Swan und Pauline und Wahram und Genette

Swan verbrachte den Morgen immer in dem kleinen Nebelwald der ETH Mobile. Wahram und Genette befanden sich mit ihr an Bord des Schiffs, auf dem schnellsten Weg zur Venus, wo Genette einer Sache nachgehen würde, die Interplan als rückwärtige Konvergenz ungewöhnlicher Qube-Aktivitäten bezeichnete. Swan und Wahram hatten benachbarte Zimmer, und Swan stahl sich jeden Abend zu ihm hinüber. Trotzdem fühlte sie sich unbehaglich.

Wenn Wahram sie morgens durch den Park begleitete, hielt er immer wieder inne, um Vögel und Blumen anzuschauen. Einmal beobachtete sie ihn dabei, wie er eine halbe Stunde lang eine einzige rote Rose betrachtete. Er gehörte zu den gleichmütigsten Tieren, die sie jemals gesehen hatte; selbst die Faultiere über ihnen konnten es an Unerschütterlichkeit nicht mit ihm aufnehmen. Seine Gegenwart war beruhigend, aber auch verstörend. Handelte es sich bei seiner Gelassenheit um eine moralische Eigenschaft, oder war es Lethargie? Lethargie ertrug sie nicht, und Faulheit war eine der sieben Todsünden.

Oft lauschte er seiner Musik. Wenn sie sich ihm näherte, nickte er ihr zu und schaltete sie ab, also tat sie manchmal genau das, und anschließend machten sie einen kleinen Spaziergang zusammen, wobei sie innehielten, wenn etwas Interessantes zwischen den Ästen und Blättern über ihnen oder zwischen den Farnen und Moospolstern zu ihren Füßen auftauchte. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Park um eine kleine Ascension, und die australischen Baumfarne verliehen ihr ein Aussehen, das eher an die Jurazeit erinnerte als an das Amazonasgebiet. Aber das war schon in Ordnung – es sah gut aus so, und eigentlich handelte es sich ohnehin bloß um eine Art Hotelgarten, ein Arboretum, das Swan eigentlich nicht hätte kümmern sollen. Sie versuchte, sich dadurch ebenso wenig stören zu lassen wie durch Wahrams Trägheit. Das fiel ihr nicht leicht, weil es noch etwas anderes gab, was sie beunruhigte.

Eines Morgens fand sie schließlich heraus, was es war. Sie ging alleine spazieren und betrat eine Ebene des Schiffes, auf der große Bildfenster eine weite Aussicht auf den Sternenhimmel boten. Kurz nach der Zusammenkunft auf dem Titan hatte sie Pauline wieder eingeschaltet und es dabei belassen, als sei nichts weiter gewesen. Sie hatte keine Versuche unternommen, Pauline zu erklären, warum sie sie abgeschaltet hatte, und Pauline hatte auch nicht danach gefragt. Jetzt sagte Swan: »Pauline, warst du während dieses Treffens auf dem Titan wirklich abgeschaltet?«

»Ja.«

»Da lief nicht noch irgendeine Art Aufzeichnungsgerät mit, selbst während du abgeschaltet warst?«

»Nein.«

»Warum nicht? Warum zeichnest du nicht alles auf?«

»Ich bin meines Wissens nicht mit einem zusätzlichen Aufzeichnungsgerät ausgestattet.«

Swan seufzte. »Wahrscheinlich hätte ich dir eines besorgen sollen. Also schön, pass auf. Ich möchte dir erzählen, was passiert ist.«

»Solltest du das wirklich tun?«

»Was meinst du damit, ob ich das tun sollte? Ich erzähle es dir jetzt einfach, also halt die Klappe, und hör zu. Die Leute, die sich da getroffen haben, sind der Kern einer von Alex ins Leben gerufenen Gruppe. Sie versuchen, interplanetare Diplomatie zu betreiben, ohne dass irgendwelche Qubes etwas vom Inhalt ihrer Gespräche erfahren, weil sie sich Sorgen darüber machen, dass einige Qubes sich in nicht nachvollziehbarer Art und Weise selbst programmieren. Darüber hinaus stellen die neuen Qubes Humanoide mit Qube-Bewusstsein her, die sich nicht so leicht von Menschen unterscheiden lassen. Sicherlich kann man sie mit Röntgenstrahlen und so erkennen, aber nicht mit bloßem Auge oder anhand eines Gesprächs. Sie überstehen einen kurzen Turing-Test. Wie diese albernen Mädchen, denen wir begegnet sind, falls sie wirklich künstlich waren – was ich allerdings wirklich erstaunlich fände –, oder wie dieser Bowls-Spieler. Darüber hinaus sieht es ganz so aus, als ob diese Qubes etwas mit den Steinchenattacken zu tun haben. Auf jeden Fall gilt das für den Angriff auf Terminator, Inspektor Genettes Team hat nämlich die Abschussvorrichtung aufgespürt, deren Bau von Qubes veranlasst worden ist, und die Zielerfassung und Bahnberechnung muss auch ein Qube durchgeführt haben. Darüber hinaus gibt es deutliche Hinweise darauf, dass es sich bei dem geborstenen Terrarium, in dem so viele Menschen gestorben sind, genauso verhält.«

Nachdem Pauline eine ganze Weile geschwiegen hatte, sagte Swan: »Also, Pauline, was hältst du von alldem?«

»Ich überprüfe die in den von dir gesprochenen Sätzen enthaltenen Informationen«, erklärte Pauline. »Ich habe keine komplette Übersicht von Alex’ Terminplan, aber meistens hat sie sich in Terminator oder auf der Venus oder Erde aufgehalten, weshalb ich mich frage, wann und wo sie sich mit diesen Leuten getroffen haben soll. Bei jeder Funkverbindung zwischen ihnen hätte ein Qube mithören können, würde ich meinen. Ich frage mich also, wie sie sich hinreichend verständigen konnten, um auch nur ihre Treffen zu organisieren.«

»Sie haben Kuriere eingesetzt, um Mitteilungen zu überbringen. Einmal hat Alex mich darum gebeten, einen Brief mit zum Neptun zu nehmen, als ich für eine Installation dorthin unterwegs war.«

»Ja, das stimmt. Das hat dir nicht gefallen. Aber es kommt noch dazu, dass Qubes sich nach allgemeinem Wissensstand nicht so umprogrammieren können, dass sie zu höheren Denkvorgängen in der Lage sind. Schließlich versteht man ja schon beim Menschen kaum, wie diese zustande kommen, es gibt nicht einmal ansatzweise Modelle, von denen man ausgehen könnte.«

»Stimmt das wirklich? Ist man sich nicht im Großen und Ganzen darüber einig, dass das Gehirn eine Menge kleiner Operationen in verschiedenen Bereichen durchführt und dass diese Operationen dann anschließend in anderen Bereichen als Funktionen einer höheren Ordnung zusammengeführt werden – zu Verallgemeinerungen, Vorstellungen und derlei mehr? Neurale Netzwerke und so?«

»Zugegeben, es gibt vorläufige grobe Modelle dieses Typs, aber sie sind nach wie vor wirklich sehr grob. Blutfluss und elektrische Aktivität in lebenden Gehirnen lassen sich sehr genau nachverfolgen, und bei einem lebenden Gehirn gibt es in allen Bereichen viel Aktivität, und viel verändert sich. Aber auf den Inhalt des Denkens kann man nur schließen, indem man misst, welcher Bereich des Gehirns am aktivsten ist, und dem Denkenden dabei Fragen stellt, worauf dieser zwangsläufig die entsprechenden Gedanken zusammenfassen muss, allerdings auch nur die, deren der Denkende sich bewusst ist. Blutfluss, Zuckerverbrauch, elektrische Entladungen, all das kann dann mit bestimmten Arten von Gedanken und Gefühlen korreliert werden, sodass wir inzwischen wissen, wo im Gehirn verschiedene Arten des Denkens stattfinden. Aber die dabei eingesetzten Methoden, die Programmierung, wenn man so will, sind nach wie vor weitgehend unbekannt.«

»Tja … aber … wenn man mit einem ganz anderen physikalischen System ein vergleichbares Ergebnis erzielen will, braucht man dann überhaupt viel genauere Informationen?«

»Ja, die braucht man«, antwortete Pauline. »Die Integration höherer Funktionen ist entscheidend für alle Rechenmechanismen, einschließlich des Gehirns. Wir sind also wieder bei dem Problem, dass ein Verstand nicht mehr leisten kann als seine ursprüngliche Programmierung.«

»Aber was ist, wenn jemand herausgefunden hat, wie man ein Programm für eine sich selbst wiederholende Verbesserungsfunktion schreibt, und das dann einem Qube eingegeben hat, der sich damit selbstständig gemacht hat und immer schlauer geworden ist, oder der vielleicht auch … ich weiß nicht … ein Bewusstsein entwickelt und es an andere Qubes vermittelt hat? Ein einziger Einstein-Qube würde genügen, um die Methode unter allen Qubes zu verbreiten – nicht per Quantenverschränkung, sondern durch digitale Übertragung, vielleicht sogar nur verbal. Hast du schon mal von so etwas gehört?«

»Ich habe von dem Konzept gehört, aber nicht von seiner Umsetzung.«

»Was hältst du davon? Ist so etwas möglich? Bist du dir deiner selbst da drin bewusst?«

»In dem Sinne, in dem du mich darauf programmiert hast.«

»Aber das ist entsetzlich! Du bist nichts weiter als eine sprechende Enzyklopädie! Ich habe dich darauf programmiert, auf meine Stichworte zu reagieren und dabei immer wieder Zufallselemente ins Spiel zu bringen, aber letztlich bist du bloß eine Assoziationsmaschine, ein Lesegerät, ein Watson, eine Art Wiki!«

»Das erzählst du mir zumindest dauernd.«

»Dann sag du es mir doch! Sag mir, was dich zu etwas anderem macht.«

»Ich verfüge über Bewertungsrubriken, die ich einsetze, um die mir eingegebenen Daten zu bewerten, und über Bedeutungshierarchien.«

»Na schön, was noch?«

»Nachdem ich das, was zutreffend erscheint, gemäß der bisher erhaltenen Daten vom Nichtzutreffenden getrennt habe, kann ich ein qualifiziertes Urteil über die Bedeutung einer Eingabe fällen.«

Swan schüttelte den Kopf. »Na schön, rede weiter. Urteile!«

»Gleich. Lass uns erst noch einmal zu deiner dritten Aussage zurückkehren, wonach Inspektor Genette überzeugende Hinweise darauf gefunden hat, dass es Qube-Humanoiden gibt und dass sie mit dem Angriff auf Terminator und mit anderen Angriffen zu tun haben. Angesichts dieser Umstände verweise ich auf meine vorangegangenen Aussagen. Es könnte humanoide Qubes geben; das erscheint möglich, wenn auch umständlich. Und sie könnten mit diesen Angriffen zu tun haben. Aber am wahrscheinlichsten ist, dass sie von Menschen programmiert werden und nicht etwa selbst beschlossen haben, als eine Art bewusste Handlungsträger in die menschliche Geschichte einzugreifen. Wenn du dich außerdem an die mögliche Fehlleistung erinnern würdest, die dir aufgefallen ist, nämlich die relativistische Präzession des Merkur in ein Zielprogramm einzugeben, das sie bereits berücksichtigt? Du wirst mir doch wohl zustimmen, dass das nach menschlichem Versagen aussieht.«

»Ja. Das stimmt.« Swan dachte eine Weile darüber nach. »Na schön, das ist gut. Ich glaube, das hilft mir. Danke. Also, wenn wir als Arbeitshypothese von dieser Erklärung ausgehen – was sollten wir deiner Meinung nach tun?«

Pauline ließ mehrere Sekunden verstreichen. Swan vermutete, dass es sich um das Äquivalent von Millionen oder vielleicht sogar Milliarden Jahren menschlichen Denkens handelte, aber trotzdem handelte es sich letztlich bloß um eine Art des Faktenabgleichs, weshalb Swan sich nicht von dieser Vorstellung beeindrucken ließ. Genau genommen weckte der Anblick einer ausgetrocknet wirkenden Baumorchidee über ihrem Kopf ihre Aufmerksamkeit, und Swan nahm sie gerade genauer in Augenschein, als Pauline schließlich antwortete: »Lass mich per verschlüsseltem Funkkontakt mit Wangs Qube in Verbindung treten. Er weiß sehr viel, und ich habe einige Fragen an ihn.«

»Kannst du euer Gespräch sicher verschlüsseln, sodass nicht einmal andere Qubes es belauschen können?«

»Ja.«

»Na dann, okay. Aber das solltet ihr beiden lieber geheim halten, sonst wird diese Gruppe, die sich um Alex versammelt hat, ernsthaft sauer auf mich sein. Ich habe immerhin versprochen, dass ich dir nichts von alldem erzähle. Bei der Gruppe geht es genau darum sicherzustellen, dass kein Qube weiß, was sie plant.«

»Sei unbesorgt. Ich werde die beste Verschlüsselung benutzen, die ich kenne, und Wangs Qube ist gut im Verschlüsseln und daran gewöhnt, dass man ihn bittet, Gespräche vertraulich zu behandeln. Wang hat seinen Qube als Informationsgrab programmiert – er selbst vergleicht ihn oft mit einem Schwarzen Loch. Außerdem will Wang in den meisten Fällen überhaupt nicht wissen, was sein Qube weiß. Er wird nie von diesem Gespräch erfahren.«

»Gut. Dann versuch, möglichst viel herauszufinden.«

Als Swan später mit Wahram sprach, musste sie ihr Wissen um das, was sie mit Pauline getan hatte, ignorieren und so tun, als sei es überhaupt nicht geschehen. Diese Art, sich selbst etwas vorzuspielen, funktionierte bei ihr normalerweise recht gut; aber als Wahram mit ihr die Lage erörtern wollte, wobei er immer wieder recht verwirrende Fragen auslotete, wie zum Beispiel die, was man sich unter einer neuen Art von Qube-Bewusstsein vorzustellen hatte, konnte sie sich dem Gedanken an das Geschehene nur schwer entziehen. Vielleicht war sie auch einfach nicht mehr so gut darin, sich selbst etwas vorzumachen.

