Heinz Konsalik Das Schiff der Hoffnung

Kapitel 1

Karl Haußmann hatte schlecht geschlafen. Die kalte Gänsebrust mit Meerrettich zum Abendessen war zu fett gewesen und hatte ihm trotz einiger >Klarer< schwer im Magen gelegen. Außerdem war er dreimal von seiner Frau Erika gestört worden, immer dann, wenn er gerade glaubte, endlich einschlafen zu können, und jedesmal war es das alte Lied, das er nun schon seit Wochen hörte: »Karl, ich habe so einen komischen Schmerz im Leib. Wenn ich drauf drücke, meine ich, da ist etwas Hartes drin...« Und wie immer hatte er auch in dieser Nacht brummend geantwortet: »Dann geh morgen mal zu Dr. Wagenfeldt. Wozu bezahl' ich soviel Beiträge für die Krankenkasse?«

Eine Nacht also, die im nachhinein noch jetzt, am sonnigen Frühsommermorgen, auf das Gemüt drückte und ihn mißmutig, einsilbig und knurrig machte. Karl Haußmann saß auf der Terrasse seines Landhauses vor dem gedeckten Kaffeetisch, rührte in der Kaffeetasse, obgleich er wegen schwankenden Blutzuckers keinen Zucker nahm, sah über den Rasen und die Rosenrabatte seines Gartens und dachte an seinen Betrieb, an die Aufträge, an die Lohnerhöhungen und an Marion Gronau, seine Sekretärin.

Karl Haußmann war ein wohlhabender, kein reicher Mann. Solange er denken konnte, hatte er schwer gearbeitet. Sein Vater fing mit einer Eisenlackiererei an, und schon als Schuljunge hatte Karl den Lack rühren und die Eisenteile in die Trockenöfen fahren müssen. Da blieb wenig Zeit für Schularbeiten und schon gar nicht für eine höhere Schule. »Was sollen Latein und Mathematik?« sagte Vater Haußmann damals. »Wer mit Eisen umgeht, braucht keinen Tacitus, und in der Mathematik genügt es, wenn man Rechnungen ausstellen und kalkulieren kann.« So wuchs Karl Haußmann an der vordersten Front des Arbeitskampfes auf, und es hatte ihm nichts geschadet. Im Gegenteil! Schon vor dem Krieg verlegte sich die Fa. Haußmann & Sohn, wie sie damals hieß, auf Emaillierungen, stellte Kochtöpfe und Kessel her, Herdwandungen und Kochmulden, lieferte Emailleschilder für die Wehrmacht und entwickelte sich nach dem Krieg und in den Zeiten des >Wirtschaftswunders< zu einer der angesehensten Kleinfabriken in Gelsenkirchen. Karl Haußmann war im Vorstand des Fußballclubs, stiftete Fahnen für den Turnverein, stand einem Kegelclub vor und sang 1. Baß im Gesangverein. Er baute sich am Stadtrand von Gelsenkirchen - im Grünen, wie man hier sagt -, ein Landhaus im Bungalowstil, fuhr einen Sechszylinder, konnte zu seiner Frau Erika sagen: »Rika - was fragste, ob du dir ein neues Kleid kaufen kannst; fahr' in die Stadt und laß die Rechnung ins Büro schicken!« und war mit seinem Leben zufrieden.

Ein Wendepunkt allerdings trat ein, als er bemerkte, daß seine Sekretärin Marion Gronau enge Pullover trug und daß sich unter dem Pullover allerhand abzeichnete. Als er sie ein paar Wochen später in der Registratur allein antraf und sie ungestraft küssen durfte, hatte Karl Haußmann eigentlich den Gipfel seines erfolgreichen Fabrikantenlebens erreicht. Es war komplett. Es fehlte nichts mehr.

An alles das dachte Karl Haußmann an diesem sonnigen Morgen, trank seinen lauwarm gewordenen Kaffee aus und schmierte sich ein Wurstbrötchen. Im Haus, hinter der geöffneten Terrassentür, hörte er seine Frau Erika rumoren. Sie packte im Schlafzimmer zum viertenmal den großen Koffer und sortierte ihre Kleider. Aus dem großen Wohnzimmer, das man jetzt Wohnhalle nennt, brummte der Staubsauger. Dort war Friederike, die Hausgehilfin, bereits beim Putzen.

Morgen um diese Zeit sind wir schon auf der Autobahn bei Köln oder - wenn gutes Wetter ist und man auf den Knorpel drücken kann - schon über Koblenz hinaus, dachte Karl Haußmann. Übernachtung in Basel, dann am zweiten Tag durch die Schweiz und entlang am Lago Maggiore bis Como und am dritten Tag über Mailand, Parma und Bologna nach Rimini. Und dann nichts wie faulenzen, in der Sonne liegen, ab und zu schwimmen, Eis essen, am Abend Rotwein trinken und pennen. Schlaf nachholen und abschalten, völlig abschalten. Keine Fabrik mehr, keine Termine, keine Sorgen um das Rohmaterial, nicht immer das traurige, faltige Gesicht von Wilhelm Sczimkinsky, dem Hauptbuchhalter aus Schalke, der nun vierzig Jahre in der Firma war und immer sagte: »Man sollte von den Abgaben leben, dann ging's uns gut!« Vier Wochen nur Sonne und blaue Adria, Sand und Musik, Wein und Schlafen. Ja, und vier Wochen lang den erfreulichen Anblick von Marion Gronau im Bikini.

Karl Haußmann schob seine Tasse weg und kratzte sich das kurz geschnittene, melierte Haar.

»Rika!« rief er nach hinten zur Schlafzimmertür. »Hör mal mit dem Sortieren auf und komm' her. Wozu machste dir eigentlich die Mühe? Was fehlt, kaufen wir in Rimini. Ist alles einkalkuliert. Du tust immer noch so, als ob wir jeden Pfennig dreimal rumdrehen und bespucken müssen, ehe wir ihn ausgeben. Komm' mal her, Rika.«

In der Schlafzimmertür erschien Erika Haußmann. Sie war eine immer noch schöne, etwas blasse Frau von fünfundvierzig Jahren, der man die beiden erwachsenen Kinder nicht ansah. Die Tochter, die Älteste, war verheiratet in Hamburg. Der Sohn Herbert, zweiundzwanzig Jahre alt, studierte in Heidelberg Medizin und war gegenwärtig mit Freunden zum Urlaub in Schweden. Erikas braune Haare waren etwas zerwühlt vom Packen und Bücken, sie atmete schneller als sonst, aber was auffiel, waren ihre großen, braunen, glänzenden Augen und die etwas bläulichroten Lippen. Augen und Lippen waren es, die das Gesicht beherrschten.

»Der Koffer ist zu klein, Karl«, sagte sie und setzte sich seufzend neben ihren Mann auf den weißlackierten Gartenstuhl. »Und ich habe bestimmt nur das Allernötigste herausgelegt.«

»Wirf alles 'raus und kauf dir in Rimini Neues. Und das schicken wir dann per Post nach Gelsenkirchen.« Karl Haußmann suchte nach seinen Zigaretten, steckte eine an und kratzte sich dann die Nase. »Habe ich dir eigentlich gesagt, daß wir nicht allein fahren?« fragte er. Diese Frage hatte er oft für sich allein geübt, damit sie wirklich gleichgültig klang.

»Nicht allein? Wer fährt denn noch mit?« Erika Haußmann sah ihren Mann verblüfft an. Bis zum heutigen Tage hatte er immer gesagt: »Wie ich mich freue, endlich mal allein zu sein mit dir!« Und nun sollte jemand mitfahren?

»Ein Herr Hellberg fährt mit. Frank Hellberg. Ein Journalist. Du kennst ihn nicht?«

»Nein. Woher?«

»Er schreibt in der Zeitung. Artikel. Abkürzung Hb. Ein netter Junge. Er ist übrigens der Verlobte von Fräulein Gronau.«

»Das heißt, daß Fräulein Gronau auch mitfährt?« Erikas Stimme war beherrscht. Dreimal, als sie ihren Mann im Büro besuchte, hatte sie Marion Gronau in der Fabrik gesehen. Und schon beim erstenmal mißfiel ihr die Art, wie sich dieses Mädchen, die Sekretärin, ihrem Chef gegenüber benahm. Wenn sie saß, rutschte der Rock bis über die Schenkel hoch, und ihr Lächeln war impertinent, provozierend und irgendwie siegessicher.

Karl Haußmann nickte mehrmals. »Es geht nicht anders, Rika. Erstens habe ich es Hellberg versprochen, zweitens werde ich auch in Rimini ab und zu diktieren müssen...«

»Diese Briefe hätte ich auch schreiben können.«

»Ausgeschlossen! Du sollst dich erholen! Und drittens ist Fräulein Gronau eine Perle als Sekretärin. Perlen verliert man nicht gern. Und wer weiß, wie die anderen Firmen sind, was sie bieten, wie sie abwerben. Ich bin froh, daß Fräulein Gronau der Firma die Treue hält.«

»Und woher kennst du diesen Herrn Hellberg?«

Auf diese Frage war Karl Haußmann nicht vorbereitet. Er sah erschrocken dem Rauch seiner Zigarette nach und antwortete dann: »Von Fräulein Gronau.«

»Dachte ich mir.« Erika stand auf. »Wäre es nicht besser, ich kümmere mich überhaupt nicht um das Packen, sondern ihr fahrt allein nach Rimini?«

»Was ist denn das nun wieder?« Haußmann zerdrückte seine Zigarette und sprang auf. Wenn Männer im Unrecht sind, werden sie laut. Das ist eine altbekannte Tatsache, aber trotzdem geschieht es immer wieder. Auch Karl Haußmann hob seine Stimme und war beleidigt. »Was ist das für eine dumme Rederei?«

»Diese Marion Gronau gefällt mir nicht!« rief Erika.

»Vielleicht gefällst du ihr auch nicht, dann gleicht sich das aus!« rief Haußmann zurück. »Verdammt noch mal, ich fahre in die Fabrik, da höre ich wenigstens kein Gewäsch.«

Erika schwieg. Sie hatte die Hände vor den Leib gefaltet und sah ihren Mann stumm an. Sie kannte Karl nun schon seit 26 Jahren. Neunzehn war sie alt gewesen, als sie den jungen Fabrikantensohn beim Tanzen in der Stadthalle kennenlernte. Man heiratete schnell, man liebte sich mit dem Feuer der Jugend, die Kinder kamen, und dann wurde die Ehe ruhiger, eine Art Gewohnheit, mit wenigen Zärtlichkeiten, die dann auch untergingen und durch Pelze und Schmuck ersetzt wurden. Eine Alltagsehe zwischen geblümten Tapeten. Und die Freundinnen sagten: »Du hast es gut, Erika. Ein Haus, Geld, Schmuck, ein Auto, kannst dir alles kaufen. Mußt du glücklich sein.«

Sechsundzwanzig Jahre, da lernt man einen Mann kennen. Und als Erika nun sah, wie Karl unruhig an seinem Schlips zog und das Thema Marion Gronau ihm sichtlich unbehaglich war, mußte sie schmerzlich lächeln und dachte ein wenig mitleidig: Welch ein Gockel bist du doch, Karl. Fünfzig Jahre bist du. Hast einen Bauch. Dein Kreislauf ist labil. Und wenn du drei Kniebeugen machst, keuchst du wie ein Blasebalg mit Loch. Aber sobald dir ein junges Mädchen entgegenkommt, machst du ein hohles Kreuz, trägst den Kopf steif, gehst du forscher, und deine Äuglein glänzen. Daß du nicht siehst, wie lächerlich das ist. Diese Marion Gronau ist dreiundzwanzig Jahre alt. Jünger als deine Tochter, Karl! Und wenn sie dir schöne Augen macht, dann nur, weil du der Chef bist, weil du Geld hast, weil sie sich etwas von deinem Erfolg erhofft. Und du glaubst wirklich, daß du als Mann auf sie einen Eindruck machst. O armer Karl! Wir zwei sind zusammen alt geworden, mich stört nicht dein Bauch und dein Schnarchen in der Nacht, und ich weiß, welche Pillen du zur Verdauung nehmen mußt und welche Tropfen nach dem Essen für deine Galle. Ob auch Marion Gronau das weiß? Ob sie deinen Bauch schön fände, wenn er nicht mit Gold lackiert wäre? Du bist ein alter Esel, Karl!

»Ich gehe ins Büro!« sagte Karl Haußmann noch einmal scharf. »Der ganze schöne Morgen ist mir versaut durch deine dumme Rederei! Aber wie du willst, ich blase die Reise ab. Wir fahren nicht. Ich kann mich auch hier auf der Terrasse erholen und in meinem Bett ausschlafen. Was das aber für einen Eindruck macht, jetzt, einen Tag vorher.«

»Wir fahren, Karl. Natürlich fahren wir.« Erika versuchte ein versöhnliches Lächeln. »Die jungen Leute werden sich sowieso in Rimini absondern und haben ihre eigenen Probleme.«

»Na klar«, brummte Haußmann. Der Gedanke, daß so etwas wirklich eintreffen könnte, behagte ihm gar nicht.

»Paßt dir überhaupt noch deine Badehose?«

»Warum nicht?«

»Du bist im letzten Jahr dicker geworden.«

Karl Haußmann strich sich über seinen Bauch. Wie sagte Marion Gronau, dachte er. »Ich habe eine Schwäche für stattliche Herren.« Ein wundervolles Mädchen, diese Marion. Sie wirkt wie Sekt.

»Es wird in Rimini schon eine passende Hose geben«, sagte er laut. »Also: Fahren wir oder nicht?«

»Natürlich fahren wir. Nur ... ich habe Angst.« Erika lehnte sich an die Hauswand. Ihre bläulichen Lippen zuckten. »Die lange Fahrt . ob ich sie durchhalte? Heute nacht war es wieder ganz schlimm im Leib. Und heute morgen ist mir zweimal schwindlig geworden.«

»Die Wechseljahre.« Karl Haußmann zog seine Jacke an und sah auf seine Armbanduhr. 9.30 Uhr. Jetzt war die Post sortiert, und Marion wartete, um sie ihm vorzulegen. Karl Haußmann hatte es nun eilig, in die Fabrik zu kommen. Bei der Postdurchsicht waren er und Marion zwanzig Minuten allein. Da bekam er seinen Morgenkuß, Marion setzte sich ihm auf den Schoß, und er durfte ihre Beine streicheln. Bis zum Strumpfende. Dann schlug sie ihm auf die Finger und sagte mit einem süßen Lächeln: »Aber Herr Direktor.« In Rimini sollte das anders werden, verdammt noch mal. Und Marion Gronau hatte angedeutet, daß südliche Nächte, Chiantiwein und Mandolinenklang sie ganz schwach werden ließen.

»Geh zum Arzt!« sagte er zu seiner Frau, tätschelte ihr die Wange und ging zur Wohnhallentür.

»Der Arzt sagt immer nur, es sind die Nerven.«

»Ein kluger Mann. Natürlich sind's die Nerven. Dir fehlt gar nichts! Wie gesagt, die Wechseljahre. Da wird man knötterig und nervös, die Fliege an der Wand ärgert einen - Hysterie nennt man so etwas, Rika! Aber das geht vorbei. Du sollst sehen: Rimini, das Meer, der weiße Sand. Himmel, schon halb zehn! Ich muß ins Büro!«

Karl Haußmann gab seinem fülligen Körper etwas Schwung, lief durch die Wohnhalle, übersprang den Schlauch des Staubsaugers und zwang sich, nicht gleich wieder kurzatmig zu keuchen. Wenig später brummte der große Wagen aus der Garage und entfernte sich in Richtung Gelsenkirchen.

Erika Haußmann setzte sich auf die Bettkante und blickte über die ausgebreiteten Kleider und die Wäsche, die sie mitnehmen wollte. Auch zwei Badeanzüge waren dabei, mit tiefen Rückenausschnitten. Sie beugte sich vor, zog sie zu sich und hielt sie hoch. Sind sie nicht zu jugendlich für mich, dachte sie. Ich bin fünfundvierzig Jahre und keine zwanzig. Kann ich mit solcher Rückenfreiheit noch gehen? Und auch an der Brust ist der Badeanzug ausgeschnitten.

Sie stand auf, ging zu dem großen, bis auf die Erde reichenden Spiegel, drehte sich und betrachtete ihre Figur.

Dafür, daß ich zwei erwachsene Kinder habe, sehe ich noch gut aus, dachte sie. Kein Fleckchen welke Haut, keine Fettpölsterchen, keine tiefen Falten. Schlanke Beine habe ich, und meine Brüste sind rund und in den Haltern straff. Ich habe kein Fett an den Hüften und kein Doppelkinn.

Aber sie ist dreiundzwanzig Jahre, diese Marion Gronau. Der Hauch der Jugend umweht sie. Wenn sie geht, vibriert ihr Körper. Vielleicht hat sie gar keinen Halter nötig und über ihrer zarten Haut liegt noch der samtweiche Flaum. Auch ich war einmal dreiundzwanzig, und ich war hübscher als sie.

Erika Haußmann warf die beiden Badeanzüge auf das Bett, ging zum Telefon und rief ein Sportgeschäft in Gelsenkirchen an.

»Ich komme in einer Stunde zu Ihnen«, sagte sie mit entschlossener Stimme. »Bitte legen Sie mir in meiner Größe, Sie kennen sie ja, 38, eine Auswahl Bikinis zurück. Ja, Bikinis, die schönsten, die Sie haben. Ja, von mir aus die ganz modernen, auch wenn sie verrückt sind. Ich probiere sie nachher an. Schönen Dank, bis später.«

Dann saß sie wieder auf der Bettkante inmitten von Kleidern, Schuhen, Unterwäsche und Blusen, starrte auf den Koffer und dann hinaus in den sonnenüberfluteten Garten und hatte beide Hände auf den Leib gelegt.

Er schmerzte wieder. Er fühlte sich an, als sei in seinem Inneren ein runder, harter Kloß. Und wieder stieg die Angst in ihr auf, diese lähmende, das Herz umkrampfende Angst: Ist es Krebs? Bin ich schon vom Tode gezeichnet?

Und weil sie diese Angst hatte, ging sie nicht mehr zum Arzt. Sie wollte die Wahrheit nicht wissen. Sie wollte, solange es ging, bei ihrem Mann bleiben. Sie zwang sich, stark zu sein und nicht an ihre Angst zu denken.

Gerade jetzt nicht, wo es in ihrem Leben eine Marion Gronau gab.

Die Emaillewerke Haußmann & Sohn lagen in der Nähe der Zechen und Eisenwerke in Gelsenkirchen-Schalke und waren nur ein kleiner Komplex im Vergleich zu den großen Konzernen. Aber so, wie das Bankhaus Morgan eines der kleinsten, aber gesündesten Häuser in der New Yorker Wall Street ist, war auch die Emaillefabrik Haußmann & Sohn stabil und krisenfest. Haußmann beschäftigte 150 Arbeiter und Angestellte, hatte nie Krach mit der Gewerkschaft bekommen und ließ keinen Zweifel daran, daß er selbst einmal an der Maschine gestanden hatte, zehn Stunden lang stanzte und von vier Butterbroten und Malzkaffee oder einer Bohnensuppe im Henkelmann lebte. »Mir kann keiner was vormachen!« sagte er immer. »Ich kenne, wie's ist, wenn einem das Kreuz weh tut und man noch vier Stunden abkloppen muß!«

Marion Gronau wartete schon mit der Post, als Haußmann sein Privatbüro betrat, vorher den sauertöpfischen Hauptbuchhalter und Prokuristen Sczimkinsky begrüßt und zu dem technischen Leiter, der ihn sprechen wollte, gesagt hatte: »In einer halben Stunde, mein Lieber.«

»Du kommst spät«, sagte Marion, als sie allein im Chefbüro waren. Sie tat etwas beleidigt, warf die Post auf den großen Mahagonitisch und lehnte sich an die Wand, statt sich auf Haußmanns Knie zu setzen. Sie trug ein aufregendes, zitronengelbes Kleid mit tiefem, rundem Ausschnitt, in dem man die Ansätze ihrer Brüste sah. Hauß-mann setzte sich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete ein paarmal tief ein. Dann sagte er: »Komm, Küßchen...«

»Hast du es ihr gesagt?« fragte Marion und blieb stehen.

»Natürlich!«

»Und wie hat sie es aufgenommen?«

»Wie soll sie es aufnehmen? Ich bin der Herr im Haus. Ich habe ihr es klipp und klar gesagt und bin gegangen. Wozu lange Kommentare?«

»Ahnt sie etwas?«

»Ich weiß es nicht. Und wenn.«

»Was heißt: Und wenn? Du weißt, daß ich keinen Skandal will. Ich liebe dich ... aber ohne Aufsehen, Karl.«

»Aufsehen!« Haußmann trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Wenn Erika etwas merkt, werden wir uns aussprechen und dann die Konsequenzen ziehen. Die Kinder sind groß und aus dem Haus. Erika hat das Haus - ich werde ihr das Haus natürlich überschreiben - und bekommt eine anständige Rente. Was steht also einer Scheidung im Wege? Einer stillen, ganz unsensationellen Scheidung?«

»Und dann?«

»Dann heiraten wir, Marionmäuschen. Was sonst?«

Marion Gronau schwieg. Sie konnte darauf keine Antwort geben. Ihre Pläne lagen anders. Ein so hübsches Mädchen wie ich muß beweglich sein, dachte sie stets. Für das Herz ist Frank Hellberg ge-rade der Richtige. Für das Portemonnaie sorgt Karl Haußmann. Man müßte ihn so weit bekommen, daß er es als eine Patentlösung aller Probleme ansieht, wenn ich Frank Hellberg heirate und doch noch sein Bürokätzchen bleibe. Aber alles das wird die Zeit bringen; man soll nichts übereilen, vor allem, wenn es um Geld und Liebe geht.

»Komm, Küßchen!« sagte Haußmann wieder und spitzte die Lippen. Er ärgerte sich noch über die schlecht geschlafene Nacht, über Erikas hysterische Beschwerden und über den Gedanken, daß Hellberg in Rimini tatsächlich die Rechte eines Bräutigams wahrnehmen könnte. »Du mußt heute besonders lieb zu mir sein, denn ich habe Ärger.«

»Mein armes Bärchen!« sagte Marion betont zärtlich, gab Hauß-mann einen Kuß, ließ sich über die Hüften streicheln, umfing ihn dann von hinten und rieb ihr Gesicht an seiner linken Wange. »Mir fehlt ein schickes Sommerkostüm, Bärchen«, sagte sie und biß ihm ins Ohr. Haußmann röchelte vor Wonne und schnappte nach Luft.

»Kauf es dir, mein Liebling.«

»Und ein Sonnenkleid?«

»Auch.« Er hielt ihren Kopf fest, als sie ihn zurückziehen wollte, und drehte sich um. »Wann sind wir länger zusammen, Marion. Wann ... wann sind wir einmal allein ... ganz allein ... nur wir zwei. Ich bin noch kein alter, morscher Holzklotz, Marion. Ich habe dich wirklich lieb.«

»Vielleicht in Rimini...« Sie befreite sich mit einem Ruck aus Hausmanns Händen, wich zurück zur Wand, ordnete ihre Haare und nahm die Briefmappe wieder vom Tisch. »Draußen wartet Obermeister Henkes, du wolltest ihn sprechen«, sagte sie mit veränderter, nüchterner, dienstlicher Stimme.

Haußmann strich sich mit zitternden Händen über Haare und Gesicht. Sein Herz zuckte und lag wie ein Eisenklotz in der Brust. Es war zentnerschwer von der Sehnsucht nach Marions Jugend.

»Er kann gleich kommen. Was sagt dein Verlobter Hellberg zu der Reise?« »Er freut sich wie ein kleiner Junge. Er will die Fahrt gleich mit der Reportage über das Dolce vita an der Adria verbinden. Er kommt übrigens nachher zu dir, um dir zu danken und die Reise zu besprechen.«

Karl Haußmann nickte. Er blätterte die Post durch, ohne aufzunehmen, was er las. Es waren Worte, die an seinem Auge lediglich vorbeiglitten.

Rimini, dachte er nur. In Rimini wird sie mir gehören. Sie hat es jetzt versprochen. Drei Tage noch ... drei lange, lange Tage. Was dann kam, war ihm völlig gleichgültig. Es ist meine letzte Liebe, dachte er. Mein Schwanengesang. Von da ab werde ich ein alter Mann sein und von den Erinnerungen leben. Aber diese eine, diese letzte Liebe werde ich mir noch erobern!

Eine Tür klappte. »Obermeister Henkes, Herr Direktor«, hörte er die Stimme Marions.

Er sah hoch. Henkes stand vor dem Schreibtisch, eine Mappe unter dem Arm. Wie durch einen Nebel sah ihn Haußmann.

»Die neuen Emaillemuster, Chef«, sagte Henkes. »Sie wollten sie doch noch vor Ihrem Urlaub sehen.«

Emaillemuster. Emaille. Wie kann dieser Mensch von Emaille sprechen, wenn seinem Chef das Herz überläuft?

»Zeigen Sie her, Henkes!« sagte Haußmann mit müder Stimme. »Heißer Tag heute, was? Die Luft steht ja. Ist Ihnen auch so dusselig im Kopf?«

»Nein, Chef. Ich nehme, wenn ich's merke, immer 'n Korn.«

»Das ist gut, Henkes. Bringen Sie mir nachher auch einen. Und nun zu den Mustern.«

Der Alltag floß weiter. Bei Haußmann & Sohn, in Gelsenkirchen, im Ruhrgebiet, in Deutschland, in der Welt. Ein Alltag mit Millionen kleinen Schicksalen, die niemand kennt.

Wie reich ist unser Leben an Ereignissen.

Man sehe nur sich selbst an.

Der Journalist Frank Hellberg war ein Mann von sechsundzwanzig Jahren, der es nie aufgegeben hatte, von der Karriere eines ganz großen Journalisten zu träumen. Nur Glück brauchte man dazu; das Können besaß er. Ein Interview mit Mao Tse-tung oder de Gaulle, die Aufdeckung eines weltweiten Skandals auf der Linie der Christine Keeler oder der Bericht über eine verborgene Sensation - das waren, um in der Fachsprache zu bleiben, >Knüller<, von denen Frank Hellberg träumte. Bis jetzt schrieb er Lokalberichte und wurde ab und zu nach Düsseldorf in den Landtag geschickt, weil er satirisch schreiben konnte und man Politiker am besten satirisch betrachtet. Er verdiente leidlich, nach Tarif, hatte es sich abgewöhnt, über rätselschwangere Entscheidungen des Chefredakteurs oder des Verlegers nachzudenken, und war ein kleines, surrendes Rädchen in der großen Maschinerie des Zeitungskonzerns.

Frank Hellberg hatte Marion Gronau am Baldeney-See bei Essen kennengelernt. An einem Sonntag am Steg der Segelboote. Er hatte in der Sonne gesessen, die Beine ausgestreckt und war aus seinem Dösen herausgerissen worden durch eine helle Mädchenstimme: »Nehmen Sie mal die Beine weg! Oder haben Sie den Bootssteg gepachtet?« Aus einer anfangs zornigen Unterhaltung entwickelte sich ein schöner Sonntagnachmittag, bis man drei Monate später Verlobung feierte. Hellberg nannte sich glücklich, er liebte Marion ehrlich und glaubte, daß er der Mann sei, auf den sie bisher gewartet hatte. Sie waren ja auch äußerlich ein ideales Paar. Beide schlank und sportlich, mit blonden Haaren und lebenslustig.

Karl Haußmann war noch immer in schlechter Stimmung, als Hellberg zu ihm kam, und die miese Laune sank noch tiefer, als Frank seiner Marion in der Tür einen Kuß gab.

»Ich finde es großartig von Ihnen, Herr Haußmann«, sagte Hellberg später bei einer Zigarette und einem Kognak, »daß Sie uns mitnehmen. Von mir aus hätte ich mir solch eine Reise nie leisten können. Das Teuerste ist ja immer die Fahrt. Aber für das tägliche Leben habe ich mir ein paar Scheinchen gespart. Hoffentlich schluckt das Hotelzimmer nicht so viel.«

»Wir wohnen im Hotel >Palma<«, sagte Haußmann leichthin. »Mit das beste am Platze.«

»O Himmel, ich sehe schwarz!« rief Hellberg.

»Keine Sorge. Fräulein Gronau hat mich unterrichtet. Ich habe für Sie ein Zimmer in der >Pensione Luigi< reservieren lassen. Zwar etwas entfernt vom >Palma<, aber was sind Entfernungen im Urlaub, nicht wahr? Fräulein Gronau wohnt mit uns im >Palma<.« Haußmann lächelte Hellberg freundlich an. »Sie fährt ja halbgeschäftlich mit, ich werde diktieren müssen und disponieren, und die Firma gibt einen Urlaubszuschuß. Es macht Ihnen doch nichts aus, Herr Hellberg?«

»Aber nein, nein!« Hellberg hob die Schultern. »Es ist schon ein riesiges Entgegenkommen von Ihnen, mich umsonst mitzunehmen. Und für Liebende - Sie sagten es schon - gibt es keine Entfernungen.«

Er lachte, aber Haußmann lachte nicht mit. Junger, unreifer Affe, dachte er böse. Was Marion nur an ihm findet? Nun ja, jung ist er. Aber dagegen habe ich im Leben etwas erreicht, aus eigener Kraft, und bin eine Persönlichkeit. Und in Rimini werde ich auch zum glühenden Liebhaber werden. Fünfzig Jahre ... das ist doch noch kein Alter!

Hellberg blieb eine halbe Stunde bei Karl Haußmann und verabschiedete sich dann. Man hatte abgesprochen, daß er mit Marion morgens um 7 Uhr bei Haußmanns sein wollte. Die große gemeinsame Reise sollte möglichst frühzeitig beginnen.

Im Flur vor dem Chefbüro fing ihn Marion ab. Sie fiel ihm um den Hals, küßte ihn und hakte sich bei ihm unter. »Ich freue mich ja so auf Rimini!« sagte sie mit schnurrender Stimme. »Es wird herrlich werden, Frank.«

»Leider wohnen wir weit auseinander, wie dein Chef sagt.«

»Was tut's?« Sie lachte und wiegte sich in den Hüften. »Zwischen dem >Palma< und der >Pensione Luigi< sind zwei Kilometer Pinienwälder. Ich habe in Prospekten nachgesehen. Und nirgendwo ist eine Nacht schöner als unter Sternen in einem Pinienwald.« »Du bist zauberhaft frivol«, sagte Frank Hellberg. »Heiraten wir Weihnachten? Ich soll ab nächstes Jahr mehr Gehalt bekommen.«

»Zuerst kommt der Sommer, Franky.« Marion Gronau hakte sich wieder aus. Man kam in den allgemeinen Bürotrakt. »Du holst mich um halb sieben ab? Hast du schon gepackt?«

»Alles! Zwei Badehosen, eine Zahnbürste, drei Perlonhemden, zwei knitterfreie Hosen, zwei Paar Sandalen, einen Pullover. Eine ganze Aktentasche voll. Es ist alles so herrlich unkompliziert, wenn man nichts hat. Tschüs, Liebling!«

Er winkte Marion zu und lief dann die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend; ein großer, fröhlicher, unbekümmerter, lieber Junge, der sich freut, daß er verliebt ist.

Sinnend blickte ihm Marion Gronau nach.

Wenn er wüßte, wie alles in Wirklichkeit ist, dachte sie. Vielleicht werde ich ihn heiraten, denn eine Scheidung Haußmanns will ich nicht. So etwas belastet immer. Anders wäre es, wenn Erika Haußmann sterben würde ... zu dem Witwer Haußmann würde ich sofort ja sagen.

Sie wandte sich ab und ging in ihr Büro zurück.

Dumme Gedanken, so etwas, empfand sie. Erika Haußmann ist eine noch hübsche und gesunde Frau. Warum sollte sie in absehbarer Zeit sterben? Sie ist nicht krank, sie hat keinerlei Beschwerden, sonst hätte es Karl längst erzählt. Sie kann noch dreißig Jahre leben.

Als sie in ihr Zimmer zurückkam, leuchtete schon das rote Lämpchen über der Tür. Zum Diktat, hieß das.

Marion Gronau sah in den Spiegel, lockerte ihre blonden Haare etwas und strich mit dem angefeuchteten Zeigefinger über die Augenbrauen.

Zum Diktat beim Chef. das hieß wieder »Küßchen!« und »Liebst du mich, mein Spatz?«

Wie närrisch doch manchmal alternde Männer sind.

An diesem Vormittag kaufte Erika Haußmann in dem Sportgeschäft in Gelsenkirchen zwei aufregende, moderne Bikinis. Als sie sich im Spiegel der Ankleidekabine sah, war sie selbst verblüfft darüber, wie jugendlich sie aussah, wie ebenmäßig ihr Körper war und wie verführerisch ihre Brüste in dem knappen Oberteil wirkten. Und ich bin eine Mutter von zwei erwachsenen Kindern, dachte sie. Im nächsten Jahr vielleicht schon Großmutter. Was wird Karl sagen, wenn er mich so sieht? Staunen wird er. Vielleicht ist es ein Fehler, daß er mich in den letzten Jahren nie so gesehen hat. Es ist falsch, zu denken, als Mutter erwachsener Kinder müsse man sich bescheiden und immer nur seriös erscheinen. Männer lieben das Abenteuer, da ist Karl keine Ausnahme. Auch wenn es >nur< das neu entdeckte Abenteuer bei der eigenen Frau ist.

Sie kaufte die Bikinis natürlich, aber dann spürte sie plötzlich eine große Schwäche in sich hochsteigen. Sie mußte sich setzen, es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie kam wieder zu sich, als die Verkäuferin ihr ein Glas kaltes Wasser an die bläulichen Lippen hielt und sie anrief:»Ist es jetzt besser, gnädige Frau? Soll ich eine Taxe rufen? Bitte, trinken Sie. Das wird Ihnen guttun.«

»Danke, danke.«, stammelte Erika Haußmann und stand mit letzter Kraft und unsäglicher Mühe auf. Verstohlen blickte sie in einen der herumstehenden Spiegel und sah schnell wieder weg.

Ein bleiches, wie verfallenes Gesicht. Blaue Lippen. Tiefe Ränder unter den Augen. Ein erschreckender Anblick.

»Es geht schon, Fräulein, es geht schon«, sagte sie mit mühsam fester Stimme. »Ein kleiner Schwächeanfall. Mir sitzt noch immer eine verschleppte Grippe in den Knochen . deshalb wollen wir ja auch in den warmen Süden.«

Erst im Wagen ließ ihre Kraft wieder nach, sie saß, in die Polster zurückgelehnt, fast eine halbe Stunde, ehe sie fähig war, wieder selbst zu fahren.

Zu Dr. Wagenfeldt, dachte sie. Ich muß zu Dr. Wagenfeldt.

Aber dann fuhr sie doch nach Hause und legte sich auf die Couch. Wie immer hatte sie Angst vor der Wahrheit. Auch wenn heute die

Krebsbehandlung große Fortschritte gemacht hatte und eine Heilung oft möglich war, sofern man die Krankheit rechtzeitig erkannte, wußte sie nicht, wie sie es ertragen würde, wenn Dr. Wagenfeldt zu ihr sagte: »Keine Sorge, Frau Haußmann. Es ist nur ein harmloses Gewächs im Leib.«

Und dann würde man operieren und später bestrahlen und sie hinterher zur Kur schicken. Aber keiner würde ihr sagen, ob es nicht schon zu spät war.

Nur eins war sicher: Karl würde monatelang allein mit Marion Gronau sein.

Erika Haußmann schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen.

Nein, ich gehe nicht zum Arzt, sagte sie sich. Ich lasse es darauf ankommen. Solange ich lebe, werde ich um Karl kämpfen. Ich will nicht schon zu Lebzeiten begraben werden.

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