18 Ein seltsamer Ruf

Nachdem Egwene herabgestiegen war, regte sich einen Moment niemand sonst. Und dann eilten die Andoraner und Murandianer fast wie ein Mann zu den Sitzenden. Offenkundig war ein Mädchen als Amyrlin — eine weibliche Puppe und Galionsfigur! — für sie nicht von Interesse angesichts der alterslosen Gesichter, die zumindest besagten, daß sie tatsächlich mit Aes Sedai sprachen. Zwei oder drei Lords und Ladys drängten sich um jede Sitzende, einige reckten herausfordernd das Kinn, andere beugten schüchtern den Kopf, aber jeder beharrte darauf, angehört zu werden. Der scharfe Wind vertrieb ihren Nebelatem und ließ vor Aufregung vergessene Umhänge flattern. Auch Sheriam wurde von dem rotgesichtigen Lord Donel gelöchert, der abwechselnd aufbrauste und sich ruckartig verbeugte.

Egwene zog Sheriam von dem Mann mit den verengten Augen fort. »Findet unauffällig alles nur Mögliche über diese Schwestern und Burgwachen in Andor heraus«, flüsterte sie hastig. Donel beanspruchte die Frau erneut, sobald Egwene sie losgelassen hatte. Sheriam schien tatsächlich außer Fassung, aber ihre Stirn glättete sich rasch wieder. Donel blinzelte unbehaglich, als sie ihn zu befragen begann.

Romanda und Lelaine starrten Egwene mit wie in Eis gemeißelten Gesichtern durch die Menge hindurch an, aber beide mußten sich um zwei Adlige kümmern, die etwas von ihnen wollten. Vielleicht die nochmalige Versicherung, daß sich hinter Egwenes Worten keine List verbarg. Wie sie es hassen würden, das zu tun, aber welche Ausflüchte sie auch machen würden — und das taten sie gewiß! —, war diese Versicherung unvermeidbar, wenn sie sie nicht gleichzeitig leugnen wollten. Selbst diese beiden würden nicht so weit gehen. Nicht hier, nicht in aller Öffentlichkeit.

Siuan näherte sich Egwene mit demütiger Miene, aber ihr Blick schweifte unruhig umher. Sie hielt vielleicht nach Romanda oder Lelaine Ausschau, die kämen, um Egwene vom Fleck weg zu ergreifen und Recht, Gebräuche, Anstand und Zuschauer zu vergessen. »Shein Chunla«, flüsterte sie zischend.

Egwene nickte, aber sie hielt nach Talmanes Ausschau. Die meisten Männer und einige der Frauen waren ausreichend groß, ihn verbergen zu können. Und da alle ständig den Standort wechselten... Sie stellte sich auf Zehenspitzen. Wo war er hingegangen?

Segan pflanzte sich vor ihr auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und betrachtete Siuan zweifelnd. Egwene stellte sich rasch wieder richtig hin. Die Amyrlin durfte nicht wie ein Mädchen beim Tanz auf der Suche nach einem Jungen herumzappeln. Eine sich öffnende Rosenknospe. Ruhig. Gelassen bleiben. Der Teufel hole alle Männer!

Segan, eine schlanke Frau mit langem dunklen Haar, schien bereits verdrießlich geboren zu sein, den vollen Mund ständig zu einem Schmollen verzogen. Ihr Gewand bestand aus edlem blauem Tuch und hielt warm, aber es wies weitaus zuviel grüne Stickerei über dem Busen auf, und ihre Handschuhe hätten einem Kesselflicker zur Ehre gereicht. Sie betrachtete Egwene von Kopf bis Fuß und schürzte mit ebenso skeptischer Miene die Lippen, wie sie es bereits bei Siuan getan hatte. »Eure Bemerkung über das Novizinnenbuch...«, sagte sie plötzlich. »Habt Ihr damit jede Frau absolut jeden Alters gemeint? Jede kann also eine Aes Sedai werden?«

