21 - Die liebenswerte Miss Lavendar

Die Schule begann. Anne nahm ihre Arbeit mit weniger Theorien im Kopf, aber entschieden mehr Erfahrung wieder auf. Sie hatte mehrere neue Schüler, die zwischen sechs und sieben Jahren alt waren und mit großen runden Augen in die Welt schauten. Unter ihnen waren auch Davy und Dora. Davy saß neben Milty Boulter, der bereits seit einem Jahr die Schule besuchte und also schon ein Mann von Welt war. Dora hatte sonntags zuvor in der Sonntagsschule mit Lily Sloane abgemacht, dass sie nebeneinander sitzen wollten. Aber da Lily Sloane am ersten Schultag nicht in die Schule kam, wurde Dora einstweilen der Platz neben Mirabel Cotton zugewiesen; sie war zehn Jahre alt und gehörte in Doras Augen daher schon zu »den großen Mädchen«.

»Die Schule macht riesigen Spaß«, erzählte Davy Marilla, als er am Nachmittag nach Hause kam. »Du hast gemeint, es würde mir schwer fallen stillzusitzen. Es war schwer - du hast fast immer mit allem Recht, fällt mir auf. Aber man kann unter dem Tisch mit den Beinen zappeln, das hilft eine ganze Menge. Prima ist, dass man so viele Jungen zum Spielen hat. Ich sitze neben Milty Boulter, der ist nett. Er ist größer als ich, aber dafür bin ich dicker, ln den hinteren Bänken zu sitzen ist schöner, aber da bekommt man erst einen Platz, wenn die Beine lang genug sind und den Fußboden berühren. Milty hat auf seine Tafel ein ganz hässliches Bild von Anne gemalt. Ich habe zu ihm gesagt, wenn er weiter solche Bilder von Anne malt, würde ich ihn in der Pause versengen. Zuerst hatte ich vor, ihn mit Hörnern und Schwanz zu malen, aber dann wäre er vielleicht beleidigt gewesen. Wo Anne doch immer sagt, man solle niemals jemanden beleidigen. Das scheint was ganz Schlimmes zu sein. Man schlägt besser einen Jungen zu Boden, als dass man ihn beleidigt, wenn man schon eins von beiden tun muss. Milty behauptet, er hätte keine Angst vor mir, aber mir zu Gefallen könnte er auch einen anderen Namen unter das Bild schreiben. Also hat er Annes Namen ausgewischt und Barbara Shaw darunter gesetzt. Milty kann Barbara nämlich nicht ausstehen, weil sie ihn süß findet. Einmal hat sie ihm sogar den Kopf getätschelt.«

Dora sagte artig, dass ihr die Schule gefiele. Aber selbst für ihre Verhältnisse war sie sehr schweigsam. Als Marilla sie bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett schicken wollte, zögerte sie und fing an zu weinen.

»Ich ... ich habe Angst«, schluchzte sie. »Ich ... ich mag nicht allein im Dunkeln nach oben gehen.«

»Was spukt dir jetzt im Kopf herum?«, fragte Marilla. »Du bist doch den ganzen Sommer allein ins Bett gegangen und hast keine Angst gehabt.«

Dora hörte nicht auf zu weinen. Anne nahm sie hoch, drückte sie mitfühlend und sagte leise: »Erzähl es mir Dora, Herzchen. Wovor hast du Angst?«

»Vor... vor Mirabel Cottons Onkel«, schluchzte Dora. »Mirabel Cotton hat mir heute in der Schule ihre ganze Familiengeschichte erzählt. Fast alle in ihrer Familie sind gestorben - alle Großmütter und Großväter und ganze viele Tanten und Onkel. Sie sterben alle weg, sagt Mirabel. Sie ist furchtbar stolz darauf, so viele tote Verwandte zu haben. Sie hat mir erzählt, woran sie gestorben sind, was sie gesagt und wie sie in ihren Särgen ausgesehen haben. Einer ihrer Onkel wurde gesehen, wie er nach seiner Beerdigung ums Haus schlich. Ihre Mutter hat ihn gesehen. Das andere macht mir weiter nichts aus, ich muss nur dauernd an diesen Onkel denken.«

