11 - Tatsachen und Wunschvorstellungen

»Unterrichten ist hochinteressant«, schrieb Anne an eine Stubengenossin vom Queen’s College. »Jane findet es eintönig, ganz im Gegensatz zu mir. Fast jeden Tag passiert etwas Lustiges und die Kinder erzählen amüsante Sachen. Jane bestraft ihre Schüler, wenn sie lustige Ausdrücke gebrauchen, deshalb ist für sie die Schule vielleicht auch langweilig. Heute Nachmittag sollte der kleine Jimmy Andrews >gesprenkelt< buchstabieren und brachte es nicht fertig. >Na ja<, sagte er schließlich, >ich kann es nicht buchstabieren, aber ich weiß, was es bedeutet.<«

»Was denn?« fragte ich.

»St. Clair Donnells Gesicht ist so, Miss.«

St. Clair ist zweifellos >gesprenkelt<, aber ich will nicht, dass die anderen dazu ihre Kommentare abgeben - ich hatte früher selbst auch Sommersprossen und kann mich nur zu gut daran erinnern. Aber St. Clair macht es, glaube ich, nichts aus. Dass St. Clair Jimmy auf dem Nachhauseweg von der Schule vertrimmt hat, lag allerdings daran, dass Jimmy ihn >St. Clair< genannt hat. Mir ist die Sache zu Ohren gekommen, aber nicht offiziell, also werde ich einfach nicht darauf eingehen.

Gestern habe ich versucht, Lottie Wright die Addition beizubringen. Ich sagte: >Angenommen, du hast drei Bonbons in der einen Hand und zwei in der anderen, wie viel hast du dann zusammen?< - >Einen Mund voll<, sagte Lottie. Im Naturkundeunterricht, als ich die Klasse aufforderte, mir vernünftige Gründe zu nennen, weshalb man Frösche nicht töten soll, hat mir Benjie Sloane in vollem Ernst geantwortet: >Weil es dann am nächsten Tag Regen gibt.<

Man kann sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen, Stella. Ich muss damit immer warten, bis ich zu Hause bin. Marilla macht es schon ganz nervös, dass sie dauernd ohne ersichtlichen Grund ungestüme Lachanfälle im Ostgiebel hört. Sie sagt, früher einmal wäre ein Mann aus Grafton durchgedreht und genauso hätte es bei ihm auch angefangen.

Das Schwierigste, aber auch das Interessanteste am Unterrichten ist, finde ich, den Kindern ihre geheimsten Gedanken zu entlocken. An einem stürmischen Tag letzte Woche habe ich sie um die Mittagszeit zusammengerufen und versucht, mich mit ihnen wie mit ihresgleichen zu unterhalten. Ich fragte die Schüler, was sie sich am sehnlichsten wünschten. Einige Antworten waren ziemlich banal: Puppen, Pferde, Schlittschuhe. Andere waren ausgesprochen originell. Hester Boulter wünschte sich, >jeden Tag ihr Sonntagskleid tragen und im Wohnzimmer essen zu dürfen<. Hannah Bell möchte >gut in der Schule sein, ohne sich groß anstrengen zu müssen<. Margory White, zehn Jahre alt, wäre gern eine Witwe. Als ich sie fragte, warum, sagte sie ernst, dass die Leute einen, wenn man nicht verheiratet war, eine altejungfer nennen. Ist man aber verheiratet, kommandierte einen der Ehemann herum. Aber wenn man Witwe ist, bestünde weder die eine noch die andere Gefahr. Den bemerkenswertesten Wunsch hatte Sally Bell. Sie wünschte sich >Flitterwochen<. Ich fragte sie, ob sie wüsste, was das wäre. Sie antwortete darauf, es wäre ein besonders schönes Fahrrad, weil ihr Cousin aus Montreal in die Flitterwochen gefahren sei, nachdem er geheiratet hatte, und der hätte schon immer den neuesten Schrei an Fahrrädern besessen!

An einem anderen Tag bat ich die Schüler, mir von ihren größten Dummheiten zu erzählen. Die älteren Schüler ließen sich nicht dazu bewegen, aber die dritte Klasse gab frank und frei Auskunft. Eliza Bell hatte das Wollgarn ihrer Tante in Brand gesteckt. Eines der Kinder fragte sie, ob sie das mit Absicht getan hätte, und sie sagte: >Nicht ganz.< Sie hätte nur ein kurzes Ende angesteckt, um zu sehen, ob es brennt, und im Nu ging das ganze Knäuel in Flammen auf. Emerson Gillis hatte zehn Cents für Süßigkeiten ausgegeben, statt sie in seine Missions-Spardose zu tun. Annetta Beils schlimmste Untat war, dass sie von den Blaubeeren gegessen hatte, die auf dem Friedhof wuchsen.

Willie White war mit seinen Sonntagshosen vom Schafstalldach gerutscht. >Aber ich wurde dafür bestraft und musste den ganzen Sommer lang zur Sonntagsschule geflickte lange Hosen anziehen, und wenn man für etwas bestraft wird, muss man es nicht bereuen<, verkündete Willie.

Ich wünschte, Du könntest ein paar von den Aufsätzen lesen - das wünsche ich so sehr, dass ich Dir ein paar abschreibe und einfach mitschicke.

Letzte Woche gab ich den Schülern der vierten Klasse die Aufgabe auf, sie sollten mir über ein beliebiges Thema einen Brief schreiben. Der Brief könne von einem Ort handeln, an dem sie einmal gewesen waren, oder von einem interessanten Erlebnis oder Menschen. Sie sollten den Brief auf richtigem Briefpapier schreiben, in einen Umschlag stecken, verschließen und ihn an mich adressieren - alles ohne jede fremde Hilfe. Letzten Freitagmorgen lag ein Stapel Briefe auf meinem Tisch und beim Durchlesen am Abend wurde mir wieder einmal klar, dass die Schule ihre leidvollen, aber auch vergnüglichen Seiten hat. Diese Briefe wiegen vieles auf. Hier nun Ned Clays Brief -Adresse, Schreibweise und Grammatik sind originalgetreu wiedergegeben:


Miss Lehrerin Shirley

Green Gabels

wohnh. Island Kan




Vögel

Liebe Lehrerin ich schreibe Ihnen etwas über Vögel. Vögel ist sehr nützliche Tiere, meine Katze fängt Vögel. Er heißt William, aber Pa nennt ihn tom. er istgansgestreift, und lezten Winter hat ersieh ein Ohr abgefroren, nur damit er eine gutaussehende Katze ist. Mein Onckel hat eine Katze adoptiert. Sie kam eines Tages zu sein Haus und wollte nich mehr Weggehen, und mein Onkel sagt, sie hat die meisten Leute vergessen, die sie mal gekennt hat, er lässt sie in seinem Schaukelstuhl schlafen, und meine Tante sagt, er denkt mehr an die Katze als an die Kinder, das ist nicht richtig. Wir sollten nett zu Katzen sein und ihnen frische Milch geben, aber wir sollten nicht netter zu ihnen sein als zu unsern Kindern, mehr fällt mir jetzt nicht ein, soviel als von

Edward blake Clay


St. Clair Donnell fasste sich, wie üblich, kurz und bringt die Sache auf den Punkt. Er verschwendet nie viel Worte. Ich glaube nicht, dass er aus böser Absicht sein Thema ausgewählt oder den Nachsatz hinzugefügt hat. Er hat nur keine große Phantasie und ist nicht sehr taktvoll.


Liebe Miss Shirley,

Sie haben uns die Aufgabe gestellt, über etwas Merkwürdiges zu berichten. Ich möchte über den Avonlea-Saal schreiben. Er hat zwei Türen, eine Innen-und eine Außentür. Er hat sechs Fenster und einen Schornstein. Er hat zwei Enden und zwei Seiten. Er ist blau gestrichen. Das verleiht ihm auch sein merkwürdiges Aussehen.

Er steht an der unteren Straße nach Carmody. Er ist das drittwichtigste Gebäude von Avonlea. Die anderen wichtigen sind die Kirche und die Schmiede. Man hält darin Debattierclubs ab und Lesungen und Konzerte.

Hochachtungsvoll

Jacob Donnell

PS: Der Saal ist in einem sehr grellen Blau gestrichen.




Annetta Beils Brief war ziemlich lang, was mich überraschte, denn Aufsätze sind nicht ihre Stärke. Normalerweise fasst sie sich ebenso wie St. Clair sehr kurz.

Annetta ist ein ruhiges Mädchen und ein Musterbeispiel an gutem Benehmen, aber sie besitzt nicht die Spur Originalität. Hier nun ihr Brief:


Liebste Lehrerin,

ich schreibe Ihnen, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie liebe. Ich liebe Sie von ganzem Herzen, ganzer Seele und mit all meinen Gedanken - so sehr, wie ich jemanden nur lieben kann -, und ich möchte auf ewig die Ihre sein. Das wäre mir die höchste Ehre. Deswegen strenge ich mich in der Schule auch so an und lerne meine Hausaufgaben.

Sie sind so schön, meine liebe Lehrerin. Ihre Stimme ist wie Musik und Ihre Augen wie mit Tau bedeckte Stiefmütterchen. Sie sind wie eine große würdevolle Königin. Ihr Haar ist wie dahinßießendes Gold. Anthony Pye sagt, es ist rot, aber Sie brauchen auf Anthony nicht zu hören.

Ich kenne Sie erst seit ein paar Monaten, aber ich kann mir die Zeit ohne Sie nicht mehr vorstellen - eine Zeit, als Sie noch nicht in mein Leben getreten waren und es beglückt und verschönt haben. Ich werde stets auf dieses Jahr als das wundervollste in meinem Leben zurückblicken, weil es mir Sie gebracht hat. Außerdem ist es das Jahr, in dem wir von Newbridge nach Avonlea gezogen sind. Meine Liebe zu Ihnen hat mein Leben sehr bereichert und mich von vielem Bösen abgehalten. Ich habe dies alles nur Ihnen zu verdanken, meine liebste Lehrerin.

Ich werde nie vergessen, wie süß Sie letztens in dem schwarzen Kleid und mit den Blumen im Haar ausgesehen haben. So werde ich Sie immer vor mir sehen, auch wenn wir beide alt und grau sind. Für mich bleiben Sie ewig jung und hübsch, liebste Lehrerin. Ich denke die ganze Zeit an Sie... ob am Morgen, am Mittag oder am Abend. Ich liebe Sie, wenn Sie lachen und wenn Sie seufzen - und auch, wenn Sie verärgert dreinschauen. Ich habe Sie nie ärgerlich gesehen, obwohl Anthony Pye sagt, Sie würden ständig ärgerlich aussehen, aber mich wundert nicht, dass Sie ihn ärgerlich anschauen, denn er verdient es. Ich liebe Sie, gleichgültig, welches Kleid Sie anhaben ... Sie sehen in jedem neuen nur noch entzückender aus.

Liebste Lehrerin, gute Nacht. Die Sonne ist untergegangen und die Sterne leuchten - Sterne, so strahlend und schön wie Ihre Augen. Ich küsse Ihre Hände und Ihr Gesicht, meine Liebe. Möge Gott Sie beschützen und Sie vor allem Unglück bewahren.

Ihre Sie liebende Schülerin

Annetta Bell




Dieser ungewöhnliche Brief verwirrte mich einigermaßen. Ich wusste, dass sie, so wenig wie sie fliegen kann, diese Zeilen geschrieben hatte. Tags darauf in der Schule nahm ich sie in der Pause mit auf einen Spaziergang an den Bach und bat sie, mir die Wahrheit zu sagen. Annetta begann zu weinen und gab freimütig alles zu. Sie hätte noch nie einen Brief geschrieben und wüsste nicht, wie das ginge und was sie schreiben solle, aber in der obersten Schreibtischschublade ihrer Mutter läge ein Bündel Liebesbriefe von einem ihrer früheren Verehren.

»Sie stammen nicht von meinem Vater«, schluchzte Annetta, »sie stammen von einem, der studierte und Pfarrer werden wollte. Daher verstand er sich auch darauf, so reizende Briefe zu schreiben, aber Ma hat ihn schließlich doch nicht geheiratet. Sie sagt, sie wäre nicht aus ihm schlau geworden. Aber ich fand die Briefe schön. Deshalb habe ich einfach hier und da ein paar Stellen abgeschrieben und an Sie geschickt. Wo >Dame< stand, habe ich >Lehrerin< eingesetzt, und ein paar Wörter habe ich ausgetauscht. Für >Stimmung< habe ich >Kleid< eingesetzt. Ich wusste nicht genau, was >Stimmung< bedeutet, aber ich dachte, es wäre was zum Anziehen. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie den Unterschied kennen. Ich verstehe nicht, wie Sie herausgefunden haben, dass nicht alles von mir stammt. Sie müssen ganz schön klug sein.«

Ich sagte zu Annetta, dass es sich nicht gehört, anderer Leute Briefe abzuschreiben und so zu tun, als stamme es von ihr. Aber ich fürchte, Annetta hat nur Leid getan, dass ich ihr auf die Schliche gekommen bin.

»Aber ich liebe Sie wirklich«, schluchzte sie. »Es hat alles gestimmt, auch wenn es eigentlich der Pfarrer geschrieben hat.«

Ich brachte es nicht über mich, mit ihr zu schimpfen.

Hier nun Barbara Shaws Brief. Die Tintenkleckse des Originals kann ich nicht wiedergeben.


Liebe Lehrerin,

Sie sagten, wir könnten über einen Besuch schreiben. Ich habe nur einmal einen Besuch gemacht. Das war letzten Winter bei meiner Tante Mary. Meine Tante Mary ist eine ganz besondere Frau und versteht sich auf Hauswirtschaft. Gleich am ersten Abend beim Tee hab ich eine Kanne umgestoßen und kaputtgemacht. Tante Mary sagte, sie hätte die Kanne seit ihrer Heirat und bisher hätte sie noch niemand zerbrochen. Als wir aufstanden, bin ich auf ihr Kleid getreten und alle Fäden gingen aus dem Saum. Am nächsten Morgen, als ich aufstand, bin ich mit dem Wasserkrug gegen das Waschbeckengestoßen und hab beides zerdeppert. Beim Frühstück hab ich eine Tasse Tee auf dem Tischtuch verschüttet. Als ich Tante Mary beim Abwasch half, hab ich einen Teller fallen lassen, der auch zerbrach. Am Abend bin ich die Treppe runtergefallen, hab mir den Fuß verstaucht und musste eine Woche im Bett bleiben. Ich hörte, wie Tante Mary zu Onkel Joseph sagte, was für ein Glück, sonst hätte ich noch alles in dem Haus kaputtgemacht.

Als es mir besser ging, musste ich schon wieder nach Hause fahren. Ich mache nicht gern Besuche. Ich gehe lieber zur Schule, vor allem seit ich nach Avonlea gekommen bin.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Barbara Shaw.


Willie Whites Brief begann folgendermaßen:




Sehr geehrte Miss,

ich möchte Ihnen von meiner Sehr Mutigen Tante erzählen. Sie lebt in Ontario. Eines Tages ging sie nach draußen und entdeckte auf dem Hof einen Hund. Der hatte dort nichts verloren, also holte sie einen Stock, prügelte ihn durchjagte ihn in die Scheune und sperrte ihn ein. Bald danach tauchte ein Mann auf und suchte einen trainierten Löwen (Frage: Willie meinte wohl einen dressierten Löwen?), der aus dem Zirkus weggelaufen war. Es stellte sich heraus, dass der Hund ein Löwe war, und meine Sehr Mutige Tante hatte ihn mit einem Stock in die Scheune gejagt. Es ist ein Wunder, dass sie nicht aufgefresst worden war, aber sehr mutig war sie gewesen. Emerson Gillissagt, wenn sie ihn für einen Hund gehalten hat, war sie nicht mutiger, als wenn es wirklich ein Hund gewesen wäre. Aber Emerson ist neidisch, weil er keine Sehr Mutige Tante hat, sondern nur Onkel.


Das Beste habe ich bis zum Schluss aufgehoben. Du machst Dich über mich lustig, weil ich Paul für ein Genie halte, aber ich bin sicher, dieser Briefwird Dich davon überzeugen, dass er ein sehr ungewöhnliches Kind ist. Paul wohnt weiter unten am Ufer bei seiner Großmutter und er hat keine Spielkameraden - keine richtigen Spielkameraden. Du erinnerst Dich, dass unser Professor uns gesagt hat, wir dürften keinen der Schüler »bevorzugen*, aber bei Paul Irving kann ich mir nicht helfen, er ist einfach mein Lieblingsschüler. Das ist bestimmt nicht weiter schlimm, denn alle mögen ihn, sogar Mrs Lynde, die es nie für möglich gehalten hätte, dass sie einen Yankee so gern haben könnte. Bei den anderen Jungen in der Schule ist er auch beliebt. Trotz seiner Träumereien und Einfälle wirkt er nicht schwächlich oder mädchenhaft. Er ist geradezu mannhaft und setzt sich bei allen Spielen durch. Neulich hat er mit St. Clair gekämpft, weil er behauptete, der Union Jack als Flagge würde besser ersetzt durch das Sternenbanner. Der Kampf ging unentschieden aus und endete mit dem gegenseitigen Übereinkommen, in Zukunft den Patriotismus des anderen zu respektieren. St. Clair sagt, er könne am härtesten zuschlagen, aber Paul Irving lande die meisten Treffer.

Pauls Brief:


Liebe Lehrerin,

Sie sagten, wir könnten Ihnen über die interessantesten Leute, die wir kennen, schreiben. Die interessantesten, die ich kenne, sind meine Felsen-Menschen und von denen will ich Ihnen erzählen. Bis jetzt habe ich nur Großmutter und Vater davon erzählt, aber ich möchte, dass Sie von ihnen erfahren, weil Sie es verstehen. Die meisten verstehen es sowieso nicht, also hat es keinen Sinn, denen davon zu erzählen.

Meine Felsen-Menschen leben an der Küste. Vor Anbruch des Winters habe ich sie fast jeden Abend besucht. Jetzt kann ich sie erst wieder im Frühling besuchen, aber sie werden da sein, weil es ihnen gefällt, wenn alles beim Alten bleibt - das ist das Schöne an ihnen. Nora habe ich als Erste kennen gelernt, deshalb mag ich sie, glaube ich, auch am liebsten. Sie wohnt in Andrews Höhle, hat schwarze Haare und schwarze Augen und weiß alles über Seejungfern und Wassergeister. Sie sollten sie einmal erzählen hören! Dann sind da die Zwillingssegler. Sie wohnen nirgends, sie segeln die ganze Zeit umher, aber sie kommen oft an den Strand und unterhalten sich mit mir. Sie sind zwei lustige Teerjacken und haben die ganze Welt gesehen - und noch mehr. Wissen Sie, was der jüngste Zwillingssegler einmal erlebt hat? Er segelte so dahin und geradewegs in den Widerschein des Mondes. Ein Widerschein ist die Spur, die der Vollmond aufs Wasser zeichnet, wenn er aus dem Meer aufsteigt. Also, der jüngste Zwillingssegler segelte im Widerschein, bis er beim Mond ankam, und dort gab es eine kleine, goldene Tür. Er öffnete sie und segelte geradewegs hindurch. Auf dem Mond erlebte er sagenhafte Abenteuer, aber der Brief würde zu lang werden, wollte ich sie alle erzählen. Dann ist da noch die Goldene Frau der Höhle. Eines Tages machte ich unten am Strand eine Höhle ausfindig und kletterte hinein und nach einer Weile entdeckte ich die Goldene Frau. Ihr goldenes Haar reicht ihr bis auf die Füße, ihr Kleid glitzert und glänzt wie Gold, das lebt. Sie hat eine goldene Harfe und spielt darauf den lieben, langen Tag - man kann die Musik hören, wenn man sorgsam lauscht, aber die meisten würden es nur für Wind halten, der zwischen den Felsen hindurchstreicht. Nora habe ich nie von der Goldenen Frau erzählt. Ich hatte Angst, es könnte sie kränken. Sogar schon, wenn ich mich zu lange mit den Zwillingsseglern unterhielt, war sie beleidigt.

Ich habe mich mit den Zwillingsseglern immer bei den Gestreiften Felsen getroffen. Der jüngere Zwillingssegler ist sehr gutmütig, aber der ältere kann manchmal schrecklich böse dreinschauen. Ich habe da so meine Vermutungen über den älteren Zwilling. Ich glaube, wenn er sich getraute, würde er unter die Piraten gehen. Er hat wirklich etwas Geheimnisvolles. Einmal hat er geflucht und ich sagte zu ihm, wenn er es noch einmal täte brauchte er nicht mehr ans Ufer zu kommen und sich mit mir zu unterhalten. Ich hatte meiner Großmutter versprochen, ich würde mich mit jemand, der flucht, nicht abgeben. Da bekam er einen ganz schönen Schrecken, das kann ich Ihnen sagen. Wenn ich ihm verzeihen würde, so versprach er, würde er mich mit zum Sonnenuntergang nehmen. Als ich also am Abend darauf bei den Gestreiften Felsen saß, kam der ältere Zwilling in einem bezauberndem Boot über das Meer gesegelt und ich kletterte hinein. Das Boot war ganz perlmuttartig und regenbogenfarbig, wie das Innere einer Muschelschale, und das Segel war wie Mondschein. Wir segelten geradewegs hinüber zum Sonnenuntergang. Stellen Sie sich das vor, Miss, ich war im Sonnenuntergang. Und was meinen Sie, wie es dort ist? Der Sonnenuntergang ist ein Land voller Blumen, wie ein großer Garten, und die Wolken sind die Blumenbeete. Wie segelten in einen großen Hafen, der ganz goldfarben war.

Ich stieg aus dem Boot und ging auf eine Wiese, die übersät war mit Butterblumen so groß wie Rosen.

Ich blieb dort eine Ewigkeit. Es kam mir fast wie ein Jahr vor, aber der ältere Zwilling behauptet, es wären nur ein paar Minuten gewesen. Sie sehen also, im Land des Sonnenuntergangs vergeht die Zeit scheinbar viel langsamer als hier bei uns.

Ihr Sie liebender Schüler

Paul Irving

PS: Natürlich ist das alles nicht wahr, Miss Shirley.

P.l.

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