Eine Frage, die Egwene am Herzen lag, und eine Antwort, die sie gern gegeben hätte — zusammen mit einer Ohrfeige für den zweifelnden Unterton —, aber genau in diesem Moment gab eine Lücke im Strom der Menschen nahe der Rückwand des Pavillons den Blick auf Talmanes frei. Im Gespräch mit Pelivar! Sie standen steif da, Bulldoggen, die zwar noch nicht die Zähne bleckten, aber wachsam darauf achteten, daß niemand nahe genug kam, um sie belauschen zu können. »Jede Frau absolut jeden Alters, Tochter«, bestätigte sie wie abwesend. Pelivar?

»Danke«, sagte Segan und fügte halbherzig hinzu: »Mutter.« Sie deutete einen kaum erkennbaren Hofknicks an, bevor sie davoneilte. Egwene blickte ihr hinterher. Nun, es war zumindest ein Anfang.

Siuan schnaubte. »Es macht mir nichts aus, wenn es sein muß auch in der Dunkelheit die Drachenfinger zu umsegeln«, murrte sie leise. »Wir haben darüber gesprochen. Wir haben die Gefahren erwogen und haben anscheinend keine Wahl. Aber Ihr müßt ein Feuer an Deck entfachen, um Aufmerksamkeit zu erwecken. Es genügt Euch nicht, einen kleinen Fisch ins Netz zu bekommen. Es muß ein großer Fisch sein. Es genügt Euch nicht, kleine Hindernisse zu bewältigen...«

Egwene unterbrach sie. »Siuan, ich denke, ich sollte Lord Bryne erzählen, daß Ihr bis über beide Ohren in ihn verliebt seid. Es ist nur gerecht, daß er es erfährt, meint Ihr nicht?« Siuans blaue Augen traten hervor, und sie bewegte die Lippen, aber es erklang nur eine Art Kollern. Egwene tätschelte ihre Schulter. »Ihr seid eine Aes Sedai, Siuan. Gebt Euch Mühe, zumindest ein wenig Würde zu bewahren. Und versucht, etwas über jene Schwestern in Andor herauszufinden.« Die Menge teilte sich erneut Sie sah Talmanes an einem anderen Fleck, aber noch immer am Rande des Pavillons. Jetzt war er allein.

Sie ging bemüht beiläufig in seine Richtung, ließ Siuan noch immer sprachlos zurück. Ein hübscher, dunkelhaariger Diener, dessen bauschige Tuchhose seine wohlgerundeten Waden nicht ganz verbergen konnte, bot Siuan auf einem Tablett einen dampfenden Becher an. Weitere Diener gingen mit Silbertabletts umher. Erfrischungen wurden angeboten, wenn auch ein wenig verspätet. Und es war viel zu spät für den Friedenskuß. Sie hörte nicht, was Siuan sagte, als sie den Becher an sich riß, aber aus der Art, wie der Bursche zusammenzuckte und sich hastig verbeugte, war zu entnehmen, daß er ihre schlechte Laune zumindest bemerkt hatte. Egwene seufzte.

Talmanes stand mit verschränkten Armen da und beobachtete das Geschehen mit einem belustigten Lächeln, das seine Augen nicht mit einschloß. Er schien vor Tatendrang zu sprühen, aber seine Augen wirkten müde. Er verbeugte sich respektvoll, als sie herannahte, doch klang seine Stimme leicht verzerrt, als er sagte: »Ihr habt heute eine Grenze verändert.« Er schloß seinen Umhang gegen den eisigen Wind. »Sie war immer ... fließend ... die Grenze zwischen Andor und Murandy, gleichgültig, was die Landkarten besagen, aber Andor hat niemals zuvor so viele Leute gen Süden gesandt. Außer natürlich im Aiel-Krieg und im Weißmäntel-Krieg, aber damals sind sie nur hindurchgezogen. Wenn sie erst einmal einen Monat hier sind, werden neue Landkarten eine neue Grenze aufzeigen. Seht Euch die Kriecherei der Murandianer an, die um Pelivar und seine Begleiter ebenso herumscharwenzeln wie um die Schwestern. Sie hoffen, für einen Tag neue Freunde zu gewinnen.«

