ausgelöst hatte, kurz bevor sie und ihr Begleiter unter die Planetenoberfläche gelangt waren.

Genette kletterte in den Stuhl neben dem Krankenbett. Swan hatte dunkle Ringe unter den rot geränderten Augen. Wahram, der sie auf ihrer Wanderung durch das Tunnelsystem begleitet hatte, saß auf der gegenüberliegenden Seite des Betts. Anscheinend war er weniger schwer erkrankt. Er sah allerdings ziemlich erschöpft aus.

Swan bemerkte Genettes Gegenwart. »Sie schon wieder«, sagte sie, »Scheiße aber auch.« Sie warf Wahram einen finsteren Blick zu, worauf dieser erbleichte und sogar eine Hand hob, um sich zu schützen. »Was führt ihr beiden im Schilde?«, fragte Swan.

Genette schaltete Passepartout ein, einen Qube, der wie eine alte Armbanduhr aussah, und sagte: »Bitte regen Sie sich nicht auf. Ich ermittle in allgemeinen Angelegenheiten für die Interplanetare Polizei, wie ich schon sagte, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich hatte ein ungutes Gefühl, als ich von Alex’ unerwartetem Tod hörte, und obwohl die Todesursache anscheinend natürlich war, stelle ich weiterhin Nachforschungen zu einer Reihe unschöner Ereignisse an, die damit in Zusammenhang stehen könnten. Sie haben Alex nahegestanden, und Sie waren bei dem Angriff auf Io zugegen und konnten ihn beobachten. Und bei dem kürzlichen Angriff auf Terminator waren Sie wieder hier. Auch wenn es sich nur um Zufälle handelt, dürfte es Sie nicht wundern, dass wir einander immer wieder über den Weg laufen.«

Swan nickte unglücklich.

Wahram sagte: »Hast du jemals etwas über die Überreste der Gestalt in Erfahrung gebracht, die auf Io in die Lava gestürzt ist?«

»Lass uns darüber später reden«, sagte Genette und warf Wahram dabei einen warnenden Blick zu. »Fürs Erste müssen wir uns auf die Zerstörung von Terminator konzentrieren. Würde es euch beiden etwas ausmachen, mir zu erzählen, was ihr gesehen habt?«

Swan setzte sich auf und beschrieb den Einschlag und anschließend ihre Rückkehr zur Stadt, und wie ihnen klar geworden war, dass sie die Evakuierung verpasst hatten; wie sie dann nach Osten zur nächsten Plattform gelaufen und in den Tunnel hinabgestiegen waren. Wahram nickte nur dann und wann zustimmend. Bis dahin dauerte der Bericht ein paar Minuten. Swans darauffolgende Schilderung ihrer Zeit im Tunnel war sehr knapp, und Wahram fügte ihr nichts hinzu und nickte auch nicht. Vierundzwanzig Tage konnten eine lange Zeit sein. Genette schaute zwischen den beiden hin und her. Keiner von ihnen hatte bei der Explosion viel gesehen, das war klar.

»Und … brennt Terminator noch?«, fragte Swan.

»Genaugenommen ist diese Phase vorbei. Die Stadt glüht jetzt.«

Das Gesicht mit einem Mal verkniffen, wandte Swan sich ab. Die letzten Übertragungen der in Terminator zurückgelassenen Kameras und KIs zeigten, wie die Stadt im Sonnenlicht entflammte – brannte, schmolz, explodierte, bis die Aufzeichnungsgeräte versagt hatten. Es war kein allumfassendes Inferno gewesen, sondern ein Flickenteppich von kleinen Bränden, die zu verschiedenen Zeitpunkten ausbrachen. Einige hitzeresistente KIs sendeten noch immer Daten und dokumentierten die Ereignisse, während die gesamte Umgebung sich auf mehrere Hundert Kelvin aufheizte. Die Bilder vermittelten einem ein deutliches Bild von der Einäscherung, obwohl es ziemlich klar war, dass Swan sie nicht würde sehen wollen.

Doch dann wollte sie überraschend genau das. Nachdem sie sich gesammelt hatte, erklärte sie: »Ich will alles sehen. Zeigt mir alles. Ich muss es sehen. Irgendwie werde ich Buße tun, etwas zum Gedenken. Aber erzählen Sie erst einmal, was Sie wissen! Was ist passiert?«

Genette zuckte mit den Schultern. »Irgendetwas hat die Schienen der Stadt getroffen. Die Einschlagstelle selbst befindet sich noch auf der Tagseite, und solange die Sonne dort nicht untergegangen ist, können wir keine sorgfältige Untersuchung durchführen. Das Meteoritenabwehrsystem konnte den Einschlagkörper nicht sehen, was eigentlich unmöglich ist, da er eine Masse von vielen Tausend Kilogramm hatte. Einige Leute sind der Meinung, dass es ein Kometeneinschlag gewesen sein muss. Ich spreche lieber einfach von dem Ereignis. Wir wissen immer noch nicht mit Sicherheit, ob es nicht vielleicht eine unterirdische Explosion war.«

»Als wenn jemand eine Mine unter den Schienen platziert hätte?«, fragte Wahram.