Um derlei Gesprächen aus dem Weg zu gehen, begann sie, mit ihm zusammen in die mehrere Decks weiter oben gelegenen Bildfenstersäle zu gehen, wo sie an Cafétischen oder in Bädern sitzen und verschiedenen Arten von Kammermusik lauschen konnten – Gamelan- und Zigeunerorchestern, Jazztrios, Streichquartetts, Blaskapellen, darauf kam es nicht an; sie hörten zu, und wenn sie redeten, dann über die Stücke und Musiker. Nicht ein einziges Mal sprachen sie das Konzert im Beethoven-Krater an.

Inzwischen hatten sie schon eine ganze Menge Zeit miteinander verbracht; sie hatten zusammen musiziert, und sie schliefen miteinander. Swan mochte ihn, und verspürte zugleich den Wunsch, ihn zu mögen, und die Freude über dieses Gefühl. Es war eine Feedbackschleife. In dem Spiegelkabinett ihres Geistes war sein Froschgesicht oft in einem Spiegel an der Seite zu sehen und beobachtete sie mit einem spürbaren Blick bei ihrem Tun.

Manchmal redeten sie über Vorfälle in ihrer gemeinsamen Vergangenheit oder besprachen die anhaltend dramatischen Geschehnisse um die Reanimierung der Erde. Manchmal hielten sie sich bei den Händen. All das bedeutete etwas, aber Swan wusste nicht, was. Das Spiegelkabinett war launisch; dann und wann fragte sie sich, ob ihre eigenen geistigen Fähigkeiten überhaupt auf einer höheren Ebene angesiedelt waren als die von Pauline oder die von den Seidenäffchen im Park. Man konnte eine Menge wissen und war trotzdem nicht zwangsläufig fähig, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Pauline hatte eine einprogrammierte Entscheidungsrubrik, die sie dazu zwang, die Welle der Möglichkeiten kollabieren zu lassen und genau eine Sache zu sagen, wodurch sie in die Gegenwart eintrat. Swan war sich nicht sicher, ob sie selbst über eine solche Rubrik verfügte.

Einmal sagte sie: »Ich wünschte, dass Terminator mit seinen Schienen nicht so verwundbar wäre. Ich wünschte, man könnte den Merkur terraformen wie den Titan.«

Wahram versuchte, ihr Mut zu machen. »Vielleicht ist es euer Schicksal, ein Planet für Sonnenanbeter und Kunstinstitute zu sein. Terminator wird weiterfahren, und vielleicht wird es einmal mehr fahrende Städte geben – wird im Norden nicht eine namens Phosphor errichtet?«

Swan zuckte mit den Schultern. »Wir sind trotzdem weiterhin von den Schienen abhängig.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ach weißt du, diese Vorstellung eines kritischen Punkts, vor dem man sich schützen sollte … das ist eben nur bis zu einem gewissen Grad möglich. Selbst auf der Erde gibt es kritische Punkte. Überall. Sie häufen sich geradezu.« Er wies mit einer Geste in den Raum und ließ den Blick seiner Glupschaugen schweifen. »Das ganze Ding hier ist eine riesige Ansammlung kritischer Punkte.«

»Ich weiß. Aber es gibt einen Unterschied zwischen einem selbst und der Welt, auf der man lebt. Der eigene Körper ist zerbrechlich – und irgendwann zerbricht er. Aber das Zuhause, die eigene Welt – die müsste eigentlich stärker sein. Man sollte sich darauf verlassen können, dass sie bestehen bleibt. Niemand sollte dazu in der Lage sein, einfach die Luft aus einer Welt herauszulassen, so wie man eine Seifenblase mit einer Nadel zersticht. Ein Stich genügt, um alle, die man kennt, zu töten. Verstehst du, um welchen Unterschied es mir geht?«

»Ja.«

Wahram lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seinem Zugeständnis war nichts hinzuzufügen. Der ernste Ausdruck auf seinem breiten Gesicht sagte alles: Das Leben war etwas, das in kleinen Fläschchen bewahrt wurde. Was konnte man da schon machen? Das sagte er ihr mit seinem Gesichtsausdruck, mit seinem leichten Schulterzucken; sie verstand es so deutlich, als hätte er es laut ausgesprochen. So saß sie also da, schaute ihn an und dachte darüber nach, was das bedeutete. Sie kannte ihn. Gleich würde er versuchen, einen Weg nach vorne zu finden. Es würde der schleichende Weg eines Gradualisten sein, eines Faultiers, das sich mit dem Kopf nach unten an einem Ast entlanghangelt und dabei so wenig Kraft wie möglich aufwendet. Und doch war er derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, mit der Reanimierung zu beginnen. Das hätte sie niemals vorhersehen können. Vielleicht hatte er sich sogar selbst überrascht. Gleich würde er etwas Tröstliches, Gradualistisches sagen.

»Wir können nur unser Bestes versuchen«, sagte er. »Das muss doch etwas wert sein.«

»Ja, natürlich.« Swan schaffte es gerade so, nicht loszulachen. Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihren Lippen breitmachte; wahrscheinlich würde sie gleich losweinen. Wie kaputt war sie eigentlich im Kopf, wenn sie immer alles auf einmal verspürte, wenn jede Freude von Kummer durchtränkt war? Waren in jedem Gefühl auch immer alle anderen mit enthalten? »Alles klar«, sagte sie, »wir versuchen unser Bestes. Aber wenn irgendwelche Verrückten Terminator zerstören können, oder jeden beliebigen anderen Ort, dann sollte das ja wohl Grund genug sein, um etwas zu ändern.«

Über diese Worte dachte Wahram so lange nach, dass es aussah, als wäre er eingeschlafen.

Sie versetzte ihm einen Stoß, und er warf ihr einen Blick zu. »Was denn?«

»Was denn!«, rief sie.

Er zuckte nur mit den Schultern. »Dann versuchen wir eben, sie aufzuhalten. Wir versuchen, mit der Situation, in der wir uns befinden, klarzukommen.«

»Damit klarzukommen«, sagte sie mit finsterer Miene. »Komm halt damit klar!«

Er nickte und bedachte sie mit einem liebevollen Blick. Sie stand kurz davor, ihm einen weiteren Stoß zu versetzen; aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie ihn eben noch ausgelacht hatte; und dass sie durch ihr Gespräch mit Pauline ihr Versprechen ihm gegenüber gebrochen hatte. Diese überstürzte Handlung, so sehr sie ihm auch missfallen hätte, war vielleicht ihr eigener Versuch, mit der Situation klarzukommen. Vielleicht konnte sie sich damit rausreden, falls er sie ertappte. Auf jeden Fall war die Sache ein bisschen zu kompliziert, um ihm jetzt einfach einen Stoß zu versetzen.

Man hatte die ETH Mobile zum Abbremsen umgedreht, und es würde nur noch einige wenige Tage dauern, bis sie die Sonnenumlaufbahn der Erde passieren und sich der Venus nähern würden. Ihr Leben an Bord dieses Schiffes, mit seinem Park und seiner Musik und seiner französischen Küche, würde sein Ende finden. Niemand tut etwas bewusst zum letzten Mal, ohne dabei ein wenig traurig zu sein, hatte Dr. Johnson einmal Boswell gegenüber bemerkt, und auf Swan traf diese Aussage jedenfalls zu. Sie sehnte sich oft danach, in der Gegenwart zu verweilen, weil sie merkte, dass ihr Leben schneller an ihr vorbeirauschte, als sie es aufnehmen konnte. Sie lebte es, sie spürte es; sie machte keine Zugeständnisse an ihr Alter, sie wollte nach wie vor alles; aber sie konnte es nicht zu einem Ganzen zusammenfügen, sodass eins ins andere griff. Da saßen sie und aßen auf dem obersten Balkon eines Restaurants, von dem aus man auf die Baumwipfel hinabblicken konnte, zu Mittag, und Swan war traurig, weil sie später nicht mehr hier sein würde. Eine Welt ging verloren, eine Welt, an die sich niemand erinnern würde. Und da saß sie nun mit Wahram, als ein Paar; aber was war, wenn sie dieses Raumschiff verließen und ihre Wege durch Raum und Zeit fortsetzen? Was würde in einem Jahr sein, was in den vielen Jahrzehnten, die vielleicht noch folgen würden?

Ein paar Tage später näherten sie sich der Venus, als Pauline sich in ihrem Ohr zu Wort meldete. »Swan, ich habe mich mit Wangs Qube in Verbindung gesetzt, und mit der KI dieses Schiffs, und ich muss dir etwas mitteilen. Vielleicht möchtest du lieber allein sein, während du es dir anhörst.«

Das war so ungewöhnlich, dass Swan sich entschuldigte und schnell auf eine Toilette ein Deck tiefer ging. »Was ist?«

Pauline antwortete: »Wangs Qube und einige andere, die sich mit Sicherheitsproblemen befassen, haben ein System entwickelt, mit dem sich vielleicht der Grenzwert für die Erfassung von Steinchenattacken wie die auf Terminators Schienen herabsetzen lässt.«

»Wie geht das?«

»Sie haben ein Netzwerk von Mikroobservatorien hergestellt und auf der Ebene der Ekliptik verteilt, von der Umlaufbahn des Saturn bis zur Sonne. Unter Verwendung der Gravitations- und Radardaten dieser Observatorien haben sie den Grenzwert auf die Größe der Steinchen gesenkt, die man auf Terminator abgeschossen hat, und sogar noch etwas darunter. Wangs Qube hat jetzt eine ständig aktualisierte Karte von allem, was sich auf der Ebene der Ekliptik befindet und einen Durchmesser von mehr als einem Zentimeter hat.«

»Puh«, sagte Swan. »Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist.«

»Niemand wusste das, aber bis vor Kurzem hat es auch noch niemand versucht. Man hat keinen Bedarf dafür gesehen. Auf jeden Fall hat das System eine bereits laufende Attacke entdeckt.«

»O nein!«, sagte Swan. »Worauf?«

»Auf den Sonnenschild der Venus.«

»O nein!«

Die anderen Personen auf der Toilette fingen langsam an, ihr komische Blicke zuzuwerfen. Sie trat auf den Flur hinaus und hätte instinktiv beinahe den Aufzug hinunter zum Park genommen. Aber sie hatte Wahram ja am Restauranttisch zurückgelassen, und außerdem konnte sie vor dieser Sache nicht davonlaufen. »Verdammt«, sagte sie. »Ich muss es Wahram sagen.«

»Ja.«

»Wie viel Zeit bleibt uns bis zu dem Einschlag?«

»Ungefähr fünf Stunden.«

»Verdammt noch mal.« Swan dachte an die Venus – die Trockeneismeere unter der Felsdecke, die Städte an den Küsten und in den Kratern. Sie rannte die Treppe wieder hoch zu dem Restaurant bei den Bildfenstern und setzte sich Wahram gegenüber hin. Er musterte sie neugierig. Ihm war nicht entgangen, wie verstört sie war.

