27 Der Vertrag

Min saß mit gekreuzten Beinen auf einem üppig vergoldeten Stuhl mit hoher Rückenlehne und versuchte, sich in die ledergebundene Ausgabe von Herid Fels Vernunft und Unvernunft zu versenken, die geöffnet auf ihren Knien lag. Es war nicht leicht. Oh, das Buch selbst war faszinierend. Meister Fels Schriften führten sie stets in eine Gedankenwelt, die sie sich nicht hätte träumen lassen, als sie noch in den Ställen arbeitete. Sie bedauerte den Tod des gütigen alten Mannes sehr. Sie hoffte, in seinen Büchern einen Hinweis darauf zu finden, warum er getötet worden war. Ihre dunklen Locken schwangen, als sie den Kopf schüttelte und sich wieder auf den Text zu konzentrieren versuchte.

Das Buch war faszinierend, aber die Umgebung bedrückte sie. Rands kleiner Thronraum im Sonnenpalast war über und über mit Gold verziert, von den breiten Simsen bis zu den hohen Spiegeln an den Wänden, die jene ersetzten, die Rand zerschmettert hatte, von den beiden Reihen Stühlen bis zu dem Podest mit dem Drachenthron. Dieser war eine Ungeheuerlichkeit, im Stil von Tear gearbeitet, wie cairhienische Künstler ihn sich vorstellten, auf den Rücken zweier Drachen ruhend, während zwei weitere Drachen als Armlehnen dienten und wiederum weitere die Rückenlehne hinaufkrochen, alle mit großen Sonnensteinen als Augen, alles vor Gold und rotem Emaille glitzernd. Eine große goldene Aufgehende Sonne mit welligen Strahlen, die in den polierten Steinboden eingelassen war, trug nur noch zu dem bedrückenden Gefühl bei. Wenigstens verbreiteten die beiden riesigen Kamine angenehme Wärme, besonders jetzt, da es draußen schneite. Dies war Rands Raum. Das Behagen angesichts dieser Tatsache wog jegliche Bedrückung auf. Ein ärgerlicher Gedanke. Dies war Rands Raum, wenn er jemals zurückzukehren geruhte. Ein sehr ärgerlicher Gedanke. Einen Mann zu lieben schien weitgehend aus vielen ärgerlichen Zugeständnissen sich selbst gegenüber zu bestehen!

Sie regte sich in dem nutzlosen Unterfangen, dem harten Stuhl Bequemlichkeit abzuringen, und versuchte zu lesen, aber ihr Blick huschte ständig zu den hohen Türen, deren jede von ihrer eigenen Reihe vergoldeter Aufgehender Sonnen verziert wurde. Sie hoffte, Rand hereinkommen zu sehen. Sie fürchtete, Sorilea oder Cadsuane zu sehen. Sie richtete unbewußt ihre hellblaue Jacke und betastete die winzigen, auf die Aufschläge gestickten Schneeglöckchen. Weitere wanden sich um die Ärmel, und ihre Hosenbeine waren so eng gearbeitet, daß sie sich gerade noch hineinzwängen konnte. Wirklich kein allzu großer Unterschied zu dem, was sie stets getragen hatte. Bisher hatte sie Kleider vermieden, auch wenn sie viel Stickerei trug, aber sie befürchtete sehr, daß Sorilea sie in ein Kleid stecken wollte, auch wenn die Weise Frau sie eigenhändig aus ihrer Kleidung herausschälen mußte.

Sorilea wußte alles über sie und Rand. Alles. Sie spürte, wie sie errötete. Sorilea versuchte anscheinend zu entscheiden, ob Min Farshaw eine angemessene ... Geliebte ... für Rand al'Thor war. Das Wort ließ sie sich törichterweise leichtsinnig fühlen. Sie war nicht leichtsinnig! Das Wort weckte in ihr das Bedürfnis, schuldbewußt über die Schulter nach den Tanten zu sehen, die sie aufgezogen hatten. Nein, dachte sie grimmig, du bist nicht leichtsinnig. Leichtsinn ist im Vergleich zu deinem Verhalten noch vernünftig!

Oder vielleicht wollte Sorilea wissen, ob Rand zu Min paßte. Manchmal schien es so. Die Weisen Frauen akzeptierten Min weitgehend als eine der Ihren, aber während dieser letzten Wochen hatte Sorilea sie ausgequetscht wie eine Zitrone. Die weißhaarige Weise Frau mit dem ledrigen Gesicht wollte jede Einzelheit über Min wissen, und auch jede Einzelheit über Rand. Sie wollte den Staub am Boden seiner Taschen kennenlernen! Min hatte zweimal versucht, die unaufhörliche Befragung zu vereiteln, und Sorilea hatte beide Male eine Gerte präsentiert! Diese schreckliche alte Frau legte sie einfach über die Kante des nächststehenden Tisches und erzählte ihr hinterher, daß das vielleicht eine weitere Einzelheit in ihrem Kopf lösen würde. Auch keine der anderen Weisen Frauen zeigte das mindeste Erbarmen! Licht, was man für einen Mann alles auf sich nehmen mußte! Und sie konnte ihn noch nicht einmal für sich allein haben!

Cadsuane war eine völlig andere Angelegenheit. Die überaus würdevolle Aes Sedai, so grauhaarig, wie Sorilea weiß war, schien sich nicht im geringsten für Min oder für Rand zu interessieren, aber sie verbrachte viel Zeit im Sonnenpalast. Es war unmöglich, ihr vollständig aus dem Weg zu gehen. Sie schien überall umherzuwandern, wo sie wollte. Und wenn Cadsuane Min ansah, wie kurz auch immer, konnte Min sich des Eindrucks nicht erwehren, die Frau könnte Bullen das Tanzen und Bären das Singen beibringen. Sie erwartete ständig, daß sie auf sie deuten und verkünden würde, es sei an der Zeit, daß Min Farshaw lernte, einen Ball auf ihrer Nase zu balancieren. Früher oder später mußte Rand Cadsuane erneut gegenübertreten, und der Gedanke daran bereitete Min Magenschmerzen.

Sie zwang sich dazu, sich wieder über das Buch zu beugen. Eine der Türen schwang auf, und Rand trat mit dem Drachenszepter in einer Armbeuge ein. Er trug eine goldene Krone, einen breiten Reif aus Lorbeerblättern — das mußte diese Schwerterkrone sein, von der alle redeten —, eine enge Hose, die seine Beine vorteilhaft zur Geltung brachte, und eine mit goldener Stickerei versehene, grüne Seidenjacke, die ihm wunderbar paßte. Er war wunderbar.

Min kennzeichnete die Stelle, die sie gerade gelesen hatte, mit dem Zettel, den Meister Fei geschrieben hatte und der besagte, sie sei ›zu hübsch‹, schloß das Buch sorgfältig und legte es ebenso behutsam auf den Boden neben ihrem Stuhl. Dann verschränkte sie die Arme und wartete. Hätte sie gestanden, dann hätte sie mit dem Fuß aufgetippt, aber sie wollte nicht, daß der Mann glaubte, sie spränge auf, nur weil er endlich erschien.

Er stand einen Moment nur da, sah sie lächelnd an und zog aus einem unbestimmten Grund an seinem Ohrläppchen — anscheinend summte er auch! —, und dann fuhr er plötzlich herum und starrte finster zu den Türen. »Die Töchter des Speers dort draußen haben mir nicht gesagt, daß du hier bist. Sie haben überhaupt kaum ein Wort gesagt. Licht, sie schienen bereit, sich bei meinem Anblick zu verschleiern.«

»Vielleicht sind sie verstimmt«, sagte Min ruhig. »Vielleicht haben sie sich gefragt, wo du warst. So wie ich auch. Vielleicht haben sie sich gefragt, ob du verletzt oder krank wurdest oder vielleicht schon tot bist.« So wie ich auch, dachte sie verbittert. Der Mann wirkte verwirrt!

»Ich habe dir geschrieben«, sagte er zögernd, und sie rümpfte die Nase.

»Zwei Mal. Weil Asha'man deine Briefe abliefern konnten, hast du zwei Mal geschrieben, Rand al'Thor. Wenn du es Briefe nennst!«

Er taumelte, als hätte sie ihn geschlagen — nein, als hätte sie ihm in den Bauch getreten! —, und blinzelte. Sie riß sich zusammen und sank gegen die Rückenlehne des Stuhls. Wenn man einem Mann im falschen Moment Mitleid gewährte, gewann man verlorenen Boden niemals zurück. Ein Teil von ihr wollte ihn umarmen, ihn trösten, allen Schmerz von ihm nehmen, all seinen Kummer lindern. Er hatte so viel davon und weigerte sich, auch nur einen zuzugeben. Sie würde nicht aufspringen, zu ihm eilen und überstürzt erklären, was falsch war oder ... Licht, es mußte ihm gutgehen.

