13 - Das traumhafte Picknick

Anne war auf dem Weg nach Orchard Slope und traf Diana, die ihrerseits auf dem Weg nach Green Gables war, an der alten moosbewachsenen Holzbrücke, die über den Teich im Geisterwald führte. Sie setzten sich an den Rand des Nymphenteichs, wo winzig kleine Farnblätter sich entrollten wie lockenköpfige grüne Elfen, die aus einem Schläfchen erwachen.

»Ich wollte gerade zu dir und dich zum Geburtstag am Samstag einladen«, sagte Anne.

»Zu deinem Geburtstag? Aber du hattest doch im März Geburtstag!«

»Das ist nicht meine Schuld«, lachte Anne. »Hätten meine Eltern mich gefragt, wäre es anders gekommen. Ich hätte mir natürlich den Frühling ausgesucht. Es muss herrlich sein, zusammen mit den Maiglöckchen und Veilchen das Licht der Welt zu erblicken. Man würde sich wie ihre Schwester fühlen. Aber da ich nicht zu der Zeit geboren bin, feiere ich meinen Geburtstag eben im Frühling. Priscilla und Jane kommen auch. Alle vier streifen wir durch den Wald und verbringen einen herrlichen Tag, an dem wir den Frühling kennen lernen. Keine von uns kennt ihn bisher wirklich, aber wir werden ihn kennen lernen, wie wir es sonst nirgends können. Ich will sowieso all die Felder und abgeschiedenen Stellen erforschen. Bestimmt gibt es da viele wunderschöne Fleckchen, die noch niemand wirklich gesehen hat, auch wenn er sie sich angeschaut hat. Wir werden Freunde mit dem Wind, dem Himmel und der Sonne und tragen den Frühling in unserem Herzen mit nach Hause.«

»Es klingt wunderbar«, sagte Diana mit leisen Zweifeln an Annes Zauberworten. »Aber ist es nicht noch sehr nass?«

»Oh, wir ziehen Gummistiefel an«, lautete Annes Zugeständnis an die praktischen Seiten des Lebens. »Es wäre lieb, wenn du Samstag früh kommen und mir bei der Vorbereitung des Picknicks helfen würdest. Ich werde die erlesensten Sachen machen - Sachen, die zum Frühling passen, verstehst du -, kleine Geleetörtchen und Löffelbiskuits und Tropfteigplätzchen überzogen mit rosa und gelbem Zuckerguss. Und Sandwiches brauchen wir auch, auch wenn sie nicht sehr poetisch sind.«

Der Samstag erwies sich als ein idealer Tag für ein Picknick. Der Himmel war blau, es war warm und sonnig, eine leichte beschwingte Brise wehte über die Wiesen und Gärten. Auf jedem sonnenbeschienenen Hügel und Feld lag ein zartes, blütenübersätes Grün.

Mr Harrison, der sich an der Rückseite seines Farmhauses abplagte und im gesetzten Blut seiner reiferen Jahre ebenfalls die Zauberkraft des Frühlings spürte, sah vier mit Körben beladene Mädchen über das andere Ende seines Feldes hüpfen, das von einem Wald aus Birken und Tannen gesäumt wurde. Ihre fröhlichen Stimmen und ihr Lachen schallten bis zu ihm herüber.

»Nichts ist leichter, als an einem Tag wie diesem glücklich zu sein, nicht wahr?«, sagte Anne mit typischer Anne’scher Weitsicht. »Lasst uns einen traumhaften Tag daraus machen, einen Tag, an den wir immer gern zurückdenken. Wir müssen nach dem Schönen Ausschau halten, alles andere übersehen wir. >Fort mit dir, du dumpfe Sorge!< Jane, du denkst an etwas, das gestern in der Schule schief gelaufen ist.«

»Woher weißt du das?«, fragte Jane erstaunt.

