1 Den Vertrag einhalten

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und selbst der Mythos ist schon lange vergessen, wenn das Zeitalter, das ihn geboren hat, wiederkehrt. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wird, ein Zeitalter, das noch kommen wird und ein lange vergangenes Zeitalter, erhob sich ein Wind über der großen, gebirgigen Insel Tremalking. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt weder einen Anfang noch ein Ende bei der Drehung des Rades der Zeit. Aber es war ein Anfang.

Der Wind wehte von Osten über Tremalking, wo die hellhäutigen Amayar ihre Felder bestellten, edles Glas und Porzellan verfertigten und dem friedlichen Wasserweg folgten. Die Amayar beachteten die Welt jenseits der weit verstreuten Inseln nicht, weil der Wasserweg lehrte, daß diese Welt nur eine Illusion war, ein gespiegeltes Bild des Glaubens, und doch beobachteten einige, wie der Wind Staub und schwüle Sommerhitze herantrug, wo kalter Winterregen fallen sollte, und sie erinnerten sich an Geschichten, die sie von den Atha'an Miere gehört hatten. Geschichten von der jenseitigen Welt und was die Prophezeiung verkündete. Einige schauten zu einem Berg, wo eine wuchtige Felshand aus der Erde ragte, die eine klare Kristallkugel hielt, größer als viele Häuser. Die Amayar hatten ihre eigenen Prophezeiungen, und einige davon sprachen von der Hand und der Kugel. Und vom Ende der Illusionen.

Der Wind blies ostwärts ins Meer der Stürme, unter einer sengenden Sonne an einem wolkenlosen Himmel, peitschte die Kämme grüner Meereswogen, tosende Winde von Süden und Westen, verheerend und wild, während das Wasser anstieg. Es waren noch nicht die Stürme, die im tiefsten Winter hereinbrachen, obwohl der Winter bereits halbwegs vorüber sein sollte, und auch nicht die noch stärkeren Stürme eines vergehenden Sommers, sondern Winde und Strömungen, die vom seefahrenden Volk genutzt wurden, um den Kontinent an der Küste entlang vom Ende der Welt bis Mayene und darüber hinaus und auch wieder zurück zu umfahren. Der Wind heulte ostwärts, über das wogende Meer, wo die großen Wale aufstiegen und sangen und fliegende Fische auf ausgestreckten Flossen von zwei und mehr Schritt Spannweite zu sehen waren, ostwärts und nordwärts wirbelnd, über kleine Flotten von Fischerbooten hinweg, die ihre Netze durch flachere Gewässer zogen. Einige jener Fischer standen mit offenem Mund da, die Hände müßig auf den Seilen ruhend, und betrachteten das gewaltige Aufgebot von großen und kleineren Schiffen, die zielbewußt hart vor dem Wind fuhren und die Wogen mit ihrem breiten Bug brachen oder sie mit schmaleren durchschnitten, ihr Banner ein goldener Falke mit einem Blitz in den Klauen, eine Vielfalt wehender Banner wie Vorzeichen des Sturms. Ostwärts und nordwärts und weiter, bis der Wind den weiten, von Schiffen bevölkerten Hafen Ebou Dars erreichte, in dem wie in vielen anderen Häfen Hunderte von Meervolk-Schiffen lagen und auf Nachricht des Coramoor, des Auserwählten, warteten.

Der Wind heulte über den Hafen, erschütterte kleine und große Schiffe, fegte über die Stadt selbst, die unter der gleißenden Sonne weiß leuchtete, über Erker und Mauern und Kuppeln hinweg und durch die von den berühmten Gewerben des Südens geschäftigen Straßen und Kanäle. Der Wind wirbelte rund um die schimmernden Kuppeln und die schlanken Türme des Tarasin-Palasts, trug den Geruch von Salz heran, erfaßte die Flagge von Altara, zwei goldene Leoparden auf rotblauem Feld, und die Banner des regierenden Hauses Mitsobar, das Schwert und der Anker, Grün auf Weiß. Noch nicht der Sturm, aber ein Vorbote von Stürmen.

Aviendha verspürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, als sie vor ihren Begleitern her durch die in Dutzenden freundlich heller Schattierungen gefliesten Gänge des Palasts schritt. Ein Gefühl, beobachtet zu werden, das sie zuletzt empfunden hatte, als sie noch mit dem Speer verbunden war.

Einbildung, sagte sie sich. Einbildung und das Wissen, daß Feinde in der Nähe sind, denen ich nicht die Stirn bieten kann! Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte dieses Kribbeln bedeutet, daß jemand sie vielleicht zu töten beabsichtigte. Der Tod war nichts, was man fürchten mußte — jedermann starb, heute oder an einem anderen Tag —, aber sie wollte nicht wie ein in der Falle gefangenes Kaninchen sterben. Sie mußte ihrem Toh begegnen.

Diener hasteten dicht an den Wänden vorüber, verbeugten sich, vollführten Hofknickse und senkten die Blicke, fast als verstünden sie das Beschämende ihrer Lebensführung, obwohl gewiß nicht sie die Ursache dafür sein konnten, daß Aviendha am liebsten mit den Achseln gezuckt hätte. Sie hatte sich Mühe gegeben, Diener anzusehen, aber selbst jetzt, wo die Haut zwischen ihren Schulterblättern kribbelte, wich ihr Blick ihnen noch aus. Es mußte Einbildung sein — und die Nerven. Dies war ein Tag für Einbildungen und schlechte Nerven.

Die üppigen Seidentapeten wie auch die vergoldeten Lampen und Kandelaber, welche die Gänge säumten, zogen ihren Blick an. Hauchdünnes Porzellan in Rot-, Gelb-, Grün- und Blautönen stand in Wandnischen und hohen, durchbrochenen Schränken, Seite an Seite mit Gold- und Silberschmiedearbeiten sowie Elfenbein und Kristall, eine Vielzahl von Schalen und Vasen und Schatullen und Statuetten. Nur die Wunderschönsten zogen ihren Blick wirklich an. Was auch immer Feuchtländer glaubten — Schönheit war mehr wert als Gold. Hier war so viel Schönes zu sehen. Sie hätte nichts dagegen gehabt, am Fünften dieses Ortes beteiligt zu werden.

