16 Unerwartete Abwesenheiten

Egwene rief den Saal der Burg zusammen, noch bevor die Sonne am nächsten Morgen über dem Horizont sichtbar wurde. In Tar Valon wäre dies von aufwendigen Zeremonien begleitet gewesen, und selbst seit Verlassen Salidars hatten sie trotz der Beschwernisse der Reise einige davon beibehalten. Jetzt ging Sheriam einfach in der noch herrschenden Dunkelheit von einem Zelt der Sitzenden zum anderen und verkündete, daß der Amyrlin-Sitz den Saal zusammengerufen hatte. Schließlich standen in der Dämmerung unmittelbar vor Sonnenaufgang achtzehn Frauen im Halbkreis auf dem Schnee, um Egwene zuzuhören, alle gegen die Kälte warm angezogen, die ihren Atem gefrieren ließ.

Andere Schwestern tauchten allmählich hinter ihnen auf, um ebenfalls zuzuhören, zunächst nur wenige, aber als sie niemand zum Gehen aufforderte, wuchs die Gruppe an, und ein sehr gedämpftes Flüstern verbreitete sich. Nur wenige Schwestern würden es wagen, auch nur eine einzelne Sitzende zu stören, geschweige denn den gesamten Saal. Die Aufgenommenen in gegürteten Gewändern und Umhängen, die hinter den Aes Sedai erschienen waren, verhielten sich natürlich noch stiller, und die sich ebenfalls versammelnden Novizinnen, die keine Arbeiten zu erledigen hatten, wiederum stiller, obwohl sie weitaus zahlreicher waren. Das Lager beherbergte inzwischen eineinhalb Mal so viele Novizinnen wie Schwestern, so viele, daß nur wenige einen angemessenen weißen Umhang besaßen und die meisten sich mit einem einfachen weißen Rock anstatt eines Novizinnengewands begnügen mußten. Einige Schwestern waren noch immer der Meinung, man sollte zu der alten Verfahrensweise zurückkehren und Mädchen sie aufspüren lassen, aber die meisten bedauerten die verlorenen Jahre, in denen die Anzahl der Aes Sedai abnahm. Egwene selbst erschauderte fast, wann immer sie daran dachte, was die Burg hätte sein können. Dies war eine Veränderung, gegen die nicht einmal Siuan Einwände erheben konnte.

Plötzlich kam Carlinya um die Ecke eines Zeltes und blieb beim Anblick Egwenes und der Sitzenden jäh stehen. Die Weiße Schwester, die normalerweise vollkommene Haltung bewahrte, starrte mit offenem Mund herüber, und ihr helles Gesicht rötete sich, bevor sie davoneilte, wobei sie über die Schulter zurückblickte. Egwene behielt nur mühsam eine ausdruckslose Miene bei. Alle anderen waren zu sehr mit dem beschäftigt, was auch sie selbst heute morgen beschäftigte, um es ebenfalls bemerkt zu haben, aber früher oder später würde jemand es bemerken und sich wundern.

Sheriam warf ihren kunstvoll bestickten Umhang zurück, um die schmale blaue Stola der Hüterin der Chroniken freizugeben, und vollführte vor Egwene einen so formellen Hofknicks, wie es ihre sperrige Kleidung erlaubte, bevor sie einen Platz an Egwenes Seite einnahm. In Schichten edlen Tuchs und Seide gehüllt, war die Frau mit dem flammenden Haar das Abbild des Gleichmuts. Auf Egwenes Nicken hin trat sie einen Schritt vor, um mit klarer, hoher Stimme die uralte Formel zu sprechen.

»Sie kommt; sie kommt! Die Hüterin der Siegel, die Flamme Tar Valons, der Amyrlin-Sitz. Gebt alle acht, denn sie kommt!« Die Formel schien hier ein wenig fehl am Platz, und außerdem war die Hüterin bereits da und kam nicht erst. Die Sitzenden standen schweigend und abwartend da. Einige wenige runzelten ungeduldig die Stirn oder machten sich ruhelos an ihren Umhängen oder Röcken zu schaffen.

Egwene warf ihren Umhang ebenfalls zurück und entblößte so die siebenfach gestreifte, um ihren Hals geschlungene Stola. Diese Frauen mußten auf jede mögliche Art daran erinnert werden, daß sie tatsächlich der Amyrlin-Sitz war. »Alle sind erschöpft vom Reisen bei diesem Wetter«, verkündete sie nicht ganz so laut wie Sheriam, aber doch laut genug, daß jedermann sie hören konnte. Sie verspürte eine vage Vorahnung, eine fast schwindlig machende Erregung. Das Gefühl unterschied sich nicht sehr von Übelkeit »Ich habe beschlossen, zwei oder vielleicht drei Tage hier zu lagern.« Das ließ alle die Köpfe heben und Interesse zeigen. Sie hoffte, daß sich Siuan in der Zuhörerschaft befände. Sie versuchte, sich an die Eide zu halten. »Die Pferde brauchen ebenfalls Ruhe, und viele der Wagen müssen dringend repariert werden. Die Behüterin der Chroniken wird die notwendigen Anordnungen treffen.« Jetzt hatte es wahrhaft begonnen.

Sie erwartete weder eine Auseinandersetzung noch eine Debatte, und es gab auch keine. Sie hatte Siuan gegenüber nicht übertrieben. Zu viele Schwestern hofften auf ein Wunder, damit sie nicht unter den beobachtenden Blicken der Welt nach Tar Valon marschieren mußten. Selbst unter jenen, die in tiefstem Herzen überzeugt waren, daß Elaida trotz allem, was sie getan hatte, zum Besten der Burg vertrieben werden mußte, würden nur allzu viele jede Gelegenheit der Verzögerung ergreifen, jede Möglichkeit, daß dieses Wunder geschehen könnte. Romanda wartete nicht ab, bis Sheriam die Schlußzeilen gesprochen hatte. Sobald Egwene geendet hatte, schritt Romanda, die mit ihrem festen grauen, unter der Kapuze verborgenen Knoten noch recht jugendlich aussah, einfach davon. Magla, Saroiya und Varilin eilten ihr mit fliegenden Umhängen hinterher, soweit jemand eilen konnte, wenn er bei jedem Schritt knöcheltief versank. Es gelang ihnen dennoch gut. Als Lelaine sah, daß Romanda ging, versammelte sie mit einer Handbewegung Faiselle, Takima und Lyrelle aus dem Halbkreis und schritt ebenfalls davon, ohne sich noch einmal umzusehen, wie ein Schwan mit drei ängstlichen Gänschen im Schlepptau. Wenn Lelaine ihre drei Begleiterinnen auch nicht so fest im Griff hatte wie Romanda die ihren, bestand jedoch kein großer Unterschied. Auch die übrigen Sitzenden warteten kaum ab, bis Sheriam das abschließende ›Nun geht im Licht‹ geäußert hatte. Egwene wandte sich um, als sich der Saal bereits in alle Richtungen zerstreute. Die Vorahnung verstärkte sich und wurde Übelkeit sehr ähnlich.

»Drei Tage«, murmelte Sheriam, während sie Egwene eine Hand reichte, um ihr auf einen der ausgetretenen Wege herab zu helfen. Die Winkel ihrer grünen Augen kräuselten sich spöttisch. »Ich bin überrascht, Mutter. Verzeiht, aber Ihr seid mehr als einmal vorangeprescht, wenn ich Einhalt gebieten wollte.«

»Laßt uns das noch mal erörtern, wenn Ihr mit den Wagnern und Hufschmieden gesprochen habt«, wies Egwene sie an. »Wir werden mit Pferden, die tot zusammenbrechen, und Wagen, die auseinanderfallen, nicht weit kommen.«

»Wie Ihr meint, Mutter«, erwiderte die andere Frau nicht gerade demütig, aber vollkommen angemessen.

Der Weg war jetzt nicht sicherer als zuvor, und manchmal glitten sie aus. Sie hakten sich unter und gingen langsam weiter. Sheriam bot mehr Unterstützung, als Egwene benötigte, aber sie tat dies fast verstohlen. Der Amyrlin-Sitz sollte nicht angesichts fünfzig Schwestern und einhundert Dienern auf den Allerwertesten fallen, aber sie sollte auch nicht wie eine Invalidin gestützt werden.