»Tja, auf einigen Satellitenfotos sieht es mehr wie ein Einschlag aus. Aber die Frage stellt sich.«

Genettes Armbandqube sagte mit heller Singsangstimme: »Du hast einen Besucher namens Mqaret.«

»Sag ihm, wo wir sind«, befahl Genette. »Bitte ihn herzukommen.«

Swans Wangen röteten sich vor Ungeduld. »Ich will Terminator sehen«, erklärte sie.

»Es ist vielleicht möglich, der Stadt einen kurzen Besuch in einem geschützten Fahrzeug abzustatten, aber derzeit lässt sich dort wenig machen. Die Trupps vor Ort sitzen die meiste Zeit über bloß im Schatten der Stadt. Der Sonnenuntergang erreicht den entsprechenden Längengrad in etwa siebzehn Tagen.«

Dann betrat Mqaret das Zimmer, und Swan rief seinen Namen und streckte die Arme nach ihm aus.

»Wir dachten, du wärst tot!«, rief Mqaret. »Die ganze Konzertgruppe ist verschwunden, und wir dachten, du wärst dabei gewesen, und die Evakuierung war ein einziges Chaos, und wir dachten, du wärst umgekommen.«

»Wir sind in den Tunnel runter«, sagte Swan.

»Man hat auch da unten nachgesehen, aber es wurde niemand gefunden.«

»Wir sind nach Osten gewandert, um den Weg schneller hinter uns zu bringen.«

»Das leuchtet mir ein, aber ihr hättet eine Nachricht hinterlassen sollen.«

»Ich dachte, das hätten wir gemacht.«

»Wirklich? Aber egal … du bist so dünn! Wir müssen dich ins Labor bringen, um dich einmal gründlich anzuschauen.« Mqaret ging um das Bett herum und umarmte auch Wahram kurz. »Danke, dass Sie meine Swan nach Hause gebracht haben. Wir haben gehört, dass Sie sich da unten um sie gekümmert haben.«

Genette sah, dass Swan anscheinend nicht ganz glücklich mit dieser Umschreibung war.

Wahram sagte: »Wir alle haben einander geholfen. Tatsächlich freuen wir uns darauf, die jungen Sonnenläufer wiederzusehen, mit denen wir dort unten waren.«

»Sie werden gerade geholt«, erklärte Mqaret, »und ich hoffe, dass es ihnen gut geht. Man hat eine ganze Menge Sonnenläufer aufgelesen.«

»Unsere waren sehr hilfsbereit«, sagte Wahram, doch Swan schnaubte, als sie seine Worte hörte.

Die Zerstörung der Stadt schien Mqaret nicht weiter zuzusetzen; da sie sich so kurz nach Alex’ Tod ereignet hatte, kam es für ihn wahrscheinlich kaum noch darauf an. Doch ohne Terminator konnten die Merkurianer nur noch in den über den Planeten verteilten unterirdischen Schutzräumen leben, in ganz ähnlicher Weise wie die Bewohner Ios. Das war nicht gerade eine optimale Ausgangslage für den Wiederaufbau. Trotzdem konnten sie es schaffen, und tatsächlich hatten die Arbeiten mithilfe hitzeresistenter Schutzräume und Roboter bereits begonnen. Wenn der Sonnenuntergang die ausgebrannte Stadt erst einmal erreichte, würden sie schon sehr bald die Schienen reparieren und das Skelett der Stadt wieder in Bewegung setzen. Dann konnten sie sie im Schutz der Dunkelheit wiederaufbauen wie schon beim ersten Mal.

Doch derzeit befanden sie sich nach wie vor im Ausnahmezustand, und ihr Einfluss im restlichen Sonnensystem war dementsprechend geringer. Also sagte Mqaret zu Swan, wobei er allerdings Genette und Wahram anschaute: »Wir werden die Stadt wieder aufbauen, und wir werden diese Sache überwinden. Diejenigen, die davon reden, dass unsere riskante Lebensweise unser Todesurteil gewesen sei, müssen schließlich mit ihren eigenen Risiken leben. Im All sind wir alle verwundbar. Nirgendwo jenseits der Erde gibt es menschliche Ansiedlungen, die nicht zerstört werden könnten, außer auf dem Mars.«

»Was einer der Gründe dafür ist, dass es sich um einen derart unausstehlichen Planeten handelt«, bemerkte Genette.