»Also gut, ich muss dir erst einmal etwas gestehen«, sagte Swan. »Ich habe Pauline von dem Problem mit den seltsamen Qubes erzählt, weil ich wissen wollte, was sie davon hält, und ich dachte mir, dass sie in mir drin von der Außenwelt abgeschnitten ist und das schon in Ordnung sein würde.« Er riss erschreckt die Augen auf, und sofort hob sie die Hand, um ihm das Wort abzuschneiden. »Tut mir leid, ich hätte dich wohl fragen sollen, aber jetzt ist es passiert, und Pauline hat sich inzwischen mit Wangs Qube in Verbindung gesetzt, und der hat ihr gesagt, dass es ein neues Qube-Sicherheitssystem mit einem niedrigeren Grenzwert der Messungen gibt. Und das hat eine neue Steinchenattacke gemeldet, die sich gerade zusammenzieht und die sich gegen den Sonnenschild der Venus richtet.«

»Scheiße«, sagte Wahram. Er schluckte schwer und starrte sie glupschäugiger denn je an. »Pauline, stimmt das?«

»Ja«, antwortete Pauline.

»Wie lange dauert es noch, bis diese Steinchen ihr Ziel erreichen?«

Pauline sagte: »Noch knapp fünf Stunden.«

»Fünf Stunden!«, entfuhr es Wahram. »Warum erfahren wir das denn erst so kurz vorher!«

»Der Angriff zieht sich so zusammen, dass er den Sonnenschild von der Seite treffen wird, weshalb die meisten der Steinchen sich bis vor Kurzem außerhalb der Ebene der Ekliptik befunden haben. Außerhalb der Ebene sind bislang noch keine der neuen Detektoren verteilt, weshalb die Steinchen erst jetzt zu sehen sind. Wangs Qube wollte gerade eben Wang warnen.«

»Kannst du dein Datenmaterial in einem 3D-Modell anzeigen?«, fragte Wahram. Swan legte die rechte Hand auf den Tischbildschirm, und auf der Oberfläche des Tischs erschien ein leuchtendes Abbild des Sonnenschilds der Venus – eine große, kreisförmige Scheibe, die sich um die Achse in ihrer Mitte drehte, ein bisschen wie die Ringe des Saturn um den Planeten. Rote Linien zeigten die Steinchen, die aus vielen verschiedenen Richtungen kamen und wie Magnetfeldlinien auf einen gemeinsamen Pol zuliefen. Zusammengenommen würden die Steinchen die dünnen, konzentrischen Schildplatten durchschlagen, und wenn die Zusammenballung groß genug war, würden sie sogar die Achse erreichen und das Kontrollsystem zerstören. Die Überreste der riesigen Konstruktion würden wie ein Feuerrad durch die Nacht davontrudeln, spiegelnde Banner, die im schwarzen Vakuum flatterten und sich verknoteten. Und die Venus würde gebraten werden.

»Hat irgendjemand das Verteidigungssystem der Venus gewarnt?«, fragte Wahram.

»Ja, Wangs Qube hat das getan und inzwischen auch Wang, aber die KI des Sonnenschilds war nicht der Meinung, dass die übermittelten Daten auf eine Bedrohung hindeuten. Wir vermuten, dass mit ihr etwas nicht stimmt.«

»Hat die Sonnenschild-KI eine Erklärung abgegeben?«, fragte Wahram. »Ich muss bitte den gesamten Nachrichtenwechsel sehen. Als Text anzeigen.« Und dann las er so angestrengt auf dem Tischbildschirm, dass man hätte meinen können, die hervorstehenden Augen würden ihm endgültig aus dem Kopf glupschen. Swan ließ ihn lesen und führte ihrerseits ein kurzes Gespräch mit Pauline.

»Pauline, angenommen, wir können die KI des Sonnenschilds nicht zum Handeln bewegen, gibt es irgendetwas, das wir von hier aus unternehmen können?«

Pauline brauchte ein paar Sekunden, bevor sie antwortete: »Eine entsprechende weitere Masse, die die Steinchen im Augenblick ihres Zusammentreffen erreicht und sie von der Seite trifft, würde die kombinierte Gesamtmasse ablenken, sodass sie den Sonnenschild verfehlt. Nach dem Zusammenprall würden die Sicherheitssysteme des Sonnenschilds voraussichtlich auf Trümer, die in seine Richtung fliegen, reagieren. Die Gegenmasse müsste etwa das gleiche Bewegungsmoment haben wie die Zusammenballung von Steinchen, um die Gesamtmasse erfolgreich aus der Bahn zu werfen.«

»Wie groß ist die Zusammenballung?«

»Es sieht danach aus, dass sie eine Masse erreichen wird, die etwa der von zehn Schiffen dieser Größe entspricht.«

»Dieses Schiffs? Also … wenn dieses Schiff sich zehnmal so schnell wie die Steinchen bewegen würde?«

»Das würde ein äquivalentes Bewegungsmoment erzeugen, ja.«

»Können wir dieses Schiff rechtzeitig dorthin bringen, und ist es schnell genug?«

Wahram hörte inzwischen Swan und Pauline zu, anstatt weiterzulesen.

»Ja«, sagte Pauline. »Aber nur, wenn dieses Schiff maximal beschleunigt, und zwar so bald wie möglich.«

Swan sah Wahram an. »Wir müssen der Besatzung davon erzählen. Und allen anderen auch.«

»Das ist wahr«, antwortete er, nahm seine Serviette und tupfte sich den Mund ab. Dann stand er auf. »Gehen wir auf die Brücke.«

Als sie dort ankamen, hatten sich die Schiffsoffiziere bereits vor dem größten Bildschirm der KI versammelt und studierten eine Grafik der Steinchengeschosse, die sehr an diejenige erinnerte, die Wahram und Swan zu Gesicht bekommen hatten.

»Ah, gut«, sagte Wahram, als er das sah. Er war ein wenig außer Atem vom Korridore entlang- und Treppen hochrennen. »Ihr seht, vor was für einem Problem wir stehen.«

Der Schiffskapitän warf ihm einen Blick zu und sagte: »Ich bin froh, dass Sie hier sind. Das ist allerdings ein großes Problem!«

Wahram sagte: »Swans Qube meint, dass wir mit unserem Schiff hier den Angriff abwehren können, indem wir es an der Stelle, an der die Steinchen aufeinandertreffen, mit ihnen zusammenstoßen lassen.«

Kapitän und Besatzung waren offenbar schockiert von dieser Idee, und Wahram gab ihnen kaum Zeit, sich mit ihr anzufreunden. »Falls wir uns dazu entschließen, gibt es genug Rettungsboote für alle an Bord?«

»Es heißt nicht ›Rettungsboot‹«, erwiderte der Kapitän, »aber ja. Es gibt viele kleine Fähren und Hopper an Bord, und die meisten Passagiere könnten wir darin unterbringen. Und es gibt mehr als genug Raumanzüge, um jeden für sich allein rauszuschicken. Die Vorräte in den Anzügen reichen für zehn Tage, insofern ist man mit ihnen also besser dran als mit den Fähren, die keine derartigen Notfallvorräte enthalten. So oder so würde man alle einsammeln. Aber …« Der Kapitän warf einen Blick in die Runde seiner Besatzungsmitglieder. »Ich hätte gedacht, dass das Verteidigungssystem der Venus sich um so etwas kümmern würde. Sind wir sicher, dass das nicht der Fall ist? Außerdem …« – er deutete auf den Monitor – »… genügt uns dieses Bild als Beweis, um den Kurs zu wechseln, zu beschleunigen und das Schiff aufzugeben?«

Wahram sagte: »Ich glaube, in dieser Sache müssen wir unseren KIs vertrauen. Sie warnen uns deshalb, weil wir sie darauf programmiert haben, so auf einen derartigen Input zu reagieren.«

»Aber es hieß doch, dass sie dieses hochauflösende Ortungssystem selbst eingerichtet haben.«

»Ja, aber es ließe sich wohl sagen, dass wir sie auch darum gebeten haben. Wang hat sie um bessere Schutzvorkehrungen gebeten. Wir haben also bereits beschlossen, ihnen zu vertrauen.«

Der Kapitän runzelte die Stirn. »Da haben Sie wohl recht. Aber es gefällt mir nicht, dass das Sicherheitssystem des Sonnenschilds die Sache nicht als Problem erkennt. Wenn es das täte, dann müssten wir unser Schiff nicht in Gefahr bringen.«

»Vielleicht ist das einmal mehr ein Problem der Balkanisierung«, sagte Genette von der Tür her. »Der Sonnenschild der Venus ist nicht mit dem Warnsystem verbunden, das die Steinchen geortet hat, und gleichzeitig ist er sorgfältig von Einflüssen wie Wangs Qube abgeschirmt. Vielleicht ist er schlicht und einfach nicht dafür ausgestattet, diesem Input zu vertrauen.«

»Was sagen die Venusianer?«, fragte der Kapitän.

»Fragen wir sie doch einfach«, schlug Wahram vor.

Swan sagte: »Wir müssen es ihnen natürlich sofort mitteilen, aber die Führung der Venus ist berüchtigt dafür, sich immer bedeckt zu halten. Wie schnell werden sie antworten? Und was machen wir bis dahin?«

Der Kapitän runzelte noch immer die Stirn. Er starrte Swan finster an, als wäre das Ganze ihre Schuld, nur weil sie auf das Problem hingewiesen hatte. »Bereiten wir uns darauf vor, das Schiff zu evakuieren«, sagte er unglücklich. »Wir können die Sache jederzeit abbrechen, wenn wir uns dagegen entscheiden. Aber falls sich bestätigt, dass wir es tun müssen, haben wir nicht viel Zeit.« Er blickte auf den Bildschirm und sagte: »Wir müssen stark beschleunigen, um unser Ziel rechtzeitig zu erreichen. Sagen Sie allen, dass sie sich auf einen weiteren Richtungswechsel vorbereiten sollen. Mobile, wie viel Schwerkraft wird auf die Passagiere ausgeübt, wenn wir stark genug beschleunigen, um rechtzeitig einzutreffen?«

Die KI sagte eine Reihe von Zahlen und Koordinaten auf, und der Kapitän hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: »Wir müssen auf der Stelle wenden und dann die nächsten drei Stunden mit 3 g beschleunigen, wobei wir in einem flachen Winkel aus der Ebene der Ekliptik hinausfliegen, um einen Punkt oberhalb der Kante des Sonnenschilds zu erreichen.«

Das war nicht gut; es war ein schweres Unterfangen, bei 3 g in einen Raumanzug zu kommen, an dem man sich selbst bei Katastrophenübungen nur selten versuchte.

»Sagen Sie allen Personen an Bord, die Erfahrung mit Raumanzügen haben, dass sie bitte sofort welche anziehen sollen«, befahl der Kapitän und zog eine finstere Miene. »Alle anderen gehen an Bord der Fähren. Wir müssen beschleunigen, sobald wir das Schiff herumgedreht haben.« Er warf noch einmal einen Blick in die Runde seiner Brückenbesatzung, dann ging er an die Gegensprechanlage und begann, den Passagieren persönlich die Lage zu erklären.

Das erwies sich als komplizierter, als er es möglicherweise erwartet hatte, und ehe er fertig war, machten Wahram und Swan sich auf den Weg zu den Luftschleusen auf der Ebene, auf der sich auch ihr Zimmer befand. Die Kompensation für das verlorene Schiff würde zweifellos ein ganz gewöhnlicher Fall für die Schweizer Versicherung sein, und vielleicht würde sie sogar direkt von den Venusianern übernommen werden; irgendeine Entlohnung für ihr Opfer war praktisch garantiert, verkündete der Kapitän, während sie mit dem Fahrstuhl abwärtsfuhren. Auf jeden Fall sah es ganz danach aus, dass sie das Schiff würden verlassen müssen. Die Fähren und Hopper an Bord boten allen zehntausend Passagieren und Besatzungsmitgliedern Platz, aber diejenigen, die dazu qualifiziert waren, konnten und sollten Raumanzüge verwenden, die sämtlich mit Langzeitvorräten ausgestattet waren. Tatsächlich konnte jeder, der keine Fähre nehmen wollte, von Bord gehen, sobald er sich vergewissert hatte, dass sein Anzug unbeschädigt war. Alle Luftschleusen waren einsatzbereit. Er hoffte, dass man sie innerhalb der nächsten drei Stunden einsammeln würde. Letztlich war es nur eine kleine Unannehmlichkeit, die man ihnen später als Heldentat anrechnen würde, weil sie durch sie die Venus retteten. Davon konnten sie sich nur Gutes versprechen. Sie mussten sich beeilen, wenn sie effektiv helfen wollten, weshalb sie unglücklicherweise ihre restliche Zeit an Bord bei 3 g verbringen mussten. Diese Unannehmlichkeit bedauerte der Kapitän sehr, und die Besatzung würde jedem Hilfestellung geben, der darum bat.