Etwas nahm sie sanft unter den Ellbogen und hob sie vom Stuhl. Ihre blauen Stiefel baumelten in der Luft, und sie schwebte auf ihn zu, während das Drachenszepter von ihm fort schwebte. Also meinte er, lächeln zu können? Er meinte, sein hübsches Lächeln könnte sie umstimmen? Sie öffnete den Mund, um ihm heftig die Meinung zu sagen! Er legte die Arme um sie und küßte sie.

Als sie wieder atmen konnte, spähte sie durch gesenkte Wimpern zu ihm hoch. »Zuerst...« Sie schluckte, da ihre Stimme zitterte. »Zuerst stolzierte Jahar Narishma herein, versuchte auf seine übliche Art jedermanns Gedanken zu ergründen und verschwand, nachdem er mir ein Stück Pergament gegeben hatte. Warte. Es besagte: ›Ich habe Anspruch auf die Krone Illians erhoben. Vertraue niemandem, bis ich zurückkehre. Rand.‹ Ich würde sagen, da fehlte noch einiges, um es einen Liebesbrief zu nennen.«

Er küßte sie erneut.

Dieses Mal dauerte es länger, bis sie wieder zu Atem kam. Nichts verlief so, wie sie es erwartet hatte. Andererseits verlief es gar nicht so schlecht. »Beim zweiten Mal gab Jonan Adley ein Stück Papier ab, das besagte: ›Ich werde zurückkehren, wenn ich hier fertig bin. Vertraue niemandem. Rand.‹ Adley suchte mich im Bad auf«, fügte sie hinzu, »und er hatte keine Hemmungen zu schauen.« Rand versuchte stets vorzugeben, er sei nicht eifersüchtig — als gäbe es einen Mann auf der Welt, der nicht eifersüchtig war —, aber sie hatte seine finsteren Blicke bemerkt, wenn andere Männer sie ansahen. Und seine erhebliche Leidenschaft war danach stets noch heftiger. Vielleicht sollte sie vorschlagen, daß sie sich ins Schlafzimmer zurückzögen? Nein, sie würde keinesfalls so forsch vorgehen ...

Rand setzte sie mit ausdrucksloser Miene ab. »Adley ist tot«, sagte er. Plötzlich flog die Krone von seinem Kopf und wirbelte durch den ganzen Raum, als sei sie geschleudert worden. Als Min bereits dachte, sie würde gegen die Rückseite des Drachenthrons krachen, hielt der breite Goldring jäh inne und sank langsam auf den Sitz des Throns.

Min stockte der Atem, als sie zu Rand aufsah. Blut glänzte in den dunkelroten Locken über seinem linken Ohr. Sie zog ein spitzenbesetztes Taschentuch aus ihrem Ärmel und wollte es zu seiner Schläfe führen, aber er ergriff ihr Handgelenk.

»Ich habe ihn getötet«, sagte er ruhig.

Sie erschauderte beim Klang seiner Stimme. Ruhig, so wie das Grab ruhig war. Vielleicht war das Schlafzimmer eine ausgezeichnete Idee. Gleichgültig, wie forsch es war. Sie zwang sich zu lächeln — errötete, als sie erkannte, wie leicht es war, zu lächeln, wenn man an das große Bett dachte — und ergriff seine Hemdbrust, bereit, ihm Jacke und Hemd jetzt und hier vom Leib zu reißen.

Jemand klopfte an die Türen.

Mins Hände lösten sich jäh von Rands Hemd, und sie wich einen Schritt zurück. Wer konnte das sein? fragte sie sich verärgert. Die Töchter des Speers kündeten Besucher entweder an, wenn Rand da war, oder schickten sie einfach herein.

»Komm«, sagte er laut und lächelte sie wehmütig an. Min errötete dabei erneut.

Dobraine streckte den Kopf durch die Tür, trat dann ein und schloß die Tür hinter sich, als er sie zusammenstehen sah. Der cairhienische Lord war ein kleiner Mann, kaum größer als Min, der die Vorderseite seines Kopfes rasiert hatte, während das übrige, überwiegend graue Haar bis auf seine Schultern fiel. Blaue und weiße Streifen schmückten die Vorderseite seiner fast schwarzen Jacke bis unter die Taille. Schon bevor er Rands Gunst erworben hatte, war er ein mächtiger Adliger im Land gewesen. Jetzt regierte er hier, zumindest bis Elayne den Sonnenthron beanspruchen konnte. »Mein Lord Drache«, murmelte er und verbeugte sich. »Meine Lady Ta'veren.«

»Ein Scherz«, murrte Min, als Rand sie mit gewölbter Augenbraue ansah.

»Vielleicht«, sagte Dobraine und zuckte leichthin die Achseln, »und doch trägt die Hälfte der adligen Frauen in der Stadt jetzt in Nachahmung der Lady Min bunte Farben. Außerdem Hosen, die ihre Beine zeigen, und viele Jacken, die nicht einmal über ihre...« Er hustete diskret, als er erkannte, daß Mins Jacke auch ihre Hüften nicht vollständig verbarg.

Sie erwog, ihm zu sagen, er hätte sehr hübsche Beine, auch wenn sie entschieden wulstig waren, überlegte es sich dann aber rasch anders. Rands Eifersucht war vielleicht eine wärmende Flamme, wenn sie allein waren, aber sie wollte nicht, daß er Dobraine angriff. Sie befürchtete, daß er dazu fähig wäre. Außerdem glaubte sie, daß es ein Ausrutscher gewesen war. Lord Dobraine Taborwin war nicht der Mann, der auch nur annähernd rauhe Scherze machte.

»Also veränderst auch du die Welt, Min.« Rand tippte ihr grinsend mit einem Finger auf die Nasenspitze. Er tippte ihr auf die Nasenspitze! Wie einem Kind, über das er sich lustig machte! Schlimmer noch — sie spürte, daß sie sein Grinsen wie eine Närrin erwiderte. »Anscheinend auf bessere Art als ich«, fuhr er fort, doch sein kurzzeitiges, jungenhaftes Grinsen schwand wie Nebel.

»Ist in Tear und Illian alles in Ordnung, mein Lord?« fragte Dobraine.

»In Tear und Illian ist alles in Ordnung«, erwiderte Rand grimmig. »Was habt Ihr für mich, Dobraine? Setzt Euch, Mann. Setzt Euch.« Er deutete auf die Stuhlreihen und ließ sich auch selbst nieder.

»Ich habe allen Euren Briefen gemäß gehandelt«, sagte Dobraine und setzte sich Rand gegenüber, »aber ich furchte, es gibt nur wenig Gutes zu berichten.«

»Ich werde uns etwas zu trinken holen«, sagte Min mit angespannter Stimme. Briefe? Es war nicht leicht, in Stiefeln mit Absätzen zu stolzieren — sie hatte sich an sie gewöhnt, aber man schwankte darin bei allem, was man tat —, doch ausreichender Zorn machte alles möglich. Sie trat zu dem kleinen vergoldeten Tisch unter einem der großen Spiegel, auf dem ein Silberkrug und Becher standen. Sie beschäftigte sich damit, voller Wut gewürzten Wein einzugießen. Die Diener brachten stets zusätzliche Becher, falls sie Besucher hatte, obwohl außer Sorilea oder einigen törichten adligen Frauen selten jemand kam. Der Wein war kaum noch warm, aber er war heiß genug für die beiden. Sie hatte zwei Briefe erhalten, aber sie könnte wetten, daß Dobraine zehn bekommen hatte! Zwanzig! Sie knallte den Krug und die Becher auf den Tisch und hörte aufmerksam zu. Worum ging es hinter ihrem Rücken bei den Dutzenden von Briefen?

»Toram Riatin scheint verschwunden zu sein«, sagte Dobraine, »obwohl es zumindest gerüchteweise heißt, er lebe noch. Gerüchte besagen auch, daß Daved Hanion und Jeraal Mordeth — Padan Fain, wie Ihr den Mann nennt — ihn im Stich gelassen haben. Ich habe übrigens Torams Schwester, die Lady Ailil, in großzügigen Räumen untergebracht, mit Dienern, die ... zuverlässig sind.« Seinem Tonfall nach zu urteilen, meinte er eindeutig, daß sie ihm gegenüber zuverlässig waren. Die Frau würde nicht einmal ein Gewand wechseln können, ohne daß er davon erfuhr. »Ich kann durchaus begreifen, warum sie und Lord Bertome und die übrigen hierher gebracht wurden, aber warum Hochlord Weiramon oder Hochlady Anaiyella? Ihre Diener sind selbstverständlich auch zuverlässig.«

»Woran erkennt Ihr, daß eine Frau Euch töten will?« sann Rand.