»Ich werde ein Mahnmal für unseren Verlust erschaffen«, verkündete Swan und versuchte anscheinend, sich aus ihrem Bett zu erheben. Dramatisch zerrte sie an ihren Infusionsschläuchen. »Ich werde eine Abramovic in den Ruinen aufführen, um den Kummer der Stadt auszudrücken. Vielleicht wäre eine zeitweilige Kreuzigung angebracht.«

»Wie wäre es mit Verbrennen auf dem Scheiterhaufen«, schlug Wahram vor.

Swan warf ihm einen giftigen Blick zu. Mqaret erhob einen taktvolleren Einwand, indem er darauf hinwies, dass Swan sich noch nicht ausreichend erholt hatte, um ihren Körper als Leinwand zu benutzen. »Das setzt dir immer so schwer zu, Swan, das geht nicht.«

»Ich werde es tun! Auf jeden Fall werde ich es tun.«

Swans Qube, dessen Stimme aus ihrer Halsseite kam, meldete sich zu Wort: »Ich muss dich darüber informieren, dass du mir Anweisung gegeben hast, mich gegen jedwede Abramovic-Performance auszusprechen, solange du dich nicht in einem optimalen Gesundheitszustand befindest. Das sind deine eigenen Anweisungen an dich selbst.«

»Lächerlich«, sagte Swan. »Manchmal verlangen die Umstände, dass man seine Pläne ändert. Nach diesem Ereignis, nach dieser Katastrophe, ist alles andere zweitrangig. Sie verlangt nach einer angemessenen Reaktion.«

»Ich muss dich darüber informieren, dass du mir Anweisung gegeben hast, mich gegen jedwede Abramovic-Performance auszusprechen, solange du dich nicht in einem optimalen Gesundheitszustand befindest.«

»Halt die Klappe, Pauline. Ich will dich jetzt nicht reden hören.«

Mqaret hatte sich inzwischen so hingestellt, dass er Swan am Aufstehen hindern konnte. Er sagte: »Liebe Swan, deine Pauline hat recht. Damit meine ich, dass du das Richtige tust, indem du aus einer umfassenderen Perspektive zu dir selbst sprichst. Überstürze nichts. In einer solchen Krise gibt es bessere Dinge, die du tun kannst. Es gibt viel zu tun.«

»Terminators Schicksal künstlerisch zum Ausdruck zu bringen ist eine sinnvolle Arbeit.«

»Ich weiß, und zwar insbesondere für dich. Aber du bist eine unserer Biom-Designerinnen, und in dieser Funktion wird man dich sehr brauchen. Wir können diese Gelegenheit ergreifen, um den Park und die Farm neu zu gestalten.«

Swan wirkte beunruhigt. »Die werden wir doch sicher einfach ersetzen? Da will doch keiner was ändern … ich jedenfalls nicht.«

»Tja, wir werden sehen. Trotzdem musst du für die Stadt zur Verfügung stehen.«

Swan starrte ihn finster an. »Das tue ich sowieso. Können wir wenigstens mit einem Hopper auf die Tagseite fliegen und uns die Stadt einmal ansehen?«

»Ich glaube schon. Ich bitte sobald wie möglich darum, dass man uns Plätze auf den Tagfliegern reserviert. Aber erst musst du wieder zu Kräften kommen.«

Ein paar Tage später flogen sie zusammen in einem Hopper los, wobei sie den Schienen Richtung Osten ins Tageslicht und zu den Trümmern von Terminator folgten. Das Land unter ihnen sah durch den starken Filter weiß wie Papier aus, mit einigen schwarzen Ringen und wabernden Linien, so als ob zitternde Kompassnadeln Schriftzeichen auf dem Grund hinterlassen hätten. Die Schienen selbst waren ein leuchtendes schmales Band aus weißglühenden Drähten.

Dann erhob sich Terminator über den Horizont. Das Gerippe der Kuppel glühte ebenso weiß wie die Schienen. Das Stadtinnere war eine schwarze Masse, die, als sie näher herankamen, in kleinere Ansammlungen von Schlacke, Ruß und Asche zerfiel, schwarze Klumpen, schwarzer Staub. Einige Metalloberflächen glühten rot. Der Anblick erinnerte an alte Fotos von Städten auf der Erde, die durch Feuerstürme vernichtet worden waren.

Bei dem Anblick schüttelte Mqaret den Kopf. »Ist schon klar, warum wir auf der Nachtseite bleiben müssen.«

Swan, die hinabstarrte, schien ihn gar nicht zu hören. Genette fiel auf, dass sie sich diesmal nicht dramatisch in Szene setzte. Man sah nur grimmige Verzweiflung in einem leeren Gesicht. Es sah aus, als wäre sie ganz woanders. Wahram musterte sie unauffällig.