Verärgert über sich selbst runzelte sie die Stirn. Das war kein ehrenhafter Gedanke unter einem Dach, das ihr bereitwillig Schatten und Wasser gespendet hatte. Zugegebenermaßen unzeremoniell, aber auch ohne Schuld oder Blut Stahl oder Not. Aber immer noch besser das, als über einen kleinen Jungen nachdenken zu müssen, der irgendwo dort draußen in dieser ruchlosen Stadt allein unterwegs war. Jede Stadt war ruchlos — dessen war sie sich inzwischen sicher, nachdem sie vier Städte kennengelernt hatte —, aber Ebou Dar war die letzte Stadt, in der sie ein Kind hätte allein herumlaufen lassen. Sie konnte nicht verstehen, warum die Gedanken an Olver kamen, wenn sie sich nicht bemühte, sie zu verdrängen. Er war kein Teil des Toh, das sie Elayne und Rand al'Thor gegenüber verpflichtete. Ein Shaido-Speer hatte ihm den Vater genommen und Hunger und Not die Mutter, aber selbst wenn es ihr eigener Speer gewesen wäre, der beide genommen hätte, war der Junge noch immer ein Cairhiener, ein Baummörder. Warum sollte sie sich wegen eines Kindes dieser Abstammung quälen? Warum? Sie versuchte, sich auf das zu gestaltende Gewebe zu konzentrieren, aber obwohl sie unter Elaynes Aufsicht geübt hatte, bis sie es im Schlaf hätte gestalten können, drängte sich Olvers Gesicht mit dem breiten Mund dazwischen. Birgitte sorgte sich noch mehr um ihn als sie selbst, aber in Birgittes Brust schlug ein ohnehin eigenartig weiches Herz für kleine — und besonders garstige —Jungen.

Aviendha gab es seufzend auf, die Unterhaltung ihrer Begleiter hinter ihr weiterhin ignorieren zu wollen, obwohl deren Verärgerung deutlich hörbar war. Selbst das war besser, als sich um den Sohn von Baummördern zu sorgen. Eidbrecher. Verachtetes Blut, ohne das die Welt besser dran wäre. Sie würde sich nicht um Olver sorgen oder kümmern. Keinesfalls. Mat Cauthon würde den Jungen auf jeden Fall finden. Er konnte anscheinend alles finden. Das Zuhören beruhigte sie irgendwie. Das Kribbeln schwand.

»Es gefällt mir überhaupt nicht!« murrte Nynaeve, womit sie eine Erörterung fortführte, die in ihren Räumen begonnen hatte. »Überhaupt nicht, Lan, hörst du?« Sie hatte ihr Mißfallen bereits mindestens zwanzigmal bekundet, aber Nynaeve gab niemals auf, nur weil sie verloren hatte. Klein und dunkeläugig schritt sie wild auf und ab, so daß ihre geteilten blauen Röcke flogen; eine Hand hatte sie in die Nähe ihres dicken, hüftlangen Zopfes gehoben und dann entschlossen wieder gesenkt, bevor sie die Hand erneut anhob. Nynaeve hielt starr an Zorn und Verärgerung fest, solange Lan in der Nähe war. Oder sie versuchte es zumindest. Sie war von übermäßigem Stolz erfüllt, weil sie ihn geheiratet hatte. Die eng anliegende, bestickte blaue Jacke über ihrem mit gelben Schlitzen versehenen, seidenen Reitgewand stand offen und zeigte für Feuchtländer weitaus zuviel Busen, nur damit sie den schweren goldenen Ring zeigen konnte, der an einer schmalen Kette um ihren Hals hing. »Du hast kein Recht, dich so um mich zu sorgen, Lan Mandragoran«, fuhr sie mit fester Stimme fort. »Ich bin keine Porzellanfigur.«

Lan trat neben sie, ein großer Mann, der mit Kopf und Schultern über ihr aufragte; der Umhang eines Behüters hing von seinem Rücken herab. Sein Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt, und sein Blick wog die Bedrohung ab, die jeder vorübereilende Diener darstellen mochte. Er überprüfte jeden Quergang und jede Wandnische auf verborgene Angreifer. Er strahlte Angespanntheit aus, ein sprungbereiter Löwe. Aviendha war in der Nähe gefährlicher Männer aufgewachsen, aber niemand hatte es jemals mit Aan'allein aufnehmen können.

»Du bist eine Aes Sedai, und ich bin dein Behüter«, sagte er mit tiefer, ruhiger Stimme. »Es ist meine Pflicht, mich um dich zu sorgen.« Sein Tonfall wurde weicher, was in starkem Widerspruch zu seinem kantigen Gesicht mit den scharfen, sich niemals verändernden Augen stand. »Außerdem ist es mir ein Herzensanliegen, mich um dich zu sorgen, Nynaeve. Du kannst alles von mir erbitten oder fordern, aber niemals, daß ich tatenlos zusehe, wenn dir etwas zustößt. An dem Tag, an dem du stirbst, werde auch ich sterben.«

Letzteres hatte er zuvor noch nicht gesagt, jedenfalls nicht in Aviendhas Gegenwart, und es traf Nynaeve wie ein Schlag in die Magengrube. Ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf, und sie bewegte lautlos die Lippen. Sie schien sich jedoch, wie immer, schnell wieder zu fassen. Sie gab vor, ihren mit blauen Federn geschmückten Hut zu richten, ein lächerliches Gebilde, das wie ein seltsamer Vogel auf ihrem Kopf hockte, und warf ihm unter der breiten Krempe einen raschen Blick zu.

Aviendha argwöhnte, daß die andere Frau häufig Schweigen und vermutlich bedeutsame Blicke benutzte, um Unkenntnis zu verbergen. Sie vermutete, daß Nynaeve kaum mehr über Männer — oder über den Umgang mit einem Mann — wußte als sie selbst. Ihnen mit Dolchen und Speeren gegenüberzutreten, war weitaus leichter, als einen Mann zu lieben. Weitaus leichter. Wie schafften es Frauen, mit ihnen verheiratet zu sein? Aviendha wollte es verzweifelt wissen und hatte keine Ahnung, wie sie es in Erfahrung bringen sollte. Erst einen Tag mit Aan'allein verheiratet, hatte sich Nynaeve in weitaus mehr Hinsichten verändert, als daß sie lediglich versuchte, ihr Temperament zu zügeln. Sie schien rasch von Bestürzung in Schrecken zu geraten, wie sehr sie es auch zu verbergen versuchte. Sie verfiel in merkwürdigen Augenblicken in Träumereien, errötete bei harmlosen Fragen und — sie leugnete es heftig, obwohl Aviendha es selbst miterlebt hatte — kicherte grundlos. Von Nynaeve würde sie nichts erfahren.