Egwene, die ihre sorgfältige Beobachtung jener, die sie vielleicht beobachteten, zu verbergen suchte, schien es, als ob alle Adligen, Murandianer und Andoraner gleichermaßen, auf die Sitzenden fixiert waren. Sie hatte unzweifelhaft wichtigere Angelegenheiten im Kopf als Grenzen. Für sie wichtige Angelegenheiten, wenn auch nicht für die Adligen. Bis auf wenige Momente wurde keine der Sitzenden über ihre Kopfe hinweg sichtbar. Nur Halima und Siuan schienen sie zu bemerken, und ein Geschnatter wie das einer Herde aufgeregter Gänse erfüllte den Pavillon. Sie senkte die Stimme und wählte ihre Worte sorgfältig.

»Freunde sind stets wichtig, Talmanes. Ihr wart Mat ein guter Freund, und mir, glaube ich, auch. Ich hoffe, das hat sich nicht geändert. Ich hoffe, Ihr habt niemandem erzählt, was Ihr nicht erzählen solltet« Licht, sie hatte Angst, sonst wäre sie nicht so direkt gewesen. Als nächstes würde sie noch mit der Frage herausplatzen, worüber er und Pelivar gesprochen hatten!

Glücklicherweise lachte er sie nicht aus, obwohl sie sich wie eine Frau vom Lande mit schlichtem Geist benahm, auch wenn er das vielleicht dachte. Er betrachtete sie ernst, bevor er mit leiser Stimme sprach. Er konnte auch vorsichtig sein. »Nicht alle Männer klatschen. Sagt mir, als Ihr Mat südwärts schicktet — wußtet Ihr da, was Ihr heute hier tun würdet?«

»Wie hätte ich das vor zwei Monaten wissen können? Nein, Aes Sedai sind nicht allwissend, Talmanes.« Sie hatte darauf gehofft, hatte es geplant, aber sie hatte es nicht gewußt, nicht damals. Sie hoffte auch, daß er nicht klatschte. Einige Männer taten es tatsächlich nicht.

Romanda kam mit festem Schritt und starrer Miene auf sie zu, aber Arathelle fing sie ab, ergriff die Gelbe Sitzende am Arm und ließ sich trotz Romandas Erstaunen nicht abwimmeln.

»Werdet Ihr mir wenigstens sagen, wo Mat ist?« fragte Talmanes. »Ist er mit der Tochter-Erbin auf dem Weg nach Caemlyn? Warum seid Ihr überrascht? Eine Dienerin spricht mit einem Soldaten, wenn sie Wasser aus demselben Fluß holt. Selbst wenn er ein schrecklicher Drachenverschworener ist«, fügte er trocken hinzu.

Licht! Männer waren manchmal wirklich ... ungehörig. Auch die besten von ihnen fanden Möglichkeiten, im falschen Moment genau das Falsche zu sagen, die falsche Frage zu stellen, ganz zu schweigen davon, Dienerinnen zum Reden zu verführen. Es wäre um so vieles leichter, wenn sie einfach lügen könnte, aber er hatte ihr innerhalb der Eide viel Raum gelassen. Die halbe Wahrheit würde genügen und ihn davon abhalten, nach Ebou Dar zu eilen. Vielleicht auch weniger als die halbe Wahrheit.

In der entgegengesetzten Ecke des Pavillons stand Siuan in eine Unterhaltung mit einem großen jungen Rotschopf mit gezwirbeltem Schnurrbart vertieft, der sie ebenso zweifelnd ansah, wie Segan es getan hatte. Adlige kannten zumeist das Aussehen von Aes Sedai, aber er hielt Siuans Aufmerksamkeit nur teilweise gefangen. Ihr Blick zuckte ständig zu Egwene, schien laut wie das Gewissen zu schreien. Oder nicht ganz so laut. Angemessen. Was es bedeutete, eine Aes Sedai zu sein. Sie hatte nichts von heute gewußt, nur darauf gehofft! Egwene schnaubte verärgert. Verdammt sei die Frau!

