17

»Mein Vater?« Evie erkannte Raffys Stimme fast nicht mehr wieder. »Mein Vater hat Ihnen das Leben gerettet?«

»Ja, mein Sohn«, antwortete Linus. »Er war von Anfang an dabei, er hat die Stadt mitaufgebaut, er hat mir beim Aufbau des Systems geholfen. Er hat an die Sache geglaubt. Aber auch er hat gemerkt, dass die Zeiten sich geändert hatten. Er war ein besonnener Mann, der nicht so leicht die Beherrschung verloren hat wie ich. Er hatte so eine Ahnung wegen der Neutaufe, und er war nicht einverstanden mit dem, was der Bruder mit dem System gemacht hat. Dass es dazu benutzt wurde, die Leute zu überwachen und ihnen Angst zu machen, statt dazu, ihnen zu helfen. Er hat herausgefunden, dass der Bruder seine Leute auf mich gehetzt hat, und er hat für meine Flucht sein Leben aufs Spiel gesetzt. Damals war das noch leichter; ich hatte ja noch keinen Ortungschip im Kopf. Aber dein Vater wusste, wie sehr der Bruder meinen Tod wollte, und er hat alles getan, damit das nicht passiert. Und eines Tages werde ich ihm zeigen, wie dankbar ich ihm bin.«

»Ich war vier Jahre alt, als mein Vater zum K erklärt wurde.« Raffy wirkte plötzlich stärker, so als wenn sein Rücken ein kleines bisschen gerader wäre. »Wenn K wirklich Killable heißt, dann …«

»Dein Vater wurde zum K erklärt? Nein, das ist unmöglich«, erwiderte Linus. »Völlig unmöglich.«

»Nicht unmöglich«, widersprach Raffy mit leiser Stimme. »Ich muss es schließlich wissen.«

»Aber …« Linus’ Gesicht legte sich in Falten vor Verwirrung. »Aber ich weiß, dass er am Leben ist.«

»Und ich weiß, dass er es nicht ist«, sagte Raffy. »Man hat ihn abgeholt. Ich weiß es noch wie heute. Die Polizeigarde kam zu uns nach Hause, um ihn zu holen. Sie haben gesagt, dass er gefährlich ist und dass er neu konditioniert werden muss. Und er würde nie wieder zurückkommen, weil er schwach ist und weil das Böse in ihm zu stark ist. Meine Mutter war auch dabei. Sie hat gezittert. Sie hat mir gesagt, ich soll gut sein, sonst würden sie mich als Nächsten holen. Sie hat gesagt …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er zitterte am ganzen Körper. Evie streckte ihm die Hand hin und er hielt sie krampfhaft fest. Auch sie erinnerte sich an diesen Abend … daran, wie Raffy sich danach verändert hatte. Alles hatte sich verändert.

Linus schwankte. Trauer, Schuld, Wut, alles war tief in seine Gesichtszüge eingegraben.

»Du warst vier?«, fragte er. »Dann ist das so ungefähr zwölf Jahre her?«

»Dreizehn«, sagte Raffy abwehrend.

»Dreizehn, also fünf Jahre nach meiner Flucht.« Linus verschränkte die Arme und ging wieder eine Weile auf und ab. Dann kam er zurück zu Raffy und blieb direkt vor ihm stehen. »Aber wenn dein Vater tot ist«, sagte er dann, und in seinem Gesicht spiegelte sich Angst, und seine Augen blickten Raffy eindringlich an, »wer hat mir dann die ganzen Jahre über Nachrichten geschickt? Wer hat mir dann gesagt, ich soll nach dir Ausschau halten? Wer hat mich alarmiert, wenn jemand zum K erklärt wurde, damit ich als Erster dort war und die Leute in Sicherheit bringen konnte?«

Evie sah ihn an. »Also, dann seid ihr … ihr seid alle Ks? Alle?«

»Fast alle.« Ein Schatten fiel über Linus’ Gesicht. »Wir kommen nicht immer rechtzeitig. Manchmal sind die Bösen …« Die Stimme versagte ihm und er räusperte sich. »Und manchmal können wir nichts machen«, fuhr er schließlich fort. »Sonst erwischen sie uns auch. Und dann …« Er sah aus, als wenn er sich schüttelte. »Das Entscheidende ist, dass dein Vater mir von dir erzählt hat. Er hat gesagt, ich soll nach dir suchen. Wie hätte er das können, wenn er tot ist?«

»Sie wussten von uns?«, fragte Evie ungläubig. »Sie wussten, dass wir aus der Stadt geflohen sind? Aber warum haben Sie uns dann gefangen genommen? Warum haben Sie Raffy verprügeln lassen?«

Er hob die Brauen. »Das waren keine Prügel. Das war nur, damit ihr nicht versucht, zu fliehen. Ich wollte euch erst hierherbringen und sicher sein, dass die Polizeigarde die Suche aufgegeben hat.« Er wandte sich wieder an Raffy. »Von wem stammen dann diese Botschaften? Ich muss das wissen.« Er packte Raffy an der Schulter und starrte ihn an.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Raffy hilflos. »Aber ich habe ein Kommunikationsprogramm gefunden.«

»Du hast das Kommunikationsprogramm gefunden? Dann ist es aufgeflogen?« Linus’ Augen weiteten sich vor Furcht.

»Deshalb haben sie ihn doch zum K erklärt«, sagte Evie ruhig.

»Und wann bist du darauf gestoßen? Und wie? Wem hast du davon erzählt?«

»Ich habe eine Panne entdeckt. Nur dass es keine Panne war. Ich habe Wartungsarbeiten am System vorgenommen und bin dabei auf einen seltsamen Programmcode gestoßen und auf irgendwelche Aktivitäten, die ich mir nicht erklären konnte«, sagte Raffy unbehaglich. »Und Sie meinen, mein Vater hätte das dort eingebaut? Dass er auf diese Weise mit Ihnen in Verbindung gestanden hat? Und ich habe das alles kaputt gemacht?«

Linus schien Raffy gar nicht zu hören, sie beide gar nicht wahrzunehmen. »Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn«, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war immer noch voller Sorge. »Letzte Woche bist du darauf gestoßen? Wer hat dann Verbindung mit mir aufgenommen? Wer ist an die Stelle deines Vaters getreten?«

Evie sah erst Linus an, dann Raffy, dann trat sie einen Schritt vor, denn sie wusste, sie verstand mit einem Mal alles.

»Lucas«, sagte sie ruhig. »Er wusste Bescheid. Die ganze Zeit. Er gehört zwar zur Regierung, aber er hat mir das mit Raffy erzählt. Er hat gesagt, Raffy müsste fliehen.«

»Lucas?«, schnaubte Raffy. »Der hat doch allen erzählt, dass ich verrückt bin und dass ich nichts weiter gefunden habe als eine unbedeutende Panne und dass ich Wahnvorstellungen hätte …« Und noch während er sprach, wurde ihm bewusst, was er da sagte, wurde ihm bewusst, was Lucas die ganze Zeit getan hatte. »Lucas?«, murmelte er. »Lucas? Die ganze Zeit?«

»Wer ist Lucas?«, fragte Linus erregt. »Sag es mir.«

»Lucas ist mein Bruder.«

»Aber er kann es nicht sein. Er war ja noch ein Junge, als euer Vater …«

»Er war fünfzehn«, erklärte Evie. »Er hat die Schule verlassen und von da an für die Regierung gearbeitet. Alle haben gesagt, er tut das, weil es ihm peinlich ist wegen seines Vaters. Weil er sich schämt.«

»Das habe ich auch gedacht«, sagte Raffy. »Ich habe ihn gehasst die ganzen Jahre.«

»Er wollte, dass du ihn hasst.« Evie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Er wollte, dass alle glauben, er schämt sich – damit niemand Verdacht schöpft.«

»Euer Vater muss ihn eingearbeitet haben, bevor …« Linus schüttelte ungläubig den Kopf.

»Bevor sie ihn umgebracht haben?« Raffys Stimme zitterte.

Linus nickte. »Es tut mir leid.« Er sah Raffy bekümmert an. »Er war ein guter Mann. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut. Aber wir werden seinen Tod rächen. Mach dir keine Sorgen. Sag mir, ist das Programm aufgeflogen? Weiß der Bruder jetzt darüber Bescheid?«

Raffy schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Ich glaube nicht. Niemand hat mir geglaubt. Lucas hat allen erzählt, dass ich verrückt bin; ich hätte selber einen Fehler eingebaut, und ich wäre voller irriger Vorstellungen, was der bewirken könnte. Dann hat er mich zu Hause eingesperrt, damit ich niemandem sonst davon erzählen konnte, damit niemand mit mir sprechen konnte.«

»Ein schlauer Bursche, dein Bruder«, meinte Linus grimmig. »Und dann?«

»Dann hat das System ihn zum K herabgestuft«, sagte Evie und bekam ein mulmiges Gefühl im Magen. Lucas. Die ganzen Jahre. Nur seinetwegen hatte das System nichts von ihr und Raffy erfahren. Hatte er nicht gesagt, dass er über sie beide Bescheid wusste und dass er sie geschützt hatte? Er musste verhindert haben, dass das System sie sah, dass es die ganze Sache herausfinden konnte. Alles, was er getan hatte, hatte einen Grund gehabt. Alles. Und sie hatte ihn ein Leben lang verachtet. »Und er ist zu mir gekommen und hat mir gesagt, wir müssten fliehen. Er hatte das schon tagelang geplant und er hatte bei meinem Vater schon nach dem Schlüssel gesucht.«

»Dein Vater ist Schlüsselhüter?«

Evie nickte.

»Dann ist der Schlüssel, den du dabeihast, echt?«

»Ja natürlich.« Evie tastete in ihrer Tasche danach und nahm ihn fest in die Hand. Aber in Gedanken war sie bei Lucas, der nun in der Stadt allein war und hinter dessen kalten Augen sich ein kleiner Junge verbarg. Ein Junge, der mitansehen musste, wie sein Vater in den Tod geführt wurde, der selbst in den Untergrund gegangen und zu einem Mann geworden war, der alle schützte außer sich selbst.

Linus stieß nachdenklich den Atem aus. »Also gut«, meinte er. »Wir müssen mit deinem Bruder sprechen. Wir müssen Verbindung zu Lucas aufnehmen.«

Lucas sah das Icon in dem Moment aufleuchten, als die Verbindung aufgebaut wurde. Er hatte gewartet, gehofft, gebangt. Es waren lange Tage und Nächte gewesen – tagsüber verborgen hinter seiner gewohnten Maske, hinter dem leeren Lächeln, der steifen Sprache, der kalten Verbindlichkeit, die ihm all die Jahre so gute Dienste geleistet hatten. Nachts dagegen fiel die Maske von ihm ab, und die Dämonen drängten an die Oberfläche, warfen ihm vor, er hätte seinen Vater enttäuscht, hätte seinen Bruder sich selbst überlassen. Er würde ihn nie wiedersehen und auch Evie nicht. Evie … Er schloss für einen Moment die Augen und wappnete sich für den Fall, dass es eine schlechte Nachricht war, falls das Allerschlimmste eingetreten war. Dann vergewisserte er sich wie immer, dass niemand in der Nähe war, dass keiner etwas sah oder Verdacht schöpfen konnte, und gab den Sicherheitscode ein, der das Programm aktivierte.

»Benutzer. Ihre Nachricht?«

»Sind wir in Sicherheit?«

»Wir sind in Sicherheit.«

»Ein Ungeheuer lebt im Norden, aber wo?«

Lucas lächelte. Sein Vater hatte die Idee gehabt, Passwörter aus den Märchen und Mythen zu verwenden, die er Lucas heimlich erzählt hatte, als der noch klein war; das war ihr Geheimnis gewesen. Niemand sonst wusste davon. Als Raffy genauso alt war wie Lucas damals, war ihr Vater schon tot. Lucas hatte es nicht fertiggebracht, seinem Bruder die Geschichten zu erzählen; er hatte Angst, dass seine Maske fallen würde. Er hatte befürchtet, Raffy könnte das Geheimnis nicht bewahren und würde dadurch alles gefährden. Aber wie viel hatte er sich und seinem Bruder damit verwehrt? Zu viel? Eine einzelne Träne lief ihm über das Gesicht und er wischte sie weg. Weinen fühlte sich jetzt ganz fremd an, wie etwas, das nur die anderen taten.

»Loch Ness.«

Pause. »Du bist nicht der, der zu sein du mich glauben gemacht hast. Damit ich weiß, ob du Freund bist oder Feind, sag mir etwas, das nur du wissen kannst.«

Lucas erstarrte. Er wusste Bescheid. Linus wusste, wer er war. Das hieß … Er holte tief Atem und ermahnte sich, ganz ruhig zu bleiben, nicht zuzulassen, dass Erleichterung sich in ihm ausbreitete, noch nicht …

»Wenn Sie diejenigen haben, von denen ich glaube, dass Sie sie haben, dann sagen Sie ihnen, sie sollen jetzt wegsehen.« Er wartete einen Augenblick. »Fragen Sie nach dem Baum. Dort haben sie sich getroffen. Niemand sonst wusste das.«

Wieder gab es eine Pause.

»Gut. Und wer bin ich?«

Lucas sah auf den Bildschirm und überlegte, was er sagen sollte, wie er erklären sollte, was er wusste und was man ihm erzählt hatte. »Mein Vater hat mir gesagt, dass Sie ein guter Mann sind, jemand, der die Zukunft verändern kann. Ich sollte Sie auf dem Laufenden halten. Er hat gesagt, ich soll meinen Bruder beschützen. Ich sollte eine Maske aufsetzen und sie erst ablegen, wenn ich wüsste, dass es so weit ist. Und Sie würden mir sagen, wann es so weit ist.«

Einige Sekunden tat sich nichts. Dann:

»Dein Bruder und das Mädchen sind in Sicherheit. Und es ist fast so weit. Wir haben uns vorbereitet. Ich brauche Informationen von dir.«

»Alles, was Sie wollen«, schrieb Lucas zurück, und seine Augen leuchteten, und sein Körper fühlte sich an, als würde ein Feuerwerk in ihm abbrennen. Weil sein Bruder in Sicherheit war, sagte er sich. Und weil es bald so weit war, sagte er sich. Aber er wusste, dass da noch etwas anderes war. Etwas, das immer da gewesen war, das ihn immer angetrieben hatte, auch wenn es immer hoffnungslos war, auch wenn er sich selbst etwas vorgemacht hatte. Evie. Seine Evie.

Er seufzte tief.

Raffys Evie.

Der Gedanke setzte ihm zu, genau so wie es ihn innerlich ausgehöhlt hatte, als er hinter die kleinen Treffen der beiden in dem hohlen Baum gekommen war. Sie waren bei Linus, sie waren zusammen; sie würden immer zusammen sein und Lucas würde immer allein sein.

Aber hier kam die Maske ins Spiel. Hier machte sich die Maske wirklich bezahlt.

»Ich werde alle Informationen beschaffen, die Sie brauchen.«

»Die Zeit rückt näher. Code 32. Nächsten Mittwoch haben wir Vollmond. Und wir haben jetzt einen Stadtschlüssel. Ich melde mich. Ende.«

Das Icon verschwand, und Lucas starrte auf die Stelle auf dem Bildschirm, wo es gewesen war und so viel Hoffnung verheißen hatte, seine einzige Verbindung zu dem Mann, für den er nun schon so lange arbeitete. Dann stand er auf, jeglicher Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht und er ging von seinem Büro zur Abteilung für Systemverwaltung.

Nächsten Mittwoch, Code 32. Er würde warten.

Evies Gefühle wirbelten durcheinander, als Linus das Kommunikationsprogramm schloss. »Und das war wirklich Lucas?«

»Das war Lucas«, sagte Raffy, der noch immer auf den Schirm starrte. Er drehte sich zu Linus um. »Und was passiert nächsten Mittwoch? Und was meinen Sie damit, es ist jetzt so weit?«

»Ich meine damit«, sagte Linus, und das vertraute Lächeln erschien endlich wieder auf seinem Gesicht, »es ist jetzt so weit, dass wir der Stadt einen Besuch abstatten. Es ist Zeit, dass wir ein bisschen Leben in die Bude bringen.«

»Dann gehen wir zurück?«, fragte Evie mit klopfendem Herzen.

»Nein, das tun wir nicht«, erwiderte Raffy. »Ich habe versprochen, dass wir nie mehr dorthin zurückgehen. Das habe ich Evie geschworen.«

»Aber ich will zurück«, beharrte Evie mit leiser Stimme.

Raffy starrte sie an. »Du willst zurück?«

»Dann wäre das ja geklärt«, rief Linus aus. »Wir haben lange gewartet, aber ich glaube, wir sind jetzt bereit.«

»Bereit wofür?«, fragte Raffy.

»Bereit, den Tod deines Vaters zu rächen. Bereit, den Bruder als das zu entlarven, was er in Wahrheit ist. Bereit, Lucas zu retten, die Bewohner der Stadt zu befreien und die Stadt zu dem zu machen, was sie schon immer hätte sein sollen.«

»Aber die Polizeigarde …«, protestierte Raffy. »Wie sollen wir …«

»Mach dir über die Polizeigarde keine Gedanken«, unterbrach ihn Linus. »Wir nehmen ein paar Freunde mit.«

»Freunde?«, fragte Evie. »Was für Freunde?«

»Die Bösen.« Linus lächelte. »Jetzt kommt; wir haben noch einiges zu tun.«


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