»Vermutlich wirst du mir auch wieder etwas über Behüter und Aes Sedai erzählen«, sagte Elayne kühl zu Birgitte. »Nun, wir beide sind nicht verheiratet. Ich erwarte von dir, daß du meinen Rücken deckst, aber ich möchte nicht, daß du dahinter Versprechen abgibst, die mich betreffen.« Elayne trug ebenso unpassende Kleidung wie Nynaeve, ein goldbesticktes Ebou Dari-Reitgewand aus grüner Seide, schicklich hoch geschlossen, aber mit einer ovalen Öffnung in der Mitte, welche die Wölbungen ihrer Brüste freigab. Feuchtländer wurden bei Erwähnung eines Schwitzzelts oder bei der Vorstellung, vor Gai'schain entkleidet zu werden und halb nackt umherzulaufen, wo jeder Fremde einen sehen konnte, verlegen. Aviendha kümmerten Nynaeves Empfindungen nicht, aber Elayne war ihre Nächstschwester. Und würde hoffentlich noch mehr werden.

Birgittes hohe Stiefelabsätze machten sie fast eine Handbreit größer als Nynaeve, wenn sie auch dann noch kleiner blieb als Elayne oder Aviendha. In der dunkelblauen Jacke und der weiten grünen Hose strahlte sie eine ähnlich zuversichtliche Bereitschaft wie Lan aus, obwohl sie bei ihr beiläufiger schien: Ein auf einem Fels ausgestreckter Leopard — nicht annähernd so träge, wie sie vorgab. Es war kein Pfeil in den Bogen eingelegt, den Birgitte mit sich trug, aber sie konnte trotz ihrer scheinbaren Unbekümmertheit einen Pfeil aus dem Köcher an ihrer Hüfte reißen, bevor jemand auch nur blinzeln konnte, und bereits den dritten Pfeil abschießen, bevor jemand anderer einen zweiten in die Sehne eingelegt hatte.

Sie lächelte Elayne grimmig zu und schüttelte den Kopf, wobei ihr goldener Zopf schwang, der so lang und dicht wie Nynaeves Haar dunkel war. »Ich habe dir etwas ins Gesicht versprochen, nicht hinter deinem Rücken«, sagte sie trocken. »Wenn du ein wenig mehr Erfahrung hast, brauche ich dir nichts mehr über Behüter und Aes Sedai zu erzählen.« Elayne schnaubte, hob hochmütig das Kinn an und beschäftigte sich mit den Bändern ihres Hutes, der mit langen grünen Federn geschmückt und noch schlimmer als Nynaeves Hut war. »Vielleicht viel mehr«, fügte Birgitte hinzu. »Du versuchst schon wieder, alles unnötig aufzubauschen.«

Wäre Elayne nicht ihre Nächstschwester gewesen, hätte Aviendha über ihr Erröten gelacht. Jemanden zum Stolpern zu bringen, der hochmütig einherstolzierte, war stets ein Vergnügen, wie auch zuzusehen, wie jemand anderer dies tat, und selbst ein kleiner Sturz war ein Lachen wert. Nun richtete sie lediglich einen festen Blick auf Birgitte, ein Versprechen, daß mehr geahndet werden könnte. Sie mochte die Frau trotz all ihrer Geheimnisse, aber der Unterschied zwischen einer Freundin und einer Nächstschwester war etwas, was diese Feuchtländer anscheinend niemals verstehen würden. Birgitte lächelte nur, schaute von ihr zu Elayne und murmelte leise vor sich hin. Aviendha schnappte das Wort »Kätzchen« auf. Schlimmer noch — es klang liebevoll. Jedermann mußte es gehört haben. Jedermann!

»Was ist in dich gefahren, Aviendha?« fragte Nynaeve und stieß sie mit einem durchgedrückten Finger an. »Willst du den ganzen Tag mit geröteten Wangen dastehen? Wir sind in Eile.«

Erst jetzt erkannte Aviendha an der Hitze ihres Gesichts, daß sie ebenso errötet sein mußte wie Elayne. Außerdem stand sie stocksteif da, obwohl sie sich beeilen mußten. Von Worten getroffen — wie ein frisch mit dem Speer verheiratetes Mädchen, das die Neckerei unter den Töchtern des Speers — nicht gewohnt ist. Sie war es bereits seit fast zwanzig Jahren gewohnt und benahm sich wie ein Kind, das mit seinem ersten Bogen spielt. Dieser Gedanke ließ sie noch stärker erröten. Was der Grund dafür war, daß sie die nächste Biegung zu hastig nahm und beinahe mit Teslyn Baradon zusammengestoßen wäre.

Aviendha glitt auf den rotgrünen Bodenfliesen aus und hielt sich nur an Elayne und Nynaeve aufrecht. Dieses Mal gelang es ihr, nicht zutiefst zu erröten, aber sie hätte es gern getan. Sie beschämte ihre Nächstschwester ebenso wie sich selbst. Elayne bewahrte stets Haltung, egal was geschah. Glücklicherweise verkraftete Teslyn Baradon das Zusammentreffen kaum besser.

Die Frau mit dem scharfgeschnittenen Gesicht schrak zurück, keuchte wider Willen und straffte dann verärgert die schmalen Schultern. Die hageren Wangen und die schmale Nase verbargen die Alterslosigkeit der Züge der Roten Schwester, und ihr rotes, mit dunkelblauem, fast schwarzem Brokat besetztes Gewand ließ sie nur noch knochiger erscheinen, obwohl sie schnell wieder die Selbstbeherrschung der Dachherrin eines Clans annahm, die dunkelbraunen Augen so kühl wie tiefe Schatten. Sie glitt mißbilligend an Aviendha vorbei, würdigte Lan keines Blickes und funkelte Birgitte einen Moment an. Den meisten Aes Sedai mißfiel, daß Birgitte eine Behüterin war, obwohl niemand einen anderen Grund dafür nennen konnte, als etwas über Traditionen zu murren, Elayne und Nynaeve jedoch sah sie nacheinander forschend an. Aviendha hatte eher dem gestrigen Wind nachspüren als etwas auf Teslyn Baradons Gesicht lesen können.

»Ich habe es Merilille bereits gesagt«, äußerte sie in breitem illianischem Akzent, »aber ich kann Euch ebensogut auch beruhigen. Welches ... Mißgeschick ... auch immer Ihr begehen werdet — Joline und ich mischen uns nicht ein. Dafür habe ich gesorgt. Elaida muß niemals davon erfahren, wenn Ihr vorsichtig seid. Hört auf, mich wie Karpfen anzustarren, Kinder«, fügte sie mit angewidertem Gesichtsausdruck hinzu. »Ich bin weder blind noch taub. Ich weiß, daß sich Windsucherinnen des Meervolks im Palast aufhalten und geheime Treffen mit Königin Tylin stattfinden. Wie auch andere Dinge.« Sie preßte die schmalen Lippen zusammen, und obwohl ihr Tonfall ruhig blieb, flammte ihr dunkler Blick vor Zorn. »Für jene anderen Dinge werdet Ihr jedoch bitter bezahlen müssen, Ihr und jene, die Euch erlauben, Aes Sedai zu spielen, aber im Moment werde ich darüber hinwegsehen. Sühne kann warten.«

Nynaeve zog fest an ihrem Zopf, den Rücken starr aufgerichtet, den Kopf hoch erhoben, und ihre Augen loderten. Unter anderen Umständen hätte Aviendha vielleicht Mitleid mit dem Opfer von Nynaeves Spitzzüngigkeit empfunden, die eindeutig bald explodieren würde. Nynaeves Zunge besaß mehr und schärfere Nadeln als ein Segade-Kaktus. Aviendha dachte emotionslos über diese Frau nach, die glaubte, sie könne durch sie hindurchsehen. Eine Weise Frau ließ sich nicht dazu herab, jemanden mit Fäusten zu traktieren, aber sie war noch ein Neuling. Vielleicht würde es nicht ihr Ji kosten, wenn sie Teslyn Baradon nur ein wenig verletzte. Sie öffnete im selben Moment den Mund, um der Roten Schwester Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, als Nynaeve den Mund öffnete, aber Elayne sprach als erste.

