XI

Da jetzt nicht mehr nur sein Cephskop, sondern sein Wagen reif für eine Reparatur war, fuhr er am nächsten Morgen mit dem Taxi bei der Schlosserei Englesohn vor, vierzig Dollar in bar in der Tasche und eine gute Dosis Besorgnis im Herzen.

Der Laden hatte eine altertümliche, hölzerne Ausstrahlung; zwar war das Ladenschild eher modern gehalten, aber in den Schaufenstern lagen seltsame messingne Zierstücke von einer Art aus, wie man sie bei einer Schlosserei eben erwarten konnte: irre zierliche Briefkästen, ausgeflippte Türknäufe, die so geformt waren, daß sie menschlichen Köpfen ähnelten, große Attrappen schwarzer, eiserner Schlüssel. Er trat ein. Halbdunkel umgab ihn. Wie in der Bude eines Dopers, dachte er und genoß die Ironie.

An einem Ladentisch, der von zwei großen Maschinen zum Fräsen und Polieren von Schlüsselbärten und Tausenden von unfertigen, von Gestellen herabbaumelnden Schlüsseln überragt wurde, begrüßte ihn eine ältliche, mollige Dame. »Guten Morgen, Sir. Sie wünschen?«

Arctor sagte: »Ich bin hier …


Ihr Instrumente freilich spottet mein,

Mit Rad und Kämmen, Walz’ und Bügel:

Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein;

Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel[4]


um einen von mir ausgestellten Scheck auszulösen, den die Bank retourniert hat. Er ist über zwanzig Dollar, glaube ich.«

»Oh.« Die Dame holte liebenswürdig einen mit einem Deckel verschlossenen Karteikasten aus Metall unter der Theke hervor, suchte nach dem dazugehörigen Schlüssel und entdeckte dann, daß der Karteikasten gar nicht abgeschlossen war. Sie öffnete ihn und fand den Scheck auf der Stelle; ein Zettel war drangeheftet. »Mr. Arctor?«

»Ja«, sagte er, das Geld schon in der Hand.

»Ja, zwanzig Dollar.« Nachdem sie den Zettel von dem Scheck abgemacht hatte, begann sie ungelenk etwas auf den Zettel zu schreiben, wahrscheinlich eine Notiz, daß er aufgetaucht war und seinen Scheck ausgelöst hatte.

»Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er zu ihr, »aber ich habe durch ein Versehen den Scheck statt auf mein derzeitiges Konto auf ein längst erloschenes ausgestellt.«

»Ummm«, sagte die Dame lächelnd, während sie schrieb.

»Ich wäre Ihnen zudem sehr verbunden«, sagte er, »wenn Sie Ihrem Gatten, der mich kürzlich angerufen hat, sagen könnten –«

»Mein Bruder Carl«, sagte die Dame, »um genau zu sein.« Sie warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu. »Falls Carl mit Ihnen gesprochen hat…« Sie gestikulierte lächelnd. »Er regt sich manchmal so auf, wenn es um Schecks geht … ich möchte mich in seinem Namen entschuldigen, falls er ein wenig heftig … Sie wissen schon.«

»Sagen Sie ihm bitte«, spulte Arctor seine auswendig gelernte Ansprache ab, »daß ich zu dem Zeitpunkt, als er anrief, selbst etwas durcheinander war, und daß auch ich mich meinerseits für mein Verhalten entschuldigen möchte.«

»Ich glaube, er sagte irgend etwas davon, ja.« Sie gab ihm den Scheck; er gab ihr zwanzig Dollar.

»Irgendwelche Nebenkosten?« sagte Arctor.

»Keine Nebenkosten.«

»Ich war durcheinander«, sagte er und warf einen kurzen Blick auf den Scheck, um ihn dann in seiner Tasche verschwinden zu lassen, »weil ein Freund von mir gerade unerwartet verstorben war.«

»Du meine Güte«, sagte die Dame.

Ohne selbst so recht zu wissen, warum er eigentlich seinen Abgang immer noch hinauszögerte, sagte Arctor: »Er ist erstickt, ganz allein in seinem Zimmer, an einem Stück Fleisch. Niemand hat ihn gehört.«

»Wußten Sie, daß sich mehr solcher Todesfälle ereignen, als die meisten Leute ahnen? Ich habe gelesen, daß, wenn man mit einem Freund diniert und dieser eine Zeit lang nichts sagt, sondern einfach nur dasitzt, man sich vorbeugen und ihn fragen soll, ob er sprechen kann. Weil er nämlich vielleicht nicht mehr dazu in der Lage ist. Stellen Sie sich das nur vor – er mag ersticken und kann es einem nicht einmal sagen.«

»Ja«, sagte Arctor. »Danke. Das ist wahr. Und danke wegen des Schecks.«

»Das tut mir leid, das mit Ihrem Freund«, sagte die Dame.