»Ich kenne den Gesichtsausdruck - ich habe ihn oft genug an mir selbst gespürt. Aber verscheuche den Gedanken aus dem Kopf, sei so gut. Die Schule fängt erst Montag wieder an. Oh, seht nur diese Veilchen! Das wird mir als Bild immer in Erinnerung bleiben. Wenn ich achtzig bin - falls ich je achtzig werde —, werde ich die Augen schließen und diese Veilchen genauso vor mir sehen, wie ich sie jetzt sehe. Das ist das erste schöne Geschenk, dass uns dieser Tag bereitet hat.«

»Könnte man einen Kuss sehen, ich glaube, er würde aussehen wie ein Veilchen«, sagte Priscilla.

Anne glühte.

»Ich bin froh, dass du den Gedanken ausgesprochen hast, Priscilla, statt ihn nur zu denken und für dich zu behalten. Diese Welt wäre viel interessanter, wenn die Menschen ihre wahren Gedanken aussprechen würden.«

»Da würden manche förmlich darauf brennen«, bemerkte Jane weise. »Kann sein, aber wenn sie hässliche Dinge denken, wäre das ihre eigene Schuld. Wir jedenfalls können heute alle unsere Gedanken aussprechen, weil wir nur Schönes denken. Wir können alles, was uns in den Sinn kommt, frei heraus sagen. Das ist Unterhaltung. Hier ist ein kleiner Pfad, den ich noch nie gesehen habe. Kommt, wir erkunden ihn.«

Der Pfad schlängelte sich in engen Windungen dahin, sodass sie hintereinander gehen mussten, aber auch dann noch streiften die Tannenzweige ihre Gesichter. Unter den Tannen waren samtene Mooskissen und tiefer im Wald, wo die Bäume kleiner waren und weniger dicht standen, war der Boden übersät mit den verschiedensten Pflanzen.

»Wieviele Elefantenohren hier wachsen«, rief Diana. »Ich pflücke einen großen Strauß, sie sind so hübsch.«

»Wie kommen diese anmutigen Pflanzen nur zu einem so scheußlichen Namen?«, fragte Priscilla.

»Weil derjenige, der ihnen den Namen gegeben hat, entweder überhaupt keine oder zu viel Phantasie hatte«, sagte Anne. »Oh, seht doch nur das da!«

»Das« war ein seichter Waldsee inmitten einer kleinen grasbewachsenen Lichtung, wo der Pfad endete. Später im Jahr würde er ausgetrocknet und mit ausladendem Farn bewachsen sein. Aber jetzt war es eine glitzernde, friedliche Waldfläche, rund wie eine Untertasse und klar wie Kristall. Schlanke junge Birken umstanden den See und an seinen Rändern wuchs niedriger Farn.

»Wie schön!«, sagte Jane.

»Lasst uns drum herum tanzen wie Waldnymphen«, rief Anne, setzte den Korb ab und streckte die Hände aus.

Aber aus dem Tanz wurde nichts, weil der Boden sumpfig war und Janes Gummistiefel stecken blieben.

»Mit Gummistiefeln an den Füßen kann man keine Waldnymphe sein«, entschied sie.

»Wir müssen diesem Ort einen Namen geben, bevor wir ihn verlassen«, sagte Anne. »Jeder schlägt einen Namen vor und wir losen einen aus. Diana?«

»Birkenteich«, schlug Diana sofort vor.

»Kristallsee«, sage Jane.

Anne, die hinter den beiden stand, warf Priscilla flehende Blicke zu, nicht noch einen solchen Namen zu verbrechen, und Priscilla wurde dem gerecht mit »Glitzerweiher«. Annes Wahl fiel auf »Elfenspiegel«.

Die Namen wurden mit einem Stift, den Jane aus ihrer Tasche zog, auf Birkenrindenstreifen geschrieben und in Annes Hut gelegt. Dann machte Priscilla die Augen zu und zog einen Streifen. »Kristallsee«, las Jane triumphierend. Auf Kristallsee war das Los gefallen. Auch wenn Anne fand, dass der Zufall dem Teich einen gemeinen Streich gespielt hatte, so sagte sie es nicht.