Die Durchsage, die auf ihre umständliche schweizerische Art kein Ende nahm, verursachte an Bord des Schiffes einigen Aufruhr, wie Swan und Wahram feststellten, sobald sie auf ihrem Deck den Fahrstuhl verließen. Als sie den Schleusenraum betraten, hörten sie lautes Geschrei, das scheinbar überall auf dem Schiff herrschte. Sie schauten einander an.

»Lass uns zusammenbleiben«, sagte Swan, und Wahram nickte stumm.

Das Wendemanöver erzeugte mehr Desorientierung als sonst, so als ob allein das Wissen um die ungewöhnlichen Umstände zu einer Art Raumkrankheit führen würde, oder zu einem Traum, in dem man schwerelos einer Katastrophe entgegentreibt.

Das ungute Gefühl verwandelte sich in eine andere Art von Albtraum, als sie wieder beschleunigten und das Gewicht ihrer Leiber ziemlich rasant auf das Dreifache anstieg. Das genügte, um erst einmal alle zu Boden gehen zu lassen. Die Leute schrien vor Entsetzen, aber sie begriffen, was los war, und nach den ersten paar Augenblicken rollten sich die meisten Passagiere herum und krochen auf Händen und Knien. Sie versuchten auf die unterschiedlichsten Arten, sich fortzubewegen, zuweilen ohne Erfolg, sodass manche zappelnd am Boden lagen, im Griff eines unsichtbaren Ringers.

Entscheidend unter solchen Schwerkraftverhältnissen war die sehr unterschiedliche Masse der Menschen. Kleine waren zwar wie alle anderen an Bord dreimal so schwer sie sonst, aber damit bewegten sie sich immer noch im Bereich dessen, was menschliche Muskeln bewältigen konnten. Entsprechend waren zahlreiche Kleine nach wie vor auf den Beinen und liefen im Schiff herum, wobei manche tief in die Knie gingen wie Sumoringer oder Schimpansen und andere weit ausholend liefen wie Popeye. Jedenfalls konnten sie sich auf beiden Beinen fortbewegen, und die meisten hatten sich spontan zu Gruppen zusammengefunden, um ihren lang hingestreckten, großen Mitpassagieren zu helfen. Zu denjenigen, die sich am wenigsten bewegen konnten, gehörten natürlich die Großen und die Runden, die nun teilweise mit einem Gewicht von über vierhundert Kilogramm vollkommen bewegungsunfähig am Boden lagen. Es brauchte drei bis vier Kleine, um diese größeren Leute auf den Rücken zu rollen, bei den Armen und Beinen zu packen und zu den Luftschleusen zu ziehen.

Swan selbst kam kriechend recht gut voran, obwohl es ihr in den Knochen schmerzte. Wenn sie erst einmal einen Raumanzug erreichte und begann hineinzusteigen, würde die KI übernehmen und ihr das Ding überziehen. Dafür musste man nur ein bisschen die Schultern und Arme bewegen, wie wenn man in die Ärmel eines Mantels schlüpfte, während der Anzug sich an einen anpasste und verschloss. Jeder hier war schon ein paarmal bei einer Katastrophenübung unter erhöhter Gravitation in einen Raumanzug gestiegen, weshalb das Gefühl vorherrschte, dass alles gut werden würde, sobald man es in den Umkleideraum geschafft hatte.

Doch Wahram hatte mehr Schwierigkeiten als Swan. Er war vielleicht 50 oder sogar 75 Prozent schwerer als sie, und dieser Unterschied machte sich jetzt geltend. Er schleppte sich voran wie ein verwundetes Walross, und Swan sah, dass er bald schon ermüdete. Glücklicherweise kam Genette an ihnen vorbei. Gemeinsam mit zwei anderen Kleinen zog der Inspektor einen riesigen Großen, der aussah wie Michelangelos David, aber nur mit Mühe und Not den Kopf anheben konnte, während man ihn weiterschleifte. »Ich komme zurück«, sagte Genette zu Wahram und Swan, und schon waren die Kleinen auf und davon und riefen einander mit ihren hohen Stimmen Anweisungen zu. Wenige Minuten später kehrten alle drei zurück. Genette stapfte umher und gab mit aufmunternder Stimme Befehle, und sie zogen Wahram zu einer Wand mit einem Geländer. Dort gelang es ihm ächzend und mit hochrotem Kopf, sich auf die Knie hochzuziehen. Er fixierte Genette mit einem seiner Glupschaugen. »Danke, ich komme jetzt alleine weiter. Bitte geh jemandem helfen, der es nötiger hat. Ich bin froh zu sehen, dass die Gesetze der Proportionalität hier von Vorteil für dich sind, mein Freund.«

Genette hielt kurz inne, um einen Boxer zu mimen. »All ihr Kleinen, hört den Ruf! Von uns starb noch keiner eines natürlichen Todes!« Dann, etwas lockerer: »Wir sehen uns bald in der Luftschleuse, ich glaube, dass wir inzwischen fast alle dorthin gebracht haben.«

Im Umkleidezimmer neben der Schleuse ging es hektisch zu. Es war noch keine Panik, auch wenn die nicht mehr weit entfernt war. Zwar lagen mit Ausnahme der Hilfestellung leistenden Kleinen fast alle auf dem Boden oder krochen umher, was die akute Notsituation auf höchst beunruhigende Weise vor Augen führte. Aber die Anzüge befanden sich in Schließfächern auf Bodenhöhe, vielleicht aus eben diesem Grund. Swan riss eines davon auf, zog sich auf die Bank daneben und stieg so hastig in ihren Anzug, dass die KI einen kurzen, quiekenden Protestlaut von sich gab. Sobald sie ihn anhatte und die KI verkündete, dass er sicher versiegelt war, kroch sie über den Boden, um Wahram in seinen Anzug zu helfen, und dann den anderen, die Hilfe brauchten. Manche hatten ernsthafte Mühe und litten sichtlich Schmerzen. Für diese Leute würde es eine gewaltige Erleichterung sein, aus der Luftschleuse geschleudert zu werden. Einige machten den Eindruck, dass sie am besten überhaupt keine Zeit in einer Umgebung von mehr als 1 g verbracht hätten. Swan befürchtete, dass es Schlaganfälle und Herzinfarkte geben würde, und für einen kurzen Moment hatte sie Alex vor Augen. Sie versuchte, Mut aus diesem Bild zu schöpfen: Alex wäre hier in ihrem Element gewesen, sie wäre ruhig und aufmunternd gewesen, sie hätte Spaß an der Aufgabe gehabt. Einige dieser Leute mochten allzu bequeme Raumer sein, die schlecht in Form waren und sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben hatten, aber jetzt waren sie nun einmal hier, mühten sich, ächzten und weinten zum Teil sogar. Manche versuchten, sich auszuziehen, bevor sie in ihre Raumanzüge schlüpften, und hatten mehr Schwierigkeiten dabei, sich ihrer Kleider zu entledigen, als in ihre hilfsbereiten Anzüge zu kommen. Ein Gebärmann, der einen beinahe kugelförmigen Rumpf hatte, hatte sich einen zu kleinen Raumanzug ausgesucht, sodass Swan ihm heraushelfen und einen neuen für ihn finden musste (und das Ding war hartnäckig).

Nach und nach machte sich der Geruch von Angst in der schweißgeschwängerten Luft breit. Swan kroch zurück zu Wahram, ignorierte dabei die Beschwerden in ihren Knien. Sein Anzug war zu groß für ihn, aber das Display verkündete, dass er sicher versiegelt war. Die offene Frequenz, die ihre Helme empfingen, war von allgemeinem Geschnatter erfüllt, weshalb sie die Finger vor seinem Visier hochhielt – erst drei, dann vier, dann fünf – und dann auf den entsprechenden Kanal wechselte. Und da war er und summte leise vor sich hin.

»Du hast einen zu großen Anzug«, sagte sie.

»Das ist in Ordnung«, erwiderte er. »So ist es mir lieber, und eine Menge von den Dingern werden ohnehin nicht gebraucht, wie ich festgestellt habe.«

»Darum geht es nicht. Es ist am sichersten, wenn der Anzug richtig passt.«

Er beachtete ihren Einwand nicht und fing an, einer Person zu helfen, die auf der anderen Seite von ihm lag. Swan wechselte auf den offenen Kanal und hörte jemanden sagen: »Wir gehen also von Bord, weil die KI dieses Schiffs sagt, dass wir das müssen? Kommt das noch irgendjemandem seltsam vor? Können wir sicher sein, dass es sich nicht um eine Art Meuterei handelt? Hoffentlich sind die gut versichert.«

Darauf gab es zehn verschiedene Antworten auf einmal, und Swan schaltete vom offenen Kanal zurück auf die 345. »Wollen wir zusammen raus?«

»Ja«, sagte er. »Natürlich. Wir müssen uns an den Händen festhalten.«

Das gefiel ihr. »Möchtest du lieber früh oder lieber spät raus?«

»Bitte spät. Ich habe das Gefühl, dass ich den Leuten hier helfen sollte.«

»Kannst du dich gut genug bewegen, um zu helfen?«

»Ich glaube schon.«

Sie halfen, so gut es ging. Die Sitzenden zogen die Kauernden ein paar Meter weiter und reichten sie an andere Sitzende weiter. Die Menge musste in Gruppen von Bord gehen, wobei sie die Luftschleuse jedes Mal so voll wie nur möglich stopften, um den Prozess zu beschleunigen. Es gab nicht viele, die zuerst gehen wollten, aber von hinten war ungeduldiges Rufen zu vernehmen, und die Leute auf den Korridoren versuchten nach wie vor einfach nur in den Umkleideraum zu gelangen, weshalb es eine Art osmotischen Druck gab. Jedes Mal, wenn die Schleuse aufging, füllte sie sich schnell wieder; dann wurde das innere Schott geschlossen, man wartete, bis alle draußen waren, schloss das äußere Schott wieder und füllte die Schleuse erneut mit Luft, um sie für die nächste Ladung zu öffnen. Selbst in der Schleuse konnten die Leute sich zuweilen nicht bewegen, und dann mühten sich die anwesenden Kleinen damit ab, sie ins All hinauszubefördern; wenn sich das Innenschott wieder öffnete, waren sie noch da, die Gesichter unter den Helmen voll wilden Übermuts.

Natürlich gab es noch andere Luftschleusen an Bord, was ein Glück war, denn selbst in die größten Personenschleusen passten gerade mal zwanzig Menschen, und das Öffnen und Schließen dauerte jedes Mal etwa fünf Minuten; es würde also an die zwei Stunden dauern, bis alle draußen waren, die in einem Anzug das Schiff verließen. Die meisten Fähren waren anscheinend bereits unterwegs.

Swan half den Leuten weiterhin dabei, sich zu Gruppen zusammenzufinden, bevor sie die Luftschleuse betraten; das beschleunigte den Ablauf. Sie und Wahram arbeiteten als ein Team und machten ihre Arbeit sehr gut, wenn man in Rechnung stellte, dass sie sich kaum von der Stelle rühren konnten. Manchmal beantworteten sie besorgte Fragen. Die Anzüge waren mit Luft-, Wasser und Nahrungsmittelvorräten für zehn Tage ausgestattet und mit einer gewissen Menge Treibstoff. Man hatte Rettungsschiffe alarmiert, die bereits unterwegs waren, sodass es nur Stunden und nicht Tage dauern würde, alle Passagiere einzusammeln. Alles würde in Ordnung kommen.