Die meisten Sitzenden einschließlich Sheriam, die sich Egwene verschworen hatten, hatten dies tatsächlich aus schlichter Angst und einem Selbsterhaltungstrieb heraus getan. Wenn der Saal erfuhr, daß sie Schwestern ausgesandt hatten, um die Aes Sedai in Tar Valon zu beeinflussen und, was noch schlimmer war, dies aus Angst vor Schattenfreunden unter den Sitzenden vor dem Saal geheimgehalten hatten, würden sie vollkommen gewiß den Rest ihres Lebens in Buße im Exil verbringen. Also hatten sich die Frauen, die geglaubt hatten, sie könnten Egwene wie eine Marionette umherzerren, nachdem der größte Teil ihres Einflusses auf den Saal geschwunden war, als ihr Verschworene wiedergefunden. Das kam selbst in den geheimen Aufzeichnungen selten vor. Es wurde von den Schwestern erwartet, der Amyrlin zu gehorchen, aber ihr Treue zu schwören war etwas völlig anderes. Die meisten schien dies noch immer zu beunruhigen, obwohl sie gehorchten. Nur wenige waren so schlimm wie Carlinya, aber Egwene hatte Beonins Zähne tatsächlich klappern hören, als sie Egwene nach geleistetem Schwur das erstemal mit den Sitzenden gesehen hatte. Morvrin schien stets aufs neue erstaunt, wann immer ihr Blick auf Egwene fiel, als glaube sie es noch immer nicht so recht, und Nisao runzelte ständig die Stirn. Anaiya schnalzte zur Mahnung an die Geheimhaltung mit der Zunge, und Myrelle zuckte häufig zusammen, wenn auch noch aus anderen Gründen als nur wegen des geleisteten Eides. Aber Sheriam war einfach nicht nur dem Namen nach in die Rolle der Behüterin der Chroniken Egwenes geschlüpft.

»Darf ich vorschlagen, diese Gelegenheit dazu zu nutzen, herauszufinden, was das umliegende Land an Nahrung und Futter zu bieten hat, Mutter? Unsere Vorräte sind fast aufgebraucht.« Sheriam runzelte besorgt die Stirn. »Besonders Tee und Salz, obwohl ich bezweifle, daß wir dies hier finden,«

»Tut was Ihr könnt«, sagte Egwene freundlich. Es kam ihr jetzt seltsam vor, daß sie einst Ehrfurcht vor Sheriam und erhebliche Angst vor ihrem Mißfallen empfunden hatte. Und es schien ihr ebenso seltsam, daß Sheriam, die jetzt nicht mehr die Herrin der Novizinnen war und Egwene nicht mehr in die von ihr gewünschte Richtung zu drängen versuchte, tatsächlich einen glücklicheren Eindruck machte. »Ich habe volles Vertrauen in Euch, Sheriam.« Die Frau strahlte bei diesem Lob offen.

Die Sonne war noch immer nicht über den Zelten aufgestiegen, aber das Lager war bereits in Bewegung. Das Frühstück war vorüber, und die Köche wuschen ab, unterstützt von einer Horde Novizinnen. Der Energie nach zu urteilen, mit der die jungen Frauen an die Arbeit gingen, schien es sie zu erwärmen, Kessel mit Schnee zu schrubben, aber die Köche bewegten sich schwerfällig, rieben sich den Rücken, hielten inne, um zu seufzen, zogen manchmal ihre Umhänge fester oder starrten freudlos in den Schnee. Zitternde Diener, welche die meisten Kleider trugen, die sie besaßen, hatten nach alter Gewohnheit damit begonnen, Zelte abzubauen und Wagen zu beladen, nachdem sie ihre eilige Mahlzeit beendet hatten, und stolperten jetzt umher, um die Zelte wieder aufzubauen und die Kisten wieder aus den Wagen zu hieven. Tiere, die bereits angeschirrt worden waren, wurden von erschöpften Pferdeburschen davongeführt, die mit hängenden Köpfen vorangingen. Egwene hörte einige wenige Proteste von Männern, die nicht bemerkten, daß Schwestern in der Nähe waren, aber der größere Teil der Leute schien zu müde, sich zu beschweren.

Die meisten Aes Sedai, deren Zelte wieder errichtet worden waren, verschwanden darin, aber einige wiesen auch noch die Arbeiter an, und andere eilten die festgetretenen Pfade auf eigenen Botengängen entlang. Anders als alle anderen zeigten sie äußerlich so wenig Müdigkeit wie ihre Behüter, denen es irgendwie gelang, den Eindruck zu erwecken, als hätten sie allen für diesen schönen Frühlingstag benötigten Schlaf bekommen. Egwene vermutete dies als den wichtigsten Teil dessen, wie eine Schwester Kraft aus ihrem Behüter zog, davon abgesehen, was sie mit dem Bund tun konnte. Wenn ein Behüter sich nicht eingestehen wollte, daß er fror oder müde oder hungrig war, mußte man es ebenfalls aushaken.

Auf einem der Querwege erschien Morvrin, die Takimas Arm umklammerte. Vielleicht zur Unterstützung, obwohl Morvrin die kleinere Frau noch kleiner erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Vielleicht tat sie es aber auch, um Takima an der Flucht zu hindern.

Morvrin war hartnäckig, wenn sie sich erst einmal ein Ziel gesetzt hatte, Egwene runzelte die Stirn. Es mochte sehr wohl von Morvrin erwartet werden, eine Sitzende für ihre Ajah der Braunen zu erwählen, aber Egwene hätte Janya oder Escaralde für wahrscheinlicher gehalten. Die beiden gerieten hinter einem abgedeckten Wagen auf Kufen außer Sicht, wobei sich Morvrin herabbeugte, um ihrer Begleiterin etwas ins Ohr zu flüstern. Es war nicht erkennbar, ob Takima zuhörte.

»Stimmt etwas nicht, Mutter?«

Egwene setzte ein angespanntes Lächeln auf. »Nicht mehr als üblich, Sheriam. Nicht mehr als üblich.«

Sheriam verließ Egwene am Arbeitszelt der Amyrlin, um sich um die aufgetragenen Aufgaben zu kümmern. Egwene betrat das Zelt und fand alles bereit. Alles andere hätte sie überrascht. Selame stellte gerade ein Teetablett auf den Schreibtisch. Bunte Perlenstickerei schmückte das Leibchen und die Ärmel der Frau, und da sie ihre lange Nase hoch erhoben trug, schien sie auf den ersten Blick kaum wie eine Dienerin, aber sie hatte sich um alles Nötige gekümmert. Zwei Kohlenpfannen voller glühender Kohlen hatten die Kälte einigermaßen vertrieben, obwohl die meiste Wärme durch den Rauchabzug entwich. Getrocknete, auf die Kohlen gestreute Kräuter verliehen dem im Zelt verbleibenden Rauch einen angenehmen Geruch. Das Tablett vom Vorabend war verschwunden, und die Laterne und die Talgkerzen waren vorbereitet und entzündet worden. Niemand würde den Zelteingang weit genug geöffnet lassen, um Licht von außen hereindringen zu lassen.

Siuan war ebenfalls bereits da, mit einem Stapel Papier in Händen, einen gequälten Ausdruck auf dem Gesicht und einen Tintenfleck auf der Nase. Ihr Posten als Schreiberin gab ihnen beiden einen weiteren Grund, im Gespräch miteinander gesehen zu werden, und Sheriam hatte keine Einwände gehabt, die Arbeit aufzugeben. Siuan grollte jedoch häufig. Für eine Frau, welche die Burg seit ihrem Eintreten als Novizin selten verlassen hatte, verabscheute sie es in bemerkenswertem Maße, drinnen zu bleiben. Im Moment war sie das Abbild einer Frau, die Geduld bewies und wollte, daß jedermann es bemerkte.