»Was wir vorhaben, Teslyn«, sagte sie mit eisiger Stimme, »geht Euch nichts an.« Auch sie stand starr aufrecht, ihre blauen Augen funkelten kalt. Ein zufälliger Lichtstrahl von einem hohen Fenster fing sich in ihren rotgoldenen Locken und schien sie zu entflammen. In diesem Moment hätte Elayne eine Dachherrin wie eine Ziegenhirtin mit zuviel Oosquai im Bauch erscheinen lassen können. Es war eine gut geschulte Fähigkeit. Sie äußerte jedes Wort mit kristallkalter Würde. »Ihr habt kein Recht, Euch in unsere Belange einzumischen, in irgend etwas, was irgendeine Schwester tut. Überhaupt kein Recht. Also nehmt Eure Nase aus unseren Jacken, Ihr Stümperin, und seid froh, daß wir nicht mit Euch uneins über die Unterstützung eines Eindringlings auf dem Amyrlin- Sitz sind.«

Aviendha schaute verwirrt zu ihrer Nächstschwester. Ihre Nase aus ihren Jacken nehmen? Zumindest sie und Elayne trugen keine Jacken. Eine Stümperin? Was sollte das bedeuten? Feuchtländer sagten oft merkwürdige Dinge, und die anderen Frauen schienen alle ebenso verwirrt wie sie. Nur Lan, der Elayne fragend ansah, schien zu verstehen, und er musterte sie ... erstaunt. Und vielleicht belustigt. Es war schwer zu sagen. Aan'allein hatte seine Züge gut unter Kontrolle.

Teslyn Baradon schnaubte und kniff die Lippen noch fester zusammen. Aviendha bemühte sich sehr, diese Menschen nur mit einem Teil ihres Namens anzusprechen, so wie sie es auch taten — wenn sie einen vollständigen Namen benutzte, glaubten sie, sie sei aufgebracht! —› aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit Teslyn Baradon so vertraut umzugehen. »Ich werde Euch törichte Kinder Euch selbst überlassen«, grollte die Frau. »Versichert Euch, daß Ihr Eure Nasen nicht mehr gefährdet, als dies bereits der Fall ist.«

Als sie würdevoll ihre Röcke raffte und sich zum Gehen wandte, ergriff Nynaeve ihren Arm. Feuchtländer zeigten ihre Empfindungen offen, und Nynaeve war ein Abbild des Konflikts, während Zorn die feste Entschlossenheit zu durchbrechen versuchte. »Wartet, Teslyn«, sagte sie widerwillig. »Ihr und Joline seid möglicherweise in Gefahr. Ich habe es Tylin gesagt, aber ich denke, sie fürchtet sich vielleicht, es sonst jemandem zu sagen. Zumindest tut sie es nicht gern. Niemand spricht darüber wirklich unbefangen.« Sie atmete tief durch, und wenn sie in diesem Augenblick an ihre eigenen Ängste dachte, hatte sie auch allen Grund dazu. Es war keine Schande, Angst zu empfinden, nur ihr nachzugeben oder sie zu zeigen. Aviendha spürte ein Flattern in der Magengrube, während Nynaeve fortfuhr. »Moghedien war hier in Ebou Dar. Sie könnte noch immer in der Stadt sein. Und vielleicht auch andere Verlorene. Mit einem Gholam, einem Schattengezücht, dem die Macht nichts anhaben kann. Er sieht aus wie ein Mensch, wurde aber dazu erschaffen, Aes Sedai zu töten. Auch Stahl scheint ihn nicht zu verletzen, und er kann sich sogar durch ein Mauseloch zwängen. Die Schwarze Ajah befindet sich ebenfalls hier. Zudem kommt ein Sturm auf, ein schlimmer Sturm, Nur daß es kein wirklicher Sturm ist, jedenfalls kein wetterbedingter Sturm. Ich kann ihn spüren. Das ist eine Fähigkeit, die ich besitze, vielleicht ein Talent. Ebou Dar droht Gefahr und schlimmeres Ungemach, als Wind oder Regen oder Blitze sonst darstellen.«

»Ich habe niemals zuvor von den Verlorenen, einem Sturm, der kein Sturm ist, und irgendwelchem Schattengezücht gehört«, sagte Teslyn Baradon angespannt. »Ganz zu schweigen von der Schwarzen Ajah, Licht! Die Schwarze Ajah! Und vielleicht auch noch der Dunkle König selbst?« Sie lächelte spöttisch und pflückte verächtlich Nynaeves Hand von ihrem Ärmel. »Wenn Ihr wieder in der Weißen Burg seid, wo Ihr hingehört, in Weiß, das Euch wahrhaftig allen gebührt, werdet Ihr lernen, Eure Zeit nicht mehr mit Hirngespinsten zu vergeuden. Und Eure Geschichten nicht Schwestern zuzutragen.« Sie sah sie alle an, wobei sie Aviendha erneut ausließ, schnaubte geräuschvoll und marschierte dann so energisch den Gang hinab, daß die Diener ihr aus dem Weg springen mußten.

»Diese Frau besitzt die Unverfrorenheit...!« platzte Nynaeve heraus, während sie der davoneilenden Frau nachblickte und mit beiden Händen ihren Zopf traktierte. »Nachdem ich mich dazu gezwungen habe...!« Sie erstickte fast an ihrer Wut. »Nun, ich habe es versucht.« Was sie, ihrer Stimme nach zu urteilen, jetzt zutiefst bedauerte.

»Das hast du«, bestätigte Elayne mit nachdrücklichem Nicken, »und mehr, als sie verdient. Zu leugnen, daß wir Aes Sedai sind! Ich werde das nicht mehr dulden! Bestimmt nicht!« Ihre Stimme hatte vorher nur kalt geklungen. Jetzt war sie kalt und grimmig.