»Wenn sie Euren Namen kennt?« Es klang nicht nach einem Scherz. Rand neigte nachdenklich den Kopf und nickte dann. Nickte! Min hoffte, daß er nicht noch immer Stimmen hörte.

Rand machte eine Handbewegung, als wollte er die Frau hinwegfegen, die ihn töten wollte. Es war gefährlich, sie in der Nähe zu haben. Min wollte ihn gewiß nicht töten, aber sie hätte nichts dagegen, wenn Sorilea mit dieser Gerte auf ihn losginge! Hosen boten nicht viel Schutz.

»Weiramon ist ein Narr, der zu viele Fehler macht«, belehrte Rand Dobraine, der gelassen zustimmte. »Mein Fehler war, zu glauben, ich könnte ihn benutzen. Anscheinend ist er es zufrieden, in der Nähe des Wiedergeborenen Drachen bleiben zu können. Was noch?« Min reichte ihm einen Becher, und er lächelte sie trotz des über sein Handgelenk laufenden Weins an. Vielleicht glaubte er, es sei ein Versehen gewesen.

»Kaum mehr und doch zuviel«, begann Dobraine und zuckte dann auf seinem Stuhl zurück, um nicht auch mit Wein begossen zu werden. Ihre kurze Aufgabe als Schankmädchen hatte ihr nicht gefallen. »Vielen Dank, meine Lady Min«, murmelte er freundlich, aber er sah sie mißtrauisch an, während er den Becher entgegennahm. Sie schritt ruhig zum Tisch zurück, um ihren Wein zu holen. Ruhig.

»Ich fürchte, Lady Caraline und Hochlord Darlin befinden sich in Lady Arilyns Palast hier in der Stadt«, fuhr der cairhienische Lord fort, »unter dem Schutz Cadsuane Sedais. Vielleicht ist Schutz nicht das richtige Wort. Mir wurde der Zutritt zu ihnen verweigert, aber wie ich hörte, wollten sie die Stadt verlassen und sind wie Säcke zurückbefördert worden. In einem Sack, wie eine Geschichte behauptet. Da ich Cadsuane schon einmal begegnet bin, kann ich es fast glauben.«

»Cadsuane«, murmelte Rand, und Min überlief ein Schaudern. Er klang eigentlich nicht ängstlich, aber doch mehr als nur beunruhigt. »Was sollte ich deiner Meinung nach wegen Caraline und Darlin unternehmen, Min?«

Sie saß zwei Stühle von ihm entfernt und zuckte zusammen, als er sie plötzlich mit einbezog. Sie schaute kläglich auf den ihre beste cremefarbene Seidenbluse und ihre Hose durchtränkenden Wein hinab. »Caraline wird Elaynes Anspruch auf den Sonnenthron unterstützen«, sagte sie mürrisch. Der Wein schien für warmen Wein reichlich kalt, und sie bezweifelte, daß der Fleck jemals wieder aus der Bluse zu entfernen wäre. »Keine Vision, aber ich glaube ihr.« Sie schaute nicht zu Dobraine, der jedoch ernst nickte. Jedermann wußte inzwischen von ihren Visionen. Die einzige Folge war ein Strom von adligen Frauen gewesen, die ihre Zukunft wissen wollten und obendrein recht verdrießlich wurden, als sie ihnen sagte, sie könnte sie ihnen nicht voraussagen. Den meisten hätte das wenige nicht gefallen, das sie gesehen hatte. Nichts Unheilvolles, aber auch nicht all die strahlenden Wunder, die Wahrsager auf dem Jahrmarkt versprachen. »Abgesehen von der Tatsache, daß Darlin Caraline heiraten wird, wenn sie ihn ausreichend hingehalten hat, kann ich nur sagen, daß Darlin eines Tages ein König sein wird. Ich sah die Krone auf seinem Kopf, eine Krone mit einem Schwert auf der Vorderseite, aber ich weiß nicht, zu welchem Land sie gehört. Und, o ja. Er wird im Bett sterben. Und sie wird ihn überleben.«

Dobraine verschluckte sich an seinem Wein, versprühte etwas davon und tupfte sich dann mit einem einfachen Leinentaschentuch die Lippen ab. Die meisten jener, die es wußten, glaubten es nicht. Recht zufrieden mit sich, trank Min den kleinen Rest Wein in ihrem Becher. Und dann verschluckte sie sich, keuchte und riß das Taschentuch aus ihrem Ärmel, um sich ebenfalls den Mund abzutupfen. Licht, sie würde sich zusammenreißen müssen!

Rand nickte nur und spähte in seinen Becher. »Also werden sie leben, um mir Schwierigkeiten zu machen«, murmelte er für diese harten Worte sehr sanft. Ihr Schafhirte war hart wie eine Klinge. »Und was mache ich mit...«

Er wandte sich auf dem Stuhl jäh zu den Türen um, von denen eine gerade geöffnet wurde. Er hatte sehr gute Ohren, denn Min hatte nichts gehört.

Keine der beiden Aes Sedai, die eintraten, war Cadsuane, und Min spürte, wie sich ihre Schultern entspannten, während sie ihr Taschentuch wieder einsteckte. Während Rafela die Tür schloß, vollführte Merana einen tiefen Hofknicks vor Rand, obwohl die haselnußbraunen Augen der Grauen Schwester auch Min und Dobraine registrierten, und dann breitete auch die rundgesichtige Rafela ihre tiefblauen Röcke weit aus. Keine erhob sich, bevor Rand die entsprechende Geste vollführte. Sie traten mit kühl gelassenen Mienen auf ihn zu. Nur die rundliche Blaue Schwester betastete kurz ihre Stola, als wolle sie sich in Erinnerung rufen, daß diese wirklich um ihre Schultern lag. Min hatte diese Geste schon zuvor gesehen, bei anderen Schwestern, die Rand die Treue geschworen hatten. Es konnte für sie nicht leicht sein. Nur die Weiße Burg befehligte Aes Sedai, aber Rand gehorchten diese ebenso. Aes Sedai sprachen mit Königen und Königinnen wie mit Gleichgestellten oder vielleicht etwas Höherstehenden, und doch nannten die Weisen Frauen sie Lehrlinge und erwarteten von ihnen doppelt so raschen Gehorsam wie Rand.

Nichts davon war auf Meranas glattem Gesicht zu erkennen. »Mein Lord Drache«, sagte sie respektvoll. »Uns wurde gerade erst mitgeteilt, daß Ihr zurückgekehrt seid, und wir dachten, Ihr wolltet vielleicht rasch erfahren, wie die Verhandlungen mit den Atha'an Miere stehen.« Sie sah Dobraine nur an, und er erhob sich sofort. Cairhiener waren es gewohnt, daß Menschen unter vier Augen miteinander sprechen wollten.

»Dobraine kann bleiben«, sagte Rand kurz angebunden. Hatte er gezögert? Er erhob sich nicht. Die Augen eisblau, war er ganz der Wiedergeborene Drache. Min hatte ihm gesagt, daß diese Frauen wahrhaftig zu ihm gehörten, daß alle fünf, die ihn zu den MeervolkSchiffen begleitet hatten, ihrem Eid äußerst treu ergeben und daher seinem Willen unterworfen waren, und doch schien es ihm schwerzufallen, einer Aes Sedai zu trauen. Sie verstand, aber er würde es lernen müssen.

»Wie Ihr wünscht«, erwiderte Merana und neigte kurz den Kopf. »Rafela und ich haben eine Übereinkunft mit dem Meervolk erreicht. Der Vertrag, wie sie es nennen.« Der Unterschied war klar erkennbar. Die Hände auf mit grauen Schlitzen versehenen grünen Röcken ruhend, atmete sie tief durch. Es mußte sein. »Harine din Togara Zwei Winde, Herrin der Wogen des Shodein-Clans, die für Nesta din Reas Zwei Monde, Herrin der Schiffe der Atha'an Miere, und somit für alle Atha'an Miere verbindlich spricht, hat zugesagt, alle Schiffe zur Verfügung zu stellen, die der Wiedergeborene Drache benötigt, damit er welches Ziel auch immer für welchen Zweck auch immer erreichen kann.« Merana wurde gerne etwas belehrend, wenn keine Weisen Frauen in der Nähe waren, denn die Weisen Frauen ließen es nicht zu. »Im Gegenzug haben Rafela und ich in Eurem Namen zugesagt, daß der Wiedergeborene Drache keine Gesetze der Atha'an Miere ändern wird, wie er es bei den ...« Sie zögerte einen Moment. »Verzeiht. Ich bin es gewohnt, Übereinkünfte genauso wiederzugeben, wie sie geschlossen wurden. Das Wort, das sie benutzten, lautete ›Landgebundene‹, aber sie meinten damit das, was Ihr in Tear und Cairhien getan habt.« Sie wirkte einen flüchtigen Moment nachdenklich. Vielleicht fragte sie sich, ob er das gleiche in Illian getan hatte. Sie hatte sich erleichtert gezeigt, daß er in ihrer Heimat Andor nichts verändert hatte.