»Nach allem, was ich zuletzt gehört habe, war er in Ebou Dar«, murmelte sie. »Aber er zieht inzwischen wohl so schnell wie möglich nach Norden. Er glaubt noch immer, daß er mich retten muß, Talmanes, und Matrim Cauthon würde die Gelegenheit nicht versäumen, zur Stelle zu sein, damit er behaupten kann, ich hätte Euch dies gesagt.«

Talmanes wirkte keineswegs überrascht. »Ich dachte mir schon, daß es so sein könnte«, seufzte er. »Ich habe etwas ... gespürt, schon seit Wochen. Andere in der Bande ebenfalls. Nicht drängend, aber stets vorhanden, als brauchte er mich. Als sollte ich auf jeden Fall südwärts suchen. Es kann merkwürdig sein, einem Ta'veren zu folgen.«

»Vermutlich«, stimmte sie zu und hoffte, daß ihre Ungläubigkeit nicht erkennbar war. Es war seltsam genug, Mat, den Tunichtgut, als den Anführer der Bande der Roten Hand zu betrachten, und noch viel seltsamer als einen Ta'veren, aber ein Ta'veren mußte gewiß anwesend oder zumindest in der Nähe sein, um irgendeine Wirkung zu erzielen.

»Mat hat sich in dem Punkt geirrt, daß Ihr Rettung braucht. Ihr hattet wohl niemals die Absicht, mich um Hilfe zu bitten?«

Er sprach noch immer leise, aber sie sah sich dennoch rasch um. Siuan beobachtete sie weiterhin. Ebenso Halima. Paitr stand viel zu nahe bei ihr, mit dampfendem Atem, seine Kleidung richtend und über seinen Schnurrbart streichend — der Art nach zu urteilen, wie er ihr Gewand betrachtete, hatte er sie nicht fälschlicherweise für eine Schwester gehalten, das war gewiß! —, aber sie achtete nur flüchtig auf ihn, Seitenblicke in Egwenes Richtung werfend, während sie ihn herzlich anlächelte. Alle anderen schienen sehr beschäftigt, und niemand war nahe genug, um sie verstehen zu können.

»Der Amyrlin-Sitz könnte wohl kaum Zuflucht suchen. Aber manchmal war es ein Trost zu wissen, daß Ihr da wart«, räumte sie wenn auch widerwillig ein. Der Amyrlin-Sitz sollte wohl kaum einen Schlupfwinkel brauchen, aber es konnte nichts schaden, solange keine der Sitzenden davon wußte. »Ihr wart ein Freund, Talmanes. Ich hoffe, das gilt noch immer. Ich hoffe es wirklich.«

»Ihr wart ... ehrlicher zu mir, als ich es erwartet habe«, sagte er bedächtig. »Daher werde ich Euch etwas erzählen.« Seine Miene änderte sich nicht —einem Beobachter mußte er genauso entspannt erscheinen wie zuvor —, aber jetzt flüsterte er. »König Roedran ist wegen der Bande an mich herangetreten. Anscheinend hofft er, Murandys erster wahrer König zu werden. Er will uns anwerben. Ich hätte es unter gewöhnlichen Umständen nicht erwogen, aber es ist niemals genug Geld vorhanden, und mit diesem ... diesem Gefühl, daß Mat uns braucht... Es wäre vielleicht besser, wenn wir in Murandy blieben. Wie leicht zu erkennen ist, seid Ihr dort, wo Ihr sein wollt, und habt alles unter Kontrolle.«

Er schwieg, als eine junge Dienerin einen Hofknicks vollführte und Glühwein anbot. Sie trug kunstvoll besticktes grünes Tuch und einen Umhang mit Kaninchenfell. Andere Diener aus dem Lager halfen jetzt ebenfalls aus, zweifellos, damit sie etwas anderes zu tun hatten, als dazustehen und zu zittern. Das rundliche Gesicht der jungen Frau war vor Kälte starr.

