30 - Die Hochzeit im Steinhaus

Die letzte Augustwoche brach an. Miss Lavendars Hochzeit stand bevor. ln zwei Wochen würden Anne und Gilbert aufs Redmond-College gehen. In einer Woche würde Mrs Rachel Lynde nach Green Gables ziehen und sich im ehemaligen Gästezimmer niederlassen, das bereits für sie hergerichtet worden war. Sie hatte alle überflüssigen Haushaltsgegenstände verkauft und vergnügte sich derweil damit, mit der ihr eigens geschäftigen Art den Allans beim Packen zu helfen. Mr Allan musste für den kommenden Sonntag seine Abschiedspredigt vorbereiten. Alles musste schnell Neuem weichen, wie Anne trotz aller Aufregung und Freude ein wenig traurig feststellte.

»Veränderungen sind nicht immer angenehm, aber sie tun gut«, sagte Mr Harrison klug. »Wenn zwei Jahre lang alles beim Alten bleibt, dann reicht das. Würde sich dann immer noch nichts verändern, würden die Dinge womöglich Moos ansetzen.«

Mr Harrison saß auf der Veranda und rauchte. Seine Frau hatte ihm selbstaufopferungsvoll erlaubt, im Haus am Fenster zu rauchen. Mr Harrison belohnte dieses Zugeständnis, indem er bei gutem Wetter immer nur draußen rauchte. Also herrschte gutes Einvernehmen. Anne wollte Mrs Harrison um ein paar von ihren gelben Dahlien bitten. Diana und sie wollten am Abend nach Echo Lodge gehen und Miss Lavendar und Charlotta der Vierten bei ihren letzten Vorbereitungen für die Hochzeit am nächsten Tag helfen. Miss Lavendar hatte keine Dahlien. Sie gefielen ihr nicht und sie hätten auch nicht in ihren schönen altmodischen Garten gepasst. Aber Blumen jedweder Art waren in Avonlea und den Nachbarorten Onkel Abes Sturm wegen rar. Anne und Diana fanden, dass sich der cremefarbige Steinkrug, der normalerweise für Krapfen diente, voll mit gelben Dahlien in der dunklen Ecke an der Treppe vor den roten Tapeten gut machen würde.

»ln zwei Wochen gehst du also aufs College?«, fuhr Mr Harrison fort. »Hm, Emily und ich, wir werden dich vermissen. Sicher, dafür ist dann Mrs Lynde da. Aber Ersatz ist Ersatz.«

Mr Harrisons ironischer Tonfall lässt sich kaum wiedergeben. Trotz der Freundschaft seiner Frau mit Mrs Lynde konnte man auch unter dem neuen Regiment von Mrs Lynde und Mr Harrisons Beziehung höchstens von einer bewaffneten Neutralität sprechen.

»Ja«, sagte Anne. »Vom Verstand her freue ich mich, vom Gefühl her bedaure ich es.«

»Du wirst schon all die Auszeichnungen einheimsen, die es in Redmond gibt.«

»Vielleicht die eine oder andere«, stimmte Anne zu. »Aber ich mache mir nicht mehr so viel daraus wie vor zwei Jahren. Was ich auf dem College lernen will, ist, wie man sein Leben gestalten und das Beste daraus machen kann. Ich will andere und mich selbst besser verstehen lernen und anderen dazu verhelfen.«

Mr Harrison nickte.

»Genau. Dazu sollte ein College da sein, statt jede Menge Studierte hervorzubringen, vollgestopft mit Bücherwissen und unwichtigen Dingen, die keinen Platz mehr für etwas anderes lassen. Du hast Recht. Das College kann dir nicht schaden, denke ich.«

Diana und Anne fuhren nach dem Tee nach Echo Lodge und nahmen die Blumenausbeute mit, die verschiedene Raubzüge in ihre und die benachbarten Gärten eingebracht hatten. Im Steinhaus ging es aufgeregt zu. Charlotta die Vierte sauste voller Elan hin und her, sodass sie überall zugleich zu sein schien. Wie der Helm von Navarra steckte Charlotta mit ihren blauen Schleifen stets mitten im größten Gefecht.