»Damit kann ich vermutlich leben«, murrte er.

»Zweitens«, fuhr Rafela fort, die dicklichen Hände an der Taille gefaltet, »müßt Ihr den Atha'an Miere Land geben, eine Quadratmeile — für jede Stadt an schiffbarem Wasser, die Ihr jetzt kontrolliert oder in Zukunft kontrollieren werdet.« Sie klang kaum weniger schwülstig als ihre Begleiterin. Sie klang auch nicht sehr erfreut über ihre Worte. Sie war immerhin Tairenerin, und nur wenige Häfen kontrollierten ihren Handel genauer als Tear. »Innerhalb dieses Gebietes sollen die Gesetze der Atha'an Miere jegliche anderen Gesetze überwiegen. Dieses Abkommen muß auch von den Herrschern besagter Häfen bestätigt werden, so daß ...« Sie zögerte jetzt ebenfalls, und ihre dunklen Wangen wurden ein wenig grau.

»So daß dieses Abkommen mich überleben wird?« fragte Rand trocken. Er lachte bellend. »Auch damit kann ich leben.«

»Jede Stadt mit einem Hafen?« rief Dobraine aus. »Meinen sie damit... auch hier?« Er sprang auf und begann auf und ab zu gehen, wobei er noch mehr Wein verschüttete, als Min es bereits getan hatte. Er schien es nicht zu bemerken. »Eine Quadratmeile? Nur das Licht allein weiß, welch eigenartige Gesetze das sind! Ich bin auf einem Meervolk-Schiff gereist, und es ist eigenartig! Bloße Beine gehören nicht dazu! Und was die Zoll- und Liegegebühren betrifft und ...« Er wandte sich abrupt zu Rand um. Er bedachte die Aes Sedai, die ihn nicht beachteten, mit einem finsteren Blick, aber er sprach fast grob zu Rand. »Sie werden Cairhien in einem Jahr ruinieren, mein Lord Drache. Sie werden jeden Hafen ruinieren, in dem Ihr ihnen dies gewährt.«

Min stimmte ihm schweigend zu, aber Rand winkte nur ab und lachte erneut. »Das beabsichtigen sie vielleicht, aber ich verstehe einiges davon, Dobraine. Sie haben nicht gesagt, wer das Land auswählen soll, so daß es sich überhaupt nicht am Wasser befinden muß. Sie werden ihre Nahrung von Euch beziehen und daher nach Euren Gesetzen leben müssen, so daß sie nicht zu überheblich sein dürfen. Schlimmstenfalls könnt Ihr Eure Zollgebühren eintreiben, wenn die Güter aus ihren ... Freihäfen kommen. Und was das übrige betrifft — wenn ich es akzeptieren kann, könnt Ihr es auch.« Jetzt lachte er nicht mehr, und Dobraine beugte den Kopf.

Min fragte sich, wo er das alles gelernt hatte. Er klang wie ein König, der wußte, was er tat. Vielleicht hatte Elayne es ihn gelehrt.

»Der nächste Vertragspunkt beinhaltet mehr«, sagte Rand zu den beiden Aes Sedai.

Merana und Rafela wechselten Blicke und berührten unbewußt Röcke und Stolen. Dann sprach Merana mit gar nicht mehr schwülstiger Stimme. »Drittens erklärt sich der Wiedergeborene Drache bereit, ständig eine von den Atha'an Miere erwählte Gesandte in seiner Nähe zu dulden. Harine din Togara hat sich selbst dazu ernannt. Sie wird von ihrer Windsucherin, ihrem Schwertmeister und einem Gefolge begleitet werden.«

»Was?« brüllte Rand und sprang auf.

Rafela sprach eilig weiter, als befürchte sie, er könnte sie unterbrechen. »Und viertens stimmt der Wiedergeborene Drache zu, einem Ruf der Herrin der Schiffe unverzüglich zu folgen, aber nicht häufiger als zwei Mal in jeweils drei aufeinanderfolgenden Jahren.« Sie endete ein wenig atemlos in der Hoffnung, daß letzteres versöhnlicher wirkte.

Das Drachenszepter flog vom Boden hinter Rand heran, und er fing es in der Luft auf, ohne hinzusehen. Seine Augen wirkten nicht mehr eisig. Sie waren jetzt pures blaues Feuer. »Eine Meervolk-Abgesandte, die mir an den Fersen klebt?« schrie er. »Einem Ruf folgen?« Er schüttelte die geschnitzte Spitze in Rafelas Richtung, so daß die grünweißen Quasten durch die Luft peitschten. »Es gibt Leute dort draußen, die uns vollständig niederwerfen wollen und vielleicht auch dazu in der Lage wären! Die Verlorenen warten darauf! Der Dunkle König wartet! Warum habt Ihr nicht zugesichert, daß ich ihre Schiffsrümpfe kalfatern sollte, während Ihr verhandeltet?!«

Normalerweise versuchte Min, ihn zu beruhigen, wenn er sich aufregte, aber dieses Mal beugte sie sich nur vor und starrte die Aes Sedai an. Sie war vollkommen seiner Meinung. Sie hatten einen Kuhhandel abgeschlossen!

Rafela verunsicherte dieser Ausbruch, aber Merana riß sich zusammen. In ihren Augen war ebenfalls braunes, goldgeflecktes Feuer zu sehen. »Ihr tadelt uns?« fauchte sie in ebenso frostigem Tonfall, wie ihre Augen hitzig funkelten. Sie war eine Aes Sedai, wie das Kind Min sie betrachtet hatte, königlicher als alle Königinnen, über alle Macht hinaus mächtig. »Ihr wart am Anfang dabei, Ta'veren, und Ihr habt sie vollkommen in Bann geschlagen. Ihr hättet sie alle vor Euch niederknien lassen können! Aber Ihr seid gegangen! Sie waren nicht erfreut zu erfahren, daß sie für einen Ta'veren getanzt hatten. Sie haben irgendwo gelernt, Schilde zu weben, und bevor Ihr das Schiff noch ganz verlassen hattet, wurden Rafela und ich abgeschirmt. Daher konnten wir keinen Vorteil aus der Macht ziehen. Harine drohte mehr als einmal, uns an den Zehen in die Takelage zu hängen, bis wir zur Vernunft kämen, und ich für mein Teil habe sie ernst genommen! Seid glücklich, daß Ihr die Schiffe bekommt, die Ihr wollt, Rand al'Thor. Harine hätte Euch nur eine Handvoll gegeben! Seid glücklich, daß sie nicht Eure neuen Stiefel verlangt hat und Euren gräßlichen Thron noch dazu! Oh, sie hat Euch übrigens formell als den Coramoor anerkannt, auf daß Ihr Bauchweh davon bekommt!«

Min starrte sie an. Rand und Dobraine sahen sie an, und der Mund des Cairhieners stand offen. Rafela starrte mit mahlendem Kiefer vor sich hin. Das Feuer wich aus Meranas Augen, die sich allmählich immer mehr weiteten, als dämmere ihr erst jetzt, was sie gerade gesagt hatte.

Das Drachenszepter zitterte in Rands Faust. Min hatte seinen Zorn schon aus weitaus geringerem Anlaß fast bis zum Bersten anschwellen sehen. Sie betete um eine Möglichkeit, die Explosion aufhalten zu können, konnte aber keine erkennen.

»Es scheint«, sagte er schließlich, »daß die Worte, die ein Ta'veren bewirkt, nicht immer die Worte sind, die er hören will.« Er klang ... ruhig. Min wollte nicht über seine geistige Gesundheit nachdenken. »Ihr habt es gut gemacht, Merana. Ich habe Euch eine schwere Aufgabe übertragen, aber Ihr und Rafela habt sie gut bewältigt.«

Die beiden Aes Sedai wankten, und Min dachte einen Moment, sie würden vor reiner Erleichterung zusammenbrechen.

»Zumindest ist es uns gelungen, die Einzelheiten vor Cadsuane verborgen zu halten«, sagte Rafela, die unsicher ihre Röcke glättete. »Wir konnten nicht verhindern, daß jedermann von irgendeinem Abkommen erfuhr, aber wir haben Weiteres vor ihr verborgen.«

»Ja«, fügte Merana atemlos hinzu. »Sie hat uns sogar auf dem Weg hierher nachgestellt. Es ist schwer, etwas vor ihr geheimzuhalten, aber wir haben es geschafft. Wir dachten, daß Ihr nicht wolltet, daß sie ...« Angesichts Rands steinernem Gesichtsausdruck brach sie ab.