Talmanes winkte ab und zog seinen Umhang dann wieder fest um sich, aber Egwene nahm einen Silberbecher, um einen Moment Zeit zum Nachdenken zu haben. Die Bande wurde nicht länger gebraucht. Die Schwestern nahmen ihre Anwesenheit inzwischen trotz allen Murrens als gegeben hin, ob sie nun Drachenverschworene waren oder nicht. Sie fürchteten keinen Angriff mehr, und sie hatte die Anwesenheit der Horde nicht wirklich gebraucht, um sie anzutreiben, seit sie Salidar verlassen hatten. Der einzige wahre Zweck, dem Shen an Calliar jetzt diente, war, Rekruten für Brynes Heer auszuheben, Männer, die glaubten, daß zwei Heere eine Schlacht bedeuteten, und auf der Seite mit der größten Anzahl Soldaten stehen wollten. Sie brauchte sie nicht, aber Talmanes hatte als Freund gehandelt. Sie war die Amyrlin, und manchmal drängten Freundschaft und Verantwortung in dieselbe Richtung.

Als die Dienerin sich entfernte, legte Egwene eine Hand auf Talmanes' Arm. »Das dürft Ihr nicht tun. Selbst die Bande kann Murandy nicht allein erobern, und jede Hand wird sich gegen Euch richten. Ihr wißt sehr gut, daß das einzige, was die Murandianer zusammenhält, Fremde auf ihrem Grund und Boden sind. Folgt uns nach Tar Valon, Talmanes. Mat wird dorthin kommen. Davon bin ich überzeugt.« Mat würde nicht wirklich glauben, daß sie die Amyrlin war, bis er sie die Stola in der Weißen Burg tragen sähe.

»Roedran ist kein Narr«, entgegnete er ruhig. »Er will, daß wir nur dasitzen und abwarten, ein fremdes Heer — ohne Aes Sedai —, und daß niemand weiß, wozu. Es sollte ihm keine großen Schwierigkeiten bereiten, die Adligen gegen uns zu vereinen. Dann, so sagt er, ziehen wir klammheimlich über die Grenze. Er glaubt, er kann sich hinterher allein um sie kümmern.«

Es gelang ihr nicht, die leichte Verärgerung aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Und was sollte ihn daran hindern, Euch zu verraten? Wenn die Drohung ohne Kampf vergeht, dann vielleicht auch sein Traum von einem vereinten Murandy.« Der törichte Mann schien belustigt!

»Ich bin auch kein Narr. Roedran kann nicht vor dem Frühjahr bereit sein. Diese Leute hätten niemals ihre Güter verlassen, wenn die Andoraner nicht nach Süden gekommen wären, und sie waren bereits vor dem Schneefall unterwegs. Mat wird uns vorher finden. Er muß von uns hören, wenn er nach Norden kommt. Roedran wird sich mit dem zufriedengeben müssen, was immer er bis dahin erreicht hat. Wenn Mat also nach Tar Valon zu gehen beabsichtigt, werde ich Euch vielleicht dennoch dort sehen.«

Egwene stieß einen ärgerlichen Laut aus. Es war ein bemerkenswerter Plan der Art, wie Siuan ihn vielleicht ersinnen, und kaum einer, wie Roedran Almaric do Arreloa a'Nalo ihn sich Egwenes Meinung nach ausdenken könnte. Das einzig Unzweifelhafte war, daß Talmanes sich entschieden hatte.