»Kann man solch einem Menschen trauen?« murrte Aviendha. »Vielleicht sollten wir dafür Sorge tragen, daß sie sich nicht einmischen kann.« Sie betrachtete ihre Faust. Teslyn Baradon würde sie zu sehen bekommen. Die Frau verdiente es, von den Schattenseelen, Moghedien oder anderen, erwischt zu werden. Narren verdienten, was immer ihnen ihre Torheit einbrachte.

Nynaeve überdachte den Vorschlag anscheinend, aber sie sagte nur: »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, sie sei bereit, sich gegen Elaida zu wenden.« Sie schnalzte verärgert mit der Zunge.

»Man kann daran verzweifeln, wenn man versuchen will, die politischen Strömungen der Aes Sedai zu ergründen.« Elayne sagte nicht, daß Nynaeve das inzwischen wissen müßte, aber ihr Tonfall drückte genau das aus. »Selbst eine Rote könnte sich aus einem unbestimmten Grund, den wir nicht erahnen, gegen Elaida wenden. Oder sie könnte uns dazu bewegen wollen, in unserer Wachsamkeit nachzulassen, damit sie uns durch irgendeine List veranlassen kann, uns in Elaidas Hände zu begeben, oder...«

Lan räusperte sich. »Wenn einer der Verlorenen kommt«, sagte er mit vollkommen glatter Stimme, »könnte er jeden Moment hier eintreffen. Oder dieser Gholam könnte hierherkommen. In beiden Fällen wäre es ratsam, sich woanders aufzuhalten.«

»Mit Aes Sedai muß man stets ein wenig Geduld üben«, murrte Birgitte, als zitiere sie ein Sprichwort. »Aber die Windsucherinnen haben anscheinend keine Geduld«, fuhr sie fort, »so daß es vielleicht besser wäre, Teslyn zu vergessen und sich an Renaile zu erinnern.«

Elayne und Nynaeve sahen die Behüter mit eisigem Blick an. Sie liefen nicht gern vor den Schattenseelen und diesem Gholam davon, auch wenn sie diejenigen waren, die beschlossen hatten, daß ihnen keine andere Wahl blieb. Und sicherlich wurden sie auch nicht gern daran erinnert, daß sie fast ebenso dringend die Windsucherinnen finden wie den Verlorenen entkommen mußten. Aviendha wollte jene Blicke genauer betrachten — Weisen Frauen genügte ein Blick oder wenige Worte, wofür sie stets die Bedrohung durch einen Speer oder eine Faust gebraucht hatte, und sie taten es üblicherweise schneller und erfolgreicher —, nur daß Elaynes und Nynaeves Blicke absolut keine sichtbare Wirkung auf die beiden hatten. Birgitte grinste und schaute zu Lan, der nachsichtig mit den Achseln zuckte.

Elayne und Nynaeve gaben auf. Sie richteten gemächlich und unnötigerweise ihre Röcke und ergriffen je einen Arm Aviendhas, bevor sie weitergingen, ohne sich auch nur mit einem Blick zu versichern, ob die Behüter ihnen folgten. Nicht daß Elayne es durch den Bund hätte tun müssen. Oder Nynaeve, wenn auch nicht aus demselben Grund. Aan'allein war vielleicht mit jemand anderem verbunden, aber sein Ring hing an dieser Kette um ihren Hals. Sie bemühten sich sehr, gemächlich vorwärts zu schlendern, wollten Birgitte und Lan nicht glauben machen, sie würden sich zur Eile antreiben lassen, aber tatsächlich gingen sie schneller als zuvor.

Wie um davon abzulenken, schwatzten sie eifrig über die nichtigsten Themen. Elayne bedauerte es, keine Gelegenheit gehabt zu haben, das Vogelfest vor zwei Tagen wirklich mitzuerleben. Sie war nicht einmal wegen der spärlichen Bekleidung errötet, welche viele Leute getragen hatten. Nynaeve war ebenfalls nicht errötet, aber sie begann jetzt eilig über das Fest der glühenden Kohlen zu sprechen, das heute nacht stattfinden sollte. Einige der Diener behaupteten, es gäbe ein Feuerwerk. Mehrere Wanderzirkusse mit seltenen Tieren und Akrobaten waren in der Stadt eingetroffen, die sowohl Elayne als auch Nynaeve interessierten, da sie einige Zeit bei solchen Zirkussen verbracht hatten. Sie sprachen über Näherinnen und die Vielzahl von in Ebou Dar erhältlicher Spitze sowie die verschiedenen Qualitäten von Seide und Leinen, die man kaufen konnte, und Aviendha genoß die Bemerkungen darüber, wie gut ihr das graue Seidenreitgewand und die anderen Kleidungsstücke aus edlem Tuch und Seidenstoffen standen, die Tylin Quintara ihr geschenkt hatte, wie auch die dazu passenden Strümpfe und Kleider zum Wechseln und den Schmuck. Elayne und Nynaeve hatten ebenfalls verschwenderische Geschenke erhalten. Insgesamt füllten ihre Geschenke eine Anzahl Kisten und Bündel, die zusammen mit ihren Satteltaschen von den Dienern zu den Ställen hinabgetragen worden waren.

»Warum blickst du so finster drein, Aviendha?« fragte Elayne, tätschelte deren Arm und lächelte ihr zu. »Sorge dich nicht. Du kennst das Gewebe. Du wirst es hervorragend machen.«

Nynaeve beugte sich gleichfalls zu ihr und flüsterte: »Ich werde dir einen Tee zubereiten, wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Ich kenne mehrere Teesorten, die deinen Magen beruhigen werden, und auch jegliche andere Sorgen einer Frau.« Sie tätschelte Aviendhas Arm ebenfalls.

Sie verstanden nicht. Keine tröstenden Worte oder Tees konnten heilen, was sie plagte. Sie genoß Gespräche über Spitze und Stickerei! Sie wußte nicht, ob sie angewidert murren oder verzweifelt aufheulen sollte. Sie verweichlichte. Sie hatte niemals zuvor in ihrem Leben das Kleid einer Frau unter einem anderen Aspekt betrachtet als dem, wo sich darin vielleicht eine Waffe verbarg, niemals aber, um die Farbe oder den Schnitt zu bewundern oder darüber nachzudenken, wie es ihr stehen würde. Es war höchste Zeit, diese Stadt zu verlassen und aus den FeuchtländerPalästen herauszugelangen. Sie würde bald noch einfältig zu lächeln beginnen. Sie hatte Elayne und Nynaeve dies nie tun sehen, aber jedermann wußte, daß Feuchtländer-Frauen einfältig lächelten. Arm in Arm dahinzuschlendern und über Spitze zu plaudern! Wie sollte sie ihren Gürteldolch erreichen, wenn jemand sie angriff? Ein Dolch war gegen die bedrohlichsten Angreifer vielleicht nutzlos, aber sie hatte schon Vertrauen in Stahl gehabt, als sie noch nicht wußte, daß sie die Macht lenken konnte. Sollte jemand Elayne oder Nynaeve zu verletzen versuchen —besonders Elayne, aber sie hatte Mat Cauthon versprochen, sie beide ebenso sicher zu beschützen, wie Birgitte und Aan'allein es getan hatten —, sollte es also jemand versuchen, würde sie Stahl in deren Herzen pflanzen! Während sie vorangingen, beklagte sie ihre Verweichlichung insgeheim weiterhin.