»Ja«, sagte er. »Er war wohl der beste Freund, den ich hatte.«

»Das ist ja ganz schrecklich«, sagte die Dame. »Wie alt war er denn, Mr. Arctor?«

»Anfang Dreißig«, sagte Arctor, was auch stimmte: Luckman war zweiunddreißig.

»Oh, wie furchtbar. Ich werde es Carl erzählen. Und vielen Dank, daß Sie den langen Weg hier heruntergekommen sind.«

»Ich habe Ihnen zu danken«, sagte Arctor. »Und sagen Sie bitte auch Mr. Englesohn meinen aufrichten Dank. Ich bin Ihnen beiden ja so dankbar.« Er verließ den Laden und trat wieder hinaus auf den warmen, morgendlichen Bürgersteig. Das grelle Licht und die dumpfige Luft ließen ihn blinzeln.

Er bestellte sich telefonisch ein Taxi, und auf der Rückfahrt zu seinem Haus saß er einfach nur da und lobte sich selbst dafür, wie gut er doch aus diesem von Barris gesponnenen Netz herausgekommen war, ganz ohne häßlichen Eklat. Hätte ein ganzes Stück schlimmer kommen können, machte er sich selber klar. Der Scheck war immer noch da. Und ich mußte nicht dem Macker selbst gegenübertreten.

Er holte den Scheck hervor, um nachzusehen, wie gut es Barris gelungen war, seine Handschrift nachzuahmen. Ja, es handelte sich tatsächlich um ein aufgelöstes Konto; er erkannte die Farbe des Schecks auf der Stelle, ein endgültig geschlossenes Konto, und die Bank hatte einen Stempel mit den Worten KONTO ERLOSCHEN daraufgedrückt. Er fragte sich, ob der Schlosser daraufhin wohl ausgeflippt war. Und dann, als er den Scheck genau betrachtete, während sich das Taxi einen Weg durch das Verkehrsgewühl suchte, sah Arctor, daß die Handschrift seine war.

Sie erinnerte nicht im geringsten an die von Barris. Eine perfekte Fälschung. Er hätte nie und nimmer darauf kommen können, daß es nicht seine eigene Schrift war, außer dadurch, daß er sich daran erinnerte, diesen Scheck nicht ausgestellt zu haben.

Mein Gott, dachte er, wie viele dieser Schecks hat Barris bis heute wohl schon in Umlauf gesetzt? Vielleicht hat er mich längst um die Hälfte all dessen gebracht, was ich besitze!

Barris, dachte er, ist ein Genie. Andererseits könnte er die Schrift natürlich durchgepaust oder jedenfalls auf mechanischem Wege kopiert haben, etwa mit einem Pantographen. Aber ich habe doch nie einen Scheck für diese Schlosserei Englesohn ausgestellt … wie also könnte es eine auf mechanischem Wege hergestellte Fälschung sein? Für diesen Scheck gibt es doch keine Vorlage. Ich werde ihn rüber zur graphologischen Abteilung schicken, entschied er. Sollen die doch herausknobeln, wie es gemacht worden ist. Vielleicht nur Übung, Übung, Übung.

Und was den Schwindel mit den Pilzen anging –

Er dachte: Ich werde einfach direkt auf ihn zugehen und ihm sagen, daß mehrere Leute mir erzählt hätten, er habe versucht, ihnen Pilz-Hits zu verkaufen. Und daß er Schluß mit diesem Scheiß machen sollte. Genau – ich habe eine Rückfrage von jemanden bekommen, der sich wegen der Pilz-Hits Sorgen machte. Was ja auch nur zu verständlich ist.

Aber diese ganzen Einzelpunkte, dachte er, sind letztlich doch nur zufällige Indikatoren für das, was er eigentlich vorhat. Was ich bei der ersten Durchsicht der Bänder entdeckt habe, stellt nur eine Zufallsauswahl aus der Gesamtheit dessen dar, gegen das ich angehen muß. Weiß der Himmel, was er sonst noch alles angestellt hat: Schließlich hat er alle Zeit der Welt zur Verfügung gehabt, um herumzustöbern und Nachschlagewerke zu lesen und Anschläge und Intrigen und Verschwörungen und was nicht noch alles sonst auszuhecken … Vielleicht, dachte er übergangslos, sollte ich besser mein Telefon durchchecken lassen, um zu sehen, ob es angezapft ist. Barris hat eine ganze Kiste voller elektronischer Bauteile, und sogar eine Firma wie Sony hat beispielsweise eine Induktionsspule auf den Markt gebracht, die als Anzapfvorrichtung für ein Telefon verwendet werden kann. Wahrscheinlich ist das Telefon tatsächlich angezapft. Möglicherweise schon seit geraumer Zeit.

Ich meine, dachte er, zusätzlich zu der kürzlich mit meinem Einverständnis vorgenommenen – der notwendigen – Anzapfung.

