Swan und die Wölfe

Sie kamen alle zusammen herab, zuerst in großen Landeschiffen, die von Hitzeschilden geschützt wurden, dann in kleineren Einheiten, die im Sinkflug Fallschirme entfalteten, und dann in einem Blätterregen von Ballons. Mittlerweile waren sie in dem Teil des Luftraums angekommen, den zu durchqueren die Inuit ihnen erlaubt hatten. Einige Hundert Meter über dem Boden zerfielen die Landeschiffe und -ballons zu Tausenden von Aerogel-Blasen, die zu Boden rieselten. Jede der durchsichtigen Blasen war ein intelligenter Luftballon, in dessen Innerem sich ein Tier oder eine Tierfamilie befand. Was die Tiere davon hielten, ließ sich nicht sagen; manche zappelten in ihren Aerogel-Hüllen, andere wirkten gleichmütig wie Wolken. Der Westwind tat seine Wirkung, und die Blasen trieben ostwärts wie Samenkapseln. Swan blickte sich um, in dem Versuch, in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen: Der ganze Himmel war übersät von durchsichtigen Samenkörnern, von denen man aus einer gewissen Entfernung nur den Inhalt sehen konnte, sodass sie inmitten von Tausenden von fliegenden Wölfen, Bären, Rentieren und Berglöwen ostwärts und abwärts trieb. Dort sah sie ein Fuchspaar; ein paar Kaninchen; einen Luchs oder etwas Ähnliches; ein Knäuel Lemminge; einen Reiher, der in seiner Blase angestrengt flatterte. Es sah aus wie in einem Traum, aber sie wusste, dass es die Wirklichkeit war, und dass es derzeit überall auf der Erde genauso aussah: Delfine und Wale, Thunfische und Haie klatschten ins Meer. Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien, Amphibien; all die verlorenen Geschöpfe waren mit einem Mal im Himmel, in allen Ländern, an jeder Flussgabelung. Viele der sich herabsenkenden Tiere hatte es seit zwei oder drei Jahrhunderten nicht mehr auf der Erde gegeben. Nun kehrten sie alle auf einmal zurück.

Swan setzte inmitten einer Ansammlung von Tieren auf. Sie befanden sich irgendwo in dem neuen Weizengürtel des südlichen Nunavut, dem Inuit-Wort für »unser Land«. Ihr genauer Zielpunkt befand sich auf einem niedrigen Hügel zwischen Weizen- und Kaltreisfeldern. Jedes Feld wurde von mehreren Pingos verunziert, kleinen Hügeln, die aussahen wie Pocken und durch das Aufsteigen großer Eisbrocken aus dem Schlamm des schmelzenden Permafrosts entstanden waren. Als Swan den Landeanflug begann, ließ sich nur schwer sagen, welcher Hügel ihrer war. Ihre Blase kümmerte sich ganz allein um die Steuerung, und da sie nie zuvor in einer gelandet war, gab sie sich ganz dem Gefühl hin – es war, als ob sie auf einem durchsichtigen Zauberteppich hinabschwebte. Überall um sie herum wurden die Tiere sich nun des herannahenden Erdbodens bewusst. Manche zappelten, andere kauerten sich zusammen, und viele hatten die Beine wie fallende Katzen oder fliegende Eichhörnchen gespreizt, auf genau die richtige Art, obwohl es der erste Sturz ihres Lebens war – vielleicht handelte es sich um eine Art konserviertes Echsenverhalten, das ihnen allen gemein war. Swan selbst kam so sanft auf, dass es ihr vorkam, als würde sie aus einem Fahrstuhl treten. Der Ballon platzte, als er den Boden berührte, und das Aerogel verwehte. Und da stand sie nun, auf festem Boden, auf einem Pingo in Nunavut.