Anne ging mit Dora nach oben und setzte sich neben sie ans Bett, bis sie eingeschlafen war. Am nächsten Tag in der Pause rief sie Mirabel zu sich und gab ihr »freundlich, aber entschieden« zu verstehen, dass es bedauerlich sei, einen Onkel zu haben, der unbeirrt weiter um anderer Leute Häuser wanderte, nachdem er in aller Form begraben worden war, und dass es geschmacklos sei, mit der viel jüngeren Tischnachbarin über diesen wunderlichen Herrn zu sprechen. Mirabel traf das hart. Die Cottons hatten nichts, womit sie hätten prahlen können. Wie konnte sie ihr Ansehen unter ihren Mitschülern wahren, wenn man ihr verbat, aus ihrem Familiengeist Kapital zu schlagen? Der September verstrich und ging über in den goldenen, alles rot färbenden anmutigen Oktober. Eines Freitags abends kam Diana vorbei.

»Ich habe heute einen Brief von Ella Kimbell bekommen, Anne. Sie möchte, dass wir morgen Nachmittag zum Tee kommen, damit wir ihre Cousine Irene Trent aus der Stadt kennen lernen. Aber wir können keines unserer Pferde nehmen, weil sie morgen alle gebraucht werden, und euer Pferd lahmt, also fällt der Besuch ins Wasser.«

»Warum gehen wir nicht zu Fuß?«, schlug Anne vor. »Wenn wir direkt hinten durch den Wald gehen, stoßen wir nicht weit von den Kimballs auf die West-Grafton-Straße. Ich habe letzten Winter den Weg genommen und kenne mich aus. Es sind nicht mehr als vier Meilen. Zurück müssen wir nicht laufen, denn Oliver Kimball fährt uns bestimmt. Er wird sich freuen über die Ausrede, weil er Carrie Sloane besuchen will; angeblich überlässt ihm sein Vater höchst selten einmal ein Pferd.«

Also vereinbarten sie zu Fuß zu gehen. Am folgenden Nachmittag machten sie sich auf den Weg. Sie nahmen den Weg durch die Liebeslaube entlang der Rückseite der Cuthbert-Farm. Dort gelangten sie an einen Pfad, der geradewegs zu den schimmernden Buchen und in den Ahornwald führte, der wunderbar rot und golden glühte und in herrlichem Purpur still und friedlich dalag.

»Es ist, als ob sich das Jahr in einer riesigen Kathedrale erfüllt von zart getöntem Licht zum Gebet niederkniete, nicht wahr?«, fragte Anne verträumt. »Es ist nicht richtig, so hindurchzueilen. Es ist respektlos, wie wenn man in einer Kirche herumrennt.«

»Wir müssen uns aber beeilen«, sagte Diana und sah auf die Uhr. »Wir sind ohnehin schon spät dran.«

»Gut, ich beeile mich, aber verlange nicht von mir, dass wir uns unterhalten«, sagte Anne und beschleunigte den Schritt. »Ich möchte die Schönheit dieses Tages in mich aufnehmen - mir ist, als würde sie zu mir geführt wie ein Glas durchsichtigen Weins, an dem ich bei jedem Schritt nippe.«

Vielleicht lag es daran, dass Anne voll und ganz mit »In-sich-Aufnehmen« beschäftigt war, dass sie an der Gabelung die falsche Abzweigung einschlug. Sie hätte die rechte nehmen müssen, aber hinterher rechnete sie diesen Irrtum stets zu den schönsten Fehlern ihres Lebens. Sie gelangten schließlich an einen einsamen, grasbewachsenen Weg. Entlang des Wegs war weit und breit nichts zu sehen als junge Fichten.

»Nanu, wo sind wir?«, rief Diana verwundert. »Das ist nicht die West-Grafton-Straße.«

»Nein, es ist die Hauptstraße von Middle Grafton«, sagte Anne ziemlich beschämt. »Ich muss an der Gabelung die falsche Abzweigung genommen haben. Ich habe keine Ahnung, wo genau wir sind, aber wir müssen noch ganze drei Meilen von den Kimballs entfernt sein.«

»Dann kommen wir bis fünf nicht mehr dort an, jetzt ist es schon halb fünf«, sagte Diana mit einem hoffnungslosen Blick auf die Uhr. »Wir kämen erst nach dem Tee an, dann müssten sie sich die Arbeit machen und noch einmal für uns Tee kochen.«

»Wir kehren besser um und gehen nach Hause«, schlug Anne kleinlaut vor. Diana lehnte das nach einiger Überlegung ab.

»Nein, wir können genauso gut noch eine Weile weitergehen, wo wir schon so weit gelaufen sind.«

Kurz darauf kamen sie erneut an eine Gabelung.

»Welchen Weg nehmen wir?«, fragte Diana unschlüssig.

Anne schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht und noch einen Irrtum können wir uns nicht leisten. Da ist ein Tor und ein Weg, der direkt in den Wald führt. Am anderen Ende des Wegs muss ein Haus sein. Lass uns hingehen und nach dem Weg fragen.«

»Was für ein romantischer Weg!«, sagte Diana, als sie um die Biegungen und Windungen gingen. Er führte unter uralten Tannen hindurch, deren Zweige einander berührten und den Boden in ewiges Dämmerlicht tauchten, in dem nur Moose gediehen. An beiden Seiten war brauner Waldboden, auf den nur hier und da ein Sonnenstrahl fiel. Es war sehr still und abgeschieden, so als wären die Welt und alle Sorgen weit weg.

»Mir kommt es vor, als wanderten wir durch einen Zauberwald«, sagte Anne leise. »Meinst du, wir finden je wieder zurück in die wirkliche Welt, Diana? Wir kommen bestimmt gleich zu einem Palast mit einer verzauberten Prinzessin.«

Hinter der nächsten Biegung erblickten sie nicht gerade einen Palast, aber ein kleines Haus, das so verwunschen aussah, wie einen in dieser Gegend mit den üblichen Holzhäusern ein Palast verwundert hätte. Es ähnelte sehr einem Palast. Anne blieb verzückt stehen. Diana rief: »Ah, jetzt weiß ich, wo wir sind. Das ist das kleine Steinhaus, in dem Miss Lavendar Lewis wohnte - Echo Lodge nennt sie es, soweit ich weiß. Ich habe schon oft davon gehört, aber es noch nie gesehen. Ist es nicht ein romantisches Fleckchen?«

»Es ist der schönste und hübscheste Ort, den ich je gesehen oder mir vorgestellt habe«, sagte Anne entzückt. »Er könnte aus einem Märchenbuch oder einem Traum sein.«

Das Haus hatte tief herabgezogene Dachrinnen und war aus unbehauenen roten Sandsteinblöcken gebaut, wie es sie auf der Insel gab. Es hatte ein kleines spitzes Dach mit zwei großen Schornsteinen und zwei Giebelfenster mit kunstvoll gearbeiteten hölzernen Hauben darüber. Das ganze Haus war mit üppig wachsendem Efeu bedeckt, der an dem rauen Mauerwerk guten Halt fand und sich bei Herbstfrösten in die wunderschönsten bronzenen und weinroten Farbtöne verfärbte.

Vor dem Haus war ein rechteckiger Garten, in dem vom Weg her ein Tor führte, an dem die Mädchen standen. An der einen Seite wurde der Garten vom Haus begrenzt. An den drei anderen Seiten wurde er von einer alten Steinmauer eingefasst, die so mit Moos, Gras und Farn überwuchert war, dass sie aussah wie ein hoher grüner Wall. Rechts und links vom Haus standen mächtige dunkle Fichten und breiteten ihre palmenähnlichen Zweige darüber. Unterhalb davon waren kleine Wiesen übersät mit grünem Klee, die schräg abfielen zum blau sich dahinschlängelnden Fluss. Weit und breit war kein anderes Haus oder eine Lichtung zu sehen — soweit das Auge reichte, nichts als Hügel und Täler mit jungen Tannen.

»Was Miss Lewis wohl für ein Mensch ist?«, überlegte Diana, als sie das Gartentor öffnete. »Man hält sie ja für sonderbar.«

»Dann ist sie interessant«, sagte Anne entschieden. »Sonderlinge sind zumindest interessant, was immer sie sonst sind oder nicht sind. Habe ich dir nicht gleich gesagt, wir kämen an einen verzauberten Ort? Ich wusste, dass die Feen nicht umsonst den Weg verzaubert haben.«

»Aber Miss Lavendar Lewis ist wohl kaum eine verzauberte Prinzessin«, lachte Diana. »Sie ist eine alte Jungfer. Sie ist fünfundvierzigjahre alt und schon ziemlich grau, hat man mir erzählt.«

»Das ist nur ein Teil des Zaubers«, erklärte Anne überzeugt. »Im Herzen ist sie jung geblieben und noch schön. Wenn wir nur wüssten, wie man den Zauber löst, dann würde sie wieder strahlend und hübsch sein. Aber wir wissen es nicht - das weiß einzig und allein der Prinz. Und Miss Lavendars Prinz ist noch nicht gekommen. Vielleicht ist ihm ein verhängnisvolles Unglück zugestoßen - obwohl das gegen alle Regeln eines Märchens wäre.«

»Ich fürchte, er kam einmal vor langer Zeit und ging wieder«, sagte Diana. »Man sagt, sie wäre in jungen Jahren mit Stephen Irving, Pauls Vater, verlobt gewesen. Aber sie haben sich zerstritten und sich getrennt.«

»Pssst«, wies Anne sie an. »Die Tür ist offen.«

Die Mädchen blieben auf der Veranda unter den Efeuranken stehen und klopften an die offene Tür. Im Haus waren Schritte zu hören. Eine ziemlich merkwürdige kleine Gestalt kam zum Vorschein — ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren mit Sommersprossen, einer Stupsnase, einem großen Mund, der wirklich aussah, als reichte er »von einem Ohr zum anderen«, und zwei langen blonden Zöpfen mit zwei riesigen blauen Schleifen.

»Ist Miss Lewis zu Hause?«, fragte Diana.

»Ja, meine Damen. Kommen Sie herein, meine Damen . . . hier entlang ... nehmen Sie doch Platz, meine Damen. Ich sage Miss Lavendar Bescheid, dass Sie da sind, meine Damen. Sie ist oben, meine Damen.«

Damit huschte die Kleine hinaus. Die beiden allein gelassenen Mädchen sahen sich entzückt um. Das wundervolle Haus war innen genauso interessant wie außen.

Das Zimmer hatte eine niedrige Decke und zwei viereckige Fenster mit kleinen Scheiben und Gardinen mit Musselinrüschen. Die Möbel waren altmodisch, aber so fein gearbeitet, dass sie wunderschön wirkten. Ehrlicherweise muss jedoch zugegeben werden, dass die zwei gesunden Mädchen, die soeben vier Meilen durch die Herbstluft gewandert waren, am meisten ein Tisch anzog, der mit blauem Porzellan gedeckt und überladen war mit Köstlichkeiten. Kleine goldfarbene Farnblätter auf dem Tischtuch verliehen dem Ganzen, wie Anne es genannt hätte, »ein festliches Aussehen«.

»Miss Lavendar erwartet wohl Besuch zum Tee«, flüsterte sie. »Da ist für sechs Personen gedeckt. Was für ein lustiges Dienstmädchen sie hat. Sie hat ausgesehen wie ein Botschafterin aus dem Land der Feen. Sie hätte uns bestimmt den Weg erklären können, aber ich war gespannt auf Miss Lavendar. Sch .. . Seht... sie kommt.«

Da stand Miss Lavendar Lewis auch schon in der Tür. Die Mädchen waren so überrascht, dass sie alle ihre guten Manieren vergaßen und sie nur anstarrten. Unbewusst hatten sie aus alter Erfahrung die übliche Sorte alter Jungfer erwartet — eine ziemlich eckige Gestalt mit ordentlich gekämmten grauen Haaren und einer Brille. Eine dem unähnlichere Person als Miss Lavendar hätte man sich nicht vorstellen können.

Sie war klein und hatte schneeweißes, schön gewelltes dickes Haar, das sorgfältig zu weichem Haarrollen frisiert war. Sie hatte ein fast mädchenhaftes Gesicht, rote Wangen, schön geformte Lippen, große sanfte braune Augen und Grübchen - tatsächlich Grübchen. Sie trug ein sehr elegantes Kleid aus cremefarbenem Musselin mit hellen Rosen darauf - ein Kleid, das an den meisten Frauen ihres Alters lachhaft jugendlich gewirkt hätte, das aber Miss Lavendar so gut stand, dass einem der Gedanke gar nicht erst kam.

»Charlotta die Vierte sagt, dass Sie mich zu sprechen wünschen«, sagte sie mit einer Stimme, die zu ihrem Äußeren passte.

»Wir wollten uns nach dem Weg nach West Grafton erkundigen«, sagte Diana. »Wir sind bei den Kimballs zum Tee eingeladen. Wir haben im Wald den falschen Weg genommen und sind an der Middle-Grafton-Straße herausgekommen statt an der West-Grafton-Straße. Müssen wir am Tor an der Straße nach links oder nach rechts abbiegen?«

»Nach links«, sagte Miss Lavendar mit einem unschlüssigen Blick auf den Teetisch. Dann rief sie, als hätte sie plötzlich einen Entschluss gefasst: »Ach, wollen Sie nicht bei mir zum Tee bleiben? Bitte. Die Kimballs werden längst mit dem Tee fertig sein, bis Sie dort eintreffen. Charlotta die Vierte und ich würden uns schrecklich freuen, wenn Sie bleiben würden.«

Diana sah Anne stumm und fragend an.

»Wir bleiben gern«, sagte Anne sofort, denn sie hatte beschlossen, dass sie mehr über Miss Lavendar wissen wollte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Aber Sie erwarten Gäste, nicht wahr?«

Miss Lavendar sah erneut zum Teetisch und wurde rot.

»Sie werden mich sicher für schrecklich albern halten«, sagte sie. »Es ist albern und ich schäme mich, wenn man dahinterkommt. Ich erwarte niemanden, ich habe nur so getan als ob. Verstehen Sie, ich war so allein. Ich habe gern Gesellschaft - das heißt angenehme Gesellschaft. Es verschlägt nur selten einmal jemanden hierher, weil das Haus so weit ab vom Weg liegt. Charlotta die Vierte fühlte sich auch einsam. Also habe ich so getan, als gäbe ich eine Party. Ich habe gekocht, den Tisch geschmückt, ihn mit dem Hochzeitsgeschirr meiner Mutter gedeckt und mich fein gemacht.«

Diana hielt Miss Lavendar insgeheim für so sonderbar, wie sie es sich den Gerüchten nach ausgemalt hatte. Eine Frau von fünfundvierzig Jahren, die sich damit die Zeit vertrieb, so zu tun, als erwarte sie Besuch! Wie ein kleines Mädchen! Aber Anne strahlte und rief erfreut: »Oh, Sie stellen sich auch Sachen vor?«

Das »auch« verriet Miss Lavendar die verwandte Seele.

»Ja«, gab sie beherzt zu. »Natürlich ist es für eine alte Frau wie mich albern. Aber was tut es zur Sache, wenn man schon eine ungebundene alte Jungfer ist, nach Lust und Laune verrückte Dinge zu tun, wo es sowieso niemandem schadet? Der Mensch braucht seinen Ausgleich. Manchmal könnte ich ohne das gar nicht leben, glaube ich. Aber ich werde nur selten dabei ertappt und Charlotta die Vierte verrät es nicht. Aber jetzt freue ich mich, dass ich ertappt wurde, denn Sie sind wirklich und wahrhaftig da. Der Tee ist schon fertig. Seien Sie so nett und gehen Sie ins Wohnzimmer und legen Sie Ihre Hüte ab. Dahinten durch die weiße Tür oben an der Treppe. Ich muss schnell in die Küche und schauen, dass Charlotta die Vierte nicht den Tee kochen lässt. Charlotta die Vierte ist ein liebes Mädchen, aber immer lässt sie den Tee kochen.«

Miss Lavendar verschwand in die Küche. Die Mädchen fanden den Weg zur Garderobe allein, ein Raum, genauso weiß wie die Tür, in den durch ein efeuverhangenes Giebelfenster Licht fiel und der aussah, so sagte Anne, wie ein Ort, an dem schöne Träume wachsen. »Das ist ein regelrechtes Abenteuer, nicht wahr?«, sagte Diana. »Ist Miss Lavendar nicht süß, auch wenn sie sonderbar ist? Sie sieht überhaupt nicht wie eine alte Jungfer aus.«

»Sie sieht aus wie Musik, finde ich«, antwortete Anne.

Als sie nach unten gingen, brachte Miss Lavendar die Teekanne herein. Ihr folgte, hocherfreut, Charlotta die Vierte mit einem Teller voll heißer Krapfen.

»So, nun müssen Sie mir sagen, wie Sie heißen«, sagte Miss Lavendar. »Wie schön, dass Sie jung sind. Ich mag junge Mädchen, ln Gesellschaftjunger Mädchen fällt es mir leicht, so zu tun, als wäre ich selbst auch ein junges Mädchen. Ich hasse die Vorstellung«, sie verzog ein wenig das Gesicht, »ich sei alt. Also, wie heißen Sie? Diana Barry? Und Anne Shirley? Darf ich so tun, als würde ich Sie schon eine Ewigkeit kennen und Sie einfach Anne und Diana nennen?«

»Ja«, sagten beide wie aus einem Munde.

»Dann machen wir es uns doch bequem und essen«, sagte Miss Lavendar glücklich. »Charlotta, du setzt dich ans Tischende und bedienst die Mädchen. Was für ein Glück - ich habe den Biskuitkuchen und die Krapfen gebacken! Wie albern, sie für eingebildete Gäste zu backen - Charlotta die Vierte hat das gedacht, nicht wahr, Charlotta? Aber du siehst, wie gut es war. Natürlich wäre das nicht vergeudet gewesen, denn Charlotta die Vierte und ich hätten die Krapfen in den nächsten Tagen schon aufgegessen. Aber Biskuitkuchen schmeckt frisch am besten.«

Es war ein fröhliches und denkwürdiges Beisammensein. Als sie fertig gegessen hatten, gingen sie hinaus und setzten sich im Zauber des Sonnenuntergangs in den Garten.

»Sie haben es wunderschön hier«, sagte Diana und schaute sich voller Bewunderung um.

»Warum nennen Sie das Haus Echo Lodge?«, fragte Anne. »Charlotta«, sagte Miss Lavendar, »hole das kleine Zinnhorn, das über dem Bord mit der Uhr hängt.«

Charlotta lief ins Haus und kam mit dem Horn wieder.

»Blase hinein, Charlotta«, befahl Miss Lavendar.

Charlotta blies hinein. Ein ziemlich rauer, schriller Ton erklang. Einen Augenblick lang war Stille - dann schallte vom Wald jenseits des Flusses ein vielfaches zauberhaftes Echo herüber, lieblich, schwer bestimmbar, silberhell, so als bliesen alle »Hörner aus dem Land der Feen« in den Abendhimmel. Anne und Diana riefen voll Wonne: »Jetzt lach, Charlotta, lach laut!«

Charlotta, die vermutlich auch gehorcht hätte, wenn Miss Lavendar ihr befohlen hätte, einen Kopfstand zu machen, kletterte auf die Steinbank und lachte laut und herzhaft. Das Echo hallte wider, als ahmte eine Schar von Feen ihr Lachen in dem rötlichen Wald und in den Tannen nach.

»Die Leute bewundern mein Echo immer sehr«, sagte Miss Lavendar, so als gehörte ihr das Echo. »Mir selbst gefällt es auch. Es leistet mir Gesellschaft - mit ein wenig Phantasie. An ruhigen Abenden sitzen Charlotta die Vierte und ich oft hier draußen und vertreiben uns damit die Zeit. Charlotta, nimm das Horn und hänge es vorsichtig wieder an seinen Platz.«

»Warum nennen Sie sie Charlotta die Vierte?«, fragte Diana, die wegen des Namens vor Neugierde fast platzte.

»Nur damit ich sie nicht mit den anderen Charlottas verwechsle«, sagte Miss Lavendar ernst. »Sie sehen sich alle so ähnlich, dass man sie gar nicht auseinander halten kann. Eigentlich heißt sie gar nicht Charlotta. Sie heißt, wartet mal, wie heißt sie doch? Ich glaube Leonora, ja, Leonora. Wisst ihr, das kam so. Als vor zehn Jahren meine Mutter starb, konnte ich nicht allein hier wohnen bleiben. Aber ich hatte nicht das Geld, um ein erwachsenes Dienstmädchen zu bezahlen. Also kam die kleine Charlotta Bowman gegen Kost und Logis zu mir. Sie hieß wirklich Charlotta - sie war Charlotta die Erste. Sie war gerade dreizehn Jahre alt und blieb bei mir, bis sie sechzehn wurde. Dann ging sie nach Boston, weil sie dort mehr verdienen konnte. Danach kam ihre Schwester zu mir. Sie hießjulietta - Mrs Bowman hatte wohl eine Schwäche für phantasievolle Namen. Aber sie sah genauso aus wie Charlotta, sodass ich sie immer Charlotta nannte. Ihr machte das nichts aus. Ich gab es auf, mich an ihren richtigen Namen zu erinnern. Sie war Charlotta die Zweite. Nach ihr kam Evelina. Sie war Charlotta die Dritte. Jetzt ist Charlotta die Vierte bei mir. Aber mit siebzehn - jetzt ist sie vierzehn - will sie auch nach Boston gehen, und was ich dann tue, das weiß ich wirklich nicht. Charlotta die Vierte ist die jüngste von den Bowman-Mädchen und die beste. Die anderen Charlottas haben es mich immer spüren lassen, wie albern sie es fanden, wenn ich so tat als ob. Charlotta die Vierte tut das nie, was auch immer sie insgeheim davon halten mag. Mich kümmert es nicht, was die Leute über mich denken, solange sie es mich nicht spüren lassen.«

»Nun«, sagte Diana und sah voll Bedauern in die untergehende Sonne, »wir müssen aufbrechen, wenn wir noch vor Anbruch der Dunkelheit bei den Kimballs sein wollen.«

»Wollt ihr mich nicht wieder mal besuchen kommen?«, bat Miss Lavendar.

Anne, groß gewachsen wie sie war, legte den Arm um die kleine Frau. »Das tun wir ganz bestimmt«, versprach sie. »Jetzt, wo wir Sie ausfindig gemacht haben, werden wir das nächste Mal länger bleiben. Ja, wir müssen gehen -, >wir müssen uns losreißen<, wie Paul Irving immer sagt, wenn er nach Green Gables kommt.«

»Paul Irving?«, Miss Lavendars Stimme klang leicht verändert. »Wer ist das? Ich dachte, in Avonlea gäbe es niemand mit diesem Namen.« Anne ärgerte sich über ihre Unbesonnenheit. Sie hatte Miss Lavendars frühere Romanze völlig vergessen, als ihr Pauls Name herausrutschte.

»Er ist ein Schüler von mir«, erklärte sie behutsam. »Er kam letztes Jahr aus Boston hierher und wohnt bei seiner Großmutter, bei Mrs Irving an der Uferstraße.«

»Ist er Stephen Irvings Sohn?«, fragte Miss Lavendar und beugte sich über den Lavendel, sodass ihr Gesicht verborgen war.

»Ja.«

»Ich gebe euch beiden einen Strauß Lavendel mit«, sagte Miss Lavendar strahlend, als hätte sie die Antwort auf ihre Frage nicht gehört. »Er ist schön, findet ihr nicht? Meine Mutter mochte ihn immer sehr. Sie hat diese Randbeete vor langer Zeit angepflanzt. Mein Vater hat mir deshalb auch den Namen Lavendar gegeben. Er hat meine Mutter kennen gelernt, als er sie und ihren Bruder zu Hause in East Grafton besuchte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie haben ihn die Nacht über im Gästezimmer einquartiert. Die Betttücher dufteten nach Lavendel. Er hat die ganze Nacht wach gelegen und an meine Mutter gedacht. Seither mochte er Lavendel — und deshalb hat er mir auch den Namen gegeben. Vergesst nicht, mich bald einmal wieder zu besuchen, Mädchen. Wir erwarten euch, Charlotta die Vierte und ich.«

Sie öffnete das Tor unter den Tannen und ließ sie hinaus. Plötzlich sah sie alt und müde aus. Das Glühen und Strahlen war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihr Abschiedslächeln war so unverändert jugendlich süß wie eh und je, aber als die Mädchen an der ersten Wegbiegung einen Blick zurückwarfen, sahen sie sie auf der alten Steinbank unter der Silberpappel mitten im Garten sitzen, den Kopf müde auf die Hand gestützt.

»Sie sieht einsam aus«, sagte Diana. »Wir müssen sie oft besuchen.«

»Ihre Eltern haben ihr den einzig richtigen Namen gegeben«, sagte Anne. »Wären sie so dumm gewesen und hätten sie Elizabeth oder Nellie oder Muriel genannt, sie müsste trotzdem Lavendar heißen. Der Name erinnert an süßen Duft, Schnörkel und >Seidenkleider<. Mein Name dagegen klingt nach Brot und Butter, Flickendecke und täglicher Hausarbeit.«

»Das finde ich nicht«, sagte Diana. »Anne klingt richtig vornehm und nach Königin. Aber mir würde auch Kerrenhappuch gefallen, falls du zufällig so hießest. Die Leute machen ihre Namen schön oder hässlich, je nachdem wie sie selbst sind. Ich kann die Namen Josie und Gertie nicht mehr ausstehen. Bevor ich die Pye-Mädchen kennen lernte, fand ich es richtig schöne Namen.«

»Das ist eine wundervolle Idee, Diana«, sagte Anne begeistert. »So zu leben, dass man den Namen verschönt, auch wenn er eigentlich nicht schön ist... ihn in den Köpfen der Leute zu etwas Schönem und Angenehmen zu machen, sodass sie über den Namen an sich gar nicht mehr nachdenken. Danke, Diana.«

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