02 - Schnell verkauft, lang gereut

Anne fuhr am folgenden Nachmittag zusammen mit Diana Barry zu einem Einkaufsbummel nach Carmody. Diana würde natürlich auch im Dorfverschönerungs-Verein mitmachen und die beiden sprachen den ganzen Weg nach Carmody und zurück kaum über etwas anderes.

»Als Allererstes sollten wir den Saal streichen«, sagte Diana, als sie am Gemeindesaal von Avonlea vorbeifuhren. Es war ein ziemlich schäbiges Gebäude mitten in einer bewaldeten Senke, das von allen Seiten von Fichten verdeckt wurde. »Es ist ein Schandfleck. Wir müssen es in Angriff nehmen, bevor wir Mr Levi Boulter zu überzeugen versuchen, sein Haus abzureißen. Vater sagt, das würde uns nie gelingen. Levi Boulter sei zu knauserig, um dafür seine Zeit zu verschwenden.«

»Vielleicht lässt er es die Jungen machen, wenn sie versprechen, die Balken hinunterzubefördern und Kleinholz für ihn daraus zu machen«, sagte Anne hoffnungsvoll. »Wir müssen alles Menschenmögliche tun und uns damit abfinden, dass es anfangs langsam vorangeht. Wir können nicht alles auf einmal erreichen. Wir müssen eben zuerst das öffentliche Interesse dafür wecken.«

Diana war nicht ganz klar, was »öffentliches Interesse« bedeutete. Aber es klang gut und sie war mächtig stolz darauf, einem Verein, der ein solches Ziel im Auge hatte, anzugehören.

»Gestern Abend ist mir noch eine Idee gekommen, Anne. Du kennst doch dieses dreieckige Stück Land, wo die Straßen von Carmody, Newbridge und White Sands aneinander stoßen? Es ist ganz mit jungen Fichten bewachsen. Aber wie wäre es, wenn man die Fichten entfernen und nur ein paar Birken stehen lassen würde?«

»Eine glänzende Idee«, stimmte Anne begeistert zu. »Unter die Birken stellen wir eine rustikale Holzbank. Und im Frühjahr legen wir in der Mitte ein Geranienbeet an!«

»Ja, wir müssen nur Mrs Hirma Sloane dazu bringen, dass sie ihre Kuh von dort fern hält, sonst frisst sie noch unsere Geranien«, lachte Diana. »Mir dämmert allmählich, was du mit >das öffentliche Interesse wecken< meinst, Anne. Nämlich zum Beispiel dieses verfallene Haus der Boulters. Hat man je so ein hässliches Gemäuer gesehen? Und steht auch noch direkt an der Straße! Ein altes Haus ohne ein heiles Fenster erinnert mich immer an einen Toten, dem die Augen ausgepickt wurden.«

»Ein altes leer stehendes Haus ist einfach ein trauriger Anblick«, sagte Anne verträumt. »Mir kommt es vor, als dächte es über die Vergangenheit nach und trauerte den schönen alten Zeiten nach. Marilla sagt, vor langer Zeit hätte in dem Haus eine große Familie gelebt. Es wäre wirklich schön gewesen, mit einem netten Garten und ganz bewachsen mit Rosen, ln dem Haus wohnten viele kleine Kinder, es war von Lachen und Singen erfüllt. Jetzt steht es verlassen da, niemand außer dem Wind streift noch darin herum. Wie einsam und traurig es sich fühlen muss! Vielleicht kehren sie alle in mondhellen Nächten zurück - die Geister der kleinen Kinder aus uralten Zeiten, die Rosen und die Lieder. Und für eine kleine Weile kann das alte Haus träumen, es wäre wieder jung und von Freude erfüllt.«

Diana schüttelte den Kopf.

»Ich stelle mir nie so etwas vor, Anne. Erinnerst du dich nicht mehr, wie ärgerlich meine Mutter und Marilla waren, als wir uns einbildeten, im Geisterwald hausten Gespenster? Bis heute traue ich mich in der Dunkelheit nicht mehr durch diesen Wald. Und wenn ich anfinge, mir beim alten Boulter-Haus so was vorzustellen, würde ich mich daran auch nicht mehr vorbeitrauen. Außerdem sind die Kinder nicht tot. Sie sind längst erwachsen und bester Dinge. Eins der Kinder ist Metzger. Und Blumen und Lieder haben sowieso keine Geister.« Anne unterdrückte einen kleinen Seufzer. Sie hatte Diana wirklich gern, sie waren immer gute Freundinnen gewesen. Aber ihre Wanderungen ins Reich der Phantasie musste sie allein antreten. Der Weg dorthin führte über einen verwunschenen Pfad, wohin nicht einmal ihre liebste Freundin ihr zu folgen vermochte.

Während sie in Carmody waren, ging ein Gewitterschauer nieder. Doch er hielt nicht lange an und der Rückweg war herrlich. Er führte über Feldwege, an denen Regentropfen glitzerten, und durch kleine von Bäumen bestandene Senken, wo nasser Farn einen würzigen Duft verströmte. Aber gerade als sie in den Weg zur Cuthbert-Farm einbogen, sah Anne etwas, das dem Ganzen jede Schönheit nahm. Rechts von ihnen stand nass vom Regen Mr Harrisons prächtig gedeihender, reifer Hafer. Und mitten im weitläufigen graugrünen Feld stand - eine Kuh. Sie steckte bis zu den glänzenden Flanken im üppigen Wuchs, wedelte mit der Quaste und blinzelte sie seelenruhig an. Anne ließ die Zügel fallen, sprang auf und kniff die Lippen zusammen, was nichts Gutes ahnen ließ für den plündernden Vierbeiner.

Sie sagte nichts, aber sie kletterte pfeilschnell am Rad hinunter und huschte über den Zaun, noch ehe Diana begriff, was los war.

»Anne, komm zurück!«, schrie Diana gellend, als sie die Sprache wieder gefunden hatte. »Du ruinierst dein Kleid . ..«

»Sie hört mich nicht!« dachte Diana verzweifelt. »Allein kriegt sie die Kuh nie und nimmer da raus. Ich muss ihr helfen!«

Anne stürmte durch das Korn wie eine Verrückte. Diana hüpfte flink hinunter, band das Pferd an einen Pflock, schlug den Rock ihres hübschen Baumwollkleides über die Schultern, kletterte über den Zaun und nahm die Verfolgung ihrer wild gewordenen Freundin auf. Sie war schneller als Anne, die von dem am Körper klebenden, völlig durchnässten Rock behindert wurde. Bald überholte Diana sie. Sie hinterließen eine Spur, deren Anblick Mr Harrison das Herz gebrochen hätte.

»Anne, um Himmels willen, bleib stehen«, keuchte die arme Diana. »Ich bin völlig außer Atem und du bist nass bis auf die Haut.«

»Ich . . . muss . . . diese . . . Kuh . . . hier . . . herausschaffen . . . ehe ... Mr Harrison ... sie entdeckt«, sagte Anne nach Luft ringend. »Und . .. wenn ich . . . hier ertrinke . . . Wir. . . müssen ... es schaffen.«

Aber die Kuh schien nicht einzusehen, warum sie sich von ihrem köstlichen Futter vertreiben lassen sollte. Kaum hatten sich die beiden ihr völlig außer Atem genähert, drehte sie sich um und stob geradewegs zur anderen Seite des Feldes.

»Verjagt sie«, schrie Anne. »Renn, Diana, renn.«

Diana rannte los. Anne ebenfalls und die aufgestöberte Kuh rannte wie besessen über das Feld. »So was Störrisches«, dachte Diana. Es dauerte geschlagene zehn Minuten, ehe sie sie durch die Zaunöffnung an der Ecke vom Feld gejagt und auf den Weg zur Cuthbert-Farm getrieben hatten.

Anne war in diesem Augenblick unleugbar alles andere als in engelsgleicher Gemütsverfassung. Auch besänftigte es sie nicht im Mindesten, als sie in einem Einspänner direkt neben dem Weg breit grinsend Mr Shearer und seinen Sohn aus Carmody erblickte.

»Du hättest mir wohl besser die Kuh da schon letzte Woche verkauft, Anne«, lachte Mr Shearer.

»Wenn Sie wollen, verkaufe ich sie Ihnen jetzt«, sagte Anne, puterrot und völlig zerzaust. »Sie können sie auf der Stelle haben.«

»Einverstanden. Ich zahle zwanzig Dollar, so viel wie ich dir neulich schon geboten habe. Jim kann sie gleich nach Carmody treiben. Sie wird noch heute Abend mit den anderen verladen und in die Stadt gebracht. Mr Reed aus Brighton will eine Jerseykuh.«

Fünf Minuten später trabten Jim Shearer und die Kuh den Weg hinunter. Anne fuhr mit ihren zwanzig Dollar Richtung Green Gables. »Was wird Marilla dazu sagen?«, fragte Diana.

»Oh, nichts. Dolly gehörte mir. Bei unserem Viehverkauf würde sie auch nicht mehr als zwanzig Dollar bringen. Aber, ach du lieber Himmel, wenn Mr Harrison sich den Hafer ansieht, wird er merken, dass sie schon wieder drin war. Dabei hab ich ihm mein Ehrenwort gegeben, dass es nicht wieder vorkommt. Na ja, jedenfalls weiß ich jetzt, dass man, was Kühe angeht, kein Ehrenwort geben sollte. Einer Kuh, die über Zäune springt und aus dem Stall ausbricht, kann man nie trauen.«

Marilla war zu Mrs Lynde gegangen. Als sie zurückkam, wusste sie alles über den Verkauf der Kuh, denn Mrs Lynde hatte von ihrem Fenster aus so gut wie alles mitbekommen und sich den Rest zusammengereimt.

»Es ist schon in Ordnung, obwohl du die Dinge immer viel zu sehr überstürzt, Anne. Ich verstehe aber immer noch nicht, wie sie aus dem Stall herausgekommen ist. Sie muss ein paar Bretter heruntergerissen haben.«

»Ich habe noch nicht nachgesehen«, sagte Anne. »Aber das mache ich jetzt. Martin ist immer noch nicht wieder da. Vielleicht sind noch ein paar von seinen Tanten gestorben. Ich glaube, es ist so ähnlich wie mit Peter Sloane und seinen Methusalems. Neulich abends las Mrs Sloane die Zeitung und sagte zu ihrem Mann: >Schon wieder ist einer so alt wie Methusalem gestorben. Was ist ein Methusalem, Peter?< Und Mr Sloane sagte, er wüsste es auch nicht, aber es müssten kränkliche Geschöpfe sein. Man wüsste zwar nichts von ihnen, doch sterben täten sie. So ähnlich muss das auch mit Martins Tanten sein.«

»Martin ist eben genau wie all diese Franzosen«, sagte Marilla voller Empörung. »Man kann sich nicht einen Tag auf sie verlassen.«

Marilla besah sich gerade die Einkäufe, die Anne in Carmody getätigt hatte, als sie plötzlich einen gellenden Schrei vernahm. Gleich darauf kam Anne händeringend in die Küche geschossen.

»Anne Shirley, was ist jetzt wieder los?«

»Oh, Marilla, was soll ich nur tun? Es ist schrecklich. Und es ist alles nur meine Schuld. Werde ich jemals lernen erst nachzudenken, statt immer so leichtsinnig zu sein? Mrs Lynde hat schon immer gesagt, eines Tages würde ich noch etwas Schlimmes anstellen und jetzt ist es passiert!«

»Anne, du bist wirklich zum Verzweifeln. Was ist denn passiert?«

»Ich habe Mr Harrisons Kuh - die er von Mr Bell gekauft hat - an Mr Shearer verkauft! Dolly steht drüben im Stall!«

»Anne Shirley, träumst du?«

»Ach, wenn ich nur träumen würde ... Es ist kein Traum, höchstens ein Albtraum. Mr Harrisons Kuh ist inzwischen längst in Charlottetown. Oh, Marilla, ich hatte gedacht, ich würde nie wieder so in die Tinte geraten und jetzt ist es schlimmer denn je. Was soll ich nur tun?«

»Tun? Du kannst nichts tun, Kind, außer zu Mr Harrison zu gehen und die Angelegenheit zu regeln. Wir können ihm als Ersatz unsere Kuh anbieten, falls er das Geld nicht will. Unsere Kuh ist genauso gut wie seine.«

»Er ist bestimmt furchtbar wütend und wird eklig«, jammerte Anne. »Das denke ich auch. Er scheint sowieso zu der leicht reizbaren Sorte Mensch zu zählen. Wenn du möchtest, gehe ich und erkläre es ihm.«

»Nein, das tust du nicht, so schäbig bin ich auch wieder nicht«, rief Anne. »Es ist allein meine Schuld und ich will nicht, dass du dafür bestraft wirst. Ich gehe selbst und zwar jetzt gleich. Je eher es vorbei ist, umso besser. Aber es wird entsetzlich werden.«

Die arme Anne nahm ihren Hut und ihre zwanzig Dollar. Sie war schon im Hinausgehen, als ihr Blick zufällig durch die offene Speisekammer fiel. Auf dem Tisch stand der Nusskuchen, den sie am Morgen gebacken hatte — ein besonders schmackhafter Kuchen, mit einer rosa Zuckerglasur überzogen und verziert mit Mandeln. Anne hatte ihn eigentlich für Freitagabend gebacken, wenn sich die Jugendlichen von Avonlea auf Green Gables treffen würden, um den Dorfverschönerungs-Verein auf die Beine zu stellen. Aber was galten sie, verglichen mit dem schwer gekränkten Mr Harrison? Anne dachte, dass der Kuchen das Herz eines jeden Mannes erweichen würde, vor allem aber das eines Mannes, der selbst für sich kochen musste. Flink schob sie den Kuchen in eine Schachtel. Sie würde ihn als ein Friedensangebot mit zu Mr Harrison nehmen.

»Das heißt, falls er mich überhaupt zu Wort kommen lässt«, dachte sie kläglich, als sie über den Heckenzaun kletterte und eine Abkürzung über die Felder nahm, die golden im Licht des traumhaften Augustabends dalagen. »Jetzt weiß ich, wie jemandem zumute ist, der zur Hinrichtung geführt wird.«

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