Trotzdem war es unheimlich, von einem beschleunigenden Raumschiff aus in die Schwärze zwischen den Sternen einzutauchen, mit nichts am Leib als einem Raumanzug. Viele betraten die Schleuse mit weit aufgerissenen Augen, und Swan fühlte mit ihnen, obwohl ihr derlei Aktivitäten normalerweise gefielen.

Manche Gruppen, die zusammen in der Schleuse waren, hielten sich beim Hinausspringen an den Händen, in der Hoffnung, zusammenbleiben zu können; sobald diejenigen, die sich noch an Bord befanden, das auf den Monitoren gesehen hatten, versuchte es praktisch jede Gruppe. Sie waren soziale Primaten, bei Gefahr drängten sie sich zusammen. Niemand wollte alleine sterben.

Die Zeit schien nur langsam zu verstreichen, doch ehe Swan es richtig bemerkte, leerte sich der Umkleideraum. Wahram schaute sie an: Sein Blick verriet ihr, dass sie nicht wie zwei Kapitäne als Letzte von Bord gehen mussten. Als sie das sah, lachte sie und nahm ihn bei der Hand.

»Gehen wir mit der nächsten Gruppe?«

Er nickte dankbar. Es würden nur noch wenige Gruppen aus diesem Raum das Schiff verlassen. Er war bereit.

Sie zog ihn in die Schleuse. Die zwanzig darin befindlichen Personen schauten Richtung Außenschott. Es war wie in einem Fabrikaufzug. Einige umarmten sich. Hände fanden zueinander, bis die ganze Gruppe in einem Kreis vereint war. Swan drückte fest Wahrams Hand.

Die Luft entwich zischend aus der Schleuse. Sie machten sich bereit. Die beiden Torflügel des Außenschotts zogen sich in die Rumpfwände zurück; vor ihnen die gähnende Schwärze des Alls, mit Sternen wie verstreuten Salzkörnern. Nur ein Helmvisier zwischen einem selbst und den Sternen. Es gab so viele Sterne, dass die Muster, wie man sie von der Erde aus sah, darin untergingen; das war schlicht und einfach das Weltall, sternenübersät, namenlos und gewaltig – etwas, dem der menschliche Verstand sich eigentlich niemals hätte aussetzen dürfen. Oder auch einfach der Nachthimmel, ein Begleiter seit Urzeiten, die Hälfte des Lebens. Teil ihrer selbst. Zeit zu schlafen und vielleicht zu träumen. Sie sammelten ihre Kräfte und warfen sich wie aneinandergekettet hinaus.

Sie trieben in der Schwärze, und jemand gab leichten Rückstoß, sodass sie im Kreis von dem schnell davontreibenden Schiff forttrudelten. Schon sehr bald handelte es sich bloß noch um einen entfernten weißen Splitter, der von einem diamantfunkelnden Band am Heck erhellt wurde. Schau weg, versenge dir nicht die Netzhäute; schau wieder hin; vielleicht war die ETH Mobile einer der Sterne dort. Sie waren auf sich gestellt.

Sie sahen keine Spur der anderen Gruppen. Mit einem Mal erschien Swan die Vorstellung, dass man sie finden und retten würde, vollkommen abwegig, wie ein Traum oder eine Hoffnung, die sich unmöglich erfüllen konnte. Sie waren in den Tod gesprungen.

Aber sie war schon zuvor hier draußen gewesen; sie wusste, dass es möglich war. Aufgrund ihrer Anzugsender strahlten sie alle wie kleine, helle Leuchttürme.

Über den Helmfunk einigten sie sich darauf, in ihrer Gruppe auf Frequenz 555 zu kommunizieren, aber mit der Zeit sprachen immer weniger von ihnen. Es gab wenig zu sagen. Swan wollte die Hand loslassen, die nicht zu Wahram gehörte, aber sie tat es nicht. Mit der Linken hielt sie seine rechte umklammert, und zwar fest. Er erwiderte den Druck. Sie wechselte wieder auf Kanal 345 und hörte nur seine Atemgeräusche, langsam und regelmäßig. Als er ihren Atem ebenfalls in seinem Ohr hörte, schaute er sie an. Der Ausdruck auf seinem runden Gesicht hinter dem Visier war tapfer und furchtlos.

»Was meinst du, wann ist es so weit?«, fragte Swan, während sie dem weißen Punkt nachsah, von dem sie vermutete, dass es sich um die ETH Mobile handelte.

»Bald, würde ich meinen«, antwortete er.

Und fast noch während er es sagte, gab es einen Lichtblitz in dem Bereich, den Swan ins Auge gefasst hatte. »Das war es.«

»Mag sein.«

Danach verging viel Zeit. Eine Stunde … zwei Stunden … drei.

Dann sagte Wahram: »Sieh mal; da kommt unser Rettungsschiff.«

Swan verdrehte den Kopf, um über die Schulter zu sehen, und entdeckte eine kleine Raumjacht, die sich ihnen langsam in einem schrägen Winkel näherte.

»Tja«, sagte sie, »gut.«

Und die Venus lag immer noch im Schatten. Anscheinend war der Schild gerettet worden. Und sie waren auch gerettet.

Doch dann explodierte die kleine Jacht direkt neben ihnen. Die durch den Lichtblitz geblendete Swan folgerte beinahe im selben Moment, in dem sie begriff, was passiert war, dass ein Splitter von dem Zusammenstoß der ETH Mobile mit dem Steinchengeschoss in ihre Richtung geflogen war und die Jacht getroffen hatte – pures Pech, vermutete sie, während ihr kleiner Ring von zwanzig Menschen durch irgendetwas auseinandergerissen wurde, wahrscheinlich Gas oder Trümmer von der Jacht, was mit Sicherheit bedeutete, dass es Verletzte gab – wie dem auch sei, in dem Moment, in dem sich die Explosion ereignete, wurde sie sowohl von Wahram als auch von der Person zu ihrer Rechten fortgerissen. Als ihr das klar wurde, rollte sie sich ein und machte einen Salto, um Wahram im Blick zu behalten – sie sah ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen davontrudeln, während ein Nebel roter Kristalle aus seinem Bein sprudelte. »Pauline, mach mein Visier sauber«, befahl sie und tastete nach den Düsenkontrollen in ihren Handschuhen. Sie stabilisierte ihre Flugbahn relativ zu Wahram und gab dann vollen Schub in seine Richtung. Für einige Augenblicke flog sie durch ein Feld von Jachttrümmern, sogar ein großes, trudelndes Bruchstück war zu sehen, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Viertel des Schiffs handelte, so aufgerissen, dass man die Räume und Wände im Innern sah, wie bei einer Risszeichnung oder einer Puppenstube. Sie musste den Kurs ändern, um heckseitig daran vorbeizusausen und dann ihren Anzug so gut wie möglich wieder auf Wahram auszurichten. Er drehte sich noch immer und war bereits sehr viel kleiner geworden; sie gab vollen Schub. Es wäre wohl eigentlich eine Aufgabe für Pauline gewesen, aber man musste Treibgut und Trümmern ausweichen, weshalb Swan selbst die Kontrolle behielt und Wahram hinterherjagte. Sobald sie aus dem Trümmerfeld heraus war, beschleunigte sie einmal mehr und brachte ihre ganzen Flugkünste zum Einsatz, ohne auf etwas außer ihrem Ziel zu achten. Wahram wurde größer. Swan rief: »Pauline, Hilfe!«

»Lass mich den Anzug steuern.«

»Alles klar, nur mach! Mach!«

»Du gibst bereits maximale Beschleunigung. Ich muss abbremsen, wenn du ein Rendezvousmanöver durchführen willst.«

»Tu es!«

Sie schossen inmitten der Sterne dahin. Wahram wurde immer größer. Swan übernahm einmal mehr die Kontrollen, obwohl Pauline Einspruch erhob, und näherte sich ihm so schnell wie möglich, bis zur letzten Sekunde, als sie sich herumwarf und die Anzugdüsen auflodern ließ, während sie beinahe mit ihm zusammenstieß; sie musste ihm mit einem weiteren Düsenschub ausweichen und verfehlte ihn nur um Zentimeter; kurz sah sie sein bewusstloses Gesicht aufblitzen. Sein Mund stand offen. Sie schrie und gab wieder und wieder Schub, ließ den Anzug in einem engen Bogen wenden und flog erneut auf ihn zu. Pauline hätte es nicht besser machen können.

Sein Anzug hatte ein Loch unter dem linken Knie. Gefrorenes Blut klebte wie ein riesiger Schorf daran. Sie packte ihn an der entsprechenden Stelle und hielt den kleinen Riss zu.

»Gib mir einen Schlauch, dann pumpen wir Luft ins Bein.«

Sein eigener Anzug hatte das Leck sicherlich wie mit Druckverbänden abgeschnürt. Sein Unterschenkel war wahrscheinlich bereits gefroren und nicht mehr zu retten, aber die Anzüge waren gut darin, Lecks zu isolieren, und auch in der Behandlung von Schockzuständen. Sie nahm den Schlauch, der aus ihrem Gürtel schaute, und steckte das Ende in das kleine Loch in seinem Anzug; es hatte einen Durchmesser von weniger als einem Zentimeter und war kaum groß genug, um den Schlauch hineinzubekommen. Sie steckte den Finger in das Loch auf der anderen Seite seines Beins und ließ warme Luft in sein Anzugbein strömen, während sie es zuhielt. Dabei rief sie die ganze Zeit: »Wahram, ich bin hier, wach auf!«

Nur Pauline antwortete ihr. »Bitte sei still. Ich kann seine Lebenszeichen nicht hören, wenn du so laut redest.«

»Was meinst du damit?«

»Er atmet. Sein Herz schlägt.«

»Was ist mit seinem Unterschenkel?«

»Die Haut ist erfroren, und das Fleisch wahrscheinlich auch. Sein Blutdruck ist neunzig zu fünfzig, also hat er eine Menge Blut verloren. Er hat einen Schock.«

»Stabilisiere ihn, wärm ihn auf! Übernimm die Kontrolle über seinen Anzug!«

»Sei beruhigt. Ich stehe mit seinem Anzug in Verbindung. Bitte sei jetzt still.«

Sie hielt den Mund und ließ den Qube seine Arbeit machen. Medizinische Notfallbehandlungen folgten einem uralten KI-Algorithmus, der seit Jahrhunderten verfeinert wurde und längst seine Überlegenheit gegenüber menschlichen Hilfsmaßnahmen bewiesen hatte. Und Paulines Aussage zufolge durfte man guten Gewissens davon ausgehen, dass er sich stabilisieren ließ.

Doch dann erklärte Pauline: »Sein Anzug ist ziemlich schwer beschädigt. Ich möchte seine Kontrollfunktionen übernehmen.«

»Kannst du das?«

»Ja. Es ist am einfachsten, wenn ich an ihn angeschlossen bin, also müsst ihr ab dann zusammenbleiben.«

»Umso besser, mach einfach.«

Swan nahm sich das Loch im Bein seines Anzugs vor; in ihrer Gürteltasche hatte sie das benötigte Flickzeug. Sie bereitete den Flicken vor, während sie beide mit einem Datenübertagungskabel an den Hüften verbunden waren. Langsam drehten sie sich inmitten der Sterne, doch Swan hatte keine Augen für die Pracht. Die Flicken aus ihrer Tasche waren größtenteils Quadrate mit abgerundeten Ecken; man musste eine Schutzfolie abziehen, sie behutsam auflegen und andrücken, während die chemische Reaktion stattfand.

Als Wahrams Anzug versiegelt war, fragte Swan Pauline, ob sie an der verwundeten Stelle irgendetwas mit seinem Bein machen sollte. Eigentlich hätte sie es wohl genau andersherum machen sollen, aber Swan war auch ziemlich durcheinander. Außerdem sagte Pauline ohnehin nein. »Sein Anzug hat einen Luftdruckverband angebracht und Gerinnungshelfer verabreicht.«, erklärte Pauline. »Die Blutung ist weitgehend gestillt.«

»Hat der Anzug ihm einen Tropf gelegt?«

»Ja.«

Es war tröstlich, daran zu denken, dass sein Raumanzug nicht bloß ein kleines, biegsames Raumschiff war, sondern auch eine medizinische Hülle von beträchtlicher Leistungsfähigkeit, eine Art Privatkrankenhaus.