Selame lächelte trotz ihrer emporgereckten Nase einfältig und vollführte so viele Hofknickse, daß das Übernehmen von Egwenes Umhang und Fäustlingen zu einer kunstvollen kleinen Zeremonie wurde. Die Frau schwatzte immerzu, die Mutter solle die Füße anheben, und vielleicht sollte sie der Mutter eine Reisedecke holen, und vielleicht sollte sie bleiben, falls die Mutter noch etwas benötigte, bis Egwene sie regelrecht hinausjagte. Der Tee schmeckte nach Minze. Bei diesem Wetter! Selame war eine Prüfung, und sie konnte kaum treu genannt werden, aber sie bemühte sich.

Es war jedoch keine Zeit, müßig zu sein und Tee zu trinken. Egwene richtete ihre Stola und nahm ihren Platz hinter dem Schreibtisch ein, wobei sie einem Bein ihres Stuhls einen Stoß versetzte, damit er nicht, wie so häufig, unter ihr zusammenklappte. Siuan kauerte auf einem ebenfalls gebrechlichen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches, und der Tee wurde kalt. Sie sprachen nicht über Pläne oder über Gareth Bryne oder Hoffnungen. Was diesbezüglich im Moment getan werden konnte, war getan worden. Die Berichte und Anliegen stapelten sich im Verlauf ihrer Reise, Erschöpfung besiegte alle Versuche, sich darum zu kümmern, aber jetzt, wo sie aufgehalten wurden, mußte alles durchgesehen werden. Ein in ihrer Nähe lagerndes Heer änderte das nicht.

Egwene fragte sich manchmal, wie so viel Papier aufgetrieben wurde, wenn es doch bei allen anderen Dingen zunehmend schwierig schien. Die Berichte, die Siuan ihr reichte, führten detailliert Verknappungen auf, aber kaum mehr. Nicht nur jene, die Sheriam erwähnt hatte, sondern auch Kohle und Nägel und Eisen für die Hufschmiede und Wagner, Leder und ölgetränkte Fäden für die Sattler, Lampenöl und Kerzen und hundert andere Dinge waren knapp, sogar Seife. Und was nicht ausging, nützte ab, von den Schuhen bis zu den Zelten, alles in Siuans kühner Handschrift aufgelistet, die krakeliger wurde, je schreiender die Bedürfnisse waren, über die sie schrieb. Ihre Berechnung des verbliebenen Geldes schien in energischem Zorn aufs Papier geworfen worden zu sein. Und dies war nichts, was man nicht ernst nehmen durfte.

Unter Siuans Papieren befanden sich auch mehrere Eingaben von Sitzenden mit Vorschlägen zur Lösung der Geldsorgen. Oder eher mit Informationen für Egwene, was sie dem Saal vorzutragen beabsichtigten. Es gab jedoch bei allen Plänen nur wenige Vorteile und viele Fallen. Moria Karentanis schlug vor, den Sold der Soldaten einzusparen, eine Idee, die das Heer hätte wie Tau unter einer Hochsommersonne dahinschmelzen lassen, wenn der Saal sie bereits umgesetzt hätte. Malind Nachenin richtete einen Appell an in der Nähe befindliche Adlige, der eher nach einer Forderung klang und sehr wohl die ganze Gegend gegen sie aufbringen könnte, wie auch Salita Toranes' Absicht, in den Städten und Dörfern, durch die sie kamen, eine Abgabe zu erheben.

Egwene zerknüllte die drei Eingaben in der Faust und schüttelte diese in Siuans Richtung. Sie wünschte, es wären die Kehlen der drei Sitzenden, die sie umschloß. »Glauben sie denn alle, es müßte nur nach ihrer Nase gehen, ungeachtet der Erfordernisse? Licht, sie benehmen sich tatsächlich wie Kinder!«

»Es ist der Burg schon oft genug gelungen, ihre Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen«, sagte Siuan selbstgefällig. »Bedenkt, daß einige behaupten würden, auch Ihr ignoriertet die Realität.«

Egwene schnaubte. Glücklicherweise konnte keiner der Vorschläge ohne eine Verfügung ihrerseits in die Tat umgesetzt werden, wofür auch immer der Saal stimmen mochte. Sie hatte selbst unter diesen begrenzten Umständen ein wenig Macht. Sehr wenig, aber das war besser als nichts. »Ist der Saal immer so schwierig, Siuan?«

Siuan nickte und verlagerte leicht ihre Stellung. Nicht einmal zwei Beine ihres Stuhls wiesen die gleiche Länge auf. »Aber es könnte noch schlimmer sein. Erinnert mich daran, daß ich Euch ausführlich von dem Jahr der Vier Amyrlins erzähle. Das war ungefähr einhundertfünfzig Jahre nach der Gründung Tar Valons. In jener Zeit kam das Wirken der Burg fast den heutigen Geschehnissen gleich. Jedermann versuchte, nach Möglichkeit das Ruder zu übernehmen. Tatsächlich gab es in diesem Jahr eine Zeitlang zwei rivalisierende Säle der Burg. Beinahe wie jetzt. Fast alle hatten am Ende das Nachsehen, einschließlich einiger weniger, die glaubten, sie könnten die Burg retten. Einigen wäre es vielleicht gelungen, wenn sie nicht in Treibsand geraten wären. Die Burg überlebte natürlich dennoch. Das tut sie stets.«

Mehr als dreitausend Jahre lang schritt die Geschichte der Burg voran, vieles unterdrückt, nur wenigen Augen enthüllt, und doch schien sich Siuan jedes Details erinnern zu können. Sie mußte sich einen großen Teil ihres Lebens regelrecht in jenen geheimen Aufzeichnungen vergraben haben. Einer Sache war sich Egwene sicher: Sie würde Sheins Schicksal nach Möglichkeit meiden, aber sie würde nicht dort verbleiben, wo sie war, kaum in einer günstigeren Lage als Cemaile Sorenthaine. Schon lange vor Beendigung ihrer Regierungszeit war die wichtigste Entscheidung, die Cemaile noch zu treffen blieb, diejenige, welches Gewand sie tragen wollte.

Sie würde Siuan bitten müssen, ihr ausführlich von dem Jahr der Vier Amyrlins zu erzählen, und sie freute sich nicht darauf.

Der wandernde Lichtstrahl durch den Rauchabzug im Dach zeigte an, daß sich der Morgen dem Mittag zuneigte, aber Siuans Stapel Papiere schien kaum abgenommen zu haben. Jegliche Unterbrechung wäre willkommen gewesen, selbst vorzeitige Entdeckung. Nun, das vielleicht nicht.

»Was kommt als nächstes, Siuan?« fragte sie grollend.

Aran'gars Blick wurde von einer flüchtigen Bewegung angezogen, und sie spähte durch die Baume zum Lager des Heeres, ein schützender Kreis um die Zelte der Aes Sedai. Eine Reihe von Reitern begleiteter Wagenschlitten bewegte sich langsam ostwärts. Die fahle Sonne schimmerte auf Rüstungen und Speerspitzen. Sie verzog höhnisch das Gesicht. Speere und Pferde! Ein primitiver Haufen, der nicht schneller vorankam als ein Mensch zu Fuß, angeführt von einem Mann, der nicht wußte, was hundert Meilen entfernt geschah. Und die Aes Sedai? Sie konnte sie alle vernichten, und sie würden selbst im Tode noch nicht vermuten, wer sie umbrachte. Natürlich würde sie gleichfalls nicht lange überleben. Dieser Gedanke ließ sie erschaudern. Der Große Herr gab nur sehr wenigen eine zweite Chance im Leben, und sie würde die ihre nicht vergeuden.

Sie wartete, bis die Reiter im Wald außer Sicht gerieten, bevor sie sich wieder dem Lager zuwandte und müßig an die Träume der vergangenen Nacht dachte. Der weiche Schnee hinter ihr würde bis zum Frühjahrstauwetter verbergen, was sie vergraben hatte — durchaus lange genug. Einige der Männer im Lager vor ihr bemerkten sie schließlich und richteten sich von ihren Arbeiten auf, um sie zu beobachten. Sie lächelte wider Willen und strich den Rock über ihren Hüften glatt. Es war inzwischen schwierig geworden, sich wirklich daran zu erinnern, wie das Leben als Mann gewesen war. War sie damals ein solch leicht zu beeinflussender Tor gewesen? Mit einer Leiche ungesehen durch diese Horde zu gelangen, war selbst für sie schwierig gewesen, aber sie genoß den Rückweg.

