25 - Skandal in Avonlea

An einem freundlichen Juni morgen, zwei Wochen nach Onkel Abes Sturm, kam Anne mit zwei kaputten weißen Narzissen in der Hand langsam aus dem Garten und über den Hof von Green Gables. »Schau mal, Marilla«, sagte sie betrübt und hielt die Blumen der grimmig dreinsehenden Marilla unter die Augen, die ein grünes Gingham-Kopftuch trug und mit einem gerupften Huhn ins Haus ging. »Das sind die einzigen Blumen, die vom Sturm verschont geblieben sind und auch sie sind nicht mehr ganz heil. Schade, ich wollte ein paar für Matthews Grab pflücken. Ihm haben Narzissen immer so gefallen.«

»Ich vermisse sie auch ein wenig«, gestand Marilla. »Obwohl man sich darüber wohl nicht beklagen sollte, wo viel Schlimmeres geschehen ist - all das Korn und die Früchte, die vernichtet worden sind.«

»Die Farmer haben neuen Hafer eingesät«, sagte Anne tröstend. »Mr Harrison meint, wenn wir einen schönen Sommer haben, wird er schon noch reif, wenn auch ein bisschen spät. Meine einjährigen Pflanzen sprießen auch wieder. Aber nichts kann die Narzissen ersetzen. Die arme Hester Gray bekommt auch keine mehr. Ich bin gestern ganz bis zu ihrem Garten gelaufen, aber da war nicht eine. Bestimmt vermisst sie sie.«

»Du sollst so etwas nicht sagen, Anne, wirklich«, sagte Manila streng. »Hester Gray ist seit dreißig Jahren tot und ihre Seele hoffentlich im Himmel.«

»Ja, aber bestimmt liebt sie ihren Garten noch immer und erinnert sich daran«, sagte Anne. »Egal wie lange ich schon im Himmel wäre, ich würde gern herunterschauen und sehen, wie jemand Blumen auf mein Grab legt. Hätte ich einen Garten wie Hester Gray, ich würde mehr als dreißig Jahre brauchen, auch im Himmel, um mein Heimweh danach zu überwinden.«

»Dass das nicht die Zwillinge hören«, wandte Marilla schwach ein, als sie das Huhn ins Haus brachte.

Anne steckte sich die Narzissen ins Haar und ging zum Tor am Weg, wo sie eine Weile stehen blieb und sich in der Junisonne sonnte. Dann ging sie ins Haus und erledigte ihre Aufgaben für Samstagmorgen. Die Welt wurde wieder schöner. Mutter Natur tat ihr Bestes, um die Spuren des Sturms zu tilgen. Auch wenn es noch Monate dauern würde, bis die letzten Spuren getilgt waren, sie vollbrachte wahre Wunder.

»Am liebsten würde ich heute den ganzen Tag lang faulenzen«, erzählte Anne einem Rotkehlchen, das auf einem Weidenast saß, sang und hin und her wippte. »Aber eine Lehrerin, die noch dazu Zwillinge großziehen hilft, kann nicht dem Nichtstun frönen, Vögelchen. Wie schön du singst, kleiner Vogel. Du drückst mit deinem Lied meine Gefühle viel besser aus, als ich es selbst könnte. Nanu, wer kommt denn da?«

Ein Transportwagen, auf dem vorn zwei Leute saßen und hinten ein großer Koffer stand, kam den Weg entlanggeholpert. Als er näher kam, erkannte Anne in dem Fahrer den Sohn des Bahnhofsvorstehers von Bright River. Seine Begleiterin war eine Fremde - eine ältere Frau, die am Tor flink aus der Kutsche sprang, fast noch ehe das Pferd zum Halten kam. Sie war klein und hübsch, an die fünfzig, hatte rosige Wangen, funkelnde schwarze Augen und glänzendes schwarzes Haar. Sie trug einen prachtvoll mit Blumen und Federn versehenen Hut. Obwohl sie acht Meilen auf einer staubigen Straße hinter sich hatte, sah sie, dem Sprichwort gemäß, wie aus dem Ei gepellt aus. »Wohnt hier Mr James A. Harrison?«, fragte sie resolut.

»Nein, Mr Harrison wohnt dort drüben«, sagte Anne baff.

»Nun, ich dachte mir gleich, das Gehöft sieht zu gepflegt aus - viel zu gepflegt, als dass James A. hier wohnen würde. Oder aber er müsste sich gewaltig geändert haben«, zwitscherte die Frau. »Stimmt es, dass James A. sich mit einer Frau hier aus dem Ort verheiraten will?«

»Nein, o nein«, rief Anne und wurde rot vor schlechtem Gewissen. Die Fremde musterte sie neugierig, so als verdächtige sie sie irgendwelcher Heiratsabsichten hinsichtlich Mr Harrison.

»Aber es stand in einer Zeitung von der Insel«, sagte die Unbekannte. »Eine Freundin hat mir die Ausgabe geschickt und den Artikel angekreuzt - Freundinnen sind zu solchen Diensten stets gern bereit. James A.’s Name stand unter der Rubrik >Neuzugezogener<.«

»Oh, das war nur ein Scherz«, sagte Anne und schnappte nach Luft. »Mr Harrison hat nicht die Absicht, überhaupt zu heiraten. Bestimmt nicht.«

»Da bin ich aber froh«, sagte die blühend aussehende Dame und stieg behende wieder auf den Sitz. »Denn zufällig ist er schon verheiratet. Ich bin seine Frau. Oh, da bist du überrascht. Vermutlich hat er sich als Junggeselle ausgegeben und sich als wahrer Herzensbrecher aufgespielt. So, James A.«, sagte sie und nickte heftig mit dem Kopf in Richtung des länglichen weißen Hauses hinter den Feldern, »der Spaß hat ein Ende. Hier bin ich, obwohl ich mir nicht die Mühe gemacht hätte herzukommen, wenn du nicht etwas im Schilde führtest.

Dieser Papagei«, sie wandte sich Anne zu, »flucht wohl noch genau wie eh und je?«

»Sein Papagei... ist tot... glaube ich«, keuchte die arme Anne, die in diesem Augenblick nicht einmal mehr ihren eigenen Namen mit Bestimmtheit kannte.

»Tot. Dann ist alles in Ordnung«, rief die Dame glücklich. »Mit James A. werde ich schon fertig, wenn mir nur dieser Vogel nicht mehr dazwischenfunkt.«

Mit diesen rätselhaften Worten machte sie sich auf den Weg, während Anne zur Küchentür stürzte, an der Marilla stand.

»Anne, wer war die Frau?«

»Marilla«, sagte Anne ernst, aber mit blitzenden Augen, »sehe ich aus, als wäre ich verrückt?«

»Nicht mehr als sonst«, sagte Marilla, ohne sarkastisch sein zu wollen.

»Gut, meinst du, ich träume?«

»Anne, was redest du für einen Unsinn. Wer war die Frau, habe ich gefragt?«

»Marilla, wenn ich nicht verrückt bin und auch nicht träume, dann muss es sie wirklich geben. So einen Hut hätte ich mir auch nie und nimmer in meiner Phantasie ausmalen können. Sie sagt, sie sei Mr Harrisons Frau, Marilla.«

Marilla starrte sie an.

»Seine Frau! Anne Shirley! Wieso hat er dann gesagt, er sei nicht verheiratet?«

»Das hat er nie ausdrücklich gesagt«, sagte Anne gerechterweise. »Er hat nie gesagt, er wäre nicht verheiratet. Die Leute haben es nur selbstverständlich angenommen. Oh, Marilla, was Mrs Lynde wohl dazu sagen wird?«

Was Mrs Lynde dazu sagen wird, fanden sie bei ihrem Besuch am selben Abend heraus. Mrs Lynde verwunderte es überhaupt nicht! Mrs Lynde hatte schon immer irgend so etwas erwartet! Mrs Lynde hatte gleich geahnt, dass es irgendwas mit Mr Harrison auf sich hatte!

»Seine Frau im Stich zu lassen!«, sagte sie empört. »Davon liest man nur in den Staaten. Wer hätte so was hier in Avonlea für möglich gehalten?«

»Aber wir wissen doch gar nicht, ob er seine Frau verlassen hat«, protestierte Anne und war fest entschlossen, so lange an die Unschuld ihres Freundes zu glauben, bis seine Schuld bewiesen war. »Wir wissen überhaupt nicht, wie es wirklich war.«

»Nun, das werden wir bald wissen. Ich gehe gleich hin«, sagte Mrs Lynde, die nie gelernt hatte, dass es im Lexikon ein Wort wie Takt gab. »Von ihrer Ankunft weiß ich angeblich ja nichts. Mr Harrison wollte heute aus Carmody Medizin für Thomas mitbringen, also habe ich einen guten Vorwand. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, auf dem Rückweg vorbeikommen und euch berichten.«

Mrs Lynde stürmte los, wo Anne Angst gehabt hätte, auch nur einen Schritt zu unternehmen. Nichts hätte Anne dazu bewegen können, zu Mr Harrison zu gehen. Aber sie hatte ebenfalls eine natürliche, normale Neugier und war insgeheim froh, dass Mrs Lynde hingehen und das Rätsel lösen würde. Sie und Marilla warteten sehnsüchtig auf ihre Rückkehr, aber sie warteten vergebens. Mrs Lynde tauchte an dem Tag nicht wieder auf Green Gables auf. Davy, der um neun Uhr von den Boulters zurückkam, erklärte, warum.

»Ich hab im Hohlweg Mrs Lynde und eine fremde Frau getroffen«, sagte er. »Lieber Himmel, wie sie aufeinander einschwatzten! Von Mrs Lynde soll ich ausrichten, es täte ihr Leid, aber es wäre zu spät, um noch einmal vorbeizukommen. Anne, ich bin schrecklich hungrig. Wir haben um vier Uhr bei Milty Tee getrunken, und ich glaube, Mrs Boulter ist wirklich geizig. Sie hat uns kein Kompott und keinen Kuchen gegeben. Und das Brot schmeckte auch komisch.«

»Davy, wenn du bei jemand auf Besuch bist, sollst du nicht am Essen herummäkeln«, sagte Anne scharf. »Das gehört sich nicht.«

»Schon gut, ich denke es ja nur im Stillen«, sagte Davy munter. »Gib mir doch was zum Abendessen, Anne.«

Anne sah Marilla an, die ihr in die Speisekammer folgte und sorgsam die Tür schloss.

»Du kannst ihm Brot mit etwas Kompott geben, Anne. Ich weiß, was Tee bei Levi Boulter heißt.«

Davy nahm die Scheibe Brot mit Kompott seufzend entgegen.

»Die Welt ist enttäuschend«, bemerkte er. »Milty hat eine Katze, die Anfälle kriegt - sie hatte drei Wochen lang jeden Tag einen Anfall. Milty findet es schrecklich lustig, ihr dabei zuzusehen. Ich bin heute extra deswegen hingegangen, aber das gemeine Vieh bekam keinen Anfall, es war putzmunter. Milty und ich haben den ganzen Nachmittag auf der Lauer gelegen und gewartet. Aber macht nichts.« Davys Laune besserte sich, da ihm Bissen für Bissen das Pflaumenkompott Seelentrost spendete. »Vielleicht kriege ich es ja ein andermal zu sehen. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass die Anfälle plötzlich aufhören, wo sie sonst immer welche hatte, oder? Das Kompott schmeckt prima.«

Davy hatte keine Sorgen, die nicht mit Pflaumenkompott hätten kuriert werden können.

Der Sonntag war so verregnet, dass man nicht aus dem Haus gehen konnte. Aber am Montag kannte jeder eine andere Fassung der Harrison-Geschichte. In der Schule gab es ein einziges Getuschel. Davy kam mit jeder Menge Neuigkeiten zu Hause an.

»Marilla, Mr Harrison hat eine neue Frau. Naja, nicht so ganz neu, aber sie sind schon eine ganze Weile nicht mehr verheiratet gewesen, sagte Milty. Ich hab immer gedacht, einmal verheiratet, immer verheiratet. Aber Milty sagt, das stimmt nicht, man kann damit aufhören, wenn es einem nicht mehr gefällt. Milty sagt, eine Möglichkeit wäre, einfach zu verschwinden und die Frau sitzen zu lassen und das hätte Mr Harrison getan. Milty sagt außerdem, Mr Harrison hätte seine Frau verlassen, weil sie mit Gegenständen nach ihm geworfen hätte - mit schweren Gegenständen. Arty Sloane meint, er hätte sie verlassen, weil sie ihm das Rauchen verboten hätte. Ned Clay behauptet, es läge daran, weil sie ständig mit ihm geschimpft hätte. Wegen so was würde ich meine Frau nicht verlassen, ich würde nur hart durchgreifen und sagen: >Mrs Davy, du hast zu tun, was mir gefällt, denn ich bin der Herr im Haus!< Das würde sie schnell zum Schweigen bringen, schätze ich. Aber Annetta Clay behauptet, sie hätte ihn verlassen, weil er sich an der Tür nicht die Stiefel abputzt. Sie gibt nicht ihr die Schuld. Ich gehe auf der Stelle zu Mr. Harrison, um sie mir anzusehen.

Davy kam bald einigermaßen enttäuscht wieder.

»Mrs Harrison war nicht da. Sie ist mit Mrs Rachel Lynde nach Carmody gefahren, um neue Tapeten fürs Wohnzimmer zu besorgen. Mr Harrison möchte, dass Anne vorbeikommt, er will mit ihr reden. Stellt euch vor, der Fußboden ist geschrubbt und Mr Harrison war rasiert, obwohl gestern doch gar keine Kirche war.«

Die Harrison’sche Küche kam Anne ganz fremd vor. Der Boden war tatsächlich gewienert, ebenso alle Möbel. Der Ofen war auf Hochglanz poliert, sodass sie sich darin spiegeln konnte. Die Wände waren gestrichen, die Fensterscheiben glänzten im Sonnenlicht. Mr Harrison saß in seiner Arbeitskleidung am Tisch. Am Freitag hatte sie noch etliche Risse und Löcher gehabt, jetzt war sie ordentlich geflickt und gebürstet. Er war glatt rasiert, sein schütteres Haar war sorgfältig gekämmt.

»Setz dich, Anne, setz dich«, sagte Mr Harrison in einem Ton, wie ihn die Bewohner von Avonlea sonst bei Beerdigungen anschlugen. »Emily ist mit Rachel Lynde in Carmody. Sie hat mit ihr schon eine Freundschaft fürs Leben geschlossen. Wie gegensätzlich Frauen und Männer doch sind. Tja, Anne, meine schönen Zeiten sind vorbei — ein für allemal. Der Rest meines Lebens besteht nur noch aus Ordnung und Sauberkeit.«

Mr Harrison gab sich alle Mühe, traurig zu klingen, aber ein nicht zu unterdrückendes Zwinkern in seinen Augen verriet ihn.

»Mr Harrison, Sie sind doch froh, dass Ihre Frau zurückgekommen ist«, rief Anne und wies drohend mit dem Finger auf ihn. »Sie brauchen gar nicht so zu tun, als stimmte das nicht, ich sehe es Ihnen an.« Mr Harrison entspannte sich und zeigte ein dämliches Grinsen.

»Hm ... na ja ... ich werde mich daran gewöhnen«, räumte er ein. »Ich habe es nicht gerade bedauert Emily zu sehen. In einem Ort wie diesem, wo man nicht einmal mit einem Nachbarn Dame spielen kann, ohne dass man verdächtigt wird, dessen Schwester heiraten zu wollen - was dann auch noch in die Zeitung gesetzt wird -, kann ein Mann wirklich jemanden brauchen.«

»Niemand hätte behauptet, dass Sie Isabella Andrews heiraten wollen, wenn Sie nicht so getan hätten, als wären Sie nicht verheiratet«, sagte Anne scharf.

»Das habe ich nicht. Hätte mich jemand gefragt, ob ich verheiratet bin, dann hätte ich es zugegeben. Aber man ist einfach davon ausgegangen, ich wäre nicht verheiratet. Ich wollte nicht unbedingt darüber reden. Es war ein wunder Punkt. Für Mrs Lynde wäre die Welt zusammengebrochen, wenn sie gewusst hätte, dass meine Frau mich verlassen hat, nicht wahr?«

»Aber manche behaupten, Sie hätten Ihre Frau verlassen.«

»Sie hat angefangen, Anne, sie hat angefangen. Ich erzähle dir die ganze Geschichte. Du sollst nicht schlechter von mir denken als ich es verdiene - von Emily auch nicht. Aber lass uns nach draußen auf die Veranda gehen. Hier drinnen ist alles so furchtbar ordentlich, dass ich sozusagen Heimweh bekomme. Nach einer Weile werde ich mich wohl daran gewöhnen, aber ich sehe lieber auf den Hof hinaus. Den Hof zu säubern, hatte Emily noch nicht die Zeit.«

Als sie es sich auf der Veranda bequem gemacht hatten, begann Mr Harrison mit seiner Leidensgeschichte.

»Bevor ich hierher kam, Anne, wohnte ich in Scottsford, New Brunswick. Meine Schwester führte mir den Haushalt. Mit ihr war ich recht zufrieden. Sie war ganz passabel ordentlich, ließ mich in Ruhe und verwöhnte mich, behauptet Emily. Aber vor drei Jahren starb sie. Sie machte sich Gedanken, was aus mir werden sollte, bis sie mir schließlich das Versprechen abnahm zu heiraten. Sie riet mir zu Emily Scott, weil Emily Geld hatte und eine vorbildliche Hauswirtschafterin war. Ich sagte: >Emily Scott würde mich keines Blickes würdigen< Genau das sagte ich. >Frage sie, dann wirst du sehen<, sagte meine Schwester. Nur um ihrer Seelenruhe willen versprach ich sie zu fragen und das habe ich getan. Emily sagte, sie würde mich nehmen. Ich war mein Lebtag nicht so überrascht, Anne - eine so kluge, hübsche Frau und ich alter Knabe! Zuerst, kann ich dir sagen, war ich glücklich. Na ja, wir heirateten und machten eine zweiwöchige Hochzeitsreise nach St. John, dann fuhren wir nach Hause. Wir kamen um zehn Uhr abends an. Und das schwöre ich dir, Anne, keine halbe Stunde und diese Frau machte sich ans Putzen. Ah, ich weiß, du meinst, mein Haus hatte es nötig. Das steht dir im Gesicht geschrieben, Anne. Aber mein Haus hatte es nicht nötig, jedenfalls nicht so gründlich. In meiner junggesellenzeit war alles ein bisschen durcheinander, das gebe ich zu, aber vor meiner Heirat kam eine Frau und hat aufgeräumt. Es wurde ziemlich viel neu gestrichen und repariert. Ich sage dir, wenn du Emily in einen brandneuen blitzblanken Marmorpalast führen würdest, sie würde anfangen zu schrubben, so schnell könnte sie gar nicht in ihr altes Kleid schlüpfen. Tja, sie putzte bis ein Uhr nachts. Um vier stand sie auf und machte sich wieder ans Werk. So ging es weiter - soweit ich es sehe, hat sie nie mehr damit aufgehört. Es war ein ewiges Scheuern, Fegen und Staubwischen, außer sonntags, dann sehnte sie sich nach dem Montag, um von vorn anzufangen. Es machte ihr Spaß. Ich hätte mich ja damit abgefunden, wenn sie mich in Ruhe gelassen hätte. Aber das tat sie nicht. Sie wollte mich umkrempeln, aber ich war schon zu alt, als sie sich mich schnappte. Ich durfte nicht ins Haus gehen, solange ich an der Tür nicht meine Stiefel ausgezogen und Pantoffeln angezogen hatte. Ich durfte um nichts auf der Welt meine Pfeife rauchen, außer in der Scheune. Und ich drückte mich nicht fein genug aus. Emily war früher Lehrerin gewesen, das hat sie nie überwunden. Dann konnte sie nicht ausstehen, wenn sie sah, wie ich mit dem Messer aß. Naja, es war ein einziges Gekeife und Gezeter. Aber, Anne, um ehrlich zu sein, ich war auch giftig. Ich habe mich gar nicht bemüht, mich zu bessern. Ich wurde nur wütend und gemein, wenn sie einen Fehler entdeckte. Eines Tages sagte ich zu ihr, sie hätte sich ja auch nicht über meine Ausdrucksweise beklagt, als ich ihr den Heiratsantrag machte. Das war nicht gerade taktvoll. Ja, so ging es mit dem Gezanke weiter. Es war nicht schön, aber wir hätten uns schon zusammengerauft, wäre da nicht Ginger gewesen. Ginger war die Klippe, an der wir gescheitert sind. Emily mag Papageien nicht, aber dieses Lästermaul von Ginger hasste sie regelrecht. Ich hing an dem Vogel, meinem Bruder, dem Seemann, zuliebe. Als wir noch klein waren, war mein Bruder, der Seemann, mir das Liebste auf der Welt. Bevor er starb, hat er mir Ginger geschickt. Wie sollte ich mich über sein Fluchen aufregen. Es gibt nichts Schlimmeres als Menschen, die fluchen. Aber ein Papagei wiederholt nur das, was er, ohne es zu begreifen, aufgeschnappt hat, wie wenn ich Chinesisch reden würde. Emily sah es anders. Sie versuchte Ginger das Fluchen abzugewöhnen, aber sie hatte damit nicht mehr Erfolg, als mir abzugewöhnen >verstehste< zu sagen und >alles diese Sachen<. Mir kam es vor, dass es mit Ginger, genau wie mit mir, umso schlimmer wurde, je mehr sie sich abmühte.

So gab eins das andere. Alle beide wurden wir immer giftiger — dann kam der Gipfel. Emily lud unseren Pfarrer mit seiner Frau und einem anderen Pfarrerehepaar, das bei den Ersteren zu Besuch war, zum Tee ein. Ich hatte versprochen, Ginger an einen sicheren Platz zu stellen, wo niemand ihn hören konnte. Emily hätte den Käfig um nichts in der Welt angerührt. Ich hatte das auch wirklich vor. Ich wollte nicht, dass die Pfarrer in meinem Haus unflätig beschimpft würden. Aber ich vergaß es. Emily lag mir dauernd in den Ohren von wegen eines sauberen Kragens und meiner Ausdrucksweise, dass es einen nicht zu wundern braucht - ich dachte erst wieder an diesen elenden Papagei, als wir beim Tee saßen. Gerade als Pfarrer Nummer eins mitten in seinem Tischgebet war, fing Ginger, der draußen auf der Veranda vor dem Esszimmerfenster stand, an zu krächzen. Der Puter lief auf dem Hof herum. Der Anblick eines Puters hatte schon immer eine verheerende Wirkung auf Ginger. Diesmal übertraf er sich selbst. Du hast gut lachen, Anne, und ich kann es nicht abstreiten, ich habe hinterher auch schon so manches Mal darüber gelacht. Doch in dem Augenblick war ich wie versteinert, genau wie Emily. Ich ging hinaus und brachte Ginger in die Scheune. Ich kann nicht behaupten, dass ich das Essen genoss. Ein Blick auf Emily und ich sah, dass sich über Ginger und James A. ein Ungewitter zusammenbraute. Als der Besuch aufbrach, machte ich mich auf den Weg zur Kuhweide und dachte nach. Emily tat mir Leid. Ich war nicht gerade rücksichtsvoll mit ihr umgegangen. Außerdem fragte ich mich, ob die Pfarrer annahmen, Ginger hätte die Wörter von mir gelernt. Kurzum, ich beschloss, dass Ginger leider fortgeschafft werden musste. Nachdem ich die Kühe in den Stall getrieben hatte, ging ich ins Haus, um es Emily zu sagen. Aber da war keine Emily. Da lag nur ein Brief auf dem Tisch - wie in einem Roman. Emily schrieb, ich müsse mich entscheiden, sie oder Ginger. Sie wäre nach Hause zurückgekehrt und würde dort bleiben, bis ich käme und ihr sagte, ich wäre diesen Papagei los. Ich war ganz aufgebracht, Anne, und sagte, da könne sie bis zum Jüngsten Tag warten. Dabei blieb ich. Ich packte ihre Sachen und schickte sie ihr nach. Gab das eine Gerede - in Scottsford ist es in dem Punkt fast so schlimm wie in Avonlea. Alle hielten zu Emily. Das machte mich nur noch wütender, gereizter und mürrischer. Ich musste dort weg oder ich hätte nie mehr meine Ruhe gehabt. Ich beschloss auf die Insel zu ziehen. Als Junge war ich einmal hier gewesen, es hatte mir gefallen. Aber Emily hatte immer gesagt, sie wolle nicht an einem Ort leben, wo die Leute sich im Dunkeln nicht mehr aus dem Haus trauten aus Angst, eine Klippe hinunterzustürzen. Aus reiner Widerborstigkeit zog ich hierher. So verhält es sich. Ich hatte nie mehr ein Wort von oder über Emily gehört, bis ich am Samstag vom Feld kam und über sie stolperte, als sie den Fußboden scheuerte. Aber es gab auch das erste anständige Mittagessen, das fertig auf dem Tisch stand, seit sie mich verlassen hat. Ich solle erst essen, dann können wir reden, sagte sie - woraus ich schloss, dass Emily eine ganze Menge dazugelernt hat, wie man mit einem Mann umgeht. Nun ist sie da und wird bleiben, jetzt wo Ginger tot ist und sie festgestellt hat, dass die Insel größer ist, als sie gedacht hatte. Da kommen Mrs. Lynde und Emily. Nein, geh nicht, Anne. Bleib noch und mach dich mit Emily bekannt. Du bist ihr ja schon ein Begriff - sie wollte wissen, wer das hübsche rothaarige Mädchen beim Nachbarhaus gewesen wäre.«

Mrs Harrison begrüßte Anne strahlend und bestand darauf, dass sie zum Tee blieb.

»James A. hat mir alles von dir erzählt und wie nett es von dir war, ihm Kuchen und andere Sachen zu bringen«, sagte sie. »Ich möchte so schnell wie möglich alle Nachbarn kennen lernen. Mrs Lynde ist eine liebe Frau, nicht wahr? So was Nettes.«

Als Anne an diesem lauen Juniabend nach Hause ging, begleitete Mrs Harrison sie über die Felder, auf denen Glühwürmchen leuchteten. »Ich nehme an«, sagte Mrs Harrison, »James A. hat dir unsere Geschichte erzählt?«

»Ja.«

»Dann brauche ich es nicht zu tun. James A. ist ehrlich und erzählt die Wahrheit. Es war bestimmt nicht seine Schuld. Jetzt begreife ich das. Ich war noch keine Stunde wieder in meinem Haus und ich wünschte, ich hätte die Sache nicht so überstürzt. Aber nachgeben wollte ich auch nicht. Heute weiß ich, dass ich zu viel verlangt hatte. Seine Ausdrucksweise zu bekritteln war einfach dumm. James A. und ich werden jetzt richtig glücklich werden. Ich wüsste nur zu gern, wer der >Beobachter< ist. Ich bin ihm wirklich Dank schuldig.«

Anne behielt es für sich. Mrs Harrison erfuhr nie, dass ihr Dank bei der richtigen Adresse angekommen war. Anne war ziemlich verblüfft über die weit reichenden Folgen dieser albernen »Meldungen«. Sie hatten dazu geführt, dass sich ein Mann und eine Frau aussöhnten und hatten jemanden zum Propheten gemacht.

Mrs Lynde saß in der Küche von Green Gables und hatte Marilla die ganze Geschichte erzählt.

»Nun, wie gefällt dir Mrs Harrison?«, fragte sie Anne.

»Sehr. Sie ist wirklich nett.«

»Ja, das ist sie«, sagte Mrs Rachel mit Nachdruck. »Wie ich gerade schon zu Marilla sagte, ich meine, wir sollten ihr zuliebe über Mr Harrisons Eigenheiten hinwegsehen und ihr das Gefühl geben, dass sie hier zu Hause ist. So, ich muss gehen. Thomas wird schon auf mich warten. Seit Eliza da ist, bin ich nur selten außer Haus gewesen. Die letzten Tage ist Thomas viel besser auf dem Damm, aber ich mag ihn nicht lange allein lassen. Ich habe gehört, Gilbert Blythe hat in White Sands aufgehört. Er wird also wohl im Herbst aufs College gehen?«

Mrs Rachel sah Anne durchdringend an, aber Anne beugte sich über den schlafenden Davy, der auf dem Sofa eingenickt war, und wurde nicht ein bisschen rot. Sie trug Davy ins Bett und drückte ihr ovales mädchenhaftes Gesicht an Davys strohblonden Lockenkopf. Als sie die Treppe hinaufgingen, legte Davy halb im Schlaf einen Arm um Anne, umarmte sie herzlich und gab ihr einen feuchten Kuss.

»Du bist schrecklich lieb, Anne. Milty Boulter hat das heute auf seine Tafel geschrieben und es Jennie Sloane gezeigt:


>Rosen sind rot, sind rot immerzu,

Zucker ist süß, und so bist auch du.<




Genau das drückt mein Gefühl für dich aus, Anne.«

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