»Wieder Cadsuane«, sagte er tonlos. Er betrachtete stirnrunzelnd die geschnitzte Spitze des Szepters in seiner Hand und warf es dann auf einen Stuhl. »Sie befindet sich doch im Sonnenpalast. Min, trage den Töchtern des Speers draußen auf, sie sollen Cadsuane eine Nachricht überbringen. Sie soll dem Wiedergeborenen Drachen schnellstens ihre Aufwartung machen.«

»Rand, ich glaube nicht...«, begann Min unbehaglich, aber Rand unterbrach sie. Nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt.

»Bitte, tu es, Min. Diese Frau ist wie ein Wolf, der einen Schafpferch erspäht. Ich beabsichtige herauszufinden, was sie im Schilde führt.«

Min stand ganz langsam auf und schleppte sich zur Tür. Sie war nicht die einzige, die dies für eine schlechte Idee hielt. Oder die zumindest nicht anwesend sein wollte, wenn der Wiedergeborene Drache Cadsuane Melaidhrin gegenübertrat. Dobraine ging auf dem Weg zur Tür an ihr vorbei und verbeugte sich hastig, und sogar Merana und Rafela hatten den Raum bereits vor ihr verlassen, obwohl sie den Anschein zu erwecken suchten, sie hätten es nicht eilig. Aber als Min ihren Kopf in den Gang streckte, hatten die beiden Schwestern Dobraine bereits eingeholt und eilten davon.

Seltsamerweise hatten die sechs Töchter des Speers, die vor den Türen gestanden hatten, als Min den Raum betreten hatte, Zuwachs bekommen, so daß sie den Gang so weit säumten, wie sie in beiden Richtungen sehen konnte, große Frauen mit harten Gesichtern in Grau und dem Braungrau des Cadin'sor, die Shoufa um die Köpfe gewickelt und den langen schwarzen Schleier herabgelassen. Viele trugen ihre Speere und Schilde, als erwarteten sie einen Kampf. Einige spielten ein Fingerspiel namens ›Schere, Papier, Stein‹, und die übrigen sahen angespannt zu.

Jedoch nicht so angespannt, daß sie Min nicht bemerkt hätten. Als sie Rands Botschaft weitergab, wurde die Reihen entlang rasch die Zeichensprache benutzt, und dann trotteten zwei Töchter des Speers davon. Die anderen kehrten sofort zu ihrem Spiel zurück, als Ausführende oder Zuschauer.

Min kratzte sich verwirrt am Kopf und betrat erneut den Raum. Die Töchter des Speers machten sie oft nervös, und doch hatten sie stets ein Wort für sie übrig, manchmal respektvoll, wie einer Weisen Frau gegenüber, und manchmal scherzhaft, obwohl sie, milde ausgedrückt, einen seltsamen Humor besaßen. Sie hatten sie aber noch niemals zuvor so wie jetzt ignoriert.

Rand befand sich im Schlafzimmer, und schon die einfache Tatsache ließ ihr Herz rasen. Er hatte seine Jacke ausgezogen, sein schneeweißes Hemd am Hals und an den Manschetten geöffnet und seinen Gürtel abgelegt. Min setzte sich ans Fußende des Bettes, lehnte sich an einen der schweren Schwarzholz-Bettpfosten zurück, schwang die Füße hoch und nahm den Schneidersitz ein. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Rand dabei zuzusehen, wie er sich auszog, und sie beabsichtigte es zu genießen.

Anstatt jedoch mit seiner Tätigkeit fortzufahren, stand er nur da und sah sie an. »Was könnte Cadsuane mich lehren?« fragte er unvermittelt.

»Dich und alle Asha'man«, erwiderte sie. Das hatte ihr die Vision gezeigt. »Ich weiß nicht, was es ist, Rand. Ich weiß nur, daß ihr etwas lernen müßt. Ihr alle.« Anscheinend wollte er es beim aus der Hose hängenden Hemd belassen. Sie fuhr seufzend fort. »Du brauchst sie, Rand. Du kannst es dir nicht leisten, sie zu erzürnen, geschweige denn, sie davonzujagen.« Tatsächlich glaubte sie, daß nicht einmal fünfzig Myrddraal und tausend Trollocs Cadsuane irgendwohin jagen könnten.

Ein abwesender Ausdruck trat in Rands Augen, und kurz darauf schüttelte er den Kopf. »Warum sollte ich einem Wahnsinnigen zuhören?« murrte er fast unhörbar. Licht, glaubte er wirklich, Lews Therin Telamon spräche in seinem Kopf? »Zeige jemandem, daß du ihn brauchst, Min, und er hat dich in der Gewalt. Es ist wie eine Koppel, an der er dich überall hinziehen kann. Ich werde mir für keine Aes Sedai die Schlinge selbst um den Hals legen. Für keine!« Zögernd löste er wieder seine geballten Fäuste. »Dich brauche ich, Min«, sagte er schlicht. »Nicht wegen deiner Visionen. Ich brauche dich einfach.«

Verdammt, der Mann konnte einem mit wenigen Worten den Boden unter den Füßen entziehen!

Mit einem ebenso begierigen Lächeln wie dem ihren ergriff er den Saum seines Hemdes und beugte sich herab, um es sich über den Kopf zu ziehen. Sie verschränkte die Finger über ihrem Bauch und lehnte sich erneut zurück, um zuzusehen.

Die drei Töchter des Speers, die den Raum betraten, trugen die Shoufa nicht mehr, die im Gang ihr kurzes Haar verborgen hatte. Sie kamen mit leeren Händen und trugen auch nicht mehr die Gürteldolche mit der schweren Klinge. Mehr konnte Min in der kurzen Zeit nicht erkennen.

Rands Kopf und Arme steckten noch im Hemd. Die flachshaarige Somara, die selbst für eine Aiel groß war, ergriff das weiße Leinen, verknotete es und setzte Rand auf diese Weise gefangen. Fast mit derselben Bewegung trat sie ihm zwischen die Beine. Er beugte sich mit ersticktem Stöhnen vor.

Nesair, mit dem roten Haar und trotz der weißen Narben auf beiden sonnengebräunten Wangen wunderschön, rammte ihm eine Faust ausreichend hart in die rechte Seite, daß er seitwärts taumelte.

Min sprang mit einem Schrei vom Bett. Sie wußte nicht, welcher Wahnsinn hier herrschte, konnte es nicht einmal annähernd erahnen. Sie zog mit einer anmutigen Bewegung ihre beiden Dolche aus den Ärmeln und warf sich schreiend auf die Töchter des Speers. »Hilfe! Oh, Rand! Hilft uns denn niemand!«

Die dritte Tochter des Speers, Nandera, wandte sich behende wie eine Schlange um, und Min spürte, wie sich ein Fuß in ihren Magen bohrte. Pfeifend entwich ihr Atem. Die Dolche flogen aus ihren tauben Händen; sie wurde von der Tochter des Speers herumgewirbelt und landete krachend auf dem Rücken, wodurch auch noch die restliche Atemluft aus ihren Lungen gepreßt wurde. Sie versuchte, sich zu bewegen und zu atmen —versuchte zu verstehen! —, aber sie konnte nur daliegen und zusehen.

Die drei Frauen gingen gründlich vor. Nesair und Nandera bearbeiteten Rand mit ihren Fäusten, während Somara ihn vornübergebeugt in seinem eigenen Hemd gefangenhielt. Wieder und wieder plazierten sie gezielte Schläge in Rands harten Bauch und in seine rechte Seite. Min hätte hysterisch gelacht, wenn sie genug Atem gehabt hätte. Sie versuchten, ihn totzuprügeln, und vermieden sehr sorgfältig Schläge in der Nähe der empfindlichen runden Narbe an seiner linken Seite, durch die der erst halbwegs verheilte Riß verlief.

Min wußte sehr wohl, wie hart Rands Körper war, wie stark, aber dem konnte niemand standhalten. Langsam sackten seine Knie ein, und als sie ihn auf die Bodenfliesen geschickt hatten, traten Nandera und Nesair zurück. Sie nickten, und Somara ließ Rands Hemd los. Er fiel vorwärts aufs Gesicht. Sie konnte hören, wie er keuchte und das Stöhnen bekämpfte, das trotz seiner Bemühungen aufwallte. Somara zog ihm im Knien fast zärtlich das Hemd herab. Er lag mit der Wange auf dem Boden und rang nach Atem.