Der Morgen schritt mit scheinbar endlosem Durchforsten von Papieren voran, bis das geschah, wovon Egwene gewußt hatte, daß es geschehen würde. Gewisse Ereignisse traten jeden Tag ein. Es würde bitterkalt werden, es würde schneien, es würden Wolken über den grauen Himmel ziehen, und es würde windig sein. Und es würden Besuche von Lelaine und Romanda stattfinden.

Egwene war müde vom langen Sitzen und vertrat sich gerade die Beine, als Lelaine mit Faolain im Schlepptau ins Zelt rauschte. Kalte Luft wehte mit ihnen herein, bevor sich der Zelteingang wieder schloß. Lelaine sah sich mit leicht mißbilligender Miene um und zog dann ihre blauen Lederhandschuhe aus, während sie sich von Faolain den luchsgesäumten Umhang von den Schultern nehmen ließ. In tiefblauer Seide, mit durchdringenden Augen, schlank und würdevoll hätte sie sich ebensogut in ihrem eigenen Zelt befinden können. Auf eine beiläufige Geste hin zog sich Faolain mit dem Kleidungsstück ehrerbietig in eine Ecke zurück, während sie ihren eigenen Umhang nur mit einer Schulterbewegung zurückwarf. Sie war unzweifelhaft bereit, auf ein weiteres Zeichen der Sitzenden hin sofort zu gehen. Ihre dunklen Züge zeugten von resignierter Demut, was ihr nicht sehr ähnlich sah.

Lelaine legte ihre Zurückhaltung kurzzeitig ab, indem sie Siuan überraschend herzlich anlächelte. Sie waren vor Jahren Freundinnen gewesen, und sie hatte sogar eine Art Schutz angeboten, wie Faolain ihn angenommen hatte, den Schutz einer Sitzenden und einen schützenden Arm gegen den Hohn und die Beschuldigungen anderer Schwestern. Lelaine berührte Siuans Wange und flüsterte leise etwas, das mitfühlend klang. Siuan errötete, und erschreckende Unsicherheit zeigte sich auf ihrem Gesicht Egwene war sich sicher, daß dies nicht vorgetäuscht war. Siuan fiel es schwer, mit dem umzugehen, was sich tatsächlich in ihr verändert hatte, und mehr noch damit, wie leicht sie sich anpaßte.

Lelaine betrachtete den Stuhl vor dem Schreibtisch und lehnte wie üblich einen solch unsicheren Platz deutlich ab. Schließlich würdigte sie Egwenes Anwesenheit mit einer leichten Neigung ihres Kopfes. »Wir müssen über das Meervolk sprechen, Mutter«, sagte sie in einem dem Amyrlin-Sitz gegenüber etwas zu harten Tonfall.

Erst als Egwene das enge Gefühl in ihrer Kehle schwinden spürte, erkannte sie, daß sie befürchtet hatte, Lelaine wüßte bereits von dem, was Lord Bryne ihr berichtet hatte. Oder sogar von dem Treffen, das er plante. Aber im nächsten Moment kehrte das beengte Gefühl wieder zurück. Das Meervolk? Der Saal konnte doch gewiß noch nichts von dem aberwitzigen Vertrag erfahren haben, den Nynaeve und Elayne geschlossen hatten. Sie konnte sich nicht vorstellen, was die beiden in eine solche Katastrophe geführt hatte oder wie sie damit umgehen sollte.

Ihr Magen rebellierte, während sie ihren Platz hinter dem Tisch wieder einnahm, ohne ihre Empfindungen preiszugeben. Dabei knickte dieses dumme Stuhlbein ein, so daß sie fast auf die Teppiche fiel, bevor sie es wieder gerade ziehen konnte. Sie hoffte, daß sie nicht errötete. »Über das Meervolk in Caemlyn oder das in Cairhien?« Ja, das klang angemessen ruhig und gefaßt.

»Das in Cairhien.« Romandas hohe Stimme erinnerte an jäh erklingende Glocken. »Gewiß in Cairhien.« Ihr Eintreten ließ Lelaine fast schüchtern erscheinen, als die Macht ihrer Persönlichkeit unvermittelt das Zelt erfüllte. Romanda lächelte nicht herzlich. So hübsch ihr Gesicht auch war, dafür schien es nicht gemacht.

Theodrin folgte ihr ins Zelt, wo Romanda schwungvoll ihren Umhang ablegte und ihn mit einer solch herrischen Geste der schlanken pausbäckigen Schwester zuwarf, daß Theodrin sich veranlaßt sah, hastig in eine Ecke gegenüber Faolain zu verschwinden. Faolain war eindeutig bezwungen, und Theodrins schrägstehende Augen waren stark geweitet, als sei sie ständig bestürzt, und sie schien nach Luft zu ringen. Wie bei Faolain forderte auch ihr rechtmäßiger Platz in der Hierarchie der Aes Sedai eine bessere Beschäftigung, aber beiden sollte sie anscheinend nicht allzubald zugestanden werden.

Romandas bezwingender Blick ruhte einen Moment auf Siuan, als überlege sie, ob sie diese auch in eine Ecke schicken sollte, aber dann rauschte sie fast abweisend an Lelaine vorbei, bevor sie sich Egwene zuwandte. »Dieser junge Mann hat anscheinend mit dem Meervolk gesprochen, Mutter. Die Augen-und-Ohren der Gelben in Cairhien sind höchst erregt darüber. Wißt Ihr, welches Interesse er an den Atha'an Miere haben könnte?«

Trotz Benutzung des Titels klang Romanda kaum so, als spräche sie mit dem Amyrlin-Sitz, aber andererseits galt das für sie stets. Es bestand kein Zweifel darüber, wer »dieser junge Mann« war. Jede Schwester im Lager akzeptierte Rand als den Wiedergeborenen Drachen, aber jedermann, der sie reden hörte, hätte glauben können, sie sprächen über einen störrischen jungen Tölpel, der vielleicht betrunken zum Essen erscheinen und den Tisch umstoßen würde.

»Sie kann wohl kaum wissen, was im Kopf des Jungen vor sich geht«, bemerkte Lelaine, bevor Egwene auch nur den Mund öffnen konnte. Ihr Lächeln wirkte dieses Mal überhaupt nicht herzlich. »Wenn eine Antwort gefunden werden muß, Romanda, wird sie in Caemlyn zu finden sein. Die dortigen Atha'an Miere halten sich nicht abgesondert auf einem Schiff auf, und ich bezweifle ernsthaft, daß hochrangige Meervolk-Leute mit verschiedenen Aufträgen von See kommen. Ich habe noch nie gehört, daß sie dies bisher aus irgendeinem Grund getan hätten. Vielleicht interessiert er sie. Sie sollten inzwischen wissen, wer er ist.«

Romanda erwiderte das Lächeln — und die Zeltwände hätten gefrieren sollen. »Es ist kaum nötig, das Offensichtliche festzustellen, Lelaine. Die vorrangige Frage ist, wie man es herausfinden kann.«

»Ich war gerade dabei, diese Frage zu klären, als Ihr hereinstürztet, Romanda. Wenn die Mutter das nächste Mal Elayne oder Nynaeve in Tel'aran'rhiod trifft, kann sie Anweisungen geben. Merilille kann herausfinden, was die Atha'an Miere wollen, oder vielleicht auch, was der Junge vorhat, wenn sie Caemlyn erreicht. Schade, daß die Mädchen nicht daran gedacht haben, einen richtigen Zeitplan aufzustellen, aber wir müssen das Problem angehen. Merilille kann sich in Tel'aran'rhiod mit einer Sitzenden treffen, wenn sie etwas weiß.« Lelaine vollführte eine kleine Geste. Es war eindeutig, daß sie selbst die erwähnte Sitzende sein sollte. »Ich dachte, Salidar wäre vielleicht ein geeigneter Ort.«