»Gott sei Dank, dass Sie da sind«, sagte sie inbrünstig. »Es gibt jede Menge zu tun . . . der Zuckerguss auf dem Kuchen da will einfach nicht hart werden .. . das Silber muss noch geputzt werden . . . der Koffer muss noch gepackt werden ... und die Hühner für den Hühnersalat laufen noch krähend dahinten am Hühnerstall herum, Miss Shirley. Miss Lavendar kann man nicht zumuten, dass sie mit anpackt. Ich war froh, als vor ein paar Minuten Mr Irving kam und sie mit auf einen Spaziergang in den Wald nahm. Heiraten ist ja recht, Miss Shirley, aber wenn man sich auch noch ums Kochen und Putzen kümmern soll, ist es einem vermiest. Das ist meine Meinung, Miss Shirley.«

Anne und Diana halfen kräftig mit, sodass gegen zehn Uhr sogar Charlotta die Vierte zufrieden war. Sie flocht ihr Haar zu unzähligen Zöpfen und legte sich erschöpft ins Bett.

»Aber ich werde kein Auge zutun, Miss Shirley, aus Angst, in allerletzter Minute könnte noch etwas schief gehen - die Sahne wird nicht steif- oder Mr Irving trifft der Schlag.«

»Das ist aber doch sonst nicht seine Angewohnheit, nicht wahr?«, sagte Diana, wobei ihre Mundwinkel zuckten. Für Diana war Charlotta die Vierte nicht gerade eine Schönheit, aber sie war stets für einen Scherz gut.

»So was macht man sich nicht zur Angewohnheit«, sagte Charlotta die Vierte würdevoll, »so was passiert einfach, so ist das. Es kann jeden treffen. Das muss man nicht lernen. Mr Irving sieht einem Onkel von mir ähnlich, den der Schlag traf, als er sich gerade zum Abendessen an den Tisch setzen wollte. Aber vielleicht läuft ja auch alles glatt. Man muss einfach immer das Beste hoffen, auf das Schlimmste vorbereitet sein und hinnehmen, wie es kommt.«

»Ich befürchte nur, morgen könnte schlechtes Wetter sein«, sagte Diana. »Onkel Abe hat für Mitte der Woche Regen vorhergesagt. Seit dem großen Sturm glaube ich seinen Vorhersagen.«

Anne, die über Onkel Abes Sturm besser Bescheid wusste als Diana, beunruhigte das nicht weiter. Sie schlief rechtschaffen müde tief und fest und wurde zu einer unmöglich frühen Zeit von Charlotta der Vierten geweckt.

»Oh, Miss Shirley, es ist gemein, Sie so früh zu wecken«, drang es wimmernd durch das Schlüsselloch. »Aber da ist noch so viel zu tun. Außerdem, Miss Shirley, sieht es nach Regen aus. Es wäre lieb, wenn Sie aufstehen und mich in puncto Wetter beruhigen würden.«

Anne stürzte ans Fenster und hoffte, Charlotta die Vierte hatte das nur gesagt, um sie endgültig wach zu bekommen. Aber leider verhieß der Morgen nichts Gutes. Miss Lavendars Garten lag dunkel und windstill da, statt in einem jungfräulich reinen Sonnenlicht. Der Himmel über den Tannen war von schweren Wolken verhangen.

»Ist das nicht ein Jammer?«, sagte Diana.

»Hoffen wir das Beste«, sagte Anne bestimmt. »Solange es nur nicht richtig regnet, ist so ein kühler perlgrauer Tag wirklich viel schöner, als wenn die Sonne vom Himmel brennt.«

»Es wird regnen«, sagte Charlotta die Vierte und schlich in ihr Zimmer - sie sah aus wie eine Witzfigur mit ihren vielen um den Kopf gedrehten Zöpfen. Die mit weißen Bändern umwickelten Enden standen in alle Richtungen ab. »Bestimmt fängt es erst im letzten Augenblick an, und dann gießt es in Strömen. Alle werden klatschnass, überall im Haus sind Dreckspuren, sie können nicht unter dem Geißblatt getraut werden und es bringt Unglück, wenn bei einer Hochzeit keine Sonne scheint, da können Sie mir nichts erzählen, Miss Shirley. Ich habe ja geahnt, dass bisher alles zu glatt verlief.«

Charlotta die Vierte schien wirklich Miss Eliza Andrews nachzueifern. Es regnete nicht, obwohl es die ganze Zeit nach Regen aussah. Gegen Mittag waren die Zimmer geschmückt, der Tisch wunderschön gedeckt. Oben wartete die Braut, herausgeputzt für ihren Bräutigam. »Sie sehen hübsch aus«, sagte Anne entzückt.

»Wunderhübsch«, echote Diana.

»Alles ist vorbereitet, Miss Shirley, und noch ist nichts Schlimmes passiert«, stellte Charlotta fröhlich fest, als sie sich in ihr kleines Zimmer begab, um sich umzuziehen. Sie löste die Zöpfe. Das wilde Gekräusel wurde zu zwei Zöpfen geflochten und statt mit zwei mit ganzen vier brandneuen leuchtend blauen Schleifen versehen. Die zwei oberen Schleifen sahen aus wie zu groß geratene Flügel, die aus Charlottas Nacken wuchsen, etwa wie der Erzengel Raphael.

Aber Charlotta der Vierten gefielen sie sehr. Nachdem sie sich das weiße Kleid angezogen hatte, betrachtete sie sich höchst zufrieden im Spiegel - eine Zufriedenheit, die jedoch nur so lange währte, bis sie hinaus auf den Flur ging und im Gästezimmer einen Blick auf ein großes Mädchen erhaschte, in einem leicht fallenden strahlend weißen Kleid und wie Sterne Blumen im sanft gewellten Haar.

»Ich werde nie so aussehen wie Miss Shirley«, dachte die arme Charlotta verzweifelt. »Man muss so auf die Welt kommen. Übung hilft da nichts.«

Gegen ein Uhr waren alle Gäste da, einschließlich Mrs und Mr Allan. Mr Allan musste die Trauung vornehmen, da der Pfarrer aus Grafton Urlaub hatte. Die Feier hatte nichts Steifes. Miss Lavendar kam die Treppe herunter und wurde am Fuße der Treppe von ihrem Bräutigam in Empfang genommen. Als er ihre Hand nahm, sah sie ihn mit ihren großen blauen Augen an - ein Blick, bei dem Charlotta der Vierten schwummeriger als je zuvor wurde. Sie gingen nach draußen zu dem Geißblattspalier, wo Mr Allan sie erwartete. Anne und Diana standen an der alten Steinbank, Charlotta die Vierte in ihrer Mitte, die ihre kahlen, zitternden Hände in ihre schob.

Mr Allen schlug sein Buch auf, die Zeremonie begann. Gerade in dem Augenblick, als Miss Lavendar und Stephen Irving zu Mann und Frau erklärt wurden, geschah etwas wunderbar Symbolisches. Plötzlich brach die Sonne durch den grauen Himmel und schien strahlend auf die glückliche Braut. Der Garten war voll tanzender Schatten und flackernden Lichts.

»Welch wundervolles Omen«, dachte Anne, als sie zur Braut lief und ihr einen Kuss gab. Dann ließen die drei Mädchen die Gäste und das Brautpaar lachend im Garten zurück und rannten ins Haus, um nachzuschauen, dass alles für das Festessen bereit war.

»Ich bin so froh, dass es vorbei ist, Miss Shirley«, flüsterte Charlotte die Vierte. »Sie sind verheiratet, egal was auch geschieht. Die Tüten mit Reis stehen in der Speisekammer, die alten Schuhe sind hinter der Tür und die Sahne steht auf der Kellerstufe.«

Um halb drei machten sich Mrs und Mr Irving auf den Weg. Alle begleiteten sie nach Bright River, um sie am Nachmittagszug zu verabschieden. Als Miss Lavendar-Verzeihung, Mrs. Irving - über die Türschwelle des Hauses trat, streuten Gilbert und die Mädchen Reis. Charlotta die Vierte warf so zielsicher einen alten Schuh, dass er Mr Allan fast am Kopf getroffen hätte. Paul machte ihnen das allerschönste Abschiedsgeschenk. Er erschien in der Tür und schlug wie wild eine große alte kupferne Tischglocke, die auf dem Kaminsims im Esszimmer gestanden hatte. Paul wollte nur mächtig Lärm machen. Aber als das Dröhnen verhallte, schallte von überall her über den Fluss klar, lieblich und immer schwächer werdend das Glockenspiel der »Feen-Hochzeitsglocken«, so als entböten Miss Lavendars geliebte Echos einen Gruß und Lebewohl. Unter diesen süßen Klängen fuhr Miss Lavendar aus ihrem früheren Leben aus Träumen und Phantasien in ein erfullteres Leben aus Realitäten.