Nesair beugte sich herab, ergriff eine Faustvoll seines Haars und riß seinen Kopf hoch. »Wir haben uns das Recht hierauf errungen«, grollte sie. »Jede Tochter des Speers wollte Hand an Euch legen. Ich habe meinen Clan für Euch verlassen, Rand al'Thor, und ich werde nicht zulassen, daß Ihr mich schändlich behandelt!«

Somara vollführte eine Handbewegung, als wollte sie ihm das Haar aus dem Gesicht streichen, riß die Hand aber dann zurück. »So behandeln wir einen Erstbruder, der uns entehrt, Rand al'Thor«, sagte sie fest. »Beim ersten Mal. Beim zweiten Mal werden wir Riemen benutzen.«

Nandera stand mit steinernem Gesicht über Rand, eine Faust in die Hüfte gestemmt. »Ihr tragt Verantwortung für die Ehre der Far Dareis Mai, Sohn einer Tochter des Speers«, sagte sie grimmig. »Ihr habt versprochen, uns zum Tanz der Speere für Euch zu rufen, und dann seid Ihr in die Schlacht geeilt und habt uns zurückgelassen. Das werdet Ihr nicht wieder tun.«

Sie trat über ihn hinweg und ging, und die anderen beiden folgten ihr. Nur Somara schaute zurück, und wenn auch Mitleid in ihren blauen Augen stand, enthielt ihre Stimme keines, als sie sagte: »Sorgt dafür, daß dies nicht wieder nötig wird, Sohn einer Tochter des Speers.«

Rand hatte sich mühsam auf Hände und Knie aufgerichtet, als es Min gelang, zu ihm zu kriechen. »Sie müssen verrückt sein«, krächzte sie. Licht, ihr Bauch schmerzte! »Rhuarc wird...!« Sie wußte nicht, was Rhuarc tun würde. Es wäre nicht genug, was immer es wäre. »Sorilea.« Sorilea würde sie draußen in der Sonne pfählen! Für den Anfang! »Wenn wir ihr erzählen ...«

»Wir werden niemandem davon erzählen«, sagte er. Seine Stimme klang fast, als wäre er wieder bei Atem, obwohl seine Augen noch immer ein wenig hervorstanden. Wie konnte er das tun? »Sie haben das Recht dazu. Sie haben es sich verdient.«

Min kannte diesen Tonfall nur allzu gut. Wenn ein Mann beschloß, eigensinnig zu sein, würde er sich nackt in die Nesseln setzen und einem ins Gesicht sagen, sie berührten seine Haut nicht! Sie freute sich fast, ihn stöhnen zu hören, als sie ihm beim Aufstehen half. Nun, als sie einander aufzustehen halfen. Wenn er ein sturer, wollköpfiger Dummkopf sein wollte, verdiente er ein paar blaue Flecken!

Er legte sich aufs Bett und ließ sich auf die aufgehäuften Kissen zurücksinken. Min kuschelte sich neben ihn. Es war nicht das, worauf sie gehofft hatte, aber im Moment mußte es genügen.

»Dies ist nicht das, wofür ich das Bett benutzen wollte«, murrte er. Sie war sich nicht sicher, ob sie es hatte hören sollen.

Sie lachte. »Ich mag es ebenso sehr, wenn du mich im Arm hältst, wie ... wie das andere.« Er lächelte sie seltsamerweise an, als wüßte er, daß sie log. Ihre Tante Miren behauptete, es wäre eine der drei Lügen, die jeder Mann von einer Frau glauben würde.

»Wenn ich störe«, sagte die kühle Stimme einer Frau vom Eingang, »könnte ich wiederkommen, wenn es besser paßt.«

Min zuckte von Rand zurück, als hätte sie sich verbrannt, aber als er sie wieder zu sich zog, kuschelte sie sich erneut an ihn. Sie erkannte die im Eingang stehende Aes Sedai, eine rundliche kleine Cairhienerin mit vier dünnen farbigen Streifen über ihrem vollen Busen und weißen Schlitzen in den dunklen Röcken. Daigian Moseneillin war eine der Schwestern, die mit Cadsuane gekommen waren. Mins Meinung nach war sie fast ebenso anmaßend wie Cadsuane selbst.

»Wer auch immer Ihr seid, hat Euch niemand beigebracht, daß man anklopft?« fragte Rand träge. Min erkannte jedoch, daß jeder Muskel in dem sie umfassenden Arm hart angespannt war.

Der an einer Silberkette auf Daigians Stirn baumelnde Mondstein schwang, als sie zögernd den Kopf schüttelte. Sie war eindeutig wenig erfreut. »Cadsuane Sedai hat Eure Nachricht erhalten«, sagte sie sogar noch kühler als zuvor. »Sie hat mich gebeten, ihr Bedauern zu übermitteln, da sie gern ihre Handarbeit beenden möchte. Vielleicht kann sie Euch an einem anderen Tag aufsuchen. Wenn sie Zeit hat.«

»Das hat sie gesagt?« fragte Rand gefährlich ruhig.

Daigian rümpfte verächtlich die Nase. »Ich werde Euch jetzt wieder allein lassen, damit Ihr damit fortfahren könnt... was immer Ihr gerade tatet.« Min fragte sich, ob sie damit durchkommen könnte, wenn sie eine Aes Sedai schlug. Daigian sah sie mit eisigem Blick an, als hätte sie ihren Gedanken erahnt, wandte sich um und verließ den Raum.

Rand setzte sich mit einem unterdrückten Fluch auf. »Sagt Cadsuane, sie kann in den Krater des Verderbens gehen!« rief er der sich zurückziehenden Schwester nach. »Sagt ihr, sie kann dort verrotten!«

»Es nützt nichts, Rand«, sagte Min seufzend. Dies würde schwerer, als sie gedacht hatte. »Du brauchst Cadsuane, aber sie braucht dich nicht.«

»Nein?« fragte er leise, und sie erschauderte. Sie hatte zuvor nur geglaubt, seine Stimme klänge gefährlich ruhig.

Rand bereitete sich sorgfältig vor, zog seine grüne Jacke wieder an und schickte Min mit Nachrichten fort, welche die Töchter des Speers überbringen sollten. Zumindest das würden sie noch immer tun. Die Rippen auf seiner rechten Körperseite schmerzten fast ebenso sehr wie die Wunden auf seiner linken, und sein Bauch fühlte sich an, als wäre er mit einem Brett bearbeitet worden. Er hatte es ihnen versprochen. Er streckte sich in seinem Schlafzimmer allein nach Saidin aus, wollte nicht einmal Min Zeuge werden lassen, wenn er abermals taumelte. Gewiß konnte er ihr zumindest ein wenig Sicherheit geben, aber wie konnte sie sich tatsächlich sicher fühlen, wenn sie sähe, wie er fast zusammenbrach? Er mußte um ihretwillen stark sein. Er mußte um der Welt willen stark sein. Die gebündelten Empfindungen in seinem Hinterkopf, die Alanna waren, gemahnten ihn an den Preis für eine Unachtsamkeit.

»Ich halte dies noch immer für Wahnsinn, Rand al'Thor«, sagte Min, als er sich die Krone vorsichtig auf den Kopf setzte. Er wollte verhindern, daß die kleinen Klingen ihn wieder verletzten. »Hörst du mir zu? Nun, wenn du es dennoch tun willst, komme ich mit dir. Du hast zugegeben, daß du mich brauchst, und du wirst mich hierfür mehr brauchen denn je!« Sie war voller Tatendrang, die Fäuste auf die Hüften gestemmt, ein Fuß auftippend, die Augen funkelnd.

»Du bleibst hier«, sagte er bestimmt. Er war sich noch immer nicht sicher, was er tun wollte, nicht gänzlich, und er wollte nicht, daß sie ihn versagen sah. Er hatte große Angst, daß er versagen könnte. Er erwartete jedoch einen Streit.

Sie sah ihn stirnrunzelnd an, und ihr Fuß kam zur Ruhe. Das zornige Leuchten in ihren Augen verwandelte sich in Sorge, die sie durch ein Augenzwinkern vertrieb. »Nun, du bist vermutlich alt genug, den Stallhof zu überqueren, ohne daß dich jemand an der Hand hält, Schafhirte. Außerdem gerate ich mit meinem Buch ins Hintertreffen.«

Sie ließ sich auf einen der hohen vergoldeten Stühle fallen, zog die Beine unter sich und nahm das Buch hoch, in dem sie gelesen hatte, als er hereingekommen war. Kurz darauf schien sie vollkommen von dem Text in Anspruch genommen.

Rand nickte. Er hatte gewollt, daß sie hier in Sicherheit blieb. Dennoch brauchte sie ihn nicht so vollständig zu vergessen.

Sechs Töchter des Speers hockten im Gang vor seiner Tür. Sie sahen ihn mit ausdruckslosen Augen schweigend an. Nandera blickte am ausdruckslosesten, obwohl Somara und Nesair ihr fast gleichkamen.