Romanda schnaubte belustigt. Selbst darin lag keine Wärme. »Es ist leichter, Merilille Anweisungen zu geben, als dafür zu sorgen, daß sie gehorcht, Lelaine. Ich erwarte, daß sie erfährt, daß sie eindringlichen Fragen ausgesetzt sein wird. Diese Schale der Winde hätte zuerst uns zur Prüfung überbracht werden sollen. Ich glaube, keine der Schwestern in Ebou Dar war sehr geschickt im Wolkentanz, und Ihr könnt das Ergebnis sehen — all dieser Tumult und die Heftigkeit. Ich erwäge, vor dem Saal eine Eingabe bezüglich aller Beteiligten zu machen.« Die Stimme der grauhaarigen Frau wurde plötzlich butterweich. »Ihr habt die Wahl Merililles unterstützt, soweit ich mich erinnere.«

Lelaine richtete sich ruckartig auf. Ihre Augen blitzten. »Ich habe jene Frau unterstützt, welche die Grauen in den Vordergrund geschoben haben, und nicht mehr«, sagte sie angewidert. »Wie hätte ich wissen sollen, daß sie die Schale dort benutzen würde? Und Meervolk-Wilde in den Kreis mit einzubeziehen! Wie konnten sie glauben, daß sie ebensoviel von der Beeinflussung des Wetters verstehen wie die Aes Sedai?« Ihr Zorn schwand jäh. Sie verteidigte sich vor ihrer stärksten Widersacherin im Saal, ihrer einzigen wahren Widersacherin. Doch sie stimmte, was ihrer Ansicht nach zweifellos das schlimmste war, über das Meervolk mit ihr überein. Es bestand kein Zweifel, daß es so war, aber dem auch Ausdruck zu verleihen, war eine andere Sache.

Romandas kaltes Lächeln vertiefte sich noch, als Lelaines Gesicht vor Zorn erblaßte. Sie richtete mit peinlich genauer Sorgfalt ihre bronzefarbenen Röcke, während Lelaine nach einer Möglichkeit suchte, die Lage umzukehren. »Wir werden sehen, wie der Saal dazu steht, Lelaine«, sagte sie schließlich. »Bis die Eingabe gemacht wird, wäre es, glaube ich, das beste, wenn sich Merilille nicht mit einer an ihrer Wahl beteiligten Sitzenden trifft. Selbst eine heimliche Verabredung würde mißtrauisch betrachtet werden. Ihr seid sicherlich einverstanden, daß ich mit ihr sprechen sollte.«

Lelaine erblaßte jetzt auf andere Art. Sie hatte keine Angst, nicht sichtbar, und doch konnte Egwene fast sehen, wie sie abzählte, wer für und wer gegen sie war. Eine heimliche Verabredung war fast ebenso schlimm wie Verrat und erforderte keine Mehrheit. Das würde sie wahrscheinlich zu vermeiden suchen, aber es würden umfassende und erbitterte Streitgespräche stattfinden. Romandas Gruppe würde dies vielleicht noch fördern, was unsägliche Probleme heraufbeschwörte, ungeachtet der Frage, ob Egwenes Plane erfolgreich wären oder nicht. Und sie konnte nichts tun, diese Entwicklung aufzuhalten, wenn sie nicht enthüllen wollte, was in Ebou Dar wirklich geschehen war. Dann könnte sie sie ebensogut bitten, sie dasselbe Angebot annehmen zu lassen wie Faolain und Theodrin.

Egwene atmete tief durch. Vielleicht könnte sie wenigstens die Benutzung Salidars als Treffpunkt in Tel'aran'rhiod verhindern. Dort traf sie jetzt Elayne und Nynaeve. Wenn sie die beiden überhaupt traf, was sie seit Tagen nicht mehr getan hatte. Wenn Sitzende in der Welt der Träume ein und aus gingen und überall dort angetroffen werden konnten, wo man sich sicher sein zu können glaubte, daß sie dort nicht auftauchen würden, wurde es schwierig. »Ich werde Eure Anweisungen bezüglich Merilille weitergeben, wenn ich Elayne und Nynaeve das nächste Mal treffe. Ich werde es Euch wissen lassen, wenn sie bereit ist, Euch zu treffen.« Was niemals geschehen würde, wenn sie jene Anweisungen erst weitergegeben hätte.

Die Sitzenden wandten jäh die Köpfe, und zwei Paar Augen starrten Egwene an. Sie hatten vergessen, daß sie da war! Sie bemühte sich, eine ausdruckslose Miene beizubehalten, erkannte, daß sie verärgert mit dem Fuß auftippte, und hielt inne. Sie mußte noch eine Weile dem entsprechen, was sie über sie dachten. Noch ein wenig länger. Zumindest empfand sie keine Übelkeit mehr. Nur Zorn.

In diese momentane Stille brach Chesa mit Egwenes Mittagsmahlzeit auf einem abgedeckten Tablett. Dunkelhaarig, rundlich und in mittlerem Alter hübsch, gelang es Chesa, angemessenen Respekt zu vermitteln, ohne zu kriechen. Ihr Hofknicks geriet so einfach, wie auch ihr dunkelgraues Gewand gehalten war, das nur einen Hauch einfache Spitze am Kragen aufwies. »Verzeiht mein Eindringen, Mutter, Aes Sedai. Ich bedaure die Verspätung wirklich, Mutter, aber Meri ist anscheinend davongezogen.« Sie schnalzte verärgert mit der Zunge, während sie das Tablett vor Egwene abstellte. Einfach davonzuziehen sah der falsch benannten Meri gar nicht ähnlich. Dieser mürrischen Frau mißfielen eigene Fehler ebensosehr wie Fehler anderer.

Romanda runzelte die Stirn, schwieg aber. Sie durfte nicht zuviel Interesse an einer von Egwenes Dienerinnen zeigen. Besonders, wenn die Frau ihre Spionin war. Ebenso wie Selame Lelaines Spionin war. Egwene vermied es, Theodrin oder Faolain anzusehen, die beide noch immer wie Aufgenommene pflichtgetreu in ihren Ecken standen.

Chesa öffnete halbwegs den Mund, schloß ihn dann aber wieder, vielleicht weil sie durch die Sitzenden eingeschüchtert war. Egwene war erleichtert, als sie einen weiteren Hofknicks vollführte und mit einem gemurmelten »Wenn Ihr erlaubt, Mutter« sich entfernte. Chesas Rat erfolgte stets durch Andeutungen, wenn noch jemand anderer anwesend war, aber im Moment war das letzte, was Egwene wollte, auch nur eine wohlüberlegte Mahnung, ihr Essen zu verspeisen, solange es noch heiß sei.

Lelaine fuhr fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Wichtig ist«, sagte sie fest, »zu erfahren, was die Atha'an Miere wollen und was der Junge tut. Vielleicht will er auch ihr König werden.« Sie streckte die Arme aus und ließ sich von Faolain den Umhang wieder umlegen, was die dunkle junge Frau vorsichtig tat. »Ihr werdet daran denken, es mich wissen zu lassen, wenn Ihr es erwägt, Mutter?« Es war eigentlich keine Frage.

»Ich werde ernsthaft darüber nachdenken«, belehrte Egwene sie. Was nicht bedeuten sollte, daß sie ihre Gedanken mitteilen würde. Sie wünschte, sie hätte auch nur eine vage Vorstellung von der Antwort. Ihr war bekannt, daß die Atha'an Miere Rand für ihren prophezeiten Coramoor hielten, obwohl der Saal es nicht wußte, aber was er von ihnen wollte — oder sie von ihm — konnte sie sich nicht annähernd vorstellen. Nach Elaynes Worten hatten die bei ihnen befindlichen Angehörigen des Meervolks auch keinen Hinweis darauf. Oder zumindest behaupteten sie es. Egwene wünschte fast, es befänden sich eine Handvoll der Schwestern im Lager, die von den Atha'an Miere gekommen waren. Jene Windsucherinnen würden auf die eine oder andere Art Probleme verursachen.

Auf ein Zeichen von Romanda hin sprang Theodrin wie aufgescheucht mit dem Umhang der Sitzenden vor. Romandas Miene nach zu urteilen, war sie über Lelaines Wiederherstellung nicht erfreut. »Ihr werdet daran denken, Merilille zu sagen, daß ich mit ihr zu sprechen wünsche, Mutter«, sagte sie, und das war keineswegs eine Frage.

Einen kurzen Augenblick standen die beiden Sitzenden da und sahen einander an, wobei sie Egwene in ihrer gegenseitigen Erbitterung erneut vergaßen. Sie gingen ohne ein Wort zu ihr, fast um Vorrang ringend, bevor Romanda zuerst hinausglitt und Theodrin ihr auf dem Fuße folgte. Lelaine bleckte die Zähne und schob Faolain vor sich aus dem Zelt.

Siuan stieß einen tiefen Seufzer aus und versuchte nicht, ihre Erleichterung zu verbergen.

»Wenn Ihr erlaubt, Mutter«, knurrte Egwene spöttisch. »Wenn es Euch recht ist, Mutter. Ihr dürft gehen, Töchter.« Sie atmete tief aus und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, der sie augenblicklich auf den Teppich schickte. Sie richtete sich langsam wieder auf, glättete energisch ihre Röcke und rückte die Stola zurecht. Es war zumindest nicht vor jenen zwei Frauen passiert. »Geht und besorgt etwas zu essen, Siuan. Wir haben noch einen langen Tag vor uns.«

»Einige Stürze schmerzen weniger als andere«, sagte Siuan wie zu sich selbst, bevor sie gebückt das Zelt verließ. Es war gut, daß sie so schnell ging, denn andernfalls hätte Egwene sie vielleicht gescholten.

Sie kehrte jedoch bald zurück, und sie aßen harte Brötchen und Linseneintopf mit harten Karotten und Fleischstücken, die Egwene nicht näher betrachtete. Es gab nur wenige Unterbrechungen oder Belästigungen, während deren sie schwiegen und die Berichte zu studieren vorgaben. Chesa kam, um das Tablett fortzuräumen, und später noch einmal, um neue Kerzen aufzustellen, wobei sie grollte, was ihr nicht ähnlich sah.

»Wer hätte erwartet, daß Selame auch davonziehen würde?« murrte sie halbwegs zu sich selbst. »Vermutlich hat sie sich mit den Soldaten eingelassen. Diese Halima übt einen schlechten Einfluß aus.«

Ein hagerer junger Bursche mit tropfender Nase entfernte die bereits erkaltete Asche in den Kohlenpfannen und brachte neue Kohlen — der Amyrlin wurde mehr Wärme zugestanden als den meisten anderen, aber auch das war nicht viel —, wobei er über seine eigenen Stiefel stolperte und Egwene auf eine Art anstarrte, die nach den beiden Sitzenden als recht angenehm bezeichnet werden mußte. Sheriam tauchte auf, um nachzufragen, ob Egwene noch irgendwelche weiteren Anweisungen habe, und schien dann bleiben zu wollen. Vielleicht machten sie die wenigen Geheimnisse, die sie kannte, nervös. Zumindest ließ sie ihre Blicke unbehaglich schweifen.

Das war alles, und Egwene war sich nicht sicher, ob es nur so war, weil niemand die Amyrlin grundlos störte, oder weil alle wußten, daß die wahren Entscheidungen im Saal getroffen wurden.

»Ich weiß nichts von diesem Bericht über Soldaten, die westwärts aus Kandor hinaus ziehen«, sagte Siuan, sobald sich der Zelteingang hinter Sheriam geschlossen hatte. »Es gibt nur diesen einen Bericht, und Grenzbewohner entfernen sich selten weit von der Großen Fäule, aber das weiß jeder Narr, so daß es wohl kaum die Art Geschichte ist, die jemand erfinden würde.« Sie las jetzt nichts ab.

Siuan hatte es bislang geschafft, das Netzwerk der Augen-und-Ohren der Amyrlin sehr sorgfältig unter Kontrolle zu halten, und Berichte, Gerüchte und Geschwätz flössen ihr in beständigem Strom zu, um gesichtet zu werden, bevor sie und Egwene entschieden, was an den Saal weitergegeben wurde. Leane besaß ihr eigenes Netzwerk, das noch zu dem beständigen Strom beitrug. Das meiste davon wurde weitergegeben — einige Dinge mußte der Saal wissen, und es gab keine Gewähr, daß die Ajahs weitergeben würden, was ihre eigenen Agenten erfuhren —, aber alles mußte Daraufhin überprüft werden, ob es vielleicht gefährlich sein oder die Aufmerksamkeit vom wahren Ziel ablenken könnte.

Nur wenige jener Ströme trugen in letzter Zeit gute Nachrichten heran. Cairhien hatte viele Gerüchte über mit Rand verbündete oder, noch schlimmer, ihm dienende Aes Sedai hervorgebracht, obwohl zumindest diese Angaben einfach unbeachtet gelassen werden konnten. Die Weisen Frauen sagten nicht viel über Rand oder die Menschen, die mit ihm in Verbindung standen, aber ihnen zufolge erwartete Merana seine Rückkehr, und die Schwestern im Sonnenpalast, wo der Wiedergeborene Drache seinen ersten Thron innehatte, waren gewiß ein guter Grund, solche Erzählungen entstehen zu lassen. Andere Gerüchte wurden nicht so leicht mißachtet, selbst wenn schwer zu erkennen war, was man von ihnen halten sollte. Ein Drucker in Illian behauptete, er hätte Beweise dafür, daß Rand Mattin Stepaneos mit eigenen Händen getötet und den Leichnam mit der Einen Macht vernichtet hätte, während eine Arbeiterin auf den dortigen Docks erklärte, sie hätte gesehen, wie man den früheren König gefesselt und geknebelt und in einen Teppich eingerollt an Bord eines Schiffes gebracht habe, das in der Nacht mit dem Segen des Befehlshabers der Hafenwache davongesegelt sei. Ersteres war weitaus wahrscheinlicher, aber Egwene hoffte, daß keiner der Agenten der Ajahs diese Geschichten gehört hätte. Es gab in den Büchern der Schwestern bereits zu viele abträgliche Vermerke über Rand.

So ging es weiter. Die Seanchaner schienen sich gegen nur geringen Widerstand in Ebou Dar festzusetzen. Das war vielleicht in einem Land zu erwarten gewesen, in dem die wahre Regentschaft der Königin nur wenige Tagesritte von ihrer Hauptstadt entfernt endete, und doch war es kaum ermutigend. Die Shaido waren anscheinend überall, obwohl stets nur über zehn Ecken von ihnen berichtet wurde. Die meisten Schwestern schienen zu glauben, die verstreuten Shaido wären Rands Werk, obwohl die Weisen Frauen dies bestritten, was Sheriam weitergab. Aber natürlich wollte niemand ihre mutmaßlichen Lügen allzu genau überprüfen. Es gab hundert Ausreden, denn niemand außer den Egwene verschworenen Schwestern wollte sie in Tel'aran'rhiod treffen, und auch ihnen mußte es befohlen werden. Anaiya nannte die Begegnungen trocken »recht umfassende Lektionen in Demut«, und sie schien überhaupt nicht belustigt zu sein.

»Es kann nicht so viele Shaido geben«, murrte Egwene. Dem zweiten Schub Kohlen, der zu schwacher Glutasche erstarb, waren keine Kräuter beigefügt worden, und ihre Augen schmerzten von dem schwach in der Luft schwebenden Rauch. Die Macht zu lenken, um ihn zu beseitigen, würde auch die letzte Wärme vertreiben. »Ein Teil von alledem muß das Werk von Banditen sein.« Wer konnte schließlich unterscheiden, ob ein Dorf von flüchtigen Banditen oder von Shaido gesäubert worden war? Besonders, wenn man es erst aus dritter oder fünfter Hand hörte. »Es sind gewiß ausreichend viele Banditen in der Nähe, daß sie für einen Teil der Geschehnisse verantwortlich gemacht werden können.« Die meisten nannten sich Drachenverschworene, was überhaupt nicht hilfreich war.

Egwene bewegte die Schultern, um die Verspannungen in ihren Muskeln zu lösen.