Hohe Doppeltore reihten sich an drei Seiten des größten Stallhofs des Palasts; die Eingänge waren von Dienern in grünweißer Livree bevölkert. In den weißen, aus Stein erbauten Ställen hinter ihnen warteten gesattelte oder mit Weidenkörben beladene Pferde. Meeresvögel kreisten und schrien über ihnen, eine unerfreuliche Erinnerung daran, wieviel Wasser sich in der Nähe befand. Hitze strahlte von den hellen Pflastersteinen ab, und die Luft war schwer vor Anspannung. Aviendha hatte schon Blutvergießen gesehen, wo weniger Anspannung geherrscht hatte.

Renaile din Calon, gekleidet in roter und gelber Seide, die Arme überheblich unter den Brüsten verschränkt, stand vor neunzehn weiteren barfüßigen Frauen mit tätowierten Händen und bunten Blusen, die meisten mit ebenso bunten Hosen und Schärpen. Der auf ihren dunklen Gesichtern glänzende Schweiß tat ihrer ernsten Würde keinen Abbruch. Einige schnupperten an durchbrochenen Golddosen, die um ihren Hals hingen und mit einem schweren Duft gefüllt waren. Renaile din Calon trug fünf breite goldene Ohrringe, und an einer Kette, die von einem dieser Ringe über die linke Wange bis zur Nase verlief, hingen Medaillons. Jede der drei dicht hinter ihr befindlichen Frauen trug acht Ohrringe und nur geringfügig weniger Medaillons. So kennzeichnete das Meervolk untereinander die Ränge, zumindest bei den Frauen. Alle beugten sich Renaile din Calon, der Windsucherin der Herrin der Schiffe der Atha'an Miere, aber selbst die beiden Neulinge im Hintergrund in ihren dunklen Hosen und leinenen anstatt seidenen Blusen trugen eigenes Gold. Als Aviendha und die übrigen erschienen, schaute Renaile din Calon betont zur Sonne, die den Zenit bereits überschritten hatte. Sie wölbte die Augenbrauen, während sie ihren Blick dann auf sie richtete, die Augen so schwarz wie ihr von einer weißen Strähne gezeichnetes Haar, ein fordernder Blick voller Ungeduld, der herrisch wirkte.

Elayne und Nynaeve blieben jäh stehen und zwangen so auch Aviendha zu einem abrupten Halt, Sie wechselten an ihr vorbei besorgte Blicke und seufzten tief. Aviendha sah nicht, wie sie entkommen sollten. Die Verpflichtung band ihrer Nächstschwester und Nynaeve Hand und Fuß, und sie selbst hatten die Knoten festgezurrt.

»Ich werde mich um den Frauenzirkel kümmern«, murrte Nynaeve leise, und Elayne sagte ein wenig beherzter: »Ich werde sicherstellen, daß die Schwestern bereit sind.«

Sie ließen Aviendhas Arme los und gingen in entgegengesetzte Richtungen davon, wobei sie die Rocke rafften, um mit Birgitte und Lan im Gefolge rasch ausschreiten zu können. So mußte sich Aviendha dem Blick der Windsucherin der Herrin der Schiffe allein stellen, dem Adlerblick einer Frau, die um ihre Stellung wußte, aus der sie nicht vertrieben werden konnte. Glücklicherweise wandte sich Renaile din Calon rasch an ihre Begleiter, so rasch, daß die Enden ihrer langen gelben Schärpe weit schwangen. Die anderen Windsucherinnen versammelten sich um sie, bestrebt, ihre eindringlichen Worte zu hören. Sie auch nur einmal zu schlagen, würde gewiß alles verderben.

Aviendha versuchte, nicht zu ihnen zu schauen, aber ihr Blick kehrte doch immer wieder zu ihnen zurück.

Niemand hatte das Recht, ihre Nächstschwester in eine schwierige Lage zu bringen. Nasenringe! Ein kräftiger Zug an dieser Kette, und Renaile din Calon Blauer Stern würde eine andere Miene zeigen.

An einem Ende des Stallhofs standen die kleine Merilille Ceandevin und vier weitere Aes Sedai dicht beisammen und beobachteten die Windsucherinnen ebenfalls, überwiegend mit hinter kühler Gelassenheit schlecht verhülltem Verdruß. Selbst die schlanke weißhaarige Vandene Namelle und ihre wie ihr Spiegelbild aussehende Erstschwester Adeleas, die sonst am unerschütterlichsten von allen wirkte. Die eine oder andere richtete hin und wieder einen dünnen Leinenstaubmantel oder strich über geteilte Seidenröcke. Plötzliche Windstöße wirbelten ein wenig Staub auf und bewegten die farbverändernden Umhänge auf den Rücken der fünf Behüter, aber auch ihre Bewegungen zeugten eindeutig von Verdrossenheit. Nur Sareitha, die ein scheibenförmiges weißes Bündel bewachte, regte sich nicht, sondern runzelte nur die Stirn. Die Aes Sedai mißbilligten den Vertrag heftig, der die Atha'an Miere von ihren Schiffen hierher gebracht hatte und ihnen das Recht verlieh, Aes Sedai mit fordernder Ungeduld zu betrachten, aber dieser Vertrag band auch die Zungen der Schwestern und ließ sie an ihrer eigenen Verärgerung fast ersticken, was sie jedoch zu verbergen versuchten. Den Feuchtländern gegenüber hätte ihnen das vielleicht auch gelingen können. Die dritte Gruppe Frauen, die am entgegengesetzten Ende des Hofes eng zusammenstanden, wurde fast ebenso mißtrauisch betrachtet.