Erneut studierte er den Scheck, während das Taxi durch die Straßen holperte, und ganz plötzlich dachte er: Was, wenn ich ihn selber ausgestellt hätte? Was, wenn Arctor das hier geschrieben hat? Ich glaube, ich hab’s getan, dachte er; ich glaube, dieses spinnerte Arschloch Arctor hat diesen Scheck höchstpersönlich ausgeschrieben, zwischen Tür und Angel – die Buchstaben kippen alle –, weil er aus irgendeinem Grund in Eile war; wollte den Scheck eben rausknallen und hat dabei das falsche Scheckbuch erwischt, und hinterher hat er das alles vergessen. Hat die ganze Angelegenheit total vergessen.

Den Tag vergessen, dachte er, an dem Arctor…


Was grinsest du mir, hohler Schädel, her?

Als daß dein Hirn, wie meines, einst verwirret

Den leichten Tag gesucht und in der

Dämmrung seh wer

Mit Lust nach Wahrheit, jämmerlich geirret.[5]


… wieder aus dem Dunst der gewaltigen Dope-Happenings in Santa Ana aufgetaucht war, auf dem er diese kleine, blonde Puppe mit den komischen Zähnen, den langen blonden Haaren und dem dicken Arsch kennengelernt hatte; keine große Schönheit, aber so tatkräftig und freundlich … er hatte den Wagen nicht ans Laufen kriegen können; er war bis zum Stehkragen mit Dope abgefüllt gewesen. Er hatte die Sache mit dem Wagen einfach nicht mehr geregelt gekriegt – an diesem Abend war er so unglaublich viel Dope eingepfiffen und geschossen und geschnieft worden, und das Happening hatte sich beinahe bis zur Morgendämmerung hingezogen. So viel Substanz T, und alles echt primo. Sehr, sehr primo. Sein Stoff.

Indem er sich vorbeugte, sagte er: »Halten Sie bitte an der Shell-Tankstelle da drüben. Ich möchte aussteigen.«

Er stieg aus, bezahlte den Taxifahrer und betrat die Telefonzelle, schaute die Nummer des Schlossers nach und rief an.

Die alte Dame war am Apparat. »Schlosserei Englesohn, guten –«

»Hier spricht noch einmal Arctor. Tut mir leid, daß ich Sie schon wieder belästigen muß. Von was für einer Adresse ist damals der Anruf gekommen, durch den der Auftrag erteilt wurde, für den hinterher der Scheck ausgestellt worden ist?«

»Nun, da muß ich erst einmal nachsehen. Einen kleinen Moment bitte, Mr. Arctor.« In seinem Ohr dröhnte es, als sie den Telefonhörer auf die Theke legte.

Die ferne, gedämpfte Stimme eines Mannes: »Wer ist dran? Dieser Arctor?«

»Ja, Carl, aber sag bitte nichts, bitte. Er ist vorhin hereingekommen und –«

»Laß mich mit ihm sprechen.«

Pause. Dann wieder die alte Dame. »Ja, ich habe die Adresse, Mr. Arctor.« Sie las seine Heimatadresse ab.

»Dorthin ist ihr Bruder bestellt worden? Um den Schlüssel zu machen?«

»Einen Moment, bitte. Carl? Erinnerst du dich noch, wo du mit dem Lieferwagen hingefahren bist, um den Schlüssel für Mr. Arctor zu machen?«

Das weit entfernte Brummen einer Männerstimme: »Zum Katella Boulevard.«

»Nicht zu ihm nach Hause?«

»Zum Katella Boulevard. «

»Zum Katella Boulevard, Mr. Arctor. In Anaheim. Nein, warten Sie – Carl sagt gerade, es war in Santa Ana, an der Main Street. Hilft Ihnen das –«

»Danke«, sagte er und legte auf. Santa Ana. Main Street – dort hat die Scheiß-Dopeparty stattgefunden; ich muß in dieser Nacht mindestens dreißig Namen und ebenso viele Nummernschilder notiert haben. Das war nicht nur eine von diesen gewöhnlichen Drogenparties. Eine große Lieferung war gerade aus Mexico eingetroffen; die großen Dealer teilten die Ware unter sich auf und testeten sie an, wie es dabei so üblich ist. Die Hälfte von ihnen ist jetzt möglicherweise schon von als Käufern getarnten Agents provocateurs hopsgenommen worden … Wow, dachte er, ich erinnere mich immer noch an diese Nacht – oder besser gesagt: Ich werde mich wohl nie mehr so genau daran erinnern können.

Aber das entschuldigte Barris immer noch nicht dafür, daß er vorsätzlich vorgetäuscht hatte, Arctor zu sein, als dieser Telefonanruf kam. So, wie es jetzt aussah, hatte er sich das nur spontan ausgedacht – improvisiert. Scheiße, vielleicht war Barris an jenem Abend einfach nur abgefüllt gewesen und hatte das getan, was eine Menge Macker tun, wenn sie weggetreten sind: nämlich auf allem abfahren, was sich gerade so ergibt. Arctor hatte den Scheck geschrieben, daran konnte es jetzt keinen Zweifel mehr geben; Barris hatte nur zufällig den Hörer abgehoben. Und in seinem angefressenen Kopf gedacht, daß es ein irre cooler Gag war. Er hatte nur unverantwortlich gehandelt, sonst nichts.