Dann erkannte sie jäh, daß Siuan so intensiv ins Leere starrte, daß sie fast von ihrem Stuhl zu fallen schien. »Siuan, schlaft Ihr ein? Wir haben zwar den größten Teil des Tages gearbeitet, aber draußen ist es immer noch hell.« Am Rauchabzug war Licht zu sehen, obwohl es allmählich schwand.

Siuan blinzelte. »Verzeiht. Ich habe in letzter Zeit über etwas nachgedacht und zu entscheiden versucht, ob ich es Euch mitteilen soll. Über den Saal.«

»Über den Saal! Siuan, wenn Ihr etwas über den Saal wißt...!«

»Ich weiß nichts«, unterbrach Siuan sie. »Ich vermute nur etwas.« Sie schnalzte verärgert mit der Zunge. »Und nicht einmal das wirklich. Zumindest weiß ich nicht, was ich vermuten soll. Aber ich sehe ein Muster.«

»Dann solltet Ihr mir lieber davon erzählen«, sagte Egwene. Siuan hatte sich als sehr geschickt darin erwiesen, Muster zu entdecken, wo andere nur ein Durcheinander sahen.

Siuan regte sich unbehaglich auf ihrem Stuhl und beugte sich dann angespannt vor. »Es geht um Folgendes: Außer Romanda und Moria sind die in Salidar erwählten Sitzenden ... zu jung.« Vieles hatte sich in Siuan gewandelt, aber über das Alter anderer Schwestern zu reden bereitete ihr eindeutig noch immer Unbehagen. »Escaralde ist die älteste, und sie ist gewiß nicht viel älter als siebzig. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, ohne in den Novizinnenbüchern in Tar Valon nachzuschlagen, aber ich bin mir ziemlich sicher. Der Saal hat nur selten mehr als eine Sitzende unter hundert Jahren aufgewiesen, und hier sind es neun!«

»Aber Romanda und Moria sind neu hinzugekommen«, sagte Egwene freundlich, während sie die Ellbogen auf den Tisch stützte. Es war ein langer Tag gewesen. »Und keine von beiden ist jung. Vielleicht sollten wir dankbar dafür sein, daß die anderen es sind, sonst wären sie vielleicht nicht bereit gewesen, mich aufzustellen.« Sie hätte noch darauf hinweisen können, daß Siuan selbst zur Amyrlin gewählt worden war, als sie nicht einmal halb so alt wie Escaralde war, aber es wäre eine grausame Erinnerung gewesen.

»Vielleicht«, sagte Siuan eigensinnig. »Romanda stand für den Saal fest, sobald sie auftauchte. Ich bezweifle, daß es eine Gelbe gibt, die gegen sie zu sprechen wagte, um den Vorsitz zu erlangen. Und Moria ... sie hängt nicht an Lelaine, aber Lelaine und Lyrelle dachten wahrscheinlich, sie würde es tun. Ich weiß es nicht. Aber merkt Euch meine Worte: Wenn eine Frau in zu jungem Alter erhoben wird, gibt es dafür einen Grund.« Sie atmete tief durch. »Das galt auch bei mir.« Der Schmerz des Verlusts zeigte sich deutlich auf ihrem Gesicht, gewiß der Verlust des Amyrlin-Sitzes, dieser von all den von ihr erlittenen Verlusten vielleicht am schmerzhaftesten. Aber der Eindruck schwand fast ebenso schnell wieder, wie er entstanden war. Egwene glaubte nicht, daß sie schon jemals einer solch starken Frau wie Siuan begegnet war. »Dieses Mal waren überaus viele Schwestern im angemessenen Alter, erwählt zu werden, und ich kann nicht verstehen, warum sich fünf Ajahs auf all diese jungen Schwestern festlegen sollten. Es besteht ein Muster, und ich werde es herausfinden.«

Egwene war anderer Meinung. Veränderung lag in der Luft, ob Siuan es wahrhaben wollte oder nicht. Elaida hatte mit einem Brauch gebrochen, fast das Gesetz gebrochen, indem sie sich Siuans Platz widerrechtlich angeeignet hatte. Schwestern waren aus der Burg entflohen und hatten die Welt darüber unterrichtet, und letzteres war gewiß noch niemals zuvor geschehen. Veränderung. Ältere Schwestern wären eher der alten Art verbunden, aber selbst einige von ihnen mußten erkennen, daß alles in Bewegung geraten war. Gewiß war das der Grund, warum jüngere Frauen gewählt worden waren, die Neuem offener gegenüberstanden. Sollte sie Siuan befehlen, ihre Zeit nicht mehr damit zu verschwenden? Siuan hatte genug anderes zu tun. Oder sollte sie Siuan weitermachen lassen? Sie wollte so gern beweisen, daß die Veränderung, die jene erkannte, in Wahrheit gar nicht bestand.

Bevor Egwene eine Entscheidung treffen konnte, betrat Romanda geduckt das Zelt und blieb, den Eingang geöffnet haltend, stehen. Lange Schatten erstreckten sich draußen über den Schnee. Der Abend kam schnell. Romandas Gesicht war ebenso düster wie jene Schatten. Sie sah Siuan mit starrem Blick an und äußerte barsch nur ein Wort: »Raus!«

Egwene nickte kaum merklich, aber Siuan war bereits aufgesprungen. Sie stolperte und rannte dann fast aus dem Zelt. Von einer Schwester vom Range Siuans wurde erwartet, daß sie jeder Schwester gehorchte, welche der Stärke in der Macht Romandas gleichkam, nicht nur einer Sitzenden.

Romanda schloß den Zelteingang und umarmte die Quelle. Das Schimmern Saidars umgab sie, und sie wob einen Schutz gegen Lauscher um das Innere des Zelts, ohne auch nur vorzugeben, Egwene um Erlaubnis fragen zu wollen. »Ihr seid eine Närrin!« stieß sie zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Wie lange glaubtet Ihr, dies geheimhalten zu können? Soldaten reden, Kind. Männer reden immer! Bryne wird Glück haben, wenn der Saal nicht seinen Kopf fordert.«

Egwene erhob sich langsam, während sie ihre Röcke glättete. Sie hatte hierauf gewartet, aber dennoch mußte sie auch weiterhin vorsichtig sein. Das Spiel war noch lange nicht beendet, und alles konnte sich noch immer blitzartig gegen sie wenden. Sie mußte Unschuld vorgeben, bis sie es sich leisten konnte, damit aufzuhören, »Muß ich Euch daran erinnern, daß Unhöflichkeit dem Amyrlin-Sitz gegenüber ein Verbrechen ist, Tochter«, sagte sie statt dessen. Sie hatte schon so lange etwas vorgetäuscht, und sie war so nahe daran.

»Der Amyrlin-Sitz.« Romanda schritt über die Teppiche auf Armeslänge zu Egwene, und ihrem Blick nach zu urteilen, erwog sie, noch näher zu kommen. »Ihr seid ein Kind! Euer Hintern erinnert sich noch der letzten Schläge, die Ihr als Novizin erhalten habt! Ihr werdet Glück haben, wenn der Saal Euch nicht mit einigen hübschen Spielzeugen in eine Ecke verweist. Wenn Ihr das vermeiden wollt, werdet Ihr mir zuhören und tun, was ich Euch sage. Und jetzt setzt Euch!«

Egwene kochte innerlich, aber sie setzte sich hin. Es war noch zu früh.