»Ich will Euer Wort, Talmanes, daß Ihr Euch nicht von Roedran in einen Krieg hineinziehen laßt.« Verantwortung. Die schmale Stola um ihren Hals schien zehnmal mehr zu wiegen als ihr Umhang. »Wenn er sich eher regt als Ihr denkt, werdet Ihr weiterziehen, gleichgültig, ob Mat sich Euch dann bereits angeschlossen hat oder nicht.«

»Ich wünschte, ich könnte es versprechen, aber das ist unmöglich«, entgegnete er. »Ich erwarte den ersten Angriff auf meine Versorgungsleute spätestens drei Tage nachdem ich mich von Lord Brynes Heer abgesetzt habe. Jeder Herr und jeder Knecht wird glauben, er könnte nachts ein paar Pferde ergattern, mir einen Nadelstich versetzen und sich dann verstekken.«

»Ich rede nicht davon, daß Ihr Euch verteidigen sollt, und das wißt Ihr«, sagte sie fest, »Euer Wort, Talmanes. Sonst werde ich Eure Übereinkunft mit Roedran nicht erlauben.« Die einzige Möglichkeit, sie aufzuhalten, bestand darin, sie zu verraten, aber sie würde keinen Krieg zurücklassen, einen Krieg, den sie begonnen hätte, indem sie Talmanes hierher gebracht hatte.

Er betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal, und beugte schließlich den Kopf. Seltsamerweise schien diese Geste formeller als seine vorherige Verbeugung. »Es wird nach Eurem Willen geschehen, Mutter. Sagt mir, seid Ihr sicher, daß Ihr nicht auch ein Ta'veren seid?«

»Ich bin der Amyrlin-Sitz«, erwiderte sie. »Das genügt jedermann.« Sie berührte erneut seinen Arm.

»Das Licht bescheine Euch, Talmanes.« Dieses Mal schloß sein Lächeln beinahe auch seine Augen mit ein.

Obwohl sie flüsterten, war ihr Gespräch unvermeidlich bemerkt worden. Vielleicht auch weil sie flüsterten. Das Mädchen, das die Amyrlin zu sein behauptete, eine Aufrührerin gegen die Weiße Burg, im Gespräch mit dem Anführer zehntausend Drachenverschworener. Hatte sie Talmanes' Plan mit Roedran erschwert oder erleichtert? War ein Krieg in Murandy jetzt weniger wahrscheinlich, oder hatte sie das Gegenteil bewirkt? Siuan und ihr verdammtes Gesetz der Unbeabsichtigten Konsequenzen! Fünfzig Blicke folgten ihr und wurden jäh wieder abgewendet, als sie durch die Menge schritt, sich die Hände an ihrem Becher wärmend. Nun, die meisten wandten sich jäh wieder ab. Die Gesichter der Sitzenden waren ganz alterslose, vorgebliche Gelassenheit, aber Lelaine hätte eine braunäugige Krähe sein können, die einen in seichtem Wasser zappelnden Fisch beobachtete, während Romandas nur unwesentlich dunklere Augen Löcher in Eisen hätten bohren können.

Egwene versuchte, die Sonne draußen im Blick zu behalten, während sie den Pavillon langsam im Halbkreis durchschritt. Die Adligen bedrängten die Sitzenden noch immer, zogen von einer zur anderen, als suchten sie bessere Antworten, und sie nahm allmählich kleine Dinge wahr. Donel blieb auf seinem Weg von Janya zu Moria stehen und verbeugte sich tief vor Aemlyn, die mit einem huldvollen Nicken reagierte. Cian, die sich von Takima abwandte, vollführte einen tiefen Hofknicks vor Pelivar, der mit einer leichten Verbeugung antwortete. Und da waren noch andere, wobei sich stets ein Murandianer vor einem Andoraner verbeugte, der ebenso formell reagierte. Die Andoraner gaben sich alle Mühe, Bryne bis auf das seltsame Stirnrunzeln zu ignorieren, aber unzählige Murandianer suchten ihn auf, einer nach dem anderen und in reichlicher Entfernung von allen übrigen, und nach ihrer Blickrichtung zu urteilen, sprachen sie eindeutig über Pelivar oder Arathelle oder Aemlyn. Vielleicht hatte Talmanes recht gehabt.

Auch vor ihr wurden Hofknickse und Verbeugungen vollführt, obwohl sie nicht so tief gerieten wie jene vor Arathelle und Pelivar und Aemlyn, geschweige denn jene vor den Sitzenden. Ein halbes Dutzend Frauen erzählten ihr, wie dankbar sie wären, daß die Angelegenheit friedlich beigelegt wurde, obwohl tatsächlich fast ebenso viele nichtssagende Äußerungen machten oder unbehaglich die Achseln zuckten, wenn sie die gleiche Empfindung ausdrückte, als seien sie sich nicht sicher, daß wirklich alles friedlich enden würde. Ihre entsprechenden Versicherungen wurden mit einem inbrünstigen »Das Licht gebe es!« oder einem ergebenen »Wenn das Licht es will!« erwidert. Vier nannten sie Mutter, eine ohne anfängliches Zögern, und drei weitere sagten, sie sei recht hübsch, sie habe wunderschöne Augen und eine anmutige Haltung — in dieser Reihenfolge. Es waren vielleicht passende Komplimente für Egwenes Alter, aber nicht für ihre Stellung.

Sie fand zumindest in einer Hinsicht ungetrübtes Vergnügen. Segan wurde nicht als einzige von ihrer Ankündigung bezüglich des Novizinnenbuchs verlockt. Das war eindeutig der Grund, warum die meisten Frauen zuerst mit ihr sprachen. Immerhin mochten sich die anderen Schwestern zwar gegen die Burg auflehnen, aber sie beanspruchte, der Amyrlin-Sitz zu sein. Sie mußten starkes Interesse haben, um ihre Zweifel zu überwinden, auch wenn niemand es zeigen wollte. Arathelle stellte ihre Fragen stirnrunzelnd, wodurch auch ihre Wangen von weiteren Falten überzogen wurden. Aemlyn schüttelte bei der Antwort ihren grauen Kopf. Auch die wuchtige Cian fragte nach, gefolgt von einer andoranischen Lady namens Negara mit scharfgeschnittenem Gesicht und dann von einer hübschen Murandianerin mit großen Augen namens Jennet sowie weiteren. Niemand wollte es für sich selbst wissen — mehrere wiesen sogleich darauf hin, besonders die jüngeren Frauen —, aber es dauerte nicht lange, bis jede einzelne Adlige nachgefragt hatte und mehrere Diener ebenfalls unter dem Vorwand, weiteren gewürzten Wein reichen zu wollen. Eine drahtige Frau namens Nildra kam aus dem Aes Sedai-Lager.

Egwene war recht zufrieden mit der Saat, die sie dort gesät hatte. Weniger zufrieden war sie mit den Männern. Vereinzelt sprachen sie mit ihr, aber erst, als sie ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden und anscheinend keine andere Wahl mehr hatten. Eine kaum verständliche Bemerkung über das Wetter, entweder das Ende der Dürre lobend oder die plötzlichen Schneefälle beklagend, eine gemurmelte Hoffnung, daß das Unwesen mit den Banditen bald beendet wäre, vielleicht mit einem bedeutungsvollen Blick zu Talmanes, und sie entglitten wieder. Ein Bär von einem Andoraner namens Macharan fiel bei dem Bestreben, ihr aus dem Weg zu gehen, über seine eigenen Stiefel. Es war in gewisser Weise kaum überraschend. Die Frauen hatten, wenn auch nur vor sich selbst, die Rechtfertigung des Novizinnenbuches, aber die Männer hatten nur den einen Gedanken, daß ein Gespräch mit ihr sie vielleicht über einen Kamm scheren würde.

Es war ziemlich entmutigend. Es kümmerte sie nicht, was die Männer über Novizinnen dachten, aber sie hätte zu gern gewußt, ob sie ebensosehr wie die Frauen befürchteten, daß dies letztendlich handgemein ende. Solche Befürchtungen konnten sich nur allzuleicht selbst erfüllen. Schließlich entschied sie, daß es nur eine Möglichkeit gab, das herauszufinden.