Zwei Stunden später kehrten Anne und Charlotta die Vierte zurück zum Steinhaus. Gilbert musste in West Grafton etwas besorgen, Diana musste zu Hause etwas besorgen. Anne und Charlotta wollten aufräumen und dann das kleine Steinhaus verriegeln. Der Garten war wie ein Meer aus Sonnenschein, Schmetterlinge flatterten umher, Bienen summten. Aber das Haus wirkte bereits einsam und verlassen, wie es nach großen Festlichkeiten immer der Fall ist.

»Ach ja, ist es nicht öde?«, schluchzte Charlotta die Vierte, die den ganzen Nachhauseweg vom Bahnhof geweint hatte. »Eine Hochzeit ist fast so traurig wie eine Beerdigung, Miss Shirley.«

Es gab viel zu tun. Der Zimmerschmuck musste abgenommen, das Geschirr gespült, die restlichen Köstlichkeiten für Charlottas Bruder zu Hause eingepackt werden. Anne gab keine Ruhe, bis alles in schönster Ordnung war. Nachdem sich Charlotta mit ihrer Habe auf den Nachhauseweg gemacht hatte, ging Anne in die still daliegenden Zimmer und fühlte sich wie jemand, der allein durch einen verlassenen Bankettsaal wandelt. Dann schloss sie die Läden. Anschließend verriegelte sie die Tür und setzte sich unter die Silberpappel, um auf Gilbert zu warten. Sie war sehr erschöpft, aber sie hing noch immer endlos vielen Gedanken nach.

»Woran denkst du, Anne?«, fragte Gilbert, der den Weg entlangkam. Er hatte Pferd und Wagen an der Straße stehen lassen.

»An Miss Lavendar und Mr Irving«, antwortete Anne verträumt. »Ist es nicht schön, wie nun alles gekommen ist - dass sie nach all den Jahren der Trennung und Missverständnisse wieder zusammengefunden haben?«

»Ja«, sagte Gilbert und schaute Anne unverwandt an. »Aber wäre es nicht noch schöner, Anne, wäre es nicht zu der Trennung und den Missverständnissen gekommen, wenn sie Hand in Hand durchs Leben gegangen wären und auf gemeinsame Erinnerungen zurückblicken könnten?«

Einen Augenblick lang hatte Anne ein seltsames Herzflattern. Zum ersten Mal wurde sie unter Gilberts Blicken unsicher, ihr sonst blasses Gesicht überzog eine leichte Röte. Es war, als wäre ein Schleier gelüftet worden, was ihr einen Blick auf unvermutete Gefühle und Realitäten gestattete. Vielleicht kam die Liebe nicht mit Pomp und Getöse wie ein klirrend dahinreitender Ritter daher. Vielleicht stahl sie sich auf leisen Sohlen zu einem, wie ein alter Freund. Vielleicht kam sie einem sehr prosaisch vor, bis sie plötzlich von einem Lichtstrahl erhellt wurde und alles zum Klingen brachte. Vielleicht.. .vielleicht ... entwickelte sich aus einer wunderbaren Freundschaft eine Liebe, wie eine innen goldene Rose, die aus ihrer grünen Hülle entspringt.

Dann fiel der Schleier wieder. Aber die Anne, die nun den dunklen Weg entlangging, war nicht mehr diesselbe Anne, die am Abend zuvor fröhlich hierher gefahren war. Im Buch war von unsichtbaren Fingern eine Seite umgeblättert worden: Sie war kein Mädchen mehr. Vor ihr aufgeschlagen lag eine neue Seite: Sie war eine Frau, mit all dem Reiz und den Geheimnissen, den Freuden und Nöten.

Gilbert sagte klugerweise nichts mehr. Aber im Geiste las er die Geschichte der nächsten vier Jahre und sah, wie Anne bei der Erinnerung daran errötete. Vier Jahre ernsthafter und glücklicher Arbeit -und der Lohn dafür war das neu erworbene Wissen und die Liebe eines Mädchens.

Hinter ihnen im Garten lag im Schatten das kleine Steinhaus. Es war verlassen, aber nicht aufgegeben. Es hatte noch nicht alles Lachen, alle Träume und Freuden des Lebens erlebt. Ihm standen noch mehr Sommer bevor; solange konnte es warten. Und jenseits des Flusses warteten in ewigem Purpur die Echos auf ihre Zeit.

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