Romanda stemmte mit zufriedenem Nicken die Fäuste in die Hüften. Sie sah auf Egwene herab wie eine strenge Tante, die eine ungehorsame Nichte zurechtweist. Eine sehr strenge Tante. Oder ein Scharfrichter mit Zahnschmerzen. »Dieses Treffen mit Pelivar und Arathelle muß jetzt, da es einberufen wurde, natürlich stattfinden. Sie erwarten den Amyrlin-Sitz, und sie werden sie sehen. Ihr werdet mit allem Eurem Titel gebührendem Prunk und aller Würde daran teilnehmen. Und Ihr werdet ihnen sagen, daß ich für Euch sprechen soll, woraufhin Ihr den Mund halten werdet! Es ist eine feste Hand erforderlich, sie uns aus dem Weg zu schaffen — und jemand, der weiß, was er tut. Lelaine wird zweifellos jeden Moment hier sein und versuchen, sich vorzudrängen, aber Ihr solltet Euch der Schwierigkeiten entsinnen, in denen sie steckt. Ich habe den Tag mit Gesprächen mit den anderen Sitzenden verbracht, und es erscheint sehr wahrscheinlich, daß Merililles und Meranas Versagen Lelaine zur Last gelegt werden wird, wenn der Saal das nächste Mal tagt. Wenn Ihr also irgendwelche Hoffnungen hegt, die für Euch notwendige Erfahrung zu sammeln, um dieser Stola gerecht zu werden, liegt sie bei mir! Versteht Ihr mich?«

»Ich verstehe vollkommen«, sagte Egwene mit, wie sie hoffte, sanftmütiger Stimme. Wenn sie Romanda an ihrer Stelle sprechen ließe, würden keine Zweifel mehr bestehen. Der Saal und die ganze Welt würden wissen, unter welchem Einfluß Egwene al'Vere stand.

Romandas Blick schien sich in ihren Kopf zu bohren, bevor die Frau kurz nickte. »Hoffentlich. Ich beabsichtige, Elaida vom Amyrlin-Sitz zu vertreiben, und ich werde mir diese Absicht nicht verderben lassen, weil ein Kind glaubt, es wüßte genug, um seinen Weg über die Straße zu finden, ohne daß jemand seine Hand hält.« Sie warf sich mit einem Schnauben den Umhang um und rauschte aus dem Zelt. Der Schutz schwand mit ihr.

Egwene saß da und blickte stirnrunzelnd zum Zelteingang. Ein Kind? Verdammt sei die Frau, sie war der Amyrlin-Sitz! Ob es ihnen nun gefiel oder nicht —sie hatten sie erwählt, und sie würden damit leben müssen! Sie ergriff das steinerne Tintengefäß und warf es auf den Zelteingang.

Lelaine sprang zurück und entging dem Geschoß nur knapp. »Ruhig, ruhig«, schalt sie, während sie eintrat.

Sie bat ebensowenig um Erlaubnis wie Romanda, umarmte die Quelle und wob ebenfalls einen Schutz gegen Lauscher. Wo Romanda Zorn empfunden zu haben schien, empfand Lelaine Selbstzufriedenheit; sie rieb sich die behandschuhten Hände und lächelte.

»Ich brauche Euch vermutlich nicht zu erzählen, daß Euer kleines Geheimnis enthüllt wurde. Das war nicht nett von Lord Bryne, aber ich denke, er ist zu wertvoll, um ihn zu töten. Sein Glück, daß ich so denke. Laßt mich sehen. Romanda hat Euch vermutlich erzählt, daß ein Treffen mit Pelivar und Arathelle stattfinden wird, Ihr aber Romanda das Reden überlassen sollt. Habe ich recht?« Egwene regte sich, aber Lelaine winkte ab. »Ihr braucht nicht zu antworten. Ich kenne Romanda. Zu ihrem Pech habe ich vor ihr davon erfahren, und anstatt geradewegs zu Euch zu laufen, habe ich die anderen Sitzenden befragt. Wollt Ihr wissen, was sie denken?«

Egwene ballte die Fäuste im Schoß, wo es, wie sie hoffte, nicht bemerkt würde. »Ihr werdet es mir vermutlich erzählen.«

»Es steht Euch nicht zu, in diesem Ton mit mir zu sprechen«, sagte Lelaine scharf, aber im nächsten Moment lächelte sie schon wieder. »Der Saal ist unzufrieden mit Euch. Sehr unzufrieden. Womit auch immer Romanda Euch gedroht hat — und das kann man sich nur allzuleicht vorstellen —, kann ich ausräumen. Romanda hat außerdem eine Anzahl Sitzender mit ihren Schikanen verärgert. Wenn Ihr also nicht mit noch weniger Autorität als jetzt dastehen wollt, sollte Romanda morgen überrascht werden, indem Ihr mich als Eure Sprecherin benennt. Es ist schwer zu glauben, daß Arathelle und Pelivar dumm genug waren, diesem Treffen zuzustimmen, aber sie werden mit eingezogenem Schwanz davonschleichen, wenn ich erst mit ihnen fertig bin.«

»Woher soll ich wissen, daß Ihr Eure Drohungen nicht ohnehin ausführt?« Egwene hoffte, daß ihre zornige Äußerung nur mürrisch klang. Licht, sie hatte all dies satt!

»Weil ich sage, daß ich es nicht tun werde«, fauchte Lelaine. »Wißt Ihr denn inzwischen nicht, daß Ihr in Wahrheit keinerlei Befugnisse habt? Der Saal hat sie, und dies ist eine Sache zwischen Romanda und mir. In weiteren hundert Jahren wird Euch die Stola vielleicht gebühren, aber im Moment sitzt still, faltet Eure Hände und laßt jemanden, der weiß, was er tut, Elaida vertreiben.«

Egwene saß erneut zum Eingang starrend da, nachdem Lelaine gegangen war. Dieses Mal ließ sie den Zorn nicht überkochen. Die Stola wird Euch vielleicht gebühren. Romanda hatte fast dasselbe gesagt. Jemand, der weiß, was er tut. Täuschte sie sich tatsächlich? Ein Kind, das zunichte machte, was eine erfahrene Frau leicht handhaben konnte?

Siuan schlüpfte ins Zelt und blieb dann mit besorgtem Blick stehen. »Gareth Bryne kam gerade zu mir, um mir zu sagen, daß der Saal Bescheid weiß«, sagte sie trocken. »Er kam unter dem Vorwand, nach seinen Hemden zu fragen. Er und seine verdammten Hemden! Das Treffen ist für morgen angesetzt, an einem See ungefähr fünf Stunden nördlich von hier. Pelivar und Arathelle sind bereits dorthin unterwegs und Aemlyn ebenfalls. Ein drittes starkes Haus.«

»Das ist mehr, als Lelaine oder Romanda mir mitzuteilen geruhten«, sagte Egwene ebenso trocken. Nein. Hundert oder fünfzig oder fünf Jahre an der Hand geführt, am Kragen vorwärts geschoben werden — und sie würde zu nichts anderem mehr taugen. Wenn sie in etwas hineinwachsen sollte, dann mußte sie jetzt wachsen.

»Oh, Blut und blutige Asche«, stöhnte Siuan. »Ich halte es nicht aus! Was haben sie gesagt? Wie sind die Gespräche verlaufen?«

»Ungefähr so, wie wir es erwartet hatten.« Egwene lächelte mit einer Verwunderung, die sich auch in ihrer Stimme widerspiegelte. »Siuan, sie hätten mir den Saal nicht gekonnter ausliefern können, wenn ich ihnen gesagt hätte, was sie tun sollen.«

Das letzte Tageslicht schwand, als Sheriam sich ihrem Zelt näherte, das noch kleiner war als Egwenes. Wäre sie nicht die Behüterin der Chroniken gewesen, hätte sie es sogar noch teilen müssen. Sie betrat das Zelt geduckt und hatte nur noch Zeit zu erkennen, daß sie nicht allein war, als sie bereits abgeschirmt und mit dem Gesicht nach unten auf ihr Feldbett geworfen wurde. Sie wollte aufschreien, aber eine Ecke ihrer Decken verstopfte ihr den Mund. Die Kleidung wurde ihr vom Leib gerissen.

Dann erhielt sie einen Schlag auf den Kopf. »Ihr solltet mich auf dem laufenden halten, Sheriam. Dieses Mädchen plant etwas, und ich will wissen, was es ist.«

Es dauerte lange, ihren Fragesteller davon zu überzeugen, daß sie ihm bereits alles gesagt hatte, was sie wußte, daß sie niemals ein Wort zurückhalten würde, kein Flüstern. Als sie schließlich in Ruhe gelassen wurde, lag sie zusammengerollt da, wimmerte vor Schmerzen und wünschte sich bitterlich, sie hatte niemals in ihrem Leben auch nur mit einer einzigen Sitzenden im Saal gesprochen.

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