Nesair hielt er für eine Shaido. Er würde sie streng im Auge behalten müssen.

Die Asha'man warteten ebenfalls — Lews Therin murrte in Rands Kopf düster etwas vom Töten —, außer Narishma alle, mit dem Drachen und dem Schwert an ihren Kragen. Er befahl Narishma knapp, vor seinen Räumen Wache zu halten, und der Mann salutierte ebenso knapp, die dunklen, großen Augen zu einsichtig und leicht anklagend. Rand glaubte nicht, daß die Töchter des Speers ihr Mißfallen an Min auslassen würden, aber er wollte das Wagnis nicht auf sich nehmen. Licht, er hatte Narishma alles über die Fallen gesagt, die er im Stein gewoben hatte, als er den Mann mit dem Auftrag losgeschickt hatte, Callandor zu holen. Der Mann konnte sich etwas zusammenreimen. Verdammt, es war ein irrsinniges Risiko gewesen.

Nur Wahnsinnige vertrauen niemals. Lews Therin klang belustigt und selbst ziemlich wahnsinnig. Die Wunden an Rands Seite pochten und schienen in fernem Schmerz miteinander zu schwingen.

»Führt mich zu Cadsuanes Gemächern«, befahl er. Nandera erhob sich anmutig und ging davon, ohne zurückzublicken. Er folgte ihr, und die übrigen — Dashiva und Flinn, Morr und Hopwil — folgten wiederum ihm. Er gab ihnen unterwegs eilig Anweisungen. Ausgerechnet Flinn wollte protestieren, aber Rand brachte ihn zum Schweigen. Jetzt war keine Zeit zu zaudern. Der ergraute einstige Wächter war der letzte, von dem Rand dies erwartet hätte. Von Morr oder Hopwil vielleicht. Wenn sie auch nicht mehr wirklich naiv waren, so waren sie doch noch immer sehr jung. Aber Flinn nicht. Nanderas weiche Stiefel verursachten kein Geräusch, doch die Schritte aller anderen hallten von der hohen Kassettendecke wider und trieben jedermann davon, der auch nur einen unbedeutenden Grund zur Furcht hatte. Rands Wunden pochten.

Jedermann im Sonnenpalast kannte den Wiedergeborenen Drachen inzwischen vom Sehen, und sie wußten auch, wer die Männer mit den schwarzen Jacken waren. Schwarz livrierte Diener verbeugten sich tief und eilten hastig außer Sicht. Die meisten Adligen versuchten beinahe ebenso rasch, Abstand zwischen sich und die fünf Männer zu bringen, welche die Macht lenken konnten, und verschwanden mit geschäftigen Mienen irgendwohin. Ailil sah sie mit unlesbarem Gesichtsausdruck vorübergehen. Anaiyella lächelte natürlich einfältig, aber als Rand zurückschaute, sah sie ihm mit einer Miene nach, die Nanderas in nichts nachstand. Bertome lächelte, während er einen Kratzfuß machte, ein düsteres Lächeln, das weder Freude noch Vergnügen enthielt.

Nandera sprach auch dann nicht, als sie ihr Ziel erreicht hatten, vielmehr deutete sie nur mit einem ihrer Speere auf eine geschlossene Tür, wandte sich auf dem Absatz um und ging den Weg wieder zurück, den sie gekommen waren. Der Car'a'carn ohne eine einzige Tochter des Speers zum Schutz. Glaubten sie, vier Asha'man genügten für seine Sicherheit? Oder war ihr Weggang ein weiteres Zeichen ihres Mißfallens?

»Tut, was ich Euch befohlen habe«, sagte Rand.

Dashiva zuckte zusammen, als komme er gerade wieder zu sich, und ergriff dann die Quelle. Die breite, mit vertikalen Linien verzierte Tür schwang bewegt von einem Strang Luft mit einem Knall auf. Die übrigen drei Männer ergriffen Saidin ebenfalls und folgten Dashiva mit grimmigen Mienen in den Raum.

»Der Wiedergeborene Drache«, hallte Dashivas Stimme laut wider, nur leicht durch die Macht verstärkt, »der König von Illian, der Herr des Morgens, kommt, um Cadsuane Melaidhrin zu sehen.«

Rand trat hocherhobenen Hauptes ein. Er erkannte das Gewebe nicht, das Dashiva gewoben hatte, aber die Luft schien vor drohender Gefahr zu summen, ein Gefühl von etwas unerbittlich Herannahendem.

»Ich habe nach Euch geschickt, Cadsuane«, sagte Rand. Er benutzte kein Gewebe, seine Stimme klang hart und auch ohne Hilfe tonlos.

Die Grüne Schwester, an die er sich gut erinnern konnte, saß mit einem Stickrahmen in Händen neben einem kleinen Tisch, und aus einem geöffneten Korb auf diesem Tisch quollen aus einem der vielen Fächer Stränge bunter Fäden. Sie war genauso, wie er sie in Erinnerung hatte: dieses strenge Gesicht, noch betont durch einen eisengrauen, mit kleinen, herabbaumelnden goldenen Fischen und Vögeln, Sternen und Monden geschmückten Knoten, jene dunklen Augen, die in ihrem Gesicht fast schwarz wirkten, die kühlen, besonnenen Augen. Lews Therin wimmerte und floh bei ihrem Anblick.

»Nun«, sagte sie und legte den Stickrahmen beiseite. »Nach allem, was ich über Euch gehört habe, Junge, hätte ich wenigstens Donnerschlag, Himmelstrompeten und flammende Blitze erwartet.« Sie betrachtete ruhig die fünf Männer mit den steinernen Mienen, welche die Macht lenken konnten, was hätte genügen sollen, um jede Aes Sedai zurückweichen zu lassen. Dann betrachtete sie ebenso ruhig den Wiedergeborenen Drachen. »Ich hoffe, daß wenigstens einer von Euch zaubern wird«, sagte sie. »Oder Feuer schlucken? Es hat mir stets gefallen, Feuerschluckern zuzusehen.«

Flinn lachte bellend, bevor er sich wieder fing, und selbst dann mußte er anscheinend noch gegen seine Belustigung ankämpfen. Morr und Hopwil wechselten verwirrte als auch überaus zornige Blicke. Dashiva lächelte gereizt, und das Gewebe, das er festhielt, wurde stärker, bis Rand ein bedrohliches Gefühl hatte.

»Es genügt, daß Ihr wißt, wer ich bin«, belehrte Rand sie. »Dashiva und Ihr anderen, wartet draußen.«

Dashiva öffnete wie zum Widerspruch den Mund. Das hatte nicht zu Rands Anweisungen gehört, aber sie würden die Frau auf diese Weise nicht einschüchtern. Der Mann ging jedoch leise murrend hinaus. Hopwil und Morr verließen den Raum rascher als nötig, während sie Cadsuane Seitenblicke zuwarfen. Flinn zog sich trotz seines Hinkens als einziger würdevoll zurück. Und er schien noch immer belustigt!

Rand lenkte die Macht, und ein schwerer, mit geschnitzten Leoparden verzierter Stuhl schwebte von seinem Platz an der Wand und drehte sich um seine Achse, bevor er wie eine Feder vor Cadsuane zum Stehen kam. Gleichzeitig schwebte ein schwerer Silberkrug von einem langen, gedeckten Tisch auf der anderen Seite des Raums heran und knackte durch jähes Erhitzen laut. Als ihm Dampf entströmte, neigte er sich und vollführte eine langsame Kreiselbewegung, während ein Silberbecher heranflog, um die dunkle Flüssigkeit aufzufangen.

»Zu heiß, glaube ich«, sagte Rand, und die Glasscheiben in den Fenstern stürzten aus den hohen, schmalen Rahmen. Schneeflocken wirbelten auf einem eisigen Windhauch ins Zimmer, und der Becher schwebte durch eines der Fenster hinaus und wieder herein, genau in seine Hand, während er sich niederließ. Er wollte doch einmal sehen, wie ruhig sie bleiben konnte, wenn sie ein Wahnsinniger anstarrte. Die dunkle Flüssigkeit war Tee, nach dieser Art des Erhitzens zu stark und sehr bitter. Aber die Wärme kam ihm gerade recht. Die heulend in den Raum fegenden und an den Wandteppichen zerrenden Windstöße verursachten ihm eine Gänsehaut, aber im weit entfernten Nichts war es die Haut eines anderen.