Die glühende Stadtruine wurde von der nach wie vor stehenden Dämmerungsmauer überragt. Ihre nach Osten weisende Außenseite war so silbern und rein wie eh und je, aber auf der Innenseite bestand sie nur noch aus einer Masse von verkrümmten schwarzen Terrassen. Einige der Dächer aus königsblauen Keramikkacheln waren noch intakt und hatten sogar ihre Farbe bewahrt. Die große Treppe verlief immer noch abwärts quer durch die vielen Brandstreifen. Der importierte Marmor schimmerte perlmuttartig in der Hitze. Die weißglühenden Bögen des Kuppelskeletts wölbten sich dem Himmel entgegen wie die Umrisse der Kuppel von Hiroshima.

»Es war so schön«, sagte Mqaret.

»Das ist es immer noch«, erwiderte Swan.

Mqaret sagte: »Wir werden einige ausgewachsene Bäume einführen und die restlichen aussähen und aufziehen. Ich muss allerdings sagen, dass die Verhandlungen mit den Versicherungen anscheinend nicht besonders gut laufen. Sie haben eine andere Definition von ›voller Ersatzleistung‹. Außerdem ist es noch unklar, ob es sich um höhere Gewalt oder um einen kriegerischen Akt handelte. Die Anwälte im Rat meinen, dass die Versicherung in beiden Fällen greift, aber wer weiß. Vor allem wird es teuer. Wir werden Unterstützung brauchen. Glücklicherweise hält uns der Mondragon den Rücken frei. Und die Tiere zu ersetzen wird leicht, da die Terrarien ohnehin schon überfüllt sind.«

Er schaute zu Wahram und räusperte sich. »Ich habe gehört, dass die Vulkanoiden uns so schnell wie möglich helfen wollen. Natürlich macht man sich dort unten Sorgen.«

»Sie brauchen uns«, sagte Swan. »Darum haben sie Alex’ Vorschlag, sie zu unterstützen, überhaupt erst so schnell angenommen.«

»Tja, jetzt wird sich zeigen, wie sehr sie uns zu brauchen meinen.«

Swan schüttelte sich wie ein Hund. Genette sah ihr an, dass sie derzeit nicht über die Vulkanoiden nachdenken wollte. Vielleicht ärgerte es sie, dass Mqaret bereits über die nächsten Schritte nachdachte, während sie noch auf die glimmenden Ruinen hinabblickten.

Wahram achtete aufmerksamer auf ihren Gemütszustand. »›Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach!, wie die Jahre.‹«

Swan bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Noch mehr Glückskekse von dir tiefsinnigem Denker?«

»Ja.« Ein kleines Lächeln; Genette erkannte, dass Wahram sich noch immer an Swans Eigenheiten erfreuen konnte, obwohl sie so lange miteinander eingesperrt gewesen waren. Vielleicht hatte er es sogar dabei gelernt. Die beiden hatten auffällig wenig über ihre gemeinsame Zeit in dem Tunnel geredet.

Swan sagte: »Ich möchte mich der Untersuchung von Inspektor Genette anschließen, wenn das in Ordnung ist. Inspektor? Ich wäre gerne Ihre Kontaktperson zum Merkur.«

»Wir können immer Hilfe gebrauchen«, antwortete Genette diplomatisch. »Dieser Vorfall macht uns allen große Sorgen, aber dem Merkur geht er natürlich an Herz und Nieren. Deshalb bin ich auch davon ausgegangen, dass sich jemand von Ihnen an den Ermittlungen beteiligen wollen würde.«

»Gut«, erwiderte Swan. »Ich bleibe mit dem Designteam in Verbindung«, sagte sie zu Mqaret. Von irgendwelchen selbst zerfleischenden Kunstaktionen war nicht mehr die Rede; obwohl Genette argwöhnte, dass die Ermittlungen für Swan etwas Ähnliches waren.

Als sie wieder beim Raumhafen eintrafen, verabschiedete Wahram sich mit einem Nicken von Genette. Dann wandte er sich Swan zu und deutete, die Hand über dem Herzen, eine Verbeugung an.

»Ich muss zum Saturn zurück und mich Geschäften zuwenden, die ich vernachlässigt habe. Sicherlich treffen wir uns bald wieder. Terminator wird sich wie ein Phönix aus der Asche erheben, und anschließend haben wir beide noch so einiges miteinander zum Abschluss zu bringen.«

»Das haben wir allerdings«, sagte sie. Unvermittelt umarmte sie ihn und legte den Kopf für einen kurzen Moment an seine breite Brust. Dann trat sie zurück. »Danke, dass du mich gerettet hast. Es tut mir leid, dass ich da unten so neben der Spur war.«

»Dazu besteht kein Anlass«, erwiderte Wahram. »Du hast mich gerettet. Und wir sind durchgekommen.« Mit einer weiteren unbeholfenen Verneigung ging er.

Загрузка...