Reanne Corly und die anderen zehn Überlebenden des Frauenzirkels der Schwesternschaft regten sich unter diesen mißbilligenden und forschenden Blicken unbehaglich, betupften ihre Gesichter mit bestickten Taschentüchern, richteten ihre breiten, farbenfrohen Strohhüte und glätteten schlichte, an einer Seite hochgenähte Tuchröcke, die Schichten von ebenso farbenfrohen Unterröcken freigaben, wie es die Kleidung des Meervolks war. Es waren teilweise die Blicke der Aes Sedai, die bewirkten, daß sie von einem Fuß auf den anderen traten. Aber Angst vor den Verlorenen und dem Gholam wie auch vor anderen Dingen verstärkten dieses Unbehagen noch. Die schmalen, tiefen Ausschnitte jener Gewänder hätten genügen sollen. Die meisten dieser Frauen wiesen zumindest einige wenige Falten auf den Wangen auf, und doch wirkten sie wie Mädchen mit Händen voller gestohlenem Nußbrot. Alle bis auf die gedrungene Sumeko, die mit in die breiten Hüften gestemmten Fäusten die Blicke der Aes Sedai nacheinander erwiderte. Das helle Schimmern Saidars umgab eine von ihnen, Kirstian, die ständig über die Schulter blickte. Ungefähr zehn Jahre älter als Nynaeve, schien sie mit ihrem blassen Gesicht nicht zu den anderen zu passen. Und das Gesicht wurde noch blasser, wann immer ihre schwarzen Augen dem Blick einer Aes Sedai begegneten.

Nynaeve eilte zu den Frauen, welche die Schwesternschaft anführten, ihr Gesicht pure Aufmunterung, und Reanne und die anderen lächelten sichtlich erleichtert. Zugegebenermaßen auch ein wenig befangen, wenn man nach den Seitenblicken zu Lan urteilen wollte. Sie sahen in ihm den Wolf, an den er sie erinnerte. Jedoch war Nynaeve der Grund, warum Sumeko nicht wie die übrigen niedergeschlagen wirkte, wann immer eine Aes Sedai in ihre Richtung blickte. Sie hatte geschworen, jede dieser Frauen zu lehren, daß sie ein Rückgrat besaßen, obwohl Aviendha ihre Beweggründe nicht vollständig verstand. Nynaeve war selbst eine Aes Sedai. Keine Weise Frau würde jemals jemandem raten, er solle sich gegen Weise Frauen erheben.

Wie gut auch immer das bei den anderen Aes Sedai Wirkung zeigen mochte — sogar Sumeko sah Nynaeve ein wenig unterwürfig an. Der Frauenzirkel empfand es zumindest als seltsam, daß Frauen, die so jung wie Elayne und Nynaeve waren, den anderen Aes Sedai Befehle gaben und man ihnen gehorchte. Aviendha selbst fand es auch merkwürdig. Wie konnte Stärke in der Macht — etwas, womit man so sicher geboren wurde wie mit zwei Augen — schwerer wiegen als in Jahren erworbene Ehre? Und doch gehorchten die älteren Aes Sedai, und das genügte den Frauen der Schwesternschaft. Ieine, fast so groß wie Aviendha selbst und fast so dunkel wie die Frauen des Meervolks, erwiderte jeden Blick Nynaeves mit einem willfährigen Lächeln, während Dimana, deren hellrotes Haar von weißen Strähnen durchzogen wurde, unter Nynaeves Blicken ständig den Kopf beugte und die blonde Sibella ein nervöses Kichern hinter vorgehaltener Hand verbarg. Trotz ihrer Ebou Dari-Kleidung war nur die hagere Tamarla mit ihrer olivfarbenen Haut Altarenerin und stammte nicht einmal aus der Stadt.

Sie wichen auseinander, sobald Nynaeve sich näherte, und gaben eine auf dem Boden kniende Frau mit hinter dem Rücken gefesselten Händen frei, über deren Kopf ein Ledersack gestülpt war und deren Kleider zerrissen und staubig waren. Sie war ebensosehr der Grund für ihr Unbehagen wie Merililles gerunzelte Stirn oder die Verlorenen. Vielleicht sogar noch mehr.

Tamarla zog den Ledersack fort, so daß die dünnen, mit Perlen geschmückten Zöpfe der Frau herabbaumelten. Ispan Shefar versuchte aufzustehen, aber sie taumelte und sank blinzelnd und albern kichernd wieder zurück. Schweiß rann ihre Wangen hinab, und einige wenige blaue Flecke von ihrer Gefangennahme entstellten ihre alterslosen Züge. Aviendha war der Ansicht, daß sie gemessen an ihren Verbrechen noch zu milde behandelt worden war.

Die Kräuter, die Nynaeve der Frau eingeflößt hatte, umnebelten ihre Sinne ebenso, wie sie ihre Knie schwächten, aber Kirstian schirmte sie dennoch mit aller Macht ab, die sie heraufbeschwören konnte. Für die Schattenläuferin bestand keinerlei Aussicht zu entkommen — selbst wenn sie die Kräuter nicht hätte schlucken müssen, war Kirstian doch ebenso stark in der Macht wie Reanne, stärker als die meisten Aes Sedai, denen Aviendha jemals begegnet war —, und doch zupfte selbst Sumeko nervös an ihren Röcken und vermied es, die kniende Frau anzusehen.

»Die Schwestern sollten sie jetzt übernehmen.« Reannes hohe Stimme klang so unsicher, daß sie der von Kirstian abgeschirmten Schwarzen Schwester hätte gehören können. »Nynaeve Sedai, wir ... wir sollten nicht bewach ... ehm ... unter den Augen ... einer Aes Sedai.«

»Das ist richtig«, warf Sumeko schnell und beinahe ängstlich ein. »Die Aes Sedai sollten sie jetzt übernehmen.« Sibella wiederholte ihre Worte, und Nicken und zustimmendes Murmeln lief durch die Schwesternschaft. Sie glaubten zutiefst, weit unter den Aes Sedai zu stehen, und hätten es höchstwahrscheinlich vorgezogen, Trollocs zu bewachen, statt eine Aes Sedai festhalten zu müssen.

Die mißbilligenden Blicke von Merilille und den anderen Schwestern wandelten sich, als Ispan Shefars Gesicht enthüllt wurde. Sareitha Tomares, die ihre mit braunen Fransen versehene Stola erst wenige Jahre trug und noch nicht die alterslose Erscheinung besaß, starrte die Schattenläuferin höchst angewidert an. Adeleas und Vandene, die Hände in die Röcke verkrampft, schienen mit dem Haß gegenüber der Frau zu kämpfen, die ihre Schwester gewesen war und sie verraten hatte. Und doch sahen sie den Frauenzirkel nicht wesentlich freundlicher an. Auch sie wußten in ihren Herzen, daß die Schwesternschaft weit unter ihnen stand. Aber die Verräterin war eine von ihnen gewesen, und niemand außer ihnen hatte das Recht, sie zu richten. Aviendha stimmte zu. Eine Tochter des Speers, die ihre Speerschwestern verriet, starb weder schnell noch ehrenvoll.