Die Mädchen bahnten sich ihren Weg durch das Unterholz hinter dem See und kamen bei Mr Silas Sloanes mit jungem Grün bewachsener hinterer Weide heraus. Quer gegenüber entdeckten sie einen Weg, der in den Wald führte. Sie einigten sich darauf, ihn ebenfalls zu erkunden. Sie wurden mit vielen herrlichen Überraschungen belohnt. Als Erstes kamen sie entlang Mr Sloanes Weide an eine in voller Blüte stehende Allee aus wilden Kirschbäumen. Die Mädchen schwangen ihre Hüte und steckten sich die weichen flaumigen Blüten ins Haar. Dann bog der Weg im rechten Winkel ab und mündete in einen so dicht wachsenden, dunklen Fichtenwald, dass sie wie in Abenddämmerung dahinwanderten, ohne ein Stückchen Himmel oder Sonnenlicht zu sehen.

»Hier hausen die bösen Waldelfen«, flüsterte Anne. »Sie sind boshaft und arglistig, aber sie können uns nichts antun, weil sie im Frühling nichts Böses tun dürfen. Da hat eine hinter der alten krummen Tanne hervorgelugt. Und habt ihr das Grüppchen auf dem großen, getüpfelten Blätterpilz gesehen, an dem wir gerade vorbeigekommen sind? Die guten Elfen wohnen immer an sonnigen Plätzen.«

»Ich wünschte, da wären wirklich Elfen«, sagte Jane. »Wäre das nicht schön, wenn man drei Wünsche frei hätte - oder wenigstens einen? Was würdet ihr euch wünschen? Ich würde mir wünschen, reich, klug und schön zu sein.«

»Ich würde mir wünschen, groß und schlank zu sein«, sagte Diana. »Ich würde mir wünschen, berühmt zu sein«, sagte Priscilla.

Anne dachte an ihre Haare und ließ den Gedanken als unwürdig fallen.

»Ich würde mir wünschen, dass in den Herzen aller Menschen auf ewig Frühling wäre«, sagte sie.

»Aber«, sagte Priscilla, »das wäre ja, als wünschte man sich den Himmel auf Erden.«

»Nur ein Stückchen Himmel. Ansonsten würde es Sommer und Herbst geben - ja, und auch ein bisschen Winter. Ich glaube, ich wünsche mir auch im Himmel ab und zu glitzernde, schneebedeckte Felder und Raureif. Du dir nicht, Jane?«

»Ich ... ich weiß nicht«, sagte Jane unbehaglich. Jane war ein liebes Mädchen, versuchte gewissenhaft ihrem Beruf gemäß zu leben und glaubte alles, was man sie gelehrt hatte. Aber sie dachte nie mehr als nötig über den Himmel nach.

»Minnie May hat mich neulich gefragt, ob wir im Himmel unsere Sonntagskleider tragen«, lachte Diana.

»Und du hast nicht gesagt, dass das stimmt?«, fragte Anne.

»Jesses nein! Ich habe zu ihr gesagt, dass wir uns dort über Kleider überhaupt keine Gedanken mehr machen.«

»Oh, ich glaube schon ... ein bisschen«, sagte Anne ernst. »In der Ewigkeit hat man viel Zeit dazu, ohne wichtigere Sachen zu vernachlässigen. Ich glaube, wir werden schöne Kleider tragen - das heißt, Kleidung ist wohl der passendere Ausdruck. Die ersten paar Jahrhunderte möchte ich etwas Rosafarbenes tragen - so lange würde es dauern, bis ich es leid wäre. Mir gefällt Rosa so, und auf dieser Welt kann ich nie rosa Kleider anziehen.«

Hinter den Fichten führte der Weg hinab auf eine sonnige kleine Lichtung, wo eine Holzbrücke einen Bach überspannte. Vor ihnen lag in vollem Glanz ein sonnenbeschienener Buchenwald. Die Luft schien wie durchsichtiger goldener Wein, die Blätter waren frisch und grün und auf dem Waldboden bildeten die vibrierenden Sonnenstrahlen ein Mosaik. Hier standen noch mehr wilde Kirschbäume und da war eine kleine Senke mit mächtigen Tannen. Schließlich kamen sie an einen so steilen Hügel, dass die Mädchen ganz außer Atem kamen, als sie hinaufkletterten. Aber als sie die Spitze und offenes Gelände erreichten, erwartete sie die schönste aller Überraschungen. Dahinter erstreckten sich die rückwärtig der Farmen gelegenen Felder, die bis an die höher gelegene Carmody-Straße reichten. Direkt vor ihnen, von Buchen und Tannen umschlossen, aber nach Süden hin offen, war ein kleiner Garten - oder was einmal ein Garten gewesen war. Eine mit Moos und Gras bewachsene verfallene Steinmauer umschloss den Garten. Entlang der Ostseite stand, weiß wie eine einzige Schneewehe, eine Reihe von Kirschbäumen. Man konnte noch die alten Pfade erkennen, in der Mitte standen in einer Zweierreihe Rosensträucher. Aber alles Übrige war übersät mit gelben und weißen Narzissen in ihrer zartesten, verschwenderischsten, über das üppige Grün der Gräser im Winde sich wiegenden Pracht.

»Oh, wie wunderschön!«, riefen drei zugleich aus. Anne schaute nur in beredtem Schweigen.

»Wie um alles auf der Welt ist es möglich, dass hier einmal ein Garten war?«, sagte Priscilla verwundert.

»Es muss Hester Grays Garten sein«, sagte Diana. »Meine Mutter hat einmal davon erzählt, aber ich habe ihn noch nie gesehen und ich hätte nicht gedacht, dass es ihn noch gibt. Du kennst die Geschichte, Anne?«

»Nein, aber der Name kommt mir bekannt vor.«

»Du hast ihn bestimmt auf dem Friedhof gesehen. Sie liegt hinten in der Ecke bei den Pappeln begraben. Du kennst doch diesen kleinen braunen Grabstein mit den sich öffnenden Toren darauf, auf dem in Stein gemeißelt steht: >Zum Gedenken an Flester Gray, 22Jahre.< Jordan liegt rechts von ihr begraben, aber er hat keinen Grabstein. Mich wundert, dass Marilla dir nie davon erzählt hat, Anne. Naja, es ist vor dreißig Jahren geschehen und in Vergessenheit geraten.«

»Nun, dann lass uns die Geschichte hören«, sagte Anne. »Setzen wir uns in die Narzissen, hier gibt’s Hunderte davon, sie haben sich ja überall verbreitet. Es sieht aus, als hätte der Garten einen Teppich aus Mond- und Sonnenschein zugleich. Das war eine lohnenswerte Entdeckung. Das muss man sich mal vorstellen, da lebe ich seit sechs Jahren keine Meile von hier entfernt und habe ihn noch nie gesehen! Also, Diana, jetzt erzähle.«

»Vor langer Zeit«, begann Diana, »gehörte diese Farm dem alten Mr David Gray. Er wohnte nicht hier; er wohnte dort, wo jetzt Silas Sloane wohnt. Er hatte einen Sohn,Jordan, und der ging eines Winters nach Boston, um dort zu arbeiten. Er verliebte sich in ein Mädchen namens Hester Murray. Sie arbeitete in einem Laden und hasste ihre Arbeit. Sie war auf dem Land aufgewachsen und wollte immer dorthin zurückkehren. Als Jordan um ihre Hand anhielt, sagte sie, sie würde ihn heiraten, wenn er mit ihr an irgendein ruhiges Fleckchen ziehen würde, wo es weit und breit nichts als Felder und Wälder gab. Also nahm er sie mit nach Avonlea. Mrs Lynde sagt, er wäre ein großes Risiko eingegangen, dass er eine Yankee heiratete, und es stimmte, dass Hester sehr schwächlich war und so gut wie nichts von Hauswirtschaft verstand. Aber meine Mutter sagt, dass sie sehr hübsch und reizend war und Jordan sie regelrecht anbetete. Jedenfalls, Mr Gray überließ Jordan diese Farm und der baute hier hinten ein kleines Haus, in dem Jordan und Hester viele Jahre lang lebten. Sie ging nur selten außer Haus, und außer Mrs Lynde und meiner Mutter kam sie kaum einmal jemand besuchen. Jordan legte für sie diesen Garten an. Sie werkelte begeistert darin herum und verbrachte die meiste Zeit hier. Sie war keine gute Hausfrau, aber sie hatte ein Händchen für Blumen. Dann wurde sie krank. Meine Mutter meint, sie wäre schon krank gewesen, bevor sie hierher kam. Sie hat nie wirklich das Bett hüten müssen, aber sie wurde immer schwächer. Jordan hatte niemanden, der sie hätte pflegen können. Er hat sich ganz allein um sie gekümmert. Meine Mutter sagt, er war so sanft und gütig wie eine Frau. Tag für Tag hat er sie in ihr Tuch gewickelt und sie nach draußen in den Garten gebracht. Sie hätte ganz glücklich auf einer Bank gelegen. Man sagt, Jordan hätte sich jeden Abend und jeden Morgen neben sie hinknien und mit ihr zusammen darum beten müssen, dass sie, wenn ihre Zeit kam, draußen im Garten sterben möge. Ihr Gebet wurde erhört. Eines Tages trugjordan sie nach draußen auf die Bank, pflückte alle blühenden Rosen ab und bedeckte Hester über und über mit ihnen. Sie lächelte ihn nur an . . . schloss die Augen . . . Und das«, sagte Diana leise, »war das Ende.«

»Was für eine hübsche Geschichte«, seufzte Anne und wischte sich die Tränen ab.

»Was wurde aus Jordan?«, fragte Priscilla.

»Nach Hesters Tod verkaufte er die Farm und kehrte nach Boston zurück. Mr Jabez Sloane kaufte die Farm und baute das kleine Haus weiter oben an der Straße wieder auf. Jordan starb ungefähr zehn Jahre später, wurde nach Hause überführt und neben Hester begraben.«

»Ich verstehe nicht, warum sie so abgeschieden leben wollte«, sagte Jane.

»Oh, das kann ich gut verstehen«, sagte Anne nachdenklich. »Obwohl ich selbst nicht so leben wollte, weil ich, sosehr ich die Wälder und Felder liebe, auch die Menschen liebe. Aber bei Hester kann ich es verstehen. Sie hatte den Lärm der Großstadt und das Gewimmel von Menschen satt, von denen sich nicht einer um sie scherte. Sie wollte dem entfliehen an einen friedlichen Ort, wo sie ihre Ruhe hatte. Hier fand sie, was sie suchte, was wohl nicht vielen Menschen im Leben vergönnt ist. Sie verlebte vier wundervolle Jahre, ehe sie starb —vier Jahre vollkommenen Glücks. Darum wurde sie wohl auch mehr beneidet als bemitleidet. Und dann seine Augen schließen und von Rosen bedeckt entschlafen und der, den man über alles geliebt hat, lächelt einem zu . . . ich glaube, es war schön!«

»Sie hat die Kirschbäume da drüben angepflanzt«, sagte Diana. »Sie hat meiner Mutter erzählt, sie hätte nie auch nur eine einzige Kirsche gegessen, aber sie wolle in dem Wissen sterben, dass etwas, das sie gepflanzt hatte, weiterlebte und dazu beitrug, die Welt zu verschönern.«

»Ich bin ja so froh, dass wir diesen Weg eingeschlagen haben«, sagte Anne mit glänzenden Augen. »Heute ist mein Wunsch-Geburtstag, wie ihr wisst, und dieser Garten und seine Geschichte ist mein Geschenk. Hat deine Mutter dir je erzählt, wie Hester Gray ausgesehen hat, Diana?«

»Nein, nur dass sie hübsch war.«

»Da bin ich aber froh, weil ich mir vorstellen kann, wie sie ausgesehen hat, ohne dass mir Tatsachen den Blick verstellen. Bestimmt war sie sehr schlank und schmal, hatte leicht gewelltes dunkles Haar und große, hübsche, schüchterne, braune Augen und ein ernstes blasses Gesicht.«