Und auch Arctor, überlegte er, als er erneut die Taxizentrale rief, hat nicht sehr verantwortungsbewußt gehandelt, als er den Scheck während dieser ganzen langen Zeitspanne nicht ersetzte. Wessen Fehler war das gewesen? Er holte den Scheck noch einmal heraus, um das Datum festzustellen. Anderthalb Monate. Jesus, und da hatte er Barris mangelndes Verantwortungsbewußtsein vorgeworfen! Beinahe hätte Arctor sich dafür die schwedischen Gardinen von innen ansehen können; nur dank Gottes unergründlicher Gnade war dieser Schwachkopf Carl nicht längst zum Bezirksstaatsanwalt gerannt. Ober vielleicht hatte ihn auch nur seine putzige alte Schwester davon abgehalten.

Arctor, entschied er, sollte seinen Arsch jetzt besser in Bewegung setzen; er hat selbst ein paar bescheuerte Sachen gemacht, von denen ich bisher noch nichts wußte. Barris ist da nicht der einzige und vielleicht nicht einmal der Hauptübeltäter. Erstens einmal muß immer noch der Grund geklärt werden, aus dem Barris Arctor mit so abgefeimter Bösartigkeit verfolgt. Woher kommt dieser brennende Haß? Kein Mensch unternimmt doch über eine längere Zeitspanne hinweg alle nur erdenklichen Anstrengungen, um jemanden fertigzumachen, wenn er keinen Grund dafür hat. Und Barris versucht nicht, irgendwen sonst fertigzumachen, sagen wir, Luckman oder Charles Freck oder Donna Hawthorne; er hat sich mehr als jeder andere darum gekümmert, daß Jerry Fabin in die Staatliche Nervenklinik kam, und er kümmert sich geradezu rührend um alle Tiere im Haus.

Einmal war Arctor kurz davor gewesen, einen der Hunde – wie zum Teufel hatte der kleine schwarze Köter doch gleich geheißen, Popo oder so ähnlich? – ins Tierheim zu bringen und dort einschläfern zu lassen, weil die Hündin sich nicht abrichten ließ. Barris hatte Stunden, ja, eigentlich sogar Tage mit Popo verbracht und sie abgerichtet und mit ihr gesprochen, bis sie sich beruhigte und dressiert werden konnte und deshalb nicht mehr weg mußte, um eingeschläfert zu werden. Falls Barris’ Bösartigkeit sich gegen alle richtete, dann würde er doch wohl keine Nummern – keine guten Nummern – wie die abziehen.

»Taxizentrale«, sagte das Telefon.

Er gab die Adresse der Shell-Tankstelle durch.

Und wenn Carl, der Schlosser, gemerkt hat, daß Arctor schwer drogensüchtig ist, überlegte er, während er in düsterer Stimmung herumlungerte und auf das Taxi wartete, dann ist das auch nicht Barris’ Schuld; als Carl damals um fünf Uhr morgens in seinem Lieferwagen aufgetaucht war, um einen Schlüssel für Arctors Olds zu machen, war Arctor möglicherweise gerade auf puddingweichen Bürgersteigen entlangspaziert und die Wände hochgegangen, oder er hatte mit Fischaugen Schlagball gespielt oder ein paar von den anderen Dingen getan, die man auf einem Dope-Trip so tun konnte. Carl hatte schon da seine Schlußfolgerungen gezogen. Als Carl den neuen Schlüssel geschliffen hatte, war Arctor vielleicht gerade verkehrt herum durch die Luft geschwebt oder auf seinem Kopf herumgeteichelt, während er zugleich seitwärts sprach. Kein Wunder, daß Carl nicht sonderlich erfreut gewesen war.

Vielleicht, spekulierte er, versucht Barris ja sogar bloß, Arctors zunehmende Fehlleistungen wieder auszubügeln. Arctor hält sein Fahrzeug nicht länger so gut in Schuß, wie er das früher mal getan hat, er stellt faule Schecks aus, und das alles nicht aus böser Absicht, sondern weil sein gottverdammtes Gehirn durch den ganzen Stoff zermatscht ist. Aber das macht die Angelegenheit eher nur noch schlimmer. Barris tut, was er kann; das kann durchaus sein. Nur ist auch sein Gehirn zermatscht. Alle ihre Gehirne sind…


Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt.

Den, wie er sich im Staube nährend lebt,

Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt.[6]


zermatscht und beeinflussen sich gegenseitig auf zermatschte Art und Weise. Die Zermatschten führen die Zermatschten. Und zwar geradewegs ins Verderben.

Vielleicht, mutmaßte er, hat Arctor selbst die ganzen Drähte durchgeknipst und verbogen und die ganzen Kurzschlüsse in seinem Cephskop verursacht. Mitten in der Nacht. Aber aus welchen Gründen?

Eben das würde die Kardinalsfrage sein: Warum? Aber bei zermatschten Gehirnen war alles möglich, alles denkbar, selbst Motive, die so verdreht wie die Drähte waren. Während seiner Tätigkeit als Geheimer Rauschgift-Agent hatte er das selbst gesehen, viele, viele Male. Diese Tragödie war ihm nicht neu; das alles war nur ein Routinefall mehr in den Computerspeichern. Das hier war das Stadium, das der Reise in die Staatliche Nervenklinik unmittelbar vorausging. Wie bei Jerry Fabin.

Alle diese Typen bewegten sich auf demselben Spielfeld; sie standen jetzt nur auf verschiedenen Feldern in unterschiedlicher Entfernung vom Ziel und würden es zu verschiedenen Zeiten erreichen. Aber am Ende würden sie doch alle an diesem Ziel ankommen: in der Staatlichen Nervenklinik.

Das war in ihr Nervengewebe einprogrammiert. Oder in das, was immer davon übriggeblieben war. Nichts konnte dem noch Einhalt gebieten oder es verhindern. Jetzt nicht mehr.

Und, so glaubte er nun zu wissen, besonders nicht mehr für Bob Arctor. Diese langsam in ihm aufdämmernde Erkenntnis gewann er rein intuitiv; sie war nicht von dem abhängig, was Barris getan hat. Es war eine neue, eine professionelle Erkenntnis.

Und auch seine Vorgesetzten im Sheriff-Büro von Orange County hatten ja beschlossen, Bob Arctor in den Brennpunkt ihres Interesses zu rücken; sie hatten zweifellos gute Gründe dafür, Grunde, über die er nichts wußte. Vielleicht bestätigten diese gleichzeitigen Entwicklungen einander: Das wachsende Interesse der Behörden an Arctor – immerhin hatte es die Abteilung eine ganz schöne Stange Geld gekostet, die Holo-Kameras in Arctors Haus zu installieren und ihn dafür zu bezahlen, daß er die Ergebnisse dieser Überwachungstätigkeit analysierte, und dann waren da ja auch noch die anderen Beamten weiter oben, die sich das abschließende Urteil über das Material bilden mußten, das er in regelmäßigen Abständen an sie weiterleitete – dieses Interesse paßte gut zu der Tatsache, daß Barris seine Aufmerksamkeit in einem unüblichen Maße auf Arctor richtete; beide Parteien hatten Arctor zu ihrem Primärziel gemacht. Aber was hatte er selbst an Arctors Verhalten bemerkt, das ihm als ungewöhnlich ins Auge gestochen war? Durch unmittelbare Beobachtung, unabhängig von den Einschätzungen der beiden anderen Parteien?

Während das Taxi weiterfuhr, überlegte er sich, daß er höchstwahrscheinlich eine ganze Weile würde Ausschau halten müssen, um auf etwas zu stoßen; die Wahrheit würde sich den Kameras und den Schirmen nicht binnen eines Tages offenbaren. Er würde viel Geduld aufbringen müssen; er würde sich darein schicken müssen, über einen langen Zeitraum Nachforschungen anzustellen und sich in einen Bewußtseinszustand zu versetzen, in dem er die notwendige Bereitschaft zum Warten aufbrachte.

Aber dann, sobald er etwas auf den Holo-Schirmen sah, irgendein dunkles, rätselhaftes Verhalten von Arctors Seite, würde Arctor plötzlich im Schnittpunkt einer Peilung von drei Fixpunkten aus stehen, und es würde eine dritte Absicherung für die Einschätzungen der anderen Parteien geben. Gewiß würde das die endgültige Bestätigung liefern. Und damit den Kostenaufwand und die Zeit rechtfertigen und den Interessen aller beteiligten Parteien dienlich sein.

Ich frage mich, was Barris weiß, was wir nicht wissen, dachte er. Vielleicht sollten wir ihn ins Behördenzentrum schleifen und ihn danach fragen. Andererseits ist es natürlich günstiger, über Material zu verfügen, das unabhängig von Barris zusammengetragen worden ist; andernfalls würden die Erkenntnisse eine bloße Verdopplung jener Erkenntnisse sein, über die Barris – wer immer er auch war oder was immer er auch darstellen mochte – verfügte.

Und dann dachte er: Was, zum Teufel, habe ich da eigentlich gerade gedacht? Ich muß verrückt sein. Ich kenne Bob Arctor doch; er ist ein guter Mensch. Er ist in nichts verwickelt.

Jedenfalls in keine üblen Sachen. Er arbeitet ja sogar, dachte er, für das Sheriff-Büro von Orange County, in einer Tarnidentität. Was möglicherweise der Grund dafür ist …


Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen:

Die eine hält, in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit klammernden Organen;

Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen.[7]


warum Barris hinter ihm her ist.

Aber, dachte er, das erklärt noch nicht, warum das Sheriff-Büro von Orange County hinter ihm her ist – und zwar so sehr, daß sie diese ganzen Holos installiert und einen Full-Time-Agenten damit beauftragt haben, ihn zu überwachen und über ihn Bericht zu erstatten. Das läßt sich damit nicht erklären.

Das paßt alles nicht zusammen, dachte er. Da muß noch mehr, noch viel mehr in jenem Haus vor sich gehen, jenem heruntergewirtschafteten, schuttgefüllten Haus mit dem unkrautüberwucherten Hinterhof und den Katzenklos, die nie geleert werden, jenem Haus, wo die Tiere auf dem Küchentisch herumspazieren und die Abfalleimer überquellen, weil nie jemand den ganzen Müll nach draußen trägt.

Was für eine Verschwendung, dachte er, ein so gutes und solides Haus derartig herunterkommen zu lassen. Man könnte so viel damit machen. In diesem Haus könnte eine Familie leben, Kinder und eine Frau. Dafür war es ausgelegt: drei Schlafzimmer. So eine Verschwendung; so eine beschissene Verschwendung! Sie sollten es ihm wegnehmen, dachte er; sie sollten auf der Stelle eingreifen und die Zwangsräumung anordnen. Vielleicht werden sie das ja auch machen. Und es einer besseren Verwendung zuführen; dieses Haus schreit geradezu danach. Dieses Haus hat auch schon viel bessere Tage gesehen, vor langer Zeit. Jene Tage könnten wiederkehren. Wenn jemand, der nicht so ist wie Arctor und seine Kumpane, darin wohnen würde und es gut in Schuß hielte.

Besonders den Hof, dachte er, als das Taxi in die mit alten Zeitungen übersäte Auffahrt einbog.

Er bezahlte den Fahrer, holte seinen Türschlüssel heraus und betrat das Haus.

Sogleich spürte er, daß da etwas war, das ihn beobachtete: die auf ihn gerichteten Holo-Kameras. Von dem Moment an, da er über seine eigene Türschwelle getreten war. Er war ganz allein – keiner außer ihm im Haus. Falsch! Keiner außer ihm und den heimlichen, unsichtbaren Kameras, die ihn beobachteten und alles aufnahmen. Alles, was er tat. Alles, was er sagte.

Unwillkürlich mußte er an die Kritzeleien denken, die man manchmal sah, wenn man zum Pinkeln auf ein öffentliches Pissoir ging. LÄCHLE! DU WIRST FÜR »VORSICHT, KAMERA« GEFILMT! Und die Kamera surrt los, dachte er, sobald ich das Haus betrete. Gespenstisch. Er mochte das nicht. Er fühlte sich gehemmt; diese Empfindung war seit dem ersten Tag, vom ersten Augenblick an, nachdem sie wieder nach Hause gekommen waren, immer stärker geworden. Seit dem »Hundescheiße-Tag«, wie er ihn bei sich nannte – eine Bezeichnung, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Und mit jedem Tag war das Bewußtsein um die Anwesenheit der Kameras gewachsen.

»Keiner daheim, nehme ich an«, erklärte er wie üblich mit lauter Stimme und war sich dabei der Tatsache bewußt, daß die mit den Kameras gekoppelten Mikrophone diese Worte aufgenommen hatten. Aber er mußte immer aufpassen; er durfte ja die Position der Kameras nicht kennen. Wie ein Schauspieler vor einer Filmkamera, dachte er. Du mußt spielen, als würde die Kamera gar nicht existieren, sonst schmeißt du die Szene. Und dann ist alles vorbei.

Denn bei dieser Scheiße gibt es keine Wiederholungsaufnahmen.

Statt dessen muß man damit rechnen, von den Bändern gelöscht zu werden. Ich meine, ich muß damit rechnen. Nicht die Leute hinter den Kameras, sondern ich.

Was ich tun sollte, dachte er, um aus all dem herauszukommen, ist das Haus zu verkaufen; es ist ja sowieso heruntergewirtschaftet. Aber … ich liebe dieses Haus. Punktum!

Es ist mein Haus.

Niemand kann mich hier rausbringen.

Aus welchen Gründen auch immer sie das tun würden oder wenigstens gerne täten.

Immer vorausgesetzt, daß es da überhaupt ein »Sie« gibt.

Vielleicht existieren die »Sie«, die mich beobachten, ja auch einfach nur in meiner Einbildung. Paranoia. Oder besser: nicht die »Sie«, sondern das »Es«. Das entpersönlichte »Es«.

Was immer es ist, das mich beobachtet – ein Mensch ist es nicht. Jedenfalls nicht nach meinen Maßstäben. Es ist nichts, was ich als Menschen erkennen könnte.

So albern das alles auch ist, dachte er, so beängstigend ist es zugleich. Etwas wird mir angetan, von einem bloßen Ding, hier in meinem Haus. Direkt vor meinen Augen.

Vor den Augen eines Etwas; im Blickfeld irgendeines Dings. Das, ungleich meiner kleinen, dunkeläugigen Donna, niemals blinzelt. Was sieht eine Kamera eigentlich? fragte er sich. Ich meine, was sieht sie wirklich? Sieht sie in den Kopf hinein? Oder in das menschliche Herz? Sieht eine starr montierte Infrarot-Kamera, wie man sie früher zu verwenden pflegte, oder eine 3-D-Abtastkamera, wie man sie heute verwendet, das neueste Modell, in mich – in uns – hinein, und ist das Bild, das auf den Schirmen erscheint, klar oder dunkel und verschwommen? Ich hoffe, daß wenigstens das Bild auf den Schirmen klar ist, dachte er, weil ich in letzter Zeit nicht länger in mich selbst hineinsehen kann. Ich sehe nur Matsch. Matsch draußen; Matsch drinnen. Um unser aller willen hoffe ich, daß die Kameras es besser können. Denn, so dachte er, wenn die Kameras nur dunkle Bilder liefern, so dunkle wie die, die ich selber sehe, dann sind wir alle verdammt, sind wieder verdammt, wie wir es schon von jeher gewesen sind, und dann werden wir am Ende unwissend sterben, und selbst das bißchen, das wir wissen, jenes winzige Fragment der Wahrheit, noch falsch ausgelegt haben.

Nach Zufallskriterien nahm er einen Band aus dem Bücherschrank im Wohnzimmer; es handelte sich, wie er feststellte, um Das große illustrierte Buch der körperlichen Liebe. Als er es nach Zufallskriterien aufschlug, entdeckte er eine Seite, die einen Mann zeigte, der mit seligem Lächeln an der über ihn ragenden rechten Titte einer vor Lust keuchenden Puppe knabberte, und er sagte laut, ganz so, als lese er etwas aus dem Buch vor, als zitiere er die Worte eines berühmten, altehrwürdigen, überragenden Philosophen (was natürlich nicht der Fall war):

»Jedweder Mensch sieht nur einen winzigen Teil der einen, alles umfassenden Wahrheit, und sehr oft, ja sogar nahezu …


Weh! steck’ich in dem Kerker noch?

Verfluchtes dumpfes Mauerloch,

Wo selbst das liebe Himmelslicht

Trüb durch gemalte Scheiben bricht!

Beschränkt mit diesem Bücherhauf,

Den Wurme nagen, Staub bedeckt,

Den bis ans hohe[8]


… immer, bringt er sich sogar noch selbst um jenes kleine, kostbare Fragment. Ein Teil von ihm wendet sich gegen ihn und handelt wie eine andere Person, besiegt ihn von innen heraus. Ein Mensch innerhalb eines Menschen. Und damit letztlich überhaupt kein Mensch.«

Mit einem bedeutungsschweren Nicken, so, als sei er von der Weisheit der nichtexistenten Worte auf jener Seite tief bewegt, schloß er das großformatige, in rotes Leder eingebundene und mit güldenen Lettern geschmückte Große illustrierte Buch der körperlichen Liebe wieder und stellte es auf seinen angestammten Platz im Regal zurück. Hoffentlich, dachte er, zoomen die Kameras nicht auf den Buchumschlag und lassen meinen kleinen Schwindel auffliegen.


*


Charles Freck, der angesichts dessen, was mit allen seinen Bekannten geschah, immer deprimierter wurde, beschloß zu guter Letzt, sich ein für allemal davonzumachen. In den Kreisen, in denen er verkehrte, war es kein Problem, seinem Leben ein Ende zu setzen; man kaufte sich einfach eine größere Ladung Reds und schluckte sie mit etwas billigem Wein, spät in der Nacht, nachdem man zuvor den Telefonhörer neben die Gabel gelegt hatte, um von niemandem gestört zu werden.

Natürlich mußte ein solcher Abgang sorgfältig geplant werden. Im Mittelpunkt der Vorbereitungen standen dabei die Artefakte, die spätere Archäologen dereinst finden sollten. Es galt, sie so auszuwählen, daß diese Archäologen auch wissen würden, aus welcher Schicht man kam. Und sich außerdem ein Bild davon zusammenpuzzlen konnten, was zum Zeitpunkt der Durchführung deiner Tat in deinem Kopfe vorging.

Deshalb verwandte er mehrere Tage darauf, über die Zusammenstellung der Artefakte zu entscheiden. Viel länger, als er darauf verwandt hatte, zu beschließen, sich zu töten, und ungefähr die gleiche Zeit, die er benötigt hatte, um sich eine hinreichend große Menge von Reds zu beschaffen. Man würde ihn in seinem Bett finden, auf dem Rücken liegend, neben sich ein Exemplar von Ayn Rands The Fountainhead (welches Zeugnis davon ablegen würde, daß er ein unverstandener Obermensch gewesen war, verkannt von den Massen und daher in gewisser Weise ein Opfer ihrer schmählichen Mißachtung) und einen unvollendeten Brief an Esso, in dem er gegen die Annullierung seiner Benzin-Kreditkarte protestierte. Auf diese Weise würde er das System anklagen und durch seinen Tod etwas bewirken, das über das hinausging, was der Tod für ihn selbst bewirkte. Tatsächlich war er sich über das, was der Tod für ihn selbst bewirken mochte, längst nicht so im klaren wie über das, was die beiden Artefakte bewirken würden; aber jedenfalls summierte sich alles auf, und er begann, die letzten Vorbereitungen zu treffen, wie ein Tier, das spürt, daß seine Zeit gekommen ist, und nun nach dem Instinktprogramm handelt, das die Natur ihm für den Augenblick mitgegeben hat, da sein unvermeidliches Ende naht.

Im letzten Moment (der Sand in seinem Stundenglas war beinah schon verronnen) änderte er seinen Plan in einem entscheidenden Punkt ab und beschloß, die Reds mit einem Connaisseur-Wein statt mit Lambrusco oder Ripple ‘runterzuspülen, und so machte er sich auf zu seiner letzten Fahrt, hinüber zu Joe’s Laden, einem Fachgeschäft für Weine, und erstand dort eine Flasche 1971er Mondavi Cabernet Sauvignon, was ihn um nahezu dreißig Dollar ärmer machte – und das war alles, was er hatte.

Wieder daheim, entkorkte er die Flasche und gab der Blume Zeit, sich in aller Ruhe zu entfalten. Dann trank er ein paar Gläser, verbrachte ein paar Minuten damit, sich in seine Lieblingsseite im Großen illustrierten Buch der körperlichen Liebe zu versenken, die ein Mädchen zeigte, das rittlings auf einem Mann hockte, stellte den Plastikbeutel mit den Reds neben sein Bett und legte sich schließlich mit dem Ayn Rand-Buch und dem unvollendeten Brief an Esso hin und versuchte, an etwas Bedeutungsvolles zu denken, aber das wollte ihm einfach nicht gelingen; statt dessen sah er immer nur das rittlings auf dem Mann hockende Mädchen vor seinem inneren Auge. Und dann kippte er mit einem Glas Cabernet Sauvignon alle Reds auf einmal hinunter. Nach vollbrachter Tat ließ er sich zurücksinken, das Ayn Rand-Buch und den Brief auf seiner Brust, und wartete.

Aber er war abgelinkt worden. Die Kapseln waren gar keine Barbiturate, wie ein Dealer behauptet hatte, sondern eine Art verrückter psychedelischer Drogen, und zwar eine Sorte, die er noch nie zuvor eingepfiffen hatte. Vielleicht eine Mischung, die neu auf dem Markt war. Statt ruhig zu ersticken, begann Charles Freck zu halluzinieren. Tja, dachte er philosophisch, das ist nun einmal mein Geschick. Immer werde ich beschissen. Angesichts der Menge der Kapseln, die er geschluckt hatte, richtete er sich vorsorglich schon einmal darauf ein, daß ihm ein ganz schön höllischer Trip bevorstand.

Seine erste Wahrnehmung war ein Geschöpf von irgendwo zwischen den Dimensionen, das neben seinem Bett stand und mißbilligend auf ihn herabschaute.

Das Geschöpf hatte viele Augen, die gleichmäßig über seine Körperoberfläche verteilt waren, trug ultramoderne, teuer aussehende Kleidung und ragte ungefähr zweieinhalb Meter hoch auf. Außerdem hielt es eine gewaltige Schriftrolle.

»Du wirst mir meine Sünden vorlesen«, sagte Charles Freck. Das Geschöpf nickte und erbrach das Siegel der Schriftrolle. Freck, hilflos auf seinem Bett liegend, sagte: »Und das wird hunderttausend Stunden dauern.«

Das Geschöpf von irgendwo zwischen den Dimensionen bedachte ihn mit einem scharfen Blick aus seinen unzähligen, wie aus Facetten zusammengesetzten Augen und sagte: »Wir sind nicht länger im weltlichen Universum. Kategorien wie ›Raum und Zeit‹ die den Niederungen materiellen Seins angehören, treffen auf dich nicht länger zu. Du bist auf die Ebene transzendenten Seins erhoben worden. Deine Sünden werden dir ohne Unterlaß vorgelegen werden, in alle Ewigkeit, im Schichtdienst. Die Liste wird nie enden.«

Vertrau nie einem Dealer, dachte Charles Freck und wünschte sich, die letzte halbe Stunde seines Lebens ungeschehen machen zu können.

Tausend Jahre später lag er immer noch da auf seinem Bett, das Ayn Rand-Buch und den Brief an Esso auf der Brust, und hörte ihnen dabei zu, wie sie ihm seine Sünden vorlasen. Sie waren jetzt bei der ersten Klasse angelangt, und er war damals gerade sechs Jahre alt gewesen.

Zehntausend Jahre später hatten sie die sechste Klasse erreicht.

Das Jahr, in dem er die Masturbation entdeckt hatte. Er schloß die Augen, aber trotzdem konnte er immer noch das vieläugige, zweieinhalb Meter große Wesen mit der endlosen Schriftrolle sehen, das las und las und las…

»Und als nächstes –«, sagte es gerade.

Charles Freck dachte: Wenigstens war der Wein gut.


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