Pelivar wandte sich von einem Tablett um, von dem er sich einen Becher Wein genommen hatte, und sprang mit unterdrücktem Fluchen zurück, um nicht gegen sie zu stoßen. Hätte sie noch näher sein wollen, hätte sie auf seinen Stiefeln stehen müssen. Heißer Wein ergoß sich über Pelivars behandschuhte Hand und lief unter seinen Jackenärmel, woraufhin er einen weiteren Fluch nicht unterdrückte. Er war groß genug, um über ihr aufzuragen, und nutzte dies auch weidlich. Sein Stirnrunzeln kennzeichnete ihn als einen Mann, der eine lästige junge Frau barsch aus dem Weg scheuchen wollte. Oder einen Mann, der beinahe auf eine rote Natter getreten wäre. Sie hielt sich aufrecht und konzentrierte sich auf ein Bild von ihm als kleiner Junge, der nichts Gutes im Schilde führte. Das half stets. Die meisten Männer spürten es anscheinend. Er murmelte etwas — es hätte ebensogut eine höfliche Begrüßungsformel wie ein weiterer Fluch sein können —, neigte leicht den Kopf und versuchte dann, um sie herumzugehen. Sie trat ebenfalls beiseite, um vor ihm zu bleiben. Er trat zurück, und sie folgte ihm. Er begann, gehetzt zu wirken. Sie beschloß, ihn zu beruhigen, bevor sie die wichtige Frage vorantrieb. Sie wollte Antworten, keine Ausflüchte.

»Es muß Euch doch freuen zu hören, daß die Tochter-Erbin auf dem Weg nach Caemlyn ist, Lord Pelivar.« Sie hatte mehrere der Sitzenden dies erwähnen hören.

Sein Gesicht wurde ausdruckslos. »Elayne Trakand hat ein Anrecht auf den Löwenthron«, erwiderte er mit tonloser Stimme.

Egwenes Augen weiteten sich, und er trat, offensichtlich aus Unsicherheit, erneut zurück. Vielleicht glaubte er, sie sei verärgert, weil er sie nicht mit ihrem Titel angesprochen hatte, aber das hatte sie kaum beachtet. Felivar hatte Elaynes Mutter bei ihrem Anspruch auf den Thron unterstützt, und Elayne war sich sicher gewesen, daß er auch sie unterstützen würde.

Sie sprach herzlich über Pelivar, wie über einen Lieblingsonkel.

»Mutter«, murmelte Siuan neben ihr, »wir müssen gehen, wenn wir das Lager noch vor Sonnenuntergang erreichen wollen.« Es gelang ihr, diese leisen Worte recht eindringlich klingen zu lassen. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten.

»Bei diesem Wetter sollte man bei Einbruch der Nacht nicht im Freien sein«, sagte Pelivar hastig, »Wenn Ihr mich entschuldigen wollt — ich muß mich ebenfalls zum Aufbruch bereitmachen.« Er stellte seinen Becher auf das Tablett eines vorübereilenden Dieners, verbeugte sich dann zögernd und schritt mit der Haltung eines Mannes davon, der einer Falle entkommen war.

Egwene hätte vor Enttäuschung am liebsten mit den Zähnen geknirscht. Was hielt der Mann nun wirklich von ihrer Übereinkunft? Wenn man es so nennen konnte, so wie sie ihnen ihre Vorstellungen aufgezwungen hatte. Arathelle und Aemlyn besaßen mehr Macht und Einfluß als die meisten Männer, und doch ritten Pelivar und Culhan und ähnliche mit den Soldaten. Sie konnten sie noch immer heftig in Verlegenheit bringen.

»Sucht Sheriam«, grollte sie, »und sagt ihr, sie solle alle sofort aufsitzen lassen, egal, unter welchen Umständen!« Sie durfte den Sitzenden keine Nacht Zeit lassen, über das nachzudenken, was heute geschehen war, geschweige denn, eigene Pläne zu schmieden und gegen sie zu intrigieren. Sie mußten wieder im Lager sein, bevor die Sonne unterging.

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