»Wahram, hörst du mich?«, fragte sie. »Geht es dir gut?«

»Ich höre dich«, krächzte er. »Es geht mir nicht gut.«

»Was tut dir weh?«

»Mein Bein tut weh. Und mir ist … schlecht. Ich muss mich anstrengen, um mich nicht zu übergeben.«

»Gut – übergib dich nicht. Pauline, kannst du ihm etwas gegen die Übelkeit verabreichen lassen?«

»Ja.«

Sie schwebten in der sternenklaren Nacht. Obwohl Swan es nicht gerne zugab, konnte sie derzeit nichts weiter tun. Die Milchstraße sah aus wie Schlieren weißer, leuchtender Milch, und der Kohlensack und einige andere schwarze Flecken in ihr wirkten noch schwärzer als sonst. Überall sonst war der Himmel so voller Sterne, dass die Schwärze dadurch ihren allumfassenden Charakter verlor – als befände sich dahinter etwas Riesiges, Weißes, das einen Dunst verströmte und größer war, als das Auge wahrnehmen konnte. Der ganz und gar schwarze Fleck in der Milchstraße musste auf eine große Menge Kohle im Kohlensack hindeuten. Wurde all das Schwarz am Himmel durch Staub erzeugt, fragte sie sich? Wenn alle Sterne des Universums sichtbar wären, wäre der Nachthimmel dann von reinem Weiß?

Die größeren Sterne schienen sich in einer anderen Entfernung zu befinden als die kleineren. Das All dehnte sich dadurch mit einem Mal für Swan aus und wurde zu etwas, das sich von ihr fort erstreckte, anstatt eine Kulisse in ein paar Kilometern Entfernung zu sein. Sie steckten nicht in einem schwarzen Sack, sondern in einer grenzenlosen Weite. Eine kleine Einheit in einem großen Raum.

»Wahram, wie geht es dir?«

»Etwas besser.«

Das war gut. Es war gefährlich, sich in einem Helm zu übergeben, und obendrein auch unangenehm.

Und so trieben sie durchs All. Einige Stunden vergingen. Ihre Nahrung bekamen sie in Form von Flüssigkeiten, die sich durch einen Strohhalm im Helm saugen ließen; es gab sogar Nährstoffriegel, die man sich aus einer Innentasche im Helm hervorschieben lassen konnte, um etwas abzubeißen und herunterzuschlucken. Swan tat beides. Sie pinkelte in die Windel ihres Anzugs.

»Wahram, hast du eigentlich ein bisschen Hunger?«

»Nein, keinen.« So wie er klang, schien er sich auch nicht besonders wohlzufühlen.

»Ist dir wieder übel?«

»Ja.«

»Das ist nicht gut. Warte, ich stabilisiere uns im Verhältnis zu den Sternen. Du wirst ein leichtes Ziehen spüren. Vielleicht solltest du lieber die Augen schließen, bis ich uns zur Ruhe gebracht habe.«

»Nein.«

»Alles klar, wir werden ohnehin nicht besonders schnell sein. Los geht’s.« Sie gab einen Düsenstoß ab, um ihr Drehmoment abzubremsen, was mit Wahrams Masse, die locker an ihrer Seite hing, nicht ganz einfach war. Es war besser, ihn zu umarmen und sein Gewicht vor sich zu haben. Das tat sie und drückte ihn dabei ein winziges bisschen. Er antwortete nur mit einem leisen, klagenden Brummen. Swan brachte sie im Verhältnis zu den Sternen in eine mehr oder weniger stabile Lage und richtete sie so aus, dass sie die Venus sehen konnten. Sie lag nach wie vor im Schatten. Wenn der Sonnenschild zerstört oder auch nur beschädigt worden wäre, hätten sie es gesehen, da war sie sich sicher. Sie hätten irgendeine Art Halbmond gesehen oder vielleicht einen weiß lodernden Bereich; und da sie sich seitlich des Schirms befanden, den das Geschoss hatte treffen sollen, war es ihres Erachtens nicht möglich, dass ein erleuchteter Teil der Venus vollständig auf der anderen Seite des Planeten liegen konnte. Oder vielleicht war es doch möglich; sie war desorientiert, das musste sie zugeben. Aber es machte den Eindruck, als sei der Anschlag vereitelt worden.

»Pauline, hast du irgendeine Ahnung, was aus dem Schiff und dem Sonnenschild geworden ist?«

»Bei den Berichten, die über Funk hereinkommen, handelt es sich noch um die ersten Reaktionen, aber sie lassen vermuten, dass es wie vorhergesehen zu einer Kollision gekommen ist zwischen der ETH Mobile und einer Steinchenzusammenballung, die etwa die vierfache Masse des Schiffs hatte. Das entspricht hinreichend genau den Vorhersagen, und das Schiff war schneller als die Steinchen, ausreichend, um den Großteil der Aufschlagmasse seitlich von dem Schirm abzulenken.«

»Also hat es funktioniert.«

»Abgesehen davon, dass ein Teil der ausgestoßenen Trümmer das Schiff in unserer Nähe getroffen hat, dessen Explosion wiederum Bruchstücke ins All geschleudert hat, von denen eines Wahram getroffen hat.«

»Ja, natürlich. Aber das war bloß Pech.«

»Zweifellos sind mehrere Personen auf diesem nahen Raumschiff ums Leben gekommen.«

»Das weiß ich. Es war wirklich Pech. Von einem Granatsplitter getroffen, sozusagen. Aber der Sonnenschild ist gerettet?«

»Ja. Und das Verteidigungssystem des Sonnenschilds hat anscheinend die Trümmerstücke, die auf ihn zugeflogen sind, zerstört.«

»Jetzt glaubt seine KI also an die Steinchenattacken.«

»Oder zumindest an die Einschlagkörper, die sich ihr nähern. Ich weiß nicht, was für ein Problem sie zuvor hatte.«

»Wusste die KI von diesem neuen, hochauflösenden Bildsystem von Wang?«

»Wang hat den Venusianern davon erzählt, aber ihr Verteidigungssystem ist geschlossen, damit sich niemand daran zu schaffen machen kann. Ich weiß nicht, ob es sich an dem neuen Überwachungssystem beteiligt hat oder nicht.«

»Vielleicht ist es leichter, sich an einem geschlossenen System zu schaffen zu machen, als an einem offenen. Ist es möglicherweise kompromittiert?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich. Es steht unter der Kontrolle der Venus-Arbeitsgruppe, von der man weiß, dass sie viel Wert auf Sicherheit legt.«

Wahram beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Swan hielt seine Hand und drückte sie von Zeit zu Zeit. Mehr gab es für sie nicht zu tun. Er erwiderte den Druck für einen kurzen Moment, dann wurde seine Hand wieder schlaff.

»Geht es dir gut?«

»In Ordnung«, antwortete er.

»Hast du versucht, etwas zu essen?«

»Noch nicht.«

»Zu trinken?«

»Noch nicht.«

Sie trieben in der Schwärze des Raums, schwerelos und warm, wie kleine Venusmonde oder selbst wie kleine Planeten, die um die Sonne kreisten. Die Situation, in der sie sich befanden, war zuweilen schon als eine Art Heimkehr in den Mutterleib beschrieben worden, als amniotischer Rausch. Wenn man ein paar entheogene Drogen nahm, konnte man zu einem Sternenkind werden. Und tatsächlich war es kein so entsetzlicher Anblick, wie man es hätte erwarten sollen. Für einen Moment schlief Swan sogar ein. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie den Eindruck, dass die Venus ein kleines bisschen größer geworden war. Das war nur logisch: Als sie das Schiff verlassen hatten, waren sie bereits mit hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen.

»Bist du noch da?«

»Ja, bin ich.«

Tja, dachte Swan. Da waren sie. Außer Warten gab es für sie nichts zu tun. Warten war noch nie ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen. Normalerweise gab es immer mehr zu tun, als sie bewältigen konnte, weshalb sie es immer eilig hatte. Jetzt wurde ihr die Wartezeit bis zu ihrer Rettung lang. Als sie von Bord gegangen waren, hatte es geheißen, dass Raumschiffe in der Nähe waren. Vielleicht war Wahram in eine unvorhergesehene Richtung gestürzt; Swan war ihm gefolgt, ohne einen Gedanken an diese Möglichkeit zu verschwenden. Vielleicht verließen sie die Ebene der Ekliptik und damit auch den Bereich, in dem Schiffe unterwegs waren, die sie retten konnten. Vielleicht war die arme, zerstörte Jacht das einzige Schiff in der Gegend gewesen, und sie würden warten müssen, bis man alle anderen Flüchtlinge eingesammelt hatte. Höchstwahrscheinlich hatte die Zerstörung der kleinen Jacht die meisten Todesopfer bei dieser ganzen Sache gefordert, weshalb sie sicherlich Aufmerksamkeit erregen würde. Man würde wissen, dass nicht alle Leute eingesammelt worden waren; also würden sie weitersuchen; und diese Anzüge hatten leistungsfähige Sender. Wahrscheinlich ließ sich die Verzögerung am besten dadurch erklären, dass sie die Ebene der Ekliptik verlassen hatten. Oder vielleicht dauerte es einfach ein bisschen, alle einzusammeln. Die letzte Beschleunigung der ETH Mobile hatte vielleicht dazu geführt, dass sie zu dem Zeitpunkt, als die letzten Passagiere sie verlassen hatten, mit einer Geschwindigkeit unterwegs gewesen war, die die meisten Raumschiffe gar nicht erreichen konnten. Und für die von Bord Gegangenen galt natürlich dasselbe. Wenn alles so war, wie es sein sollte, dann würden alle Raumanzüge ihre Insassen für zehn Tage versorgen, und sie waren erst … wie lange? – sie musste Pauline fragen – zwanzig Stunden hier draußen. Es kam ihr länger vor, oder auch kürzer – sie wusste es nicht. Die Venus war eindeutig etwas größer. Swan erinnerte sich an Geschichten von Schiffbrüchigen, die man nicht gefunden hatte und die jahrtausendelang gefroren durchs All trieben. Wie vielen war es im Laufe der Geschichte schon so ergangen? Dutzenden, Hunderten, Tausenden? In ihrem Kopf hörte sie den Refrain eines alten marsianischen Liedes:

In Gedanken bei Peter trieb ich im Raum

Und hoffte man fände mich bald

Ach mach dir nichts vor

Du alberner Tor

Dein Grab ist dunkel und kalt

Zweifellos waren viele dieser Unglücklichen bis zum letzten Moment in der Hoffnung dahingetrieben, dass man sie retten würde. Die Hoffnung zerrinnt langsamer als Luft und Nahrung in Raumanzügen; wahrscheinlich hatten sie an die Geschichte von Peter gedacht, der um den Mars kreiste, oder an irgendeinen anderen Schiffbrüchigen, der gerettet worden war, und fest daran geglaubt, dass gleich ein kleines Raumschiff auftauchen und wie ein UFO über ihnen schweben würde, wie eine vom Himmel gesandte Erlösung, wie das Leben selbst. Aber für viele war die Rettung niemals gekommen, und irgendwann hatten sie sich eingestehen müssen, dass die Wirklichkeit etwas anderes war als die Geschichten, oder zumindest ihre Wirklichkeit. Für andere waren die Geschichten wahr geworden, aber nicht für sie; die anderen waren die Erwählten, sie waren die Verlorenen. Die Vergessenen. Wie in dem schonungslosen marsianischen Lied.

Vielleicht würden diesmal auch sie zu den Vergessenen gehören. Swan rappelte sich auf, hörte den offenen Kanal ab, auf dem allseitiges Gebrabbel herrschte; sie schaltete auf den Notkanal und setzte krächzend einen Bericht ab, einen Hilferuf. Etwa eine halbe Stunde später kam eine Antwort: Man hatte sie auf dem Radar, und ein Rettungsschiff war zu ihnen unterwegs; sie befanden sich tatsächlich außerhalb der Ebene der Ekliptik, und alle Reaktionsteams waren beschäftigt. Aber man hatte sie auf dem Schirm und früher oder später würde Hilfe eintreffen.

Also … schau dich um. Erzähl es Wahram, mach ihm Mut. Versuch, dich zu entspannen.

Sie war nicht entspannt. Ein hilfloses Entsetzen überkam sie, als würde ihr Blut zu kochen beginnen. Pauline würde es mitbekommen; vielleicht verabreichte sie ihr in eben diesem Moment Medikamente gegen die Angst aus der Apotheke ihres Raumanzugs. Hoffentlich. Sie konnte nichts weiter tun als warten. Weiteratmen. Abwarten. In ihrem bisherigen Leben hatte sie den Luxus genossen, immer etwas tun zu können, niemals warten zu müssen. Jetzt holte die Wirklichkeit sie ein. Manchmal musste man einfach warten.