Zu ihrem Beobachtungsteam gehörten noch drei weitere Personen, die so nah beieinander, wie der Wind es zuließ, niedergingen. Swan hielt am Himmel nach ihnen Ausschau, und bei dem Anblick, der sich ihr bot, hätte sie sich beinahe auf den Hintern gesetzt. Sie stieß ein Jauchzen aus und lachte: Der Himmel war noch immer voller Tiere. Am westlichen Himmel sanken aus den tief hängenden Kumuluswolken Karibus und Elche und Grizzlybären herab, alles große braune Flecken mit gespreizten Beinen. All die anderen Tiere waren auch dabei, viele in Ballungen, wobei man die, die höher waren, aufgrund der Entfernung nicht erkennen konnte. Um sie herum raschelte der dichte Weizen von den Bewegungen der Geschöpfte, die aus ihren geplatzten Blasen hervorgekommen waren und hastig Deckung suchten. Es konnte sogar passieren, dass eine der Blasen auf ihr landete; sie musste sich in Acht nehmen. Swan lachte bei der Vorstellung, breitete die Arme weit aus und heulte den Wölfen am Himmel zu. Weiter weg bellten andere Wölfe. Auch Jaulen und Brüllen war zu hören, und viel davon klang angsterfüllt, obwohl sich das nur schwer mit Sicherheit sagen ließ. Es handelte sich bloß um eine Vermutung; genau genommen konnte es sich auch um Triumphgeheul handeln. Endlich daheim! »Alle Kinder Gottes sind endlich daheim«, verkündete sie über ihre Funkverbindung. Die anderen Menschen meldeten sich; sie waren gelandet. Der kühle Westwind pustete sie durch, und sie heulte noch ein wenig. Die letzten Reste ihrer Welle sanken zu Boden; dann waren die Wolken über ihnen wieder ganz unter sich. Nur einige wenige schwarze Punkte trieben noch in der Ferne, leicht wie Daunen. Alles in allem war es das Schönste, was sie jemals gesehen hatte. »Alles klar«, sagte sie mit ausgeschaltetem Funk. »Ich liebe euch. Ihr habt tolle Arbeit geleistet.« Ob sie damit Alex oder Wahram oder die Welt meinte, hätte sie nicht sagen können.

Da stand sie nun also, in der Taiga zwischen nördlichen Wäldern und Tundra. Ab jetzt gab es hier Karibus und Grizzlybären und Berglöwen. Jedes Biom brauchte seine Raubtiere am oberen Ende der Nahrungskette, um zu gedeihen. Die Grizzlybären würden sich sofort zwischen den Hügeln verdrücken, und die Berglöwen würden nach der Landung in gleicher Weise verschwinden. Aber die Wölfe würden zueinanderfinden und sich zu weithin sichtbaren Rudeln zusammenschließen; und das wollte Swan nicht verpassen. Zeit ihres Lebens war sie in Terrarien den Wölfen gefolgt, hatte mit ihnen zusammen gejagt, sie von Beutetieren weggetrieben und sich am Rande eines Rudels, neben dem säugenden Muttertier, zum Schlafen zusammengerollt. Unzählige Male hatte sie schon mit den Wölfen geheult; und jedes Mal, wenn sie sie hörte, fiel sie mit ein, weil es ihr wie die normale menschliche Reaktion auf Wolfsgeheul erschien. Bei anderen Gelegenheiten hatte sie das lange, eindringliche Starren eines Wolfes gespürt und zurückgestarrt; sie hatte Wölfe gesehen, die mit Kojoten beratschlagt hatten, sie hatte gesehen, wie Raben sie im Tausch gegen einen Anteil zu ihrer Beute führten. Sie wusste, dass Menschen die Wölfe menschlicher gemacht hatten, und damit zu Hunden, und dass gleichzeitig die Wölfe die Menschen wölfischer gemacht hatten, indem sie ihnen Rudelverhalten beibrachten. Keine anderen Primaten hatten beispielsweise Freunde, die nicht zu ihrer Verwandtschaft gehörten; Menschen hatten das gelernt, indem sie Wölfe beobachtet hatten. Die beiden Spezies hatten zu jeweils unterschiedlichen Zeiten die Beutereste der anderen gefressen; sie hatten Jagdmethoden voneinander gelernt und sich, kurz gesagt, gemeinsam weiterentwickelt.

Und jetzt brachten die Primaten die andere Hälfte der Familie zurück. Da stand sie nun also.

Ihr Viererteam sollte nach Tieren suchen, die nicht richtig aus ihren Ballons herausgekommen waren und sie befreien oder ihnen beistehen, falls sie verletzt waren. Besonders oft sollte das eigentlich nicht vorkommen, aber der Boden hier war uneben und wies nicht nur Pingos auf, sondern auch Senken, die als Kessel bezeichnet wurden und sich bildeten, wenn der Eiskern eines Pingos abschmolz. Kessel waren rund, fielen steil ab und waren oft mit Wasser gefüllt, da hier der Grundwasserspiegel nur ein bis zwei Meter unter der Erdoberfläche lag. Wie überall in den Tundren und Taigas des Nordens hatte man es hier als »Anpassung« an den Klimawandel mit Weizen und genmanipuliertem Kältereis probiert, aber der Versuch hatte sich als schwieriger erwiesen als erwartet. Und so schienen Pannen bei der Landung, in diesem Durcheinander der Landschaft, durchaus wahrscheinlich.

Es zeigte sich allerdings, dass die Ballons hervorragend funktionierten: Swan und ihre Teamkameraden entdeckten keine Notfälle. Stattdessen waren die Tiere in Bewegung; manche rannten wie wild umher. Doch schon bald ermüdeten sie in ihrer Panik, hielten an und blickten sich um. Die Landschaft, die sie sahen, war hoffentlich nicht allzu unvertraut. Die meisten Terrarien hatte man in Hinblick auf genau diesen Augenblick auf 1 g eingestellt und so gestaltet, dass sie den Orten ähnelten, an die die Tiere nun heimkehrten.

Die großen Karibus hatten keine Schwierigkeiten zueinanderzufinden. Die kleinen Tiere verbargen sich im Weizen und machten sich auf den Weg zu den Hügeln im Westen oder zu den kleinen Bäumen des Nadelwalds, die am südlichen Horizont zu sehen waren. Keines der Geschöpfe schien Hilfe zu brauchen. Alle waren auf festem Boden und stellten sich ihrem neuen Schicksal.

Die Tiere waren einzeln markiert, sodass sie auf den Bildschirmen als Muster von bunten Punkten erschienen. Swans Team wandte sich dem nächsten Teil ihres Plans zu, der darin bestand, den Karibus zu folgen und sie notfalls vor sich her zu treiben wie Schäferhunde Vieh, bis sie ans Ostufer des Thelon River gelangten. Diese erste Wanderung der neu gebildeten Herde würde instinktiv, aber ohne Vorgaben vonstattengehen – es sei denn, sie trafen auf alte Spuren der verlorenen Herden von Beverly, Bathurst und Ahiak. Doch auf ihrem Weg würden sie Duftspuren und andere Markierungen für künftige Wanderrouten hinterlassen. Dadurch würde ihr Weg de facto zu einem Habitatkorridor durch das neue Weizengebiet werden, einem Korridor, den sie möglicherweise vor den zuständigen Gerichten verteidigen mussten, aber darum würden sie sich kümmern, wenn es so weit war. Zunächst mussten die Karibus über den Fluss gelangen. Dass sie die Tiere bei ihren Wanderungsbewegungen über wirtschaftlich genutzte Ländereien leiteten, war der größte Akt zivilen Ungehorsams, den Raumer jemals auf der Erde begangen hatten, aber sie hofften, dass die Tiere den Weg beim nächsten Versuch alleine bewältigen würden, und dass die Einheimischen sie ins Herz schließen würden – selbst die Bauern, die hier ohnehin keine besonders großen Erfolge mit ihrer Arbeit erzielten. Die Eskorten würden vielleicht festgenommen werden, bevor sie mit ihrer Arbeit fertig waren, aber die Leute erkannten hoffentlich schnell, dass die Habitatkorridore das Land, das sie in Anspruch nahmen, wert waren.

Wie meistens, wenn sie mit einer Gruppe von Menschen unterwegs war, fiel Swan bald zurück. Es gab einfach zu viel zu sehen; die Dinge um sie herum waren so interessant, dass sie ihre eigentliche Aufgabe vergaß, sogar jetzt. Seit einem Jahrhundert forschte man an den Grundlagen für die Pläne, auf der Erde verloren gegangene Arten wieder auszuwildern, und obwohl sie jetzt hier war und Teil dieses Projekts, taumelte sie umher und betrachtete die Blumen, die hier und dort aus dem felsigen Untergrund schauten, kleine, erstaunlich bunte Samtkissen. Hoch über ihnen stand ein blassblauer Himmel mit einem Band von Kumuluswolken, die ostwärts jagten. Vor ihrem inneren Auge sah Swan noch immer Tiere, die wie Saatkörner in der Sonne herabrieselten. Der Anblick hatte sie in einen Traum gestürzt, aus dem sie noch nicht wieder erwacht war, weshalb sie natürlich nicht so schnell machen konnte. Sie stand ohnehin in Funkkontakt mit ihren Mitarbeitern. Tatsächlich war das Geplapper in ihren Ohren schlimmer als das von Pauline, weshalb sie den Ton ausdrehte. Sie würde reinhören, sobald die Notwendigkeit bestand. Fürs Erste wollte sie sich wieder auf den Boden unter ihren Füßen konzentrieren. Bei der Arbeit, die sie das Jahr zuvor in Afrika geleistet hatte, hatte sie begonnen, bestimmte Dinge für selbstverständlich zu erachten. Sie hatte schlicht und einfach vergessen, wo sie sich befand. Sie hatte sich tief in ihr Problem gestürzt, während die ganze Welt auf einem gewaltigen Wind durch den Himmel flog. Und jetzt dieses offene Land, diese Taiga. Ein paar vereinzelte Zwergkiefern auf der Südseite der nächsten Anhöhe. Ein trunkener Wald auf einem schmelzenden Permafrostboden. Im Osten, unter dem Wolkenband, seichte Hügel. Ein ungeheuer hoher Himmel, das Blau leicht pastellfarben über den tief hängenden Wolken, die noch immer ostwärts zogen. Die Luft schien ein wenig nach Feuer zu riechen. Hohe Nachmittagssonne, 5. August 2312. Ein neuer Tag. Warm, aber nicht heiß. Leicht schwüle Luft, voller Insekten. Sie trug einen Ganzkörperanzug, der sie trocken hielt und der zum Glück sehr effektiv die Mücken und Fliegen fernhielt, die in dichten schwarzen Wolken umhertrieben und zuweilen wie wirbelnder Rauch aussahen. Die anderen Angehörigen ihres Teams waren nirgendwo in Sicht. Das gedehnte Auf und Ab der Landschaft wurde von niedrigen Kämmen zerhackt, bei denen es sich um eiszeitliche Wallberge handeln mochte. In jedem Fall konnte sie in Richtung Osten nur begrenzt weit sehen. Sie kletterte auf einen Pingo und schaute sich um. Ah, dort war Chris, nur ein paar Hundert Meter vor ihr. Anscheinend winkte er jemandem zu, der noch weiter im Osten war. Schön für die beiden.

Schwammiges Taigagras und -moos bedeckte alle Senken. Nur einen Meter darüber erhoben sich längliche Teile des Felsfundaments, die von Norden nach Süden durchs Moor verliefen. Am besten wäre es gewesen, auf diesen natürlichen Straßen zu bleiben, aber ihr Team war nach Osten gegangen, um der Karibuherde zu folgen.

Sie ging nach Norden und hielt auf eine Anhöhe zu, die mit Krüppelholzbüschen bewachsen war, welche ihr bis zur Hüfte reichten. Oben angekommen verharrte sie, als sie ein Rudel Wölfe auf der anderen Seite sah. Sie waren gerade erst gelandet, liefen umher und beschnüffelten und beknabberten einander, wobei sie dann und wann innehielten, um zu heulen, und dann weiterliefen. Die Landung hatte sie offensichtlich aufgekratzt zurückgelassen. Swan wusste ganz genau, wie sie sich fühlten. Sie brauchten ein Weilchen, um sich zu sammeln und Richtung Osten davonzutraben. Ihr Fell war grau, mit schwarzen oder hellbraunen Flecken, und sie wirkten anmutig in ihrem Sommerpelz. Zwar hatten sie breitere Schultern und kantigere Köpfe als die meisten Hunde, waren ihnen aber doch in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Wilde Hunde, selbst organisiert: Das war immer eine leicht verstörende Vorstellung. Dass es eine so glückliche Entwicklung mit ihnen genommen hatte, dass sie so gutartig und verspielt waren, überraschte Swan ein wenig und erinnerte sie daran, dass die Wölfe zuerst da gewesen waren, und dass sie weiser waren als Hunde.

Nun lag es an Swan, mit ihnen mitzuhalten, und schon bald, nachdem sie die Verfolgung aufgenommen hatte, ächzte und schnaufte sie. Kein Mensch konnte mit Wölfen Schritt halten, die mit voller Kraft rannten, aber wenn man hartnäckig blieb, dann hielten sie oft an, um sich umzuschauen und zu schnüffeln, sodass man sie im Blick behalten oder sie einholen und erneut zum Weiterlaufen veranlassen konnte. Ein Rüde heulte, und andere antworteten ihm, darunter auch Swan. Sie musste sich etwas mehr anstrengen, wenn sie am Ball bleiben wollte. Wenn sie nicht auf der Erde war, hielt sie sich besser in Form als hier, eine kleine Ironie – sie verzog das Gesicht und gelobte Besserung.

Die Wölfe waren neun an der Zahl. Es handelte sich um große Tiere, der Pelz überwiegend schwarz, die langen Strähnen wippten wie Menschenhaar, wenn sie rannten. Mit ihren Wolfssätzen fraßen sie die Kilometer, obwohl es nur nach einem leichten Trab aussah. Bei ihrem Anblick heulte Swan auf, ein ganzer Ozean in ihrer Brust; hier auf der Erde waren sie frei. Es war ein so tiefes Glück, dass es einem Schmerzen verursachen konnte; eine weitere Lektion, die einem die Welt erteilte.

In dem Gelände vor ihr verschwanden die Pingos und Kessel, Weizen bedeckte das flachere Land. Der Anblick ließ die Wölfe zögern, und Swan gelang es, sich um sie herum nach Süden zu schleichen, hinter den am weitesten östlich gelegenen Pingo. Das Weizenfeld dahinter war mit einem Laser zu einer Ebene geglättet worden, die pro Kilometer etwa fünf Meter nach Westen abfiel. Das war nun wirklich Flachland – es kam ihr unwirklich vor, ein Artefakt. In gewisser Weise ein Kunstwerk. Aber das würde sich schon bald wieder ändern. Acht Kilometer Richtung Osten sah man einen neuen Pingo, der durch die Oberfläche brach, und daneben ein weiteres Stück unentwickelter Taiga – nicht trockengelegt, zur Bewirtschaftung zu sumpfig, mehr See als Land.

Swan holte ihren Wolfspelz – die Haut eines großen, alten Rüden, an der noch Kopf und Pfoten hingen – aus dem Rucksack an ihrem Anzug. Sie zog ihn sich über den Kopf, sodass er ihr wie ein Umhang auf den Rücken hing. Sie hatte ihm goldene Ringe durch die Ohrspitzen gezogen.

Swan umrundete das Rudel, bis sie davor war, und stimmte in ihr Geheul ein. Dann rannte sie, so schnell sie konnte, Richtung Osten. Sie lief zwischen den Reihen von Weizenhalmen hindurch, die ihr bis zur Brust gingen. Voraus im Osten führten ihre Kollegen eine Herde Karibus mithilfe von Duftmarken und abgeworfenen Geweihen. Dort, wo die Herde vorbeigekommen war, war der Weizen niedergetrampelt. Swan erkannte, dass sie dem seichten Bett eines Bachs folgten, der beinahe der Laserbegradigung des Bodens zum Opfer gefallen wäre. Das halb zugeschüttete Bachbett war noch immer schlammig, und ihre Teammitglieder führten die Herde aus diesem Bereich, indem sie sich parallel zu ihr Richtung Süden bewegten. Schon bald würde die Witterung der Wölfe sie erreichen, und dann würde es kein Problem sein, sie auf einem Kurs Richtung Osten zu halten, über eine niedrige Anhöhe nach der anderen. Sie würden dorthin gehen, wo sie am weitesten von den Wölfen entfernt waren, zumindest für eine Weile. Irgendwann würden die beiden Spezies zu einer Art Abkommen zwischen Jäger und Beute gelangen, aber derzeit waren die großen Beutetiere zweifellos noch verängstigt und geneigt, in Panik zu verfallen. Sie sah Spuren von einer kleinen Stampede. Inmitten des entsprechenden Bereichs lagen die zertrampelten Leiber mehrerer Kälber. Swan drehte sich zu den Wölfen um, die ihr nun folgten. Sie stand auf einer Anhöhe, den Wolfskopf über ihren eigenen gezogen, und heulte eine Warnung. Das Rudel hielt inne und schaute mit aufgestellten Ohren und gesträubtem Fell zu ihr auf – auch die Wölfe waren verängstigt. Ihr Blick war nun nicht mehr stet und eindringlich, fand Swan, sondern wirkte wie angestrengtes Spähen.

Trotzdem waren sie nach wie vor auf der Jagd, weshalb sie ihren Weg schließlich fortsetzten. Swan gab den Weg frei, drehte ab und zog sich eilig zurück. Sie hatte den Karibus etwas mehr Zeit verschafft, um die kleine Senke zu durchqueren, und sie ging so schnell wie möglich aus der Bahn. Im Laufe der nächsten paar Stunden trieb sie die Wölfe dann und wann aus nördlicher Richtung an, aber meistens hielt sie nur mit Mühe und Not mit, und letztlich konnte sie nur noch ihren Spuren folgen. Lange Zeit stapfte sie hinter den Karibus her durch den Weizen. Einmal sah sie eine Reihe riesiger roter Erntemaschinen am südlichen Horizont.

In jener Nacht waren die meisten Karibus weit voraus und hatten eine Herde gebildet, die ostwärts zog. Es trieb sie zum Wandern, zum Weiterziehen. Hinzu kamen die Wölfe und Menschen und anderen Raubtiere, die wie Treiber bei der Jagd waren. Die Menschen setzten manchmal Sirenen oder Gerüche ein und immer ihre persönliche, verstörende Gegenwart. Menschen standen ganz oben in der Nahrungskette, selbst wenn es Wölfe und Löwen und Bären gab – solange sie im Rudel blieben, wie die Wölfe es ihnen vor so langer Zeit beigebracht hatten –, und sie hatten ihre Werkzeuge bereit, falls es hart auf hart kommen würde.

Swan, die am Ende eines sehr langen Tages dahintaumelte, spürte, wie der Geist der Jagd sie durchdrang und sie emporhob wie ein Leibhalter. Sie war Diana auf der Jagd. Das war es, was sie als Tiere taten. Swan hatte so oft in Terrarien gejagt, dass sie kaum glauben konnte, nun endlich draußen zu sein, doch dort über ihnen war der Himmel, und der Wind rauschte an ihr vorbei.

Wenn sie die Karibu-Wanderroute fest etablieren und den gesamten Bereich zu einem Habitatkorridor machen wollten, dann mussten sie das Land selbst verändern, wie es schon zuvor verändert worden war. Einmal mehr wäre diese Veränderung Menschenwerk. Die gesamte Erde war inzwischen ein Park, ein Kunstwerk, von Künstlern geschaffen. Diese neue Änderung war nur ein weiterer Pinselstrich.

Für die Verwandlung von Taiga in Ackerland hatte man die Anhöhen abrasieren und die Senken füllen und mithilfe genmanipulierter Bakterien das Wachstum neuen Erdbodens beschleunigen müssen. Dadurch war das Gelände nun ziemlich flach, wie eine Meeresoberfläche mit leichter Dünung. Doch durch den Tauwetterzyklus und die Permafrostschmelze war alles wieder unebener geworden. Der Zug der Karibus genügte, um das Erdreich aufzuwühlen; wo sie entlanggekommen waren, sah es aus, als wäre eine Front von Traktoren mit Dornenkugeln im Schlepptau durch den Weizen gerumpelt. Aus eben diesem Grund mied Swan die Spuren, mit Ausnahme kurzer Ausflüge in den Schlamm, bei denen sie Sender vergrub und das Erdreich mit Duftmarken und mit Herbiziden gegen Weizen versah. Gleichzeitig säten sie Nadelhölzer. Hier und da legten sie Sprengsätze in den Boden, um die Decke aus neu eingeführtem Erdreich emporzuschleudern und die ursprünglichen Taiga-Bakterien wieder an die Oberfläche zu bringen. All das musste geschehen, solange die Karibus noch weit genug weg waren, um nicht verschreckt zu werden. Und weil es eine Menge zu tun gab, legten sie so schnell wie möglich los.

Nachts schlief Swan in ihrem Ganzkörperanzug, in dessen Taschen sich nebst ausreichend Nahrung für zwei Tage auch eine Aerogel-Matratze und eine wärmende Decke befanden. Das eine oder andere Mal meldete sie sich bei ihrem Team, aber eigentlich verfolgte sie die Wölfe lieber allein, mochte das auch noch so unwölfisch sein. Inzwischen war das Rudel nur noch selten zu sehen, aber sie konnte seiner Spur folgen: Der Boden war weich, sodass häufig Fußabdrücke der neun Tiere zu sehen waren. Ihre eigene Gruppe der Neun.

Am dritten Morgen, eine ganze Weile vor der Dämmerung, nach einer Nacht mit wenig Schlaf, beschloss sie, aufzustehen und wenn möglich zu dem Rudel aufzuschließen. In Dunkelheit und Kälte wanderte sie mit eingeschalteter Stirnlampe. Die Spuren sah sie am besten, wenn sie die Lampe abnahm und vor sich auf den Boden richtete.

Etwa eine Stunde vor der Morgendämmerung hörte sie von vorne ihr Geheul. Der Frühchor. Die Wölfe heulten beim Anblick der aufgehenden Venus, weil sie wussten, dass die Sonne bald folgen würde. Swan sah, welchen Himmelskörper sie anheulten, aber an seiner Position im Verhältnis zum Sternbild des Orion erkannte sie, dass es sich nicht um die Venus handelte, sondern um Sirius. Einmal mehr waren die Wölfe auf ihn hereingefallen. Die Pawnee hatten Sirius aufgrund dieses Irrtums sogar den Namen Der-die-Wölfe-narrt gegeben. Als etwa eine halbe Stunde später die Venus selbst aufging, meldete sich nur ein einziger wölfischer Astronom voll Unbehagen zu Wort und verkündete heulend, dass etwas nicht stimmte. Swan lachte, als sie es hörte. Jetzt würden andere Wölfe weiter westlich das Dämmerungsgeheul aufnehmen. Lange Zeiten hatte es eine quer über ganz Nordamerika verlaufende Terminatorzone heulender Wölfe gegeben, die mit der aufgehenden Sonne nach Westen wanderte. Jetzt würde es vielleicht bald wieder so sein.

Als es hell wurde, arbeitete sie sich langsam näher an die Wölfe heran, indem sie dem Geheul des verstörten Astronomen folgte. Anscheinend hatten die Wölfe die Nacht auf einem Pingo verbracht, und jetzt jaulten und knurrten sie abweisend, als Swan sich näherte. Sie wollten nicht weg, und sie wollten auch nicht, dass Swan näher herankam. Irgendetwas ging dort oben vor, dachte sie; vielleicht bekam eine der Wölfinnen Junge oder etwas Ähnliches. Sie wartete in einiger Entfernung, und erst, als die Wölfe Richtung Osten davongeschlichen waren, stieg sie an der flachen Hangseite auf den Pingo, um ihn sich näher anzusehen.

Ein Geräusch ließ sie erstarren. Im ersten Moment sah sie nichts, aber es gab einen kleinen Teich ganz oben auf dem Pingo, einen Kessel wie den Krater eines Miniaturvulkans. Von dort kam das Geräusch – ein Winseln. Swan ging an die Kante und blickte hinab. Ein junger Wolf mit nassem, schlammverschmiertem Fell drückte sich auf einem schmalen Lehmvorsprung herum, der um das Wasser in vier oder fünf Meter Tiefe verlief. Die Wände des Lochs waren senkrecht und sogar leicht unterhöhlt von dem Wasser am Grund, in dessen schlammiges Blau sich ein türkisfarbener Schimmer mischte. Vielleicht befand sich darunter Eis, im Zentrum des Pingos. Der Wolf kratzte mit den Pfoten über den zerfurchten Lehm. Ein junger Rüde. Er blickte zu ihr auf, und sie streckte den Arm halb nach ihm aus, worauf der Boden unter ihr nachgab und sie, obwohl sie sich umdrehte und einen Satz zurückmachte, zusammen mit einer Ladung Schlamm in den Teich stürzte.

Der Wolf bellte einmal und zuckte vor Swan zurück. Sie schwamm; obwohl sie tief eingetaucht war, hatte sie bei ihrem Sturz nicht den Grund des Teichs berührt. Am anderen Ende kletterte sie auf einen schmalen Ring aus freiliegendem Schlamm, der einmal um das Loch herum verlief. Sie kam sich vor wie im Innern einer Vase. Die Bresche, die sie bei ihrem Sturz gerissen hatte, bildete eine Tülle.

Swan vermied es, den Wolf anzuschauen. Sie pfiff und gurrte wie eine Taube und dann wie eine Nachtigall. Sie hatte noch nie gesehen, dass ein Wolf einen Vogel gleich welcher Art aß, aber nur damit er nicht auf dumme Gedanken kam, fügte sie einen kurzen Falkenschrei hinzu. Der Wolf versuchte noch immer, aus dem Loch zu klettern; er hatte Angst vor ihr. Als der Schlamm des nassen Überhangs unter seinen Vorderpfoten nachgab, rutschte er zurück. Er traf mit dem Rücken zuerst aufs Wasser, und Swan streckte instinktiv die Arme aus, um ihm zu helfen, aber natürlich war er voll und ganz in der Lage, sich selbst herumzudrehen und zurück zu dem Lehmvorsprung zu schwimmen. Als er ihre Berührung spürte, wirbelte er herum und biss sie in die rechte Hand, bevor er hektisch von ihr fortpaddelte. Sie schrie vor Schmerz und Überraschung. Ihr Blut war im Wasser, in seinem Maul. Der Biss brannte, und auf dem Handrücken hatte sie eine Wunde, aus der noch eine ganze Weile das Blut hervorquellen würde.

In der Schenkeltasche ihres Ganzkörperanzugs, der sie bis auf ihren Kopf trocken hielt, steckte eine Erste-Hilfe-Ausrüstung. Sie zog sie heraus und überlegte, ob Hautkleber bei der Stichwunde, die der Wolfszahn hinterlassen hatte, funktionieren würde. Nun, sie musste es eben ausprobieren. Sie stach die Tube an, quetschte eine ganze Menge Kleber in das dunkle rote Loch und drückte dann fest eine Mullbinde darauf. Der Mull würde in dem Loch kleben bleiben, aber sie konnte alles Überstehende abschneiden und den Rest drinlassen, das würde nicht schaden.

Die Innenwände des Kessels waren mit Ausnahme einiger horizontaler Rillen glatt. Wie in aller Welt sollte sie hier nur herauskommen? Sie griff nach ihrem Telefon in der Anzugtasche und stellte fest, dass sie leer war. Die Tasche war offen gewesen, weil sie ziemlich oft bei ihren Kollegen angerufen hatte. Nun, sie würden bemerken, dass Swan fehlte, und sie per GPS orten. Vielleicht konnte sie auf den Grund des Teichs hinabtauchen und das Telefon bergen, und vielleicht würde es sogar noch funktionieren, nachdem es im Wasser gelegen hatte.

Aber eigentlich kam ihr weder das eine noch das andere besonders wahrscheinlich vor. »Pauline, kannst du mein Telefon orten?«

»Nein.«

»Kannst du für mich Kontakt zu meinem Team aufnehmen?«

»Nein. Ich bin darauf ausgelegt, einzig und allein mit dir in Kontakt zu stehen.«

»Kein Funk?«

»Kein Langstreckenfunk, wie du weißt.«

»Wie ich es mir hätte denken können. Du nutzloses Stück Schrott.«

Der Wolf knurrte, und Swan verstummte. Sie krähte kurz. »Hork!«, krächzte sie in der Hoffnung, dass der Wolf einem Geschöpf, das die Krähensprache beherrschte, vielleicht etwas Platz einräumen würde. Sie wusste wirklich nicht, was sie tun sollte.

»Pauline, wie komme ich hier raus?«

»Ich weiß es nicht.« Die Art, wie sie ohne jede Verzögerung antwortete, klang ein wenig missbilligend.

Swan bewegte sich auf dem ringförmigen Band aus Schlamm, und der Wolf bewegte sich mit, um auf der gegenüberliegenden Seite zu bleiben. Wenn die höheren Vorsprünge auf dieser Seite ihr Gewicht hielten, dann konnte sie vielleicht rausklettern. Sie unternahm einen Versuch, wobei sie den Wolf aus dem Augenwinkel beobachtete. Sein Kopf war ihr zugewandt, doch er blickte ein wenig zur Seite. Schnell wurde klar, dass der Schlamm an den Wänden ihr keinen Halt bieten konnte. Sie brauchte Stöcke, um sich Stufen zu graben, oder um sie tief genug in den Schlamm zu stecken, damit sie hielten. Aber in dem Kessel gab es keine Stöcke. Einmal mehr überlegte sie, ob sie am Grunde des Beckens vielleicht etwas finden würde. Aber das Wasser war eiskalt, und der Ganzkörperanzug bedeckte nicht ihren Kopf. Außerdem ließ sich unmöglich sagen, wie tief das Becken war, und ob es dort unten überhaupt etwas gab.

»Pauline, ich glaube, wir sitzen hier fest.«

»Ja.«

Загрузка...