Die Mädchen ließen die Körbe in Hesters Garten stehen, streiften den ganzen Nachmittag durch den Wald, kamen an Feldern entlang und entdeckten viele hübsche abgeschiedene Fleckchen und Pfade. Als sie Hunger bekamen, hielten sie an der schönsten Stelle überhaupt ihr Picknick - am steilen Ufer eines gurgelnden Baches, wo weiße Birken aus langem fiedrigem Gras emporragten. Die Mädchen ließen sich nieder und machten sich über Annes Köstlichkeiten her. Auch die »unpoetischen« Sandwiches wurden angesichts des herzhaften Appetits der vier, angeregt von der vielen Bewegung in der frischen Luft, dankbar angenommen. Anne hatte Gläser und Limonade für ihre Gäste mitgenommen, aber sie selbst trank kühles Wasser aus dem Bach aus einer aus Birkenrinde geformten Tasse. Die Tasse leckte und das Wasser schmeckte nach Erde, wie Wasser aus einem Bach im Frühling eben schmeckt.

»Schaut mal, seht ihr das Gedicht?«, sagte sie plötzlich und zeigte auf etwas.

»Wo?« Jane und Diana schauten, als erwarteten sie, in Runenschrift geschriebene Verse an den Birken zu entdecken.

»Da, unten im Bach, das alte moosbewachsene Stück Holz, über das in sanften, sich brechenden Wellen das Wasser fließt. Und dieser einzelne Sonnenstrahl, der schräg darauf fällt und bis tief in den Bach scheint. Oh, das ist das schönste Gedicht, das ich je gesehen habe.«

»Ich würde es eher als ein Bild bezeichnen«, sagte Jane. »Ein Gedicht besteht aus Zeilen und Versen.«

»Du lieber Himmel, nein!« Anne schüttelte entschieden ihren mit weichen wilden Kirschblüten bekränzten Kopf. »Zeilen und Verse sind nur die äußere Verkleidung eines Gedichts, sie sind nicht das Eigentliche, so wenig deine Rüschen und Krausen dich ausmachen, Jane. Das eigentliche Gedicht ist die Seele, die darin steckt - und das Schöne dort ist die Seele eines ungeschriebenen Gedichts. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man eine Seele zu sehen bekommt - auch nicht die eines Gedichts.«

»Wie eine Seele, eine Menschenseele, wohl aussehen mag?«, fragte Priscilla verträumt.

»So wie das da, denke ich«, antwortete Anne und deutete auf das strahlende Sonnenlicht, das durch eine Birke drang. »Natürlich mit einem Körper und Gesichtszügen. Ich stelle mir gern vor, dass Seelen aus Licht bestehen. Und manche sind voller rosenroter Punkte . . . und manche glitzern sanft wie Mondschein auf dem Meer... und manche sind matt und durchsichtig wie Dunst in der Morgendämmerung.«

»Ich habe irgendwo einmal gelesen, Seelen wären wie Blumen«, sagte Priscilla.

»Dann ist deine Seele eine goldene Narzisse«, sagte Anne, »und Dianas ist wie eine rote, rote Rose. Janes ist eine Apfelblüte, rosa wie ein Apfel und süß im Geschmack.«

»Und deine ist ein weißes Veilchen mit purpurroten Streifen in der Mitte«, sagte Priscilla.

Jane flüsterte Diana zu, sie verstünde wirklich nicht - konnte sie das? -, worüber sich die beiden unterhielten.

Die Mädchen gingen im stillen goldenen Licht des Sonnenuntergangs nach Hause. Ihre Körbe hatten sie gefüllt mit Narzissen aus Hesters Garten, von denen Anne am nächsten Tag einige mit zum Friedhof nahm und auf Hesters Grab legte. Rotkehlchen pfiffen in den Tannen ihr Lied und im Sumpf quakten die Frösche. Die Täler waren in topasfarbenes und smaragdenes Licht getaucht.

»Nun, es war doch ein herrlicher Tag«, sagte Diana, so als hätte sie das kaum erwartet, als sie sich auf den Weg machten.

»Es war wirklich ein traumhafter Tag«, sagte Priscilla.

»Ich mag die Wälder sehr«, sagte Jane.

Anne sagte nichts. Sie blickte in die Ferne und nach Westen in den Himmel und dachte an die kleine Hester Gray.

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