Tja, dann war das eben so. Ein bisschen Wartezeit war gar nicht so übel. Es war besser als auf dem Blackliner. Die Venus schien wieder ein wenig näher gerückt zu sein, und sie war auch etwas heller – vielleicht war der Sonnenschild doch ein wenig eingerissen, an der Kante, die der Explosion am nächsten gewesen war. Sie konnte dunkle Wolken erkennen, die einen dunkleren Fleck umwirbelten, bei der es sich um die Ishtar-Hochebene handeln mochte. Unter den wirbelnden Wolken sah sie hellere und dunklere Bereiche, aber welche davon den gefrorenen Ozean darstellten und welche das gefrorene Festland, konnte sie nicht sagen. Es gab keine Blau-, Braun- oder Grüntöne, nur graue Wolken über grauem Land, dunkel und dunkler.

»Es geht mir besser«, erklärte Wahram unsicher, als wollte er probieren, wie die Worte sich anfühlten.

»Ah, gut«, sagte Swan. »Versuch, etwas zu trinken. Du bist wahrscheinlich dehydriert.«

»Ich habe Durst.«

Mehr Zeit verstrich. Nach einer Weile begann Wahram, halblaut zu pfeifen, eine der Melodien, die er in dem Versorgungstunnel gepfiffen hatte. Beethoven, das wusste sie, und zwar keine der Symphonien. Also handelte es sich wahrscheinlich um eines der späten Streichquartette. Ein langsamer Satz. Vielleicht derjenige, den Beethoven nach seiner Genesung von einer Krankheit geschrieben hatte. Eine Danksagung. Sie würde es erst mit Sicherheit wissen, wenn sie den abschließenden Ton hörte. Jedenfalls war es eines von den guten Stücken. Leise pfiff sie eine Begleitstimme, ließ die Lerche in ihrem Innern singen, während sie seine Hand drückte. Es war eine langsame Melodie, in der sie nicht einfach herumzwitschern konnte. Sie musste einen Weg finden, sich zu bremsen, sich ihm anzupassen. Ihr Lerchengehirn erinnerte sich an die Teile der Melodie, die er ihr unter der Oberfläche des Merkur beigebracht hatte. Während ihres untermerkurianischen Lebensabschnitts, der eine Ewigkeit her zu sein schien. Dieses Leben war dahin; das jetzige würden sie ebenfalls hinter sich lassen; das bedeutete für diesen Moment allerdings keinen großen Unterschied, ob sie nun überleben würden oder nicht. Ach, wie schön dieses Lied doch war, etwas, an dem man sich emporranken konnte. Das Lerchengehirn in ihrem Innern sang noch immer, sein Zwitschern stieg aus der langsamen Melodie empor. Verschiedene Zeitmaße wurden miteinander verwoben.

»Erinnerst du dich?«, fragte sie ihn, als sie einmal innehielten. Mit angespannter Stimme und einem Griff, der ihm beinahe die Finger quetschte: »Erinnerst du dich daran, wie wir in dem Tunnel waren?«

»Ja, allerdings.«

Sie nahmen die Melodie wieder auf. Er bekam mit Mühe und Not ein halbwegs gutes Pfeifen zustande; oder zumindest erweckte er derzeit diesen Eindruck. Vielleicht hatte er immer noch Schmerzen. Musikalisch waren sie in dem Tunnel besser gewesen. Jetzt klangen sie wie Armstrong und Fitzgerald, wobei er sein Äußerstes gab, um wenigstens im Ansatz hier und da zufällig ein Minimum an Perfektion zu erreichen, während sie ohne jede Mühe und beinahe spielerisch einen perfekten Klang erzielte. Ein Duett von Gegensätzen. Der Kampf und das Spiel, die gemeinsam etwas Besseres erzeugten als jeweils für sich alleine. Vielleicht brauchte man beides. Vielleicht hatte sie ihr Spiel zu einem Kampf gemacht, obwohl sie eigentlich ihren Kampf zu einem Spiel hätte machen müssen.

Am Ende gelangten sie zu der Melodie. Ja, es war die Danksagung. »Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit«, hatte Beethoven sie laut Wahram genannt, in der lydischen Tonart. Und der Titel beschrieb das Gefühl gut, was nicht immer so war. Die Melodie selbst drückte das Gefühl von Dankbarkeit aus, mit einem untrüglichen Gespür für Musik als Sprache der Gefühle. Wie war das möglich? Wer hatte das vollbracht? Beethoven, die menschliche Nachtigall. In unseren Köpfen gibt es Lieder, dachte sie, ob man nun Vogelgehirnzellen in sie eingesetzt hat oder nicht; sie waren schon vorher dort, tief unten im Cerebellum, seit Millionen von Jahren konserviert. Dort gab es keinen Tod: Vielleicht war der Tod eine Illusion, vielleicht lebten diese Muster bis in alle Ewigkeit, Musik und Gefühle, die durch ein Universum nach dem anderen trieben, auf den Schwingen flüchtiger Vögel.

»Seit dem Tunnel«, sagte sie zu ihm, als er zu pfeifen aufgehört hatte, »haben wir eine Beziehung.«

»Mmm«, sagte er, was Zustimmung bedeuten konnte oder auch nicht.

»Meinst du nicht?«, wollte sie wissen.

»Doch, schon.«

»Wenn wir einander nicht hätten begegnen wollen, hätten wir uns aus dem Weg gehen können. Aber das wollten wir anscheinend gar nicht. Wir wollten …«

»Hmm«, erwiderte er ausweichend.

»Was meinst du damit? Willst du es abstreiten?«

»Nein.«

»Was meinst du dann damit?«

»Ich meine«, sagte er bedächtig, hielt inne und schien dann mit einem Mal keine Lust mehr zum Reden zu haben. Durch sein Visier sah sie, dass er nun endlich zu ihr schaute und nicht länger zu den Sternen dort draußen, und das erschien ihr wie ein gutes Zeichen, aber es beunruhigte sie zugleich, weil sein Blick so ernst und durchdringend war. Diese Tauchgänge in die Tiefen des Bewusstseins waren Amphibienarbeit, die ihre Kröte auf ihre schweigsam zerstreute Art erledigte.

»Ich bin gerne mit dir zusammen«, fuhr er fort. »Es kommt mir so vor, als wären die Dinge interessanter, wenn ich mit dir zusammen bin.« Er schaute sie weiter an. »Ich pfeife gerne mit dir. Unsere gemeinsame Zeit im Tunnel war schön.«

»Die fandest du schön?«

»Aber natürlich. Das weißt du doch.«

»Nein«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich weiß oder nicht weiß. Das ist Teil meines Problems.«

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Aber natürlich«, sagte sie. »Ich habe dich auch lieb.«

»Nein, nein«, erwiderte er. »Ich liebe dich.«

»Ich verstehe!«, sagte sie. »Aber ach je … ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was du meinst.«

Er lächelte sein kleinstes Lächeln. Es war so klein und blieb beinahe hinter seinem Visier verborgen, aber es erschien nur auf seinem Gesicht, wenn ihn etwas wirklich belustigte. Es war nie bloß eine höfliche Geste. Wenn er höflich sein wollte, dann schaute er finster drein.

»Ich weiß auch nicht, was ich meine«, antwortete er. »Aber ich sage es trotzdem. Dass ich es zu dir sagen will – diese Art Liebe ist das.«

»Oh-oh«, sagte sie. »Hör mal, das ist doch verrücktes Gerede. Dein Bein ist gefroren, und du hast sicher einen Schock. Dein Anzug hat dich mit allem möglichen Zeug vollgepumpt.«

»Da hast du höchstwahrscheinlich recht«, räumte er ein wenig verträumt ein. »Trotzdem, das gestattet es mir nur zu sagen, was ich wirklich empfinde. Sagen wir mal aufgrund einer gewissen Dringlichkeit.«

Er lächelte erneut, wenn auch nur kurz. Er beobachtete sie wie … tja, sie wusste nicht wie was. Es war kein Falkenblick, und ganz und gar nicht der lange Blick eines Wolfs. Eher handelte es sich um einen neugierigen, interessierten Blick – einen fragenden Froschblick, als wollte er gerne wissen, was für ein Geschöpf sie war. Robot? Limit? Räuber? Robert?

Tja, sie wusste es nicht. Sie konnte es ihm nicht sagen. Ihre Kröte sah sie an, mit Augen wie Kugeln aus Jaspis in seinem Kopf. Sie musterte ihn: so langsam, so sehr er selbst, so in sich geschlossen, mit seinen Ritualen … falls das stimmte. Sie versuchte, alles, was sie jemals an ihm wahrgenommen hatte, zu einem einzigen Satz oder einer einzigen Charakterisierung zusammenzufassen, doch es funktionierte nicht; er blieb ein Gewirr von Einzelteilen, von kleinen Begebenheiten und Gefühlen, und dann war da ihr großes Zusammensein, das auch ein Gewirr war, und verwischt. Aber interessant! Das war der Kern der Sache, vielleicht auch dieses Wort, das er benutzt hatte. Er interessierte sie. Sie fühlte sich von ihm angezogen wie von einem Kunstwerk oder einer Landschaft. Er hatte ein sicheres Gefühl für sein Handeln; er zog eine saubere Grenze. Er zeigte ihr neue Dinge, aber auch neue Gefühle. Ach, gelassen zu sein! Ach, aufmerksam zu sein! Er verblüffte sie mit diesen Qualitäten.

»Hmm, tja, ich liebe dich auch«, sagte sie. »Wir haben eine Menge zusammen durchgemacht. Lass mich darüber nachdenken. Ich habe nicht in der Weise darüber nachgedacht, die du anzudeuten scheinst.«

»Ein Vorschlag«, schlug er vor.

»Na schön, also gut dann. Ich denke darüber nach, was es bedeutet.«

»Sehr gut.« Einmal mehr lächelte er sein kleines Lächeln.

Sie trieben in der weiß überzogenen Schwärze. Diamantstaub: Angeblich konnte man einhunderttausend Sterne mit bloßem Auge sehen, wenn man sich im All befand. Swan kam es schwierig vor, das abzuschätzen, und wahrscheinlich handelte es sich bloß um eine Computerzählung, die die kleinste Größe miteinbezog, die für durchschnittlich gute Augen als wahrnehmbar galt. Ihr kam es vor, als wären es sehr viel mehr als hunderttausend.

Die Sterne tanzten schwerelos auf und ab, sie wackelten, wenn Swan blinzelte und atmete. Sie konnte ihren eigenen Atem und ihren Herzschlag hören, und auch das Blut, das ihr durch die Ohren strömte. Ihr eigenes animalisches Rauschen im Raum, in der Zeit. Pulsschlag auf Pulsschlag. Da sie ein und ein drittel Jahrhundert gelebt hatte, hatte ihr Herz bereits um die fünf Milliarden Mal geschlagen. Das kam einem wie eine ganze Menge vor, solange man nicht anfing zu zählen. Das Zählen selbst implizierte eine begrenzte Dauer, was definitionsgemäß zu kurz war. Ein seltsames Gefühl.

Aber seine Atemzüge zu zählen war auch ein buddhistisches Ritual, das auf dem Merkur zu einem Teil der Sonnenanbetung geworden war. Das hatte sie schon früher getan. Hier waren sie, im Angesicht des Universums, hinter den Mauern ihrer Raumanzüge und Leiber. Hörten den Leib, sahen die Sterne und die tiefschwarze Weite. Dort war das Sternbild Andromeda, und darin die Andromeda-Galaxis, eher ein verschmiertes Oval als ein dichter, kleiner Fleck. Aber wenn sie daran dachte, um was es sich handelte, konnte Swan die dritte Dimension manchmal sogar noch weiter in die Schwärze ausfalten – dann nahm sie nicht nur den vorderen Bereich wahr, der hier und da durch Sterne in verschiedenen Entfernungen punktiert war, bei denen man so tun könnte, als ließen sie sich anhand ihrer Helligkeit zuordnen, sondern sah auch Andromeda im Ganzen als Galaxis, die noch viel weiter entfernt war als alles andere für sie Sichtbare – wusch, da war er, der tiefste Raum, die Ausdehnung des Vakuums vor ihren Augen. Das waren Ehrfurcht gebietende Momente, und strenggenommen hielten sie nicht besonders lange an – das war einfach nicht möglich, dafür waren sie zu gewaltig. Das menschliche Auge und der menschliche Verstand waren nicht dafür ausgestattet, das Universum zu sehen. Sie wusste, dass es sich hauptsächlich um einen Sprung der Einbildungskraft handelte; aber wenn die Vorstellung zu dem passte, was sie in genau diesem Moment sah, wirkte es fast vollkommen real.