Nynaeve zog den Sack nachdrücklich wieder über Ispan Shefars Kopf. »Ihr habt sie bisher gut bewacht, und Ihr werdet sie weiterhin gut bewachen«, belehrte sie die Schwesternschaft bestimmt. »Wenn sie Anzeichen zeigt, sich zu erholen, zwingt ihr ein wenig von der Kräutermischung die Kehle hinab. Das wird sie wieder trunken machen. Haltet ihr die Nase zu, wenn sie nicht schlucken will. Selbst eine Aes Sedai wird schlucken, wenn man ihr die Nase zuhält und ihr droht, sie zu ohrfeigen.«

Reannes Kinn sank herab, und ihre Augen weiteten sich wie auch die Augen der meisten ihrer Begleiterinnen. Sumeko nickte zögerlich und blickte fast genauso starr wie die anderen. Wenn Frauen der Schwesternschaft den Namen Aes Sedai aussprachen, könnten sie ebensogut den Schöpfer benennen. Der Gedanke daran, einer Aes Sedai die Nase zuzuhalten, selbst einer Schattenläufer in, zeichnete ihre Gesichter mit Entsetzen.

Den geweiteten Augen der Aes Sedai nach zu urteilen, gefiel ihnen die Vorstellung noch weniger. Merilille Öffnete den Mund, wobei sie Nynaeve ansah, aber genau in diesem Moment erreichte Elayne sie, und die Graue Schwester wandte sich statt dessen ihr zu, wobei sie für Birgitte kaum ein mißbilligendes Stirnrunzeln übrig hatte. An ihrer eher lauter als leiser werdenden Stimme konnte man das Maß ihrer Erschütterung erkennen. Merilille war für gewöhnlich sehr besonnen. »Elayne, Ihr müßt mit Nynaeve sprechen. Diese Frauen sind bereits verwirrt und zutiefst verängstigt. Es wird nicht sehr hilfreich sein, wenn Nynaeve sie noch weiter aufregt. Wenn der Amyrlin-Sitz ihnen wirklich die Erlaubnis geben will, zur Burg zu gehen«, sie schüttelte zögernd den Kopf, um den Gedanken weit von sich zu weisen, »wenn sie das beabsichtigt, müssen sie eine klare Vorstellung von ihrem Platz bekommen und...«

»Das beabsichtigt die Amyrlin tatsächlich«, unterbrach Elayne sie. Bei Nynaeve wirkte ein bestimmter Tonfall wie eine unter der Nase geschüttelte Faust. Bei Elayne vermittelte er ruhige Gelassenheit. »Sie werden eine zweite Chance bekommen, und wenn sie versagen, werden sie dennoch nicht fortgeschickt werden. Keine Frau, welche die Macht lenken kann, wird wieder von der Burg abgeschnitten werden. Sie werden alle Teil der Weißen Burg bleiben.«

Aviendha betastete müßig ihren Gürteldolch und wunderte sich über Elaynes Worte. Egwene, Elaynes Amyrlin-Sitz, dachte ungefähr dasselbe. Sie war auch eine Freundin, aber sie hielt ihr Herz in der Nähe von Aes Sedai verhüllt. Aviendha selbst wollte kein Teil der Weißen Burg sein, und sie bezweifelte stark, daß Sorilea oder eine andere Weise Frau dies wollte.

Merilille seufzte und faltete die Hände, senkte ihre Stimme aber trotz ihrer nach außen gezeigten Billigung nicht. »Wie Ihr meint, Elayne. Aber wegen Ispan — wir können einfach nicht zulassen...«

Elayne hob jäh eine Hand und gebot gebieterisch Schweigen. »Hört auf, Merilille. Ihr müßt die Schale der Winde bewachen. Das genügt jedermann. Es wird auch Euch genügen.«

Merilille öffnete den Mund, schloß ihn dann wieder und beugte nachgiebig ein wenig den Kopf. Die anderen Aes Sedai beugten ihre Köpfe unter Elaynes stetem Blick ebenfalls. Wenn einige Widerwillen zeigten — wie schwach auch immer —, so galt das doch nicht für alle.

Sareitha nahm rasch das scheibenförmige Bündel auf, das zu ihren Füßen gelegen hatte und mit Schichten weißer Seide umwickelt war. Ihre Arme reichten kaum darum herum, als sie die Schale der Winde an ihren Busen drückte und Elayne besorgt anlächelte, als wolle sie zeigen, daß sie die Schale wirklich gut bewachte.

Die Meervolk-Frauen betrachteten das Bündel begierig und beugten sich beinahe vor. Aviendha wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie über die Steine gesprungen wären, um die Schale zu ergreifen. Die Aes Sedai sahen eindeutig das gleiche. Sareitha umklammerte das weiße Bündel noch fester, und Merilille trat tatsächlich zwischen sie und die Atha'an Miere. Glatte Aes Sedai-Gesichter spannten sich an, vergeblich um Ausdruckslosigkeit bemüht. Sie waren der Meinung, die Schale sollte ihnen gehören. Alle Dinge, welche die Eine Macht benutzten oder beeinflußten, gehörten ihrer Meinung nach der Weißen Burg, ungeachtet dessen, wer sie im Moment besaß. Aber da war der Vertrag.

»Die Sonne steigt, Aes Sedai«, verkündete Renaile din Calon laut, »und Gefahr droht. Also bewahrt sie. Wenn Ihr Euch irgendwie herauswinden wollt, indem ihr Zeit schindet, überlegt es Euch lieber zweimal. Versucht, den Vertrag zu brechen, und ich werde beim Herzen meines Vaters die Schiffe sofort zurückkehren lassen und die Schale zurückfordern. Sie hat von der Zerstörung an uns gehört.«

»Hütet in Gegenwart von Aes Sedai Eure Zunge«, stieß Reanne barsch hervor, von ihrem blauen Strohhut bis zu den unter grünweißen Rocksäumen hervorsehenden, festen Schuhen empörte Entrüstung.

Renaile din Calon verzog höhnisch den Mund. »Die Medusen haben anscheinend Zungen. Es überrascht mich jedoch, daß sie diese auch benutzen können, wenn keine Aes Sedai es erlaubt hat.«

Der Stallhof war im Handumdrehen von zwischen der Schwesternschaft und den Atha'an Miere hin und her fliegenden Beleidigungen erfüllt: »Wilde«, »Barbaren« und Schlimmeres; schrille Schreie übertönten Merililles Versuche, Reanne und ihre Begleiterinnen mit der einen und das Meervolk mit der anderen Hand zu beruhigen. Mehrere Windsucherinnen hörten auf, nach den hinter ihren Schärpen steckenden Dolchen zu tasten, statt dessen ergriffen sie die Hefