Jon

«Othor«, verkündete Ser Jaremy Rykker,»ohne jeden Zweifel. Und dieser andere war Jafer Flowers. «Er drehte die Leiche mit dem Fuß um, und das tote, weiße Gesicht starrte mit blauen Augen in den bedeckten Himmel auf.»Sie waren Ben Starks Männer, beide.«

Die Männer meines Onkels, dachte Jon benommen. Er erinnerte sich daran, wie sehr er darum gebettelt hatte, mit ihnen zu reiten. Bei allen Göttern, ich war ein so grüner Junge. Wenn er mich mitgenommen hätte, würde ich vielleicht hier liegen…

Jafers rechtes Handgelenk endete an einem Stumpf von zerfetztem Fleisch und gesplitterten Knochen, die Ghosts Zähne zurückgelassen hatten. Seine rechte Hand lag in einem Glas mit Essig, oben in Maester Aemons Turm. Seine linke Hand, die sich noch am Arm befand, war schwarz wie sein Umhang.

«Gnaden uns die Götter«, murmelte der Alte Bär. Er schwang sich von seinem Klepper, reichte Jon die Zügel. Der Morgen war unnatürlich warm, Schweiß stand auf der breiten Stirn des Lord Commanders wie Tau auf einer Melone. Sein Pferd war unruhig, rollte mit den Augen, wich vor dem toten Mann zurück, so weit die Zügel es erlaubten. Jon führte die Stute ein paar Schritte weiter, mußte sich anstrengen, damit sie nicht durchging. Den Pferden gefiel es an diesem Ort nicht. Da ging es ihnen wie Jon.

Die Hunde mochten ihn am allerwenigsten. Ghost hatte den Trupp geführt, das Rudel Hunde war nutzlos gewesen. Als Bass, der Hundeführer, versucht hatte, sie die Witterung von der abgebissenen Hand aufzunehmen, waren sie wild geworden, hatten gejault und geheult und wollten ausreißen.

Selbst jetzt noch knurrten und winselten sie abwechselnd, zerrten an ihren Leinen.

Es ist nur ein Wald, redete sich Jon ein, und es sind nur tote Männer. Schon früher hatte er tote Männer gesehen…

In der letzten Nacht hatte ihn wieder sein Traum von Winterfell heimgesucht. Er wanderte durch die leere Burg, suchte nach seinem Vater, stieg in die Gruft hinab. Nur war der Traum diesmal weiter gegangen als je vorher. In der Dunkelheit hatte er das Scharren von Stein auf Stein gehört. Er drehte sich um und sah, daß die Gräber sich öffneten, eines nach dem anderen. Als die toten Könige aus ihren kalten, schwarzen Gräbern taumelten, war Jon in pechschwarzer Finsternis erwacht, mit pochendem Herzen. Selbst Ghost, der aufs Bett sprang, um sich an sein Gesicht zu schmiegen, konnte sein tiefes Entsetzen nicht mildern. Er wagte nicht, wieder einzuschlafen. Statt dessen war er auf die Mauer gestiegen und herumgewandert, rastlos, bis das Licht des neuen Morgens im Osten dämmerte. Es war ein Traum. Ich bin jetzt ein Bruder der Nachtwache, kein ängstlicher Junge mehr.

Samwell Tarly kauerte unter den Bäumen, halb verborgen hinter den Pferden. Sein rundes, dickliches Gesicht hatte die Farbe geronnener Milch. Bisher war er noch nicht in den Wald gewankt, um sich zu übergeben, und hatte auch die toten Männer noch keines Blickes gewürdigt.»Ich kann nicht hinsehen«, flüsterte er unglücklich.

«Du mußt hinsehen«, erklärte Jon und sprach dabei mit so leiser Stimme, daß die anderen ihn nicht hören konnten.»Maester Aemon hat dich geschickt, damit du für ihn siehst, oder? Was nützen einem Augen, wenn sie geschlossen sind?«

«Ja, aber… ich bin ein solcher Feigling, Jon.«

Jon legte Sam eine Hand auf die Schulter.»Wir haben ein Dutzend Grenzwachen bei uns, dazu die Hunde und außerdem noch Ghost. Niemand wird dir etwas tun, Sam. Geh hin und

sieh sie dir an. Der erste Blick ist der schwerste.«

Sam nickte bebend, sammelte mit sichtlicher Mühe seinen ganzen Mut. Langsam drehte er den Kopf. Seine Augen wurden groß, doch Jon hielt ihn beim Arm, damit er sich nicht abwenden konnte.

«Ser Jaremy«, fragte der Alte Bär schroff,»Ben Stark hatte sechs Männer bei sich, als er von der Mauer losritt. Wo sind die anderen?«

Ser Jaremy schüttelte den Kopf.»Wenn ich das wüßte.«

Offensichtlich wollte sich Mormont mit dieser Antwort nicht zufriedengeben.»Zwei Eurer Brüder wurden fast in Sichtweite der Mauer niedergemetzelt, aber Ihr Grenzer habt nichts gehört und nichts gesehen. Was ist aus der Nachtwache geworden? Durchstreifen wir noch diese Wälder?«

«Ja, Mylord, aber…«

«Haben wir noch Wachtposten?«

«Haben wir, aber…«

«Dieser Mann trägt ein Jagdhorn bei sich. «Mormont deutete auf Othor.»Muß ich annehmen, daß er gestorben ist, ohne hineingeblasen zu haben? Oder seid ihr Grenzer allesamt so taub geworden, wie ihr blind seid?«

Ser Jaremy richtete sich auf, seine Miene starr vor Zorn.»Es wurde kein Horn geblasen, Mylord, sonst hätten meine Grenzer es gehört. Ich habe nicht genügend Männer, um so viele Patrouillen auszusenden, wie ich gern würde… und da Benjen vermißt wurde, haben wir uns näher an der Mauer gehalten, als es vorher von uns erwartet wurde, auf Euren eigenen Befehl hin.«

Der Alte Bär grunzte.»Ja. Gut. «Er machte eine ungeduldige Geste.»Sagt mir, wie sie gestorben sind.«

Als er neben dem toten Mann hockte, in dem er Jafer Flowers erkannt hatte, nahm Ser Jaremy dessen Kopf beim

Haarschopf. Das Haar rieselte ihm durch die Finger, brüchig wie Stroh. Der Ritter fluchte und stieß mit seinem Handballen nach dem Gesicht. Eine klaffende Wunde seitlich am Hals der Leiche öffnete sich wie ein Mund, verkrustet von trockenem Blut. Nur ein paar helle Sehnen hielten den Kopf noch am Hals.»Es war eine Axt.«

«Aye«, murmelte Dyvven, der alte Waldmann.»Wahrscheinlich die Axt, die Othor bei sich trug, M'lord.«

Jon spürte, wie sich das Frühstück in seinem Magen umdrehte, doch preßte er die Lippen aufeinander und zwang sich, einen Blick auf die zweite Leiche zu werfen. Othor war ein großer, häßlicher Mann gewesen, und jetzt war er eine große, häßliche Leiche. Eine Axt war nicht zu entdecken. Jon erinnerte sich an Othor. Er war es gewesen, der das zotige Lied gesungen hatte, als die Grenzer ausritten. Seine Sangestage waren nun vorüber. Seine Haut schimmerte weiß wie Milch, überall, bis auf seine Hände. Seine Hände waren schwarz wie Jafers. Blüten von aufgeplatztem, trockenem Blut verzierten die tödlichen Wunden, die ihn wie Hautausschlag überzogen. Doch seine Augen standen offen. Sie starrten zum Himmel hinauf, blau wie Saphire.

Ser Jaremy erhob sich.»Auch die Wildlinge haben Äxte. «Mormont fuhr ihn an:»Ihr glaubt also, es wäre Mance Ryders Werk? So nah an der Mauer?«»Wessen sonst, Mylord?«

Jon hätte es ihnen sagen können. Er wußte es, sie alle wußten es, nur wollte keiner der Männer die Worte aussprechen. Die anderen sind nur eine Geschichte, ein Märchen, das Kindern Angst einjagen solle. Falls sie je gelebt haben, sind sie seit achttausend Jahren tot. Beim bloßen Gedanken daran kam er sich albern vor. Nun war er ein erwachsener Mann, ein schwarzer Bruder der Nachtwache, nicht mehr der Junge, der einst mit Bran und Robb und Arya zu Old Nans Füßen gesessen hatte.

Lord Commander Mormont stieß ein Schnauben aus.»Wenn Ben Stark von Wildlingen angegriffen worden wäre, einen halben Tagesritt von Castle Black entfernt, wäre er umgekehrt, um Verstärkung zu holen, hätte die Mörder durch alle sieben Höllen gejagt und mir ihre Köpfe gebracht.«

«Es sei denn, er wäre selbst ermordet worden«, beharrte Ser Jaremy.

Die Worte schmerzten, selbst jetzt noch. Es war so lange her und mutete wie eine Narretei an, sich an die Hoffnung zu klammern, daß Ben Stark noch lebte, doch wenn Jon Stark irgend etwas war, dann stur.

«Es ist nun fast ein halbes Jahr her, seit Ben Stark uns verlassen hat, Mylord«, fuhr Ser Jaremy fort.»Der Wald ist riesig. Die Wildlinge könnten überall über ihn hergefallen sein. Ich vermute, daß diese beiden die letzten Überlebenden seines Trupps waren, auf dem Weg zurück zu uns… aber der Feind hat sie erwischt, bevor sie hinter die sichere Mauer gelangen konnten. Die Leichen sind noch frisch, diese Männer können nicht länger als einen Tag tot sein…«

«Nein«, quiekte Samwell Tarly.

Jon erschrak. Sams nervöse, hohe Stimme war das letzte, was zu hören er erwartet hatte. Der dicke Junge fürchtete sich vor den Offizieren, und Ser Jaremy war nicht eben für seine Geduld bekannt.

«Ich habe um deine Meinung nicht gebeten, Junge«, sagte Rykker kalt.

«Laßt ihn sprechen, Ser«, platzte Jon heraus.

Mormonts Blick zuckte von Sam zu Jon und wieder zurück.»Wenn der Knabe etwas zu sagen hat, will ich ihn anhören. Komm näher, Junge. Wir können dich hinter den Pferden nicht sehen.«

Sam schob sich an Jon und den Kleppern vorbei, wobei er heftig schwitzte.»Mylord, es… es kann kein Tag sein, oder… seht… das Blut…«

«Ja?«knurrte Mormont ungeduldig.»Blut, was ist damit?«

«Er besudelt seine Unterwäsche beim Anblick«, rief Chett aus, und die Grenzer lachten.

Sam wischte den Schweiß von seiner Stirn.»Ihr… Ihr könnt sehen, wo Ghost… Jons Schattenwolf… Ihr könnt sehen, wo er die Hand des Mannes abgerissen hat, und doch… der Stumpf hat nicht geblutet, seht…«Er winkte mit einer Hand.»Mein Vater… L-lord Randyll, er hat mich manchmal gezwungen, zuzusehen, wenn er Tiere abzog, wenn… nachdem…«Sam schüttelte den Kopf von einer Seite zur anderen, und seine Kinne bebten. Nachdem er die Leichen nun betrachtet hatte, schien er sich nicht abwenden zu können.»Ein frischer Abschuß… das Blut würde noch fließen, Mylords. Später… später wäre es geronnen wie… wie Gelee, dick und… und…«Es sah aus, als würde ihm gleich übel werden.»Dieser Mann… seht sein Handgelenk an, es ist ganz… verkrustet… trocken… wie… «

Augenblicklich fiel Jon auf, was Sam meinte. Er konnte die zerfetzten Venen im Handgelenk des Mannes sehen, eiserne Würmer im fahlen Fleisch. Sein Blut war schwarzer Staub. Jaremy Rykker war nicht überzeugt.»Wenn sie länger als einen Tag tot wären, würden sie inzwischen faulen, Junge. Sie riechen nicht einmal.«

Dywen, der mürrische, alte Waldmann, der gern damit prahlte, er könne riechen, wenn der Schnee kam, trat näher an die Leichen heran und schnüffelte.»Nun, es sind keine Stiefmütterchen, aber… M'lord sagt wahre Worte. Es gibt keinen Leichengestank.«

«Sie… sie modern nicht. «Sam deutete mit dem Finger, und dieser zitterte nur ein wenig.»Seht, da sind… da sind keine Maden oder… oder… Würmer oder irgendwas… die liegen hier im Wald, aber sie… sie sind nicht von Tieren angenagt oder angefressen worden… nur Ghost… ansonsten sind sie… sind sie… «

«Unangetastet«, sagte Jon leise.»Und Ghost ist anders. Die Hunde und die Pferde wollen nicht herangehen.«

Die Grenzer tauschten Blicke. Sie konnten sehen, daß es stimmte, jeder einzelne von ihnen. Mormont legte die Stirn in Falten, blickte von den Leichen zu den Hunden.»Chett, holt die Hunde her.«

Chett versuchte es fluchend, riß an den Leinen, gab einem der Tiere einen Tritt mit dem Stiefel. Die meisten Hunde wimmerten nur und stemmten sich dagegen. Er versuchte, einen heranzuzerren. Die Hündin wehrte sich, knurrte und zog, als wollte sie sich ihrem Halsband entwinden. Schließlich sprang sie ihn an. Chett ließ die Leine fallen und taumelte rückwärts. Die Hündin sprang über ihn hinweg und floh zwischen die Bäume.

«Da… da paßt doch eins nicht zum anderen«, sagte Sam Tarly ernst.»Das Blut… da sind Blutflecken auf ihren Kleidern, und… und ihre Haut, trocken und hart, aber… da ist nichts auf dem Boden oder… sonstwo. Mit diesen… diesen… diesen… diesen…«Sam zwang sich zu schlucken, holte tief Luft.»Bei diesen Wunden… diesen schrecklichen Wunden… müßte alles voller Blut sein. Oder?«

Dywen sog Speichel durch seine hölzernen Zähne.»Könnte sein, daß sie nicht hier gestorben sind. Könnte sein, daß jemand sie hergebracht und für uns hat liegenlassen. Eine Warnung vielleicht. «Argwöhnisch sah der alte Waldmann die Leichen an.»Und könnte auch sein, daß ich ein Narr bin, aber ich wüßte nicht, daß Othor irgendwann mal blaue Augen hatte.«

Ser Jaremy zog ein verdutztes Gesicht.»Flowers auch nicht«, platzte er heraus, wandte sich um und starrte den toten Mann an.

Schweigen breitete sich über dem Wald aus. Einen Moment lang hörten sie nur Sams schweren Atem und dieses feuchte Zischen, wenn Dywen Speichel durch die Zähne sog. Jon hockte neben Ghost.

«Verbrennt sie«, flüsterte jemand. Einer von den Grenzern. Jon konnte nicht sagen, wer.»Ja, verbrennt sie«, drängte eine zweite Stimme.

Der Alte Bär schüttelte stur den Kopf.»Noch nicht. Ich will, daß Maester Aemon sie sich ansieht. Wir nehmen sie mit zurück zur Mauer.«

Manche Befehle sind leichter gegeben als ausgeführt. Sie wickelten die Toten in Umhänge, doch als Hake und Dywen versuchten, einen davon auf einem Pferd festzubinden, ging das Tier durch, schrie und schlug aus, trat mit den Hufen, biß sogar nach Ketter, als der heranlief, um zu helfen. Auch mit den anderen Kleppern hatten die Grenzer wenig Glück. Nicht einmal die Zahmsten wollten mit dieser Last zu schaffen haben. Am Ende waren sie gezwungen, Äste abzuhacken und grobe Schlingen zu binden, um die Leichen damit zu Fuß zu transportieren. Erst weit nach Mittag machten sie sich auf den Rückweg.

«Ich will, daß dieser Wald durchsucht wird«, befahl Mormont Ser Jaremy beim Aufbruch.»Jeder Baum, jeder Stein, jeder Busch, alles sumpfige Gelände innerhalb zehn Wegstunden von hier.

Nehmt alle Männer, die Ihr habt, und wenn Ihr nicht genug habt, nehmt Jäger und Förster von den Kämmerern. Falls Ben und die anderen da draußen sein sollten, tot oder lebendig, will ich, daß man sie findet. Und falls sonst noch jemand da draußen ist, so will ich davon erfahren. Spürt sie auf und nehmt sie in Gewahrsam, wenn möglich lebend. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

«Das habt Ihr, Mylord«, antwortete Ser Jaremy.»So wird es

sein.«

Danach ritt Mormont fort, schweigend und brütend. Jon hielt sich nah hinter ihm. Als Kämmerer des Lord Commanders war das sein Platz. Der Tag war grau, feucht, verhangen, einer dieser Tage, an denen man sich wünscht, es möge regnen. Kein Lüftchen regte sich im Wald, die Luft hing feucht und schwer, und Jons Kleider klebten ihm am Leib. Es war warm. Zu warm. Die Mauer weinte heftig, weinte schon seit Tagen, und manchmal bildete sich Jon schon ein, sie schrumpfte.

Die alten Männer nannten dieses Wetter Geistersommer und sagten, es bedeute, daß die Jahreszeit nun endlich ihre Geister aufgab. Danach käme die Kälte, warnten sie, und ein langer Sommer brächte stets einen langen Winter. Dieser Sommer hatte zehn Jahre gedauert. Jon war noch ein kleines Kind gewesen, als er begonnen hatte.

Ghost rannte eine Weile mit ihnen, dann verschwand er zwischen den Bäumen. Ohne den Schattenwolf fühlte sich Jon fast nackt. Er merkte, wie er voller Sorge die Schatten im Auge behielt. Ungebeten dachte er an die Geschichten, die Old Nan ihnen auf Winterfell oft erzählt hatte. Fast konnte er ihre Stimme wieder hören, das klick-klick-klick ihrer Nadeln dazu. In der Finsternis kamen die anderen herangeritten, hatte sie gesagt und dabei war ihre Stimme leiser und leiser geworden. Kalt und tot waren sie, sie haßten Eisen und Feuer und Berührung durch die Sonne und jedes Lebewesen mit Blut in seinen Adern. Festungen und Städte und Königreiche der Menschen fielen, wenn sie auf ihren blassen, toten Pferden gen Süden ritten und ganze Armeen Erschlagener anführten. Sie fütterten ihre toten Diener mit dem Fleisch der Menschenkinder…

Als er die Mauer hinter dem Wipfel einer uralten, knorrigen Eiche erblickte, war Jon zutiefst erleichtert. Plötzlich hielt Mormont an und wandte sich auf seinem Sattel um.»Tarly«, bellte er,»komm her.«

Jon sah die Angst auf Sams Gesicht, als dieser auf seiner Stute herantrabte. Zweifellos glaubte er, er sei in Schwierigkeiten.»Du bist fett, aber du bist nicht dumm, Junge«, sagte der Alte Bär barsch.»Du hast dich da drüben gut gemacht. Du auch, Snow.«

Sam nahm eine leuchtend dunkelrote Farbe an und stolperte über seine eigene Zunge, als er versuchte, eine höfliche Antwort hervorzustammeln. Jon mußte lächeln.

Sie kamen zwischen den Bäumen hervor und Mormont trieb seinen harten, kleinen Klepper zum Trab an. Ghost schoß aus dem Wald hervor, rannte ihnen nach und leckte sich die Lefzen, die Schnauze rot von seiner Beute. Hoch oben sahen die Männer auf der Mauer die Kolonne näher kommen. Jon hörte den tiefen, kehligen Klang des großen Wachhorns, das meilenweit zu hören war, ein einzelner, langer Ton, der zwischen den Bäumen bebte und vom Eis her hallte.

UUUUUUUUooooooooooooooooooooooooooooooooooooo oooo.

Langsam verklang der Ton zu Stille. Ein Ton bedeutete, daß Grenzwachen heimkehrten, und Jon dachte: Wenigstens für einen Tag war ich ein Grenzer. Was immer jetzt auch kommen mag, das kann mir keiner nehmen.

Bowen Marsh wartete am ersten Tor, als sie ihre Pferde durch den eisigen Tunnel führten. Der Lord Haushofmeister war aufgebracht und rotgesichtig.»Mylord«, rief er Mormont zu, während er die eisernen Schranken öffnete,»ein Vogel hat Nachricht gebracht. Ihr müßt sofort kommen.«

«Was gibt's, Mann?«verlangte Mormont barsch zu wissen.

Seltsamerweise sah Marsh zu Jon herüber, bevor er antwortete.»Maester Aemon hat den Brief. Er wartet in Eurem Solar.«

«Also gut, Jon, kümmere dich um mein Pferd und sag Ser Jaremy, er soll die Toten in einem Lagerraum verstauen, bis der Maester Zeit hat, sich ihrer anzunehmen. «Knurrend schritt Mormont von dannen.

Sie führten die Pferde zum Stall zurück, und Jon spürte auf unangenehme Weise, wie die Leute ihn anstarrten. Ser Alliser Thorne drillte seine Jungen auf dem Hof, doch hielt er inne, um Jon anzusehen, ein leises, schiefes Lächeln auf den Lippen. Der einarmige Donal Noye stand in der Tür der Waffenkammer.»Mögen die Götter mit dir sein, Snow«, rief er herüber.

Irgend etwas stimmt da nicht, dachte Jon. Irgend etwas stimmt da ganz und gar nicht.

Die Toten wurden in einen der Lagerräume am Fuß der Mauer gebracht, eine dunkle, kalte Zelle, die aus dem Eis gemeißelt war und in der Fleisch und Getreide, manchmal auch Bier verwahrt wurde. Mormonts Pferd bekam Futter und Wasser und wurde gestriegelt, bevor Jon sich um sein eigenes kümmerte. Danach suchte er seine Freunde auf. Grenn und Toad schoben Wache, nur Pyp fand er im Gemeinschaftssaal.»Was ist passiert?«fragte er.

Pyp sprach mit leiser Stimme.»Der König ist tot.«

Jon war verblüfft. Robert Baratheon hatte alt und dick ausgesehen, als er Winterfell besuchte, schien dennoch rüstig genug, und von einer Krankheit war nie die Rede gewesen.»Woher weißt du das?«

«Einer der Wachmänner hat belauscht, wie Clydas Maester Aemon den Brief vorgelesen hat. «Pyp beugte sich nah vor.»Jon, es tut mir leid. Er war der Freund deines Vaters, nicht?«

«Sie standen sich nah wie Brüder. Früher«, Jon fragte sich, ob Joffrey seinen Vater als Rechte Hand des Königs behalten wollte. Das war eher unwahrscheinlich. Es mochte bedeuten, daß Lord Eddard nach Winterfell heimkehrte, und seine Schwestern ebenso. Vielleicht würde man ihm sogar gestatten, sie zu besuchen, mit Lord Mormonts Erlaubnis. Es täte gut, Aryas Grinsen wiederzusehen und mit seinem Vater zu sprechen. Ich werde ihn nach meiner Mutter fragen, nahm er sich vor. Jetzt bin ich ein Mann, und es wird höchste Zeit, daß er es mir sagt. Selbst wenn sie eine Hure war, es ist mir egal, ich will es wissen.

«Ich habe gehört, wie Hake sagte, die toten Männer gehörten zu deinem Onkel«, sagte Pyp.

«Ja«, erwiderte Jon.»Zwei von den sechsen, die er mitgenommen hat. Sie waren schon lange tot, nur… die Leichen sind in einem seltsamen Zustand.«

«Seltsam?«Pyp war die Neugier selbst.»Wieso seltsam?«

«Sam wird es dir erzählen. «Jon wollte nicht darüber sprechen.»Ich will sehen, ob der Alte Bär mich braucht.«

Allein ging er zum Turm des Lord Commanders, erfüllt von einem eigentümlichen Gefühl der Sorge. Die Brüder, die dort Wache hielten, musterten ihn ernsten Blickes, als er sich ihnen näherte.»Der Alte Bär ist in seinem Solar«, erklärte einer.»Er hat nach dir gefragt.«

Jon nickte. Er hätte gleich vom Stall herüberkommen sollen. Eilig erklomm er die Stufen des Turmes. Er will Wein oder ein Feuer in seinem Kamin, mehr nicht, redete er sich ein.

Als er das Solar betrat, schrie Mormonts Rabe ihn an.»Korn!«kreischte der Vogel.»Korn! Korn! Korn!«

«Glaub ihm kein Wort, ich habe ihn eben gefüttert«, knurrte der Alte Bär. Er saß am Fenster, las einen Brief.»Bring mir einen Becher Wein und schenk dir selbst auch einen ein.«

«Für mich, Mylord?«

Mormont hob die Augen vom Brief, um Jon anzublicken. Mitgefühl lag in seinen Augen, das war nicht zu übersehen.»Du hast mich gehört.«

Jon goß mit übertriebener Vorsicht ein, merkte, daß er es in die Länge zog. Wenn die Becher gefüllt wären, hätte er keine andere Wahl mehr, müßte sich dem stellen, was im Brief geschrieben stand. Allzu bald schon waren sie randvoll.»Setz dich, Junge«, befahl ihm Mormont.»Trink.«

Jon blieb stehen.»Es geht um meinen Vater, nicht?«

Der Alte Bär tippte mit dem Finger auf den Brief.»Um deinen Vater und den König«, donnerte er.»Ich will dich nicht belügen, es sind traurige Nachrichten. Nie hätte ich gedacht, daß ich noch einen neuen König erlebe, nicht in meinem Alter, da Robert halb so alt wie ich und stark wie ein Bulle war. «Er nahm einen Schluck Wein.»Man sagt, der König sei gern zur Jagd gegangen. Die Dinge, die wir lieben, sind stets auch jene, die uns zerstören. Vergiß das nicht. Mein Sohn hat seine junge Frau geliebt. Eitles Weib. Wenn es nicht nach ihr gegangen wäre, hätte er nie daran gedacht, diese Wilderer zu verkaufen.«

Jon konnte dem, was er sagte, kaum noch folgen.»Mylord, ich verstehe nicht. Was ist mit meinem Vater passiert?«

«Ich habe gesagt, du sollst dich setzen«, murrte Mormont.»Setzen«, kreischte der Rabe.»Und trink was, verdammt noch mal. Das ist ein Befehl, Snow.«

Jon setzte sich und nahm einen Schluck Wein.

«Lord Eddard sitzt im Kerker. Man beschuldigt ihn des Hochverrats. Es heißt, er habe mit Roberts Brüdern den Plan geschmiedet, Prinz Joffrey um den Thron zu bringen.«

«Nein«, sagte Jon sofort.»Das kann nicht sein. Mein Vater würde den König niemals verraten!«

«Wie dem auch sei«, sagte Mormont.»Es steht mir nicht an, das zu beurteilen. Und auch dir nicht.«

«Aber es ist eine Lüge«, beharrte Jon. Wie konnten sie glauben, sein Vater sei ein Verräter? Hatten sie alle den Verstand verloren? Lord Eddard Stark würde sich nie entehren… oder?

Er hat einen Bastard gezeugt, flüsterte eine leise Stimme in seinem Inneren. Was war daran ehrenhaft? Und deine Mutter,

was ist mit ihr? Er will nicht einmal ihren Namen nennen.

«Mylord, was soll mit ihm geschehen? Wird man ihn hinrichten?«

«Was das angeht, so kann ich es nicht sagen, Junge. Ich will ihm einen Brief schreiben. In meiner Jugend kannte ich einige Ratsherren des Königs. Den alten Pycelle, Lord Stannis, Ser Barristan… was immer dein Vater getan hat oder nicht getan hat, er ist ein großer Lord. Man muß ihm gestatten, das Schwarz anzulegen und sich uns anzuschließen. Die Götter wissen, daß wir Männer von Lord Eddards Fähigkeiten brauchen.«

Jon wußte, daß andere Männer, die des Hochverrats beschuldigt wurden, in der Vergangenheit ihre Ehre auf der Mauer wiederherstellen durften. Wieso nicht auch Lord Eddard? Sein Vater hier. Das war ein merkwürdiger Gedanke, und bedrückend dazu. Es wäre eine monströse Ungerechtigkeit, ihm Winterfell zu nehmen und ihn zu zwingen, das Schwarz anzulegen, und doch… wenn es um sein Leben ging…

Und würde Joffrey es zulassen? Er erinnerte sich von Winterfell her noch an den Prinzen, wie er Robb und Ser Rodrik auf dem Hof verhöhnt hatte. Jon selbst hatte er kaum je Aufmerksamkeit geschenkt. Bastarde waren nicht einmal seine Verachtung wert.»Mylord, wird der König auf Euch hören?«

Der Alte Bär zuckte mit den Schultern.»Ein Kindskönig… ich denke, er wird auf seine Mutter hören. Eine Schande, daß der Zwerg nicht bei ihnen ist. Er ist der Onkel des Kleinen, und der hat unsere Not gesehen, als er hier war. Es war schlimm, daß deine Hohe Mutter ihn zum Gefangenen gemacht hat… «

«Lady Stark ist nicht meine Mutter«, erinnerte ihn Jon scharf. Tyrion war ihm ein Freund gewesen. Falls Lord Eddard den Tod fand, würde man es ihr ebenso vorwerfen müssen wie der Königin.»Mylord, was ist mit meinen Schwestern? Arya und Sansa, sie waren bei meinem Vater, wißt Ihr…«

«Pycelle erwähnt sie nicht, aber zweifellos wird man sie gut behandeln. Ich will mich in meinem Brief nach ihnen erkundigen. «Mormont schüttelte den Kopf.»Das alles hätte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt geschehen können. Wenn das Reich je einen starken König brauchte… dunkle Tage und kalte Nächte liegen vor uns, ich spüre es in meinen Knochen…«Er warf Jon einen langen, scharfen Blick zu.»Ich hoffe, du hast keine Dummheit im Sinn, Junge.«

Er ist mein Vater, lag es Jon auf der Zunge, aber er wußte, daß Mormont das nicht hören wollte. Seine Kehle war trocken. Er zwang sich dazu, noch einen Schluck Wein zu trinken.

«Deine Pflichten sind hier«, erinnerte ihn der Lord Commander.»Dein altes Leben ist zu Ende. Jetzt trägst du das Schwarz. «Sein Vogel brachte ein heiseres Echo hervor» Schwarz. «Mormont beachtete ihn nicht.»Was auch immer dort in King's Landing vor sich gehen mag, ist nicht deine Sache. «Jon gab keine Antwort, und der alte Mann trank seinen Wein aus und sagte:»Du kannst jetzt gehen. Ich habe heute weiter keine Verwendung für dich. Morgen früh kannst du mir helfen, diesen Brief zu schreiben.«

Jon erinnerte sich nicht, aufgestanden zu sein oder das Solar verlassen zu haben. Er kam zu sich, als er die Turmtreppe hinunterging, und dachte: Es geht um meinen Vater und um meine Schwestern, wie kann es denn nicht meine Sache sein?

Draußen sah einer der Wächter ihn an und sagte:»Sei stark, Junge. Die Götter sind grausam.«

Sie wissen es, dachte Jon.»Mein Vater ist kein Verräter«, sagte er heiser. Selbst die Worte blieben ihm im Halse stecken, schienen ihn ersticken zu wollen. Wind kam auf, und im Hof kam es ihm plötzlich kälter als vorhin vor. Der Geistersommer ging zu Ende. Der Rest des Nachmittags verstrich wie in einem Traum. Jon hätte nicht sagen können, wohin er ging, was er tat, mit wem er sprach. Ghost war bei ihm, soviel wußte er. Die stille Gesellschaft des Schattenwolfes tröstete ihn. Die Mädchen haben nicht mal das, so dachte er. Ihre Wölfe hätten sie beschützen können, aber Lady ist tot und Nyemria vermißt, sie sind ganz allein.

Bei Sonnenuntergang hatte Nordwind eingesetzt. Jon konnte hören, wie dieser über die Mauer und über die eisigen Wehranlagen pfiff während er zum Abendessen hinüber zum Gemeinschaftssaal ging. Hobb hatte Wildeintopf gekocht, mit Gerste, Zwiebeln und Karotten angedickt. Er schöpfte eine Extrakelle auf Lord Snows Teller, reichte ihm einen knusprigen Brotknust. Jon wußte, was das bedeutete. Er weiß Bescheid. Er blickte sich in der Halle um, sah Köpfe, die sich eilig abwendeten, die Augen höflich gesenkt. Alle wissen Bescheid.

Seine Freunde versammelten sich um ihn.»Wir haben den Septon gebeten, eine Kerze für deinen Vater anzuzünden«, erklärte Matthar.»Es ist gelogen, wir alle wissen, daß es gelogen ist, sogar Grenn weiß, daß es gelogen ist«, stimmte Pyp mit ein. Grenn nickte, und Sam griff nach Jons Hand.»Du bist jetzt mein Bruder, also ist er auch mein Vater«, sagte der dicke Junge.»Wenn du zu den Wehrholzbäumen möchtest, um zu beten, komme ich mit dir.«

Die Wehrholzbäume standen jenseits der Mauer, doch wußte er dennoch, daß Sams Angebot ernst gemeint war. Sie sind meine Brüder, dachte er. Ebenso wie Robb und Bran und Rickon…

Und dann hörte er das Lachen, scharf und grausam wie eine Peitsche, und die Stimme von Ser Alliser Thorne.»Nicht nur ein Bastard, sondern ein Verräterbastard«, erklärte er den Männern um sich herum.

Augenblicklich war Jon auf den Tisch gesprungen, den Dolch in der Hand. Pyp griff nach ihm, aber er riß sein Bein los, und dann rannte er über den Tisch und trat Ser Alliser die

Schale aus der Hand. Eintopf flog durch die Luft, bespritzte die Brüder. Thorne wich zurück. Männer schrien, Jon Snow hörte sie nicht. Er hieb mit dem Dolch auf Ser Allisers Gesicht ein, stach nach diesen kalten Augen aus Onyx, doch Sam warf sich zwischen die beiden, und bevor Jon um ihn herum war, hing Pyp wie ein Affe an seinem Rücken und Grenn packte seinen Arm, während Toad ihm das Messer aus den Fingern wand.

Später, viel später, nachdem sie ihn in seine Schlafzelle gebracht hatten, kam Mormont, um ihn zu besuchen, mit dem Raben auf der Schulter.»Ich habe dir gesagt, daß du keine Dummheiten machen sollst, Junge«, sagte der Alte Bär.»Junge«, krächzte der Vogel. Mormont schüttelte den Kopf, angewidert.»Wenn ich denke, welch große Hoffnungen ich in dich gesetzt hatte.«

Sie nahmen ihm sein Messer und sein Schwert und sagten ihm, er dürfe die Zelle erst wieder verlassen, wenn die hohen Offiziere beschlossen hatten, was mit ihm geschehen solle. Und dann postierten sie eine Wache draußen vor der Tür, um sicherzustellen, daß er gehorchte. Seinen Freunden war es nicht gestattet, ihn zu besuchen, aber der Alte Bär war nachgiebig und erlaubte ihm Ghost, damit er nicht ganz allein war.

«Mein Vater ist kein Verräter«, erklärte er dem Schattenwolf, als alle anderen fort waren. Schweigend sah Ghost ihn an. Jon sank an der Wand in sich zusammen, mit den Händen um die Knie, und starrte in die Kerze auf dem Tisch neben seinem schmalen Bett. Die Flamme flackerte und tanzte, die Schatten bewegten sich um ihn, das Zimmer schien dunkler und kälter zu werden. Ich werde heute nacht nicht schlafen, dachte Jon.

Dennoch mußte er eingenickt sein. Beim Aufwachen waren seine Beine steif und verkrampft, und die Kerze war lange schon niedergebrannt. Ghost stand auf den Hinterbeinen, kratzte an der Tür. Jon staunte, wie groß er geworden war.»Ghost, was ist denn?«fragte er leise. Der Schattenwolf wandte den Kopf um und sah zu ihm herüber und fletschte die Zähne in stillem Knurren. Ist er verrückt geworden? fragte sich Jon. «Ich bin's, Ghost«, murmelte er, versuchte, nicht ängstlich zu klingen. Dennoch zitterte er furchtbar. Wann war es so kalt geworden?

Ghost wich von der Tür zurück. Tiefe Furchen waren zu sehen, wo er das Holz zerkratzt hatte. Jon betrachtete ihn mit wachsender Sorge.»Da draußen ist jemand, nicht?«flüsterte er. Kriechend bewegte sich der Schattenwolf rückwärts, wobei sich ihm das weiße Fell im Nacken aufstellte. Der Wachmann, dachte er, sie haben einen Wachmann vor meine Tür gestellt. Ghost wittert ihn durch die Tür, das ist alles.

Langsam kam Jon auf die Beine. Er zitterte unkontrollierbar, wünschte, er hätte noch sein Schwert. Drei schnelle Schritte brachten ihn zur Tür. Er packte den Griff und zog sie nach innen. Das Knarren der Angeln ließ ihn fast zusammenzucken.

Der Wachmann lag wie knochenlos auf der schmalen Treppe und blickte zu ihm auf. Blickte zu ihm auf, obwohl er auf dem Bauch lag. Sein Kopf war auf den Rücken gedreht.

Das kann nicht sein, sagte sich Jon. Wir sind im Turm des Lord Commanders, der wird bei Tag und Nacht bewacht, es kann nicht passiert sein, es ist ein Traum. Ich habe einen Alptraum.

Ghost schob sich an ihm vorbei, zur Tür hinaus. Der Wolf wollte treppauf, hielt inne, sah sich nach Jon um. Da hörte er es: das leise Scharren von einem Stiefel auf Stein, das Knarren eines Türriegels, der gedreht wurde. Von den Gemächern des Lord Commanders her.

Ein Alptraum mochte es wohl sein, doch ein Traum war es ganz sicher nicht.

Das Schwert des Wachmanns steckte in der Scheide. Jon kniete nieder und zog es heraus. Das stählerne Heft in der Faust machte ihn kühner. Er schlich die Stufen hinauf, Ghost folgte ihm schweigend. Schatten lauerten in jeder Wende der Treppe. Vorsichtig lief Jon voran, prüfte verdächtiges Dunkel mit der Spitze seines Schwerts.

Plötzlich hörte er Mormonts Raben kreischen.»Korn«, schrie der Vogel.»Korn, Korn, Korn, Korn, Korn, Korn. «Ghost sprang voraus, und Jon stieg ihm hinterher. Die Tür zu Mormonts Solar stand weit offen. Der Schattenwolf stürzte hindurch. Jon blieb im Rahmen stehen, die Klinge in der Hand, ließ seinen Augen einen Moment, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Schwere Vorhänge waren vor die Fenster gezogen, und die Finsternis war schwarz wie Tinte.»Wer ist da?«rief er.

Dann sah er es: ein Schatten im Schatten schlich zur inneren Tür, die in Mormonts Schlafkammer führte, eine menschliche Gestalt, ganz in Schwarz, mit Umhang und Kapuze… doch unter der Kapuze leuchteten Augen mit eisig blauem Glanz…

Ghost sprang. Mann und Wolf gingen gemeinsam zu Boden, ohne Schreien oder Knurren, rollten, krachten an einen Stuhl, stießen einen Tisch voller Papiere um. Mormonts Rabe flatterte über ihnen, schrie:»Korn, Korn, Korn, Korn. «Jon fühlte sich so blind wie Maester Aemon. Mit der Wand im Rücken schob er sich ans Fenster und riß die Vorhänge auf. Mondlicht flutete das Solar. Er sah schwarze Hände, die sich in weißes Fell gruben, geschwollene, dunkle Hände, die sich dem Schattenwolf um die Kehle legten. Ghost zappelte und schnappte, warf die Beine in die Luft und konnte sich trotzdem nicht befreien.

Jon blieb keine Zeit für Angst. Er warf sich nach vorn, schrie, legte sein ganzes Gewicht in den Hieb mit dem Langschwert. Stahl fuhr durch Ärmel und Haut und Knochen, doch irgendwie war das Geräusch nicht richtig. Der Geruch, der ihn umfing, war so seltsam und kalt, daß er daran zu ersticken meinte. Er sah Arm und Hand am Boden liegen, schwarze Finger, die in einem Fleck von Mondlicht zuckten.

Ghost riß sich von der anderen Hand los und schlich davon, mit roter Zunge, die ihm aus dem Maul hing.

Der Kapuzenmann hob sein fahles Mondgesicht, und Jon hieb ohne Zögern darauf ein. Das Schwert teilte den Eindringling bis auf die Knochen, hieb ihm die halbe Nase ab und schlug eine klaffende Wunde von Wange zu Wange, unter diesen Augen, Augen, Augen wie brennende, blaue Sterne, Jon kannte das Gesicht. Othor, dachte er und wich zurück. Bei allen Göttern, er ist tot. Ich habe ihn doch tot gesehen.

Er fühlte, daß etwas an seinem Knöchel kratzte. Schwarze Finger krallten sich in seine Wade. Der Arm kroch an seinem Bein hinauf, riß an Wolle und Fleisch. Voller Abscheu schrie Jon auf, löste die Finger mit der Schwertspitze von seinem Bein und warf das Ding von sich. Sich windend lag es da, öffnete und schloß sich.

Die Leiche machte einen Satz nach vorn. Blut war nicht zu sehen. Einarmig, das Gesicht fast in zwei Hälften, schien sie nichts zu spüren. Jon hielt das Langschwert vor sich ausgestreckt.»Bleib weg von mir!«befahl er mit schriller Stimme.»Korn«, kreischte der Rabe,»Korn, Korn. «Der abgehackte Arm schlängelte sich aus dem zerrissenen Ärmel, eine blasse Schlange mit fünffingrigem Kopf. Ghost stürzte sich darauf und bekam das Ding zwischen die Zähne. Handknochen knirschten. Jon hackte auf den Hals der Leiche ein, spürte, wie der Stahl tief und hart einschnitt.

Der tote Othor stürzte gegen ihn, warf ihn von den Beinen.

Jon ging die Luft aus, als der umgestürzte Tisch ihn zwischen die Schulterblätter traf. Das Schwert, wo war das Schwert? Er hatte das verdammte Schwert verloren! Er öffnete den Mund, wollte schreien, da rammte ihm die Kreatur die schwarzen Finger in den Mund. Würgend versuchte er, sie wegzustoßen, doch der tote Mann war zu schwer. Seine Hand drückte sich immer tiefer in seine Kehle, eisig kalt, erstickte ihn. Das Gesicht der Leiche war ganz nah an seinem eigenen, füllte die ganze Welt aus. Frost bedeckte ihre Augen, glitzernd blau. Jon kratzte mit seinen Nägeln über kalte Haut und trat nach den Beinen dieses Wesens. Er versuchte zu beißen, versuchte zu schlagen, versuchte zu atmen…

Und plötzlich war das Gewicht der Leiche fort, ihre Finger von seinem Hals gerissen. Jon konnte sich nur noch seitwärts rollen, würgend und zitternd. Ghost war wieder da. Der Schattenwolf grub seine Zähne in den Bauch der Kreatur und begann daran zu reißen und zu zerren. Er beobachtete ihn, nur halbwegs noch bei Bewußtsein, einen langen Augenblick, bis ihm schließlich einfiel, nach seinem Schwert zu suchen…

… und erblickte Lord Mormont, nackt und benommen vom Schlaf, wie er mit einer Öllampe in der Tür stand.

Zerbissen und fingerlos warf sich der Arm am Boden hin und her, schlängelte sich ihm entgegen.

Jon wollte schreien, doch seine Stimme versagte. Taumelnd kam er auf die Beine, trat den Arm fort und riß dem Alten Bären die Lampe aus den Händen. Die Flamme flackerte und wollte fast ersterben.»Brenne!«krächzte der Rabe.»Brenne, brenne, brenne!«Er fuhr herum und sah die Vorhänge, die er vom Fenster gerissen hatte. Mit beiden Händen warf er die Lampe in den Haufen aus Stoff. Metall knirschte, Glas zerschlug, Öl spritzte, und die Vorhänge gingen mit einem mächtigen Zischen in Flammen auf. Die Hitze in seinem Gesicht war süßer als alle Küsse, die Jon je bekommen hatte.»Ghost!«rief er.

Der Schattenwolf riß sich los und kam zu ihm, als die Kreatur sich eben erheben wollte, dunkle Schlangen quollen aus der großen Wunde in ihrem Bauch. Jon griff mit einer Hand ins Feuer, packte eine Faustvoll brennender Vorhänge, schlug damit peitschend nach dem toten Mann.

Laßt ihn brennen, betete er, als das Tuch die Leiche sengte,

Ihr Götter, bitte, laßt ihn brennen.

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