»Die Lorbeerkrone ist hübscher als manche andere«, sagte Cadsuane leicht lächelnd. Ihr Haarschmuck schwang, wann immer sich der Wind erhob, und kleine Haarsträhnen flatterten um ihren Knoten, aber das einzige, woran man erkennen konnte, daß sie den Luftzug bemerkte, war die Tatsache, daß sie den Stickrahmen auffing, ehe er vom Tisch geweht wurde. »Ich ziehe diesen Namen vor. Aber Ihr könnt nicht von mir erwarten, daß mich Kronen beeindrucken. Ich habe zwei regierenden Königen und drei Königinnen den Hintern versohlt. Sie konnten ungefähr einen Tag lang nicht mehr sitzen, nachdem ich mit ihnen fertig war, aber ich errang ihre Aufmerksamkeit. Also seht Ihr, warum Kronen mich nicht beeindrucken.«

Rand entspannte seine Kiefermuskeln. Es würde nichts nützen, mit den Zähnen zu knirschen. Er weitete die Augen in der Hoffnung, wahnsinnnig anstatt einfach nur zornig auszusehen. »Die meisten Aes Sedai meiden den Sonnenpalast«, sagte er. »Außer jenen, die mir die Treue geschworen haben. Und jenen, die ich gefangenhalte.« Licht, was sollte er mit ihnen tun? Solange die Weisen Frauen sie ihm aus dem Weg hielten, war soweit alles gut.

»Die Aiel sind anscheinend der Ansicht, ich sollte kommen und gehen können, wie es mir gefällt«, sagte sie abwesend und betrachtete den Stickrahmen in ihrer Hand, als denke sie darüber nach, mit ihrer Arbeit fortzufahren. »Das kommt durch ein wenig belanglose Hilfe, die ich dem einen oder anderen Jungen gewährt habe, obwohl ich nicht erklären kann, warum jemand anderer als seine Mutter ihn dessen für wert erachten sollte.«

Rand bemühte sich weiterhin, nicht mit den Zähnen zu knirschen. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Sie und Damer Flinn und viele andere Beteiligte, unter anderem Min. Und er schuldete Cadsuane noch immer etwas dafür, verdammt sei sie! »Ich möchte, daß Ihr meine Beraterin werdet. Ich bin jetzt König von Illian, und Könige haben für gewöhnlich Aes Sedai-Berater.«

Sie betrachtete beiläufig seine Krone. »Das werde ich gewiß nicht. Eine Beraterin muß zu häufig zusehen, wie ihr Schützling Chaos verursacht, als daß es mir gefallen könnte. Sie muß auch Befehle entgegennehmen, etwas, worin ich besonders schlecht bin. Genügt nicht jemand anderer? Alanna vielleicht?«

Rand setzte sich wider Willen starr aufrecht. Wußte sie von dem Bund? Merana hatte gesagt, es sei schwer, etwas vor ihr geheimzuhalten. Nein, er könnte sich später noch Gedanken darüber machen, wieviel seine ›treuen‹ Aes Sedai Cadsuane erzählten. Licht, er wünschte, Min könnte sich einmal irren. Aber eher würde er glauben, daß er Wasser atmen könnte. »Ich...« Er konnte sich nicht dazu bringen, ihr zu sagen, daß er sie brauchte. Keine Schlinge! »Was wäre, wenn Ihr keine Eide leisten müßtet?«

»Das wäre vielleicht eine Möglichkeit«, sagte sie ungewiß, während sie weiterhin ihre verdammte Stickerei betrachtete. Dann sah sie ihn nachdenklich an. »Ihr klingt... beunruhigt. Ich sage einem Mann nicht gern, daß er Angst hat, selbst wenn er Grund dazu hat. Beunruhigt über eine Schwester, die Ihr nicht in einen zahmen Schoßhund verwandelt habt, der Euch in gewisser Weise zu gefallen versucht? Laßt mich sehen. Ich kann Euch einiges versprechen, vielleicht wird Euch das beruhigen. Ich erwarte natürlich, daß Ihr zuhört — laßt mich Atem verschwenden, und Ihr werdet leiden —, aber ich werde Euch nicht dazu bringen zu tun, was ich will. Ich werde gewiß keine Lügen tolerieren — das ist noch etwas, was Ihr als entschieden beunruhigend empfinden werdet —, aber ich erwarte auch nicht, daß Ihr mir Eure tiefsten Sehnsüchte verratet. O ja, was auch immer ich tue, wird zu Eurem eigenen Besten sein. Nicht zu meinem Besten, nicht zum Besten der Weißen Burg — zu Eurem Besten. Nun, mildert das Eure Befürchtungen? Verzeiht. Eure Beunruhigung.«

Während Rand sie ansah, überlegte er, ob er lachen sollte. »Bringt man Euch das bei?« fragte er. »Ich meine, ein Versprechen wie eine Drohung klingen zu lassen.«

»Oh, ich verstehe. Ihr wollt Regeln. Das wollen die meisten Jungen, was auch immer sie sagen. Gut, laßt mich sehen. Ich kann Unhöflichkeit nicht ertragen, also werdet Ihr mir, meinen Freunden und meinen Gästen gegenüber angemessen höflich sein. Das beinhaltet, nicht die Macht gegen sie zu lenken, falls Ihr das nicht bereits vermutet habt, und Euer Temperament zu zügeln, was man sich wohl merken kann. Es betrifft ebenfalls Eure ... Gefährten mit den schwarzen Jacken. Es wäre schade, wenn ich Euch für etwas schlagen müßte, was einer von ihnen getan hat. Genügt das? Ich kann noch weitere Regeln aufstellen, wenn Ihr welche braucht.«

Rand stellte seinen Becher neben dem Stuhl ab. Der Tee war ebenso kalt geworden, wie er bitter war. Schnee häufte sich unter den Fenstern allmählich in Verwehungen auf. »Ich soll noch wahnsinnig werden, Aes Sedai, aber Ihr seid es bereits.« Er erhob sich und schritt zur Tür.

»Ich hoffe, Ihr habt nicht versucht, Callandor zu benutzen«, sagte sie hinter ihm selbstzufrieden. »Ich habe gehört, daß es aus dem Stein verschwunden ist. Ihr seid einmal entkommen, aber Ihr entkommt vielleicht kein zweites Mal.«

Er hielt jäh inne und schaute über die Schulter. Die Frau arbeitete weiter an dieser verdammten Stickerei! Der Wind fegte in den Raum, wirbelte Schnee umher, und sie hob nicht einmal den Kopf. »Was meint Ihr damit?«

»Wie?« Sie schaute nicht auf. »Oh. Nur sehr wenige in der Burg wußten, was Callandor ist, bevor Ihr es in Euren Besitz brachtet, aber in verstaubten Ecken der Burgbibliothek sind überraschende Dinge verborgen. Ich habe sie vor einigen Jahren durchstöbert, bevor ich beschloß, mich zurückzuziehen.«

»Was habt Ihr entdeckt?« fragte er rauh.

Cadsuane schaute auf und wirkte, das Haar schwingend und mit Schnee auf ihrem Gewand, wahrhaft wie eine Königin. »Ich habe Euch gesagt, daß ich Unhöflichkeit nicht ertragen kann. Wenn Ihr mich erneut um Hilfe bittet, erwarte ich, daß Ihr höflich bittet. Und ich würde heute eine Entschuldigung für Euer Betragen annehmen!«

»Was ist mit Callandorl«.

»Es ist makelbehaftet«, erwiderte sie knapp, »ihm fehlt der Schutz, der die Benutzung anderer Sa'angreale sicher macht, und es verstärkt den Makel Saidins anscheinend noch, einschließlich der Ungezügeltheit des Geistes. Jedenfalls solange ein Mann es benutzt. Die einzige Möglichkeit, Das Schwert, das kein Schwert ist zu benutzen, ohne Euer eigenes Leben aufs Spiel zu setzen oder nur das Licht weiß welchen Wahnsinn zu versuchen, besteht darin, es mit zwei Frauen verbunden zu tun, von denen eine die Stränge führt.«

Rand bemühte sich, seine Enttäuschung nicht zu zeigen, und trat von Cadsuane fort. Also war nicht nur die Ungezügeltheit Saidins rund um Ebou Dar schuld an Adleys Tod. Er hatte den Mann in dem Moment ermordet, als er Narishma nach dem Schwert geschickt hatte.

Cadsuanes Stimme verfolgte ihn. »Denkt daran, Junge. Ihr müßt sehr nett bitten und Euch entschuldigen. Ich würde vielleicht darauf eingehen, wenn Eure Entschuldigung aufrichtig klingt.«

Rand hörte sie kaum. Er hatte gehofft, Callandor erneut benutzen zu können, hatte gehofft, es wäre ausreichend stark. Jetzt blieb nur eine Möglichkeit, die ihn erschreckte. Er glaubte die Stimme einer anderen Frau zu hören — die Stimme einer Toten. Du könntest den Schöpfer herausfordern.

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