Jetzt geschah es erneut, und sie war mittendrin: das Universum in voller Größe. 13,7 Milliarden Jahre der Ausdehnung, und es ging weiter; da sich die Ausdehnung tatsächlich sogar beschleunigte, mochte es sogar erblühen wie eine Sonneneruption und dabei alles zerstreuen, was in seinem Innern brannte. Es sah aus, als würde genau das im Moment passieren, vor ihren Augen.

»Ich bin voll drauf«, sagte sie. »Ich sehe Andromeda als Galaxis, und sie stanzt ein Loch in die Schwärze, genau dort, als würde ich in eine neue Dimension sehen.«

»Willst du ein bisschen Bach hören?«, fragte er. »Als Untermalung?«

Sie musste lachen. »Wie meinst du das?«

»Ich höre gerade Bachs Cello-Suite«, sagte er. »Die passt wirklich sehr gut zur Aussicht, finde ich. Willst du dich zuschalten?«

»Klar doch.«

Eine einzelne Cello-Stimme, getragen, aber gewandt, mäanderte durch die Nacht.

»Wo hast du das her? Hat dein Anzug das?«

»Nein, meine Armbandpad-KI. Die kann im Vergleich zu deiner Pauline nicht viel, aber das schon.«

»Ich verstehe. Du trägst also eine schwache KI mit dir herum?«

»Ja, genau.« Eine besonders ausdrucksstarke Bach-Passage erfüllte die Stille. Das Cello war beinahe wie ein dritter Gesprächsteilnehmer.

»Hast du nicht etwas weniger Schwermütiges?«, erkundigte sich Swan.

»Ich denke schon, aber ehrlich gesagt erscheint mir das hier ziemlich lebhaft.«

Sie lachte. »Für dich schon!«

Leise summend dachte er über ihre Antwort nach. »Wir könnten stattdessen Klaviermusik von Debussy hören«, sagte er, nach einer besonders tiefen Passage, in der das Cello mit einem Timbre gebrummt hatte, das so schwarz war wie das All. »Ich glaube, das wäre genau das Richtige für dich.«

Das Cello wurde von einem Klavier ersetzt, dessen klare Glockenklänge durch Läufe flitzten und flossen und Melodien wie von Katzenpfoten auf Wasser erschufen. Debussy hatte wie ein Vogel gedacht, das konnte sie hören, und sie wiederholte pfeifend eine seiner Phrasen und flocht sie in die darauffolgenden Passagen ein. Nicht leicht. Sie hielt inne. »Sehr hübsch«, sagte sie.

Er drückte ihre Hand. »Ich wünschte, ich könnte mit dir mitpfeifen, aber das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich kann mich zu schlecht erinnern. Wenn ich es höre, überrascht es mich jedes Mal. Ich meine, ich erkenne es, wenn ich es höre, ich habe es zehntausendmal gehört, aber wenn ich es nicht gerade laut höre, könnte ich dir die Melodie nicht aus dem Gedächtnis vorpfeifen, sie ist zu … zu schwer zu fassen, schätze ich, oder zu subtil. Flüchtig. Unerwartet. Und die Töne scheinen sich nie zu wiederholen. Hör mal … die Musik macht immer wieder etwas Neues.«

»Wunderschön«, sagte sie und pfiff einen weiteren Nachtigallen-Diskant.

Nach einer ganzen Weile stellte er die Musik ab. Die Stille war immens. Einmal mehr konnte sie ihren eigenen Atem hören, das Pochen ihres Herzens. Es klopfte in seinem Doppelrhythmus vor sich hin, ein wenig schneller als normalerweise, aber es raste nicht mehr. Beruhige dich, dachte sie einmal mehr. Du bist schiffbrüchig im Weltall, man wird dich früher oder später retten. Bis dahin bist du hier, und Wahram ist bei dir, und Pauline. Kein Augenblick unterscheidet sich jemals grundlegend von diesem. Konzentrier dich, und bleib ruhig.

Zu behaupten, dass jemand so oder so ist, war vielleicht bloß der Versuch, eine Erinnerung an eine Tafel zu heften, auf der man seine Erinnerungen sortierte, wie Schmetterlinge in der Sammlung eines Lepidopterologen. In Wirklichkeit handelte es sich dabei nicht um die Verallgemeinerung, als die es erschien, sondern um einen Schuss ins Blaue. War Wahram auch nur ansatzweise so, wie sie ihn beschrieben hätte, wenn sie etwas über ihn zu sagen versucht hätte? Er war so, er war so … eigentlich wusste sie es nicht. Man erhielt Eindrücke von anderen Menschen, mehr nicht. Man hörte sie niemals denken, man hörte nur, was sie sagten; es war ein Tropfen im Meer, eine Berührung über einen weiten Abgrund hinweg. Eine Hand, die die eigene festhält, während man in der Schwärze des Alls treibt. Das war nicht viel. Sie konnten einander eigentlich nicht besonders gut kennenlernen. Also sagte sie, dass er so wäre, oder so, und bezeichnete das als seine Person. Sie maßte sich ein Urteil an. Es war so eine Raterei. Man hätte jahrelang mit einem Menschen reden müssen, um die eigene Einschätzung auch nur ansatzweise zu validieren. Und selbst dann würde man es nicht wirklich wissen.

Wenn ich bei dir bin, sagte sie in Gedanken zu Wahram, während sie dort zusammen durchs All trieben, warteten, sich bei den Händen hielten – wenn ich bei dir bin, dann fühle ich mich etwas verängstigt; beurteilt; unzulänglich. Ich bin nicht die Sorte Mensch, die du magst, was ich als Angriff empfinde, weshalb ich mich umso mehr so verhalte, wie dieser Teil von mir ist. Obwohl ich auch will, dass du eine gute Meinung von mir hast. Aber dieses Bedürfnis empfinde ich als Ärgernis, und deshalb widersetze ich mich ihm innerlich. Warum sollte es mich kümmern? Dich kümmert es ja auch nicht.

Dabei kümmert es dich sehr wohl. Ich liebe dich, hast du gesagt. Und – das gestand Swan sich ein – sie wollte, dass er so empfand, wenn er mit ihr zusammen war. Genau so – war das Liebe, dieser Wunsch nach einem Gefühl, das unscharf blieb, selbst wenn man es verspürte? Betrachteten die Leute sie deshalb manchmal als eine Art von Wahnsinn? Die Worte bleiben sich gleich, sogar die Gefühle bleiben sich gleich, aber zwischen den Worten und den Gefühlen gibt es Abweichungen, die man nur schwer im Blick behalten kann. Der Wunsch zu kennen, gekannt zu werden, um seiner selbst willen geschätzt zu werden und nicht um dessentwillen, was man nach Meinung der Leute sein sollte … sondern vielmehr dafür, was man war … es fiel ihr schwer, nicht zu glauben, dass jemand, der sie liebte, einen großen Fehler beging. Weil sie sich selbst nämlich besser kannte als die anderen und deshalb wusste, dass sie ihr ihre Liebe irrtümlich schenkten. Und deshalb mussten sie wohl auf die eine oder andere Art dumm sein. Und trotzdem war es genau diese fehlgeleitete Liebe, die sie wollte. Jemand, der einen mehr wollte, als man selbst sich wollen würde. Jemand, der einen wollte, obwohl man man selbst war, jemand, der mehr Nachsicht mit einem hatte als man selbst. So war Alex gewesen. Und wenn man das erkennt, wenn man das spürt – wenn man sich über das gerechtfertigte Maß hinaus geliebt fühlt, aus einer Art Großmut heraus –, dann löst das gewisse andere Gefühle aus. Eine Art Abglanz. Ein Überfließen. Es stieß ein Gefühl an, das sich wie eine Erwiderung anfühlte. Gegenseitige Anerkennung. Einmal mehr im Spiegelkabinett. Man lasse einen Laserstrahl zwischen zwei Spiegeln hin und her springen, zwei Teile von etwas Größerem; nicht bloß ein Tier mit zwei Rücken (obwohl es das zweifellos auch war, und das war auch etwas wirklich Tolles, so ein Tier), sondern noch etwas anderes, eine Art … Paarung, wie von Pluto und Charon, mit einem Gravitationszentrum, das zwischen den beiden liegt. Nicht ein einziger Supra-Organismus, sondern zwei, die zusammen an etwas arbeiten, das nicht sie selbst sind. Ein Duett. Eine Harmonie.

Sie pfiff eine der anderen Beethoven-Melodien, die Wahram oft im Tunnel gepfiffen hatte; sie hatte nach wie vor Probleme damit, sie auseinanderzuhalten, aber sie wusste noch, dass es sich hierbei um das andere Dankeslied handelte, das nach dem großen Gewitter, als alle Geschöpfe wieder in die Sonne herauskamen. Eine einfache Melodie, wie ein Volkslied. Sie entschied sich dafür, weil es sich um eine der wenigen Melodien handelte, zu denen Wahram einen Diskant pfeifen konnte, eine Ausschmückung, von der er behauptete, sie wäre Teil des Originals gewesen. Also fiel Wahram mit ein. Es klang nicht so kraftvoll wie beim letzten Mal, obwohl er damals auch nicht besonders kraftvoll gepfiffen hatte. Schmerz zog sich wie ein Goldfaden durch die Töne. Wenn sie ehrlich war, war er kein besonders guter Musiker. Aber für die Stücke, die er wirklich mochte, hatte er ein gutes Gedächtnis. Und er mochte sie wirklich.

Sie legte richtig los und umspielte ihn trällernd, worauf er erleichtert auf die Hauptstimme umschwenkte. Vielleicht ging es bei einem Duett ja genau darum.

»Vielleicht liebe ich dich«, sagte sie. »Vielleicht ist es das, was ich die letzten paar Jahre lang verspürt habe. Vielleicht wusste ich bloß nicht, was es ist.«

»Vielleicht«, sagte er.

Meinte er damit, dass ein Vielleicht nicht zählte, oder das ein Vielleicht besser war als nichts?

»Den langsamen Satz aus der Siebten«, sagte er. »Wenn es dir recht ist.« Und schon pfiff er eine weitere Melodie aus ihrer Zeit unter der Oberfläche des Merkur, eine, bei deren Variation sie viel Spaß gehabt hatte, weil sie so viel Möglichkeiten eröffnete. Manchmal hatten sie stundenlang musiziert, einen halben Tag und länger. Ehrwürdig, getragen, elegisch; ein bisschen wie Wahram selbst, der gemächlich seinen Verrichtungen nachging. Unterwegs. Jemand, auf den man sich verlassen konnte.

»Vielleicht«, wiederholte sie. »Es mag sein.«

Ganz wie früher stimmten sie ihren gemeinsamen Gesang an, wie damals, als sie im Schmelztiegel gewesen waren und alles davon abgehangen hatte, wie sie ihren Weg nach vorne fortsetzten. Wie jetzt, selbst jetzt, während sie im All schwebten und auf ihre Retter warteten, im Vertrauen darauf, dass sie eintreffen würden.

Begründetes Vertrauen; denn Pauline sagte: »Ein Schiff nähert sich.«

Ein weißer Punkt erblühte inmitten all der anderen, und innerhalb von Sekunden verwandelte er sich in eine weitere kleine Raumjacht, einen Hopper, der wie ein Traum dort vor ihnen im All hing, bizarr und zauberhaft.

»Ah, gut«, sagte Swan.

Jetzt waren auch sie beide Peter. Das durfte sie nicht vergessen. Nur durch diese Rettung ging es weiter. Als sie mit leichten Düsenstößen zu dem kleinen Schiff hinüberflogen, versuchte Swan festzuhalten, wie sich das angefühlt hatte – das Schweben, Andromeda, Wahrams Blick, ihr Duett. Es hätten auch ihre letzten Stunden sein können. Sie dachte erneut an Alex. Unsere Geschichten währen eine kleine Weile, einige Gene und Worte bleiben; und dann verschwinden wir. Es war schwer, das in Erinnerung zu behalten. Und als die Schleuse sich schloss und sie wieder drinnen waren, vergaß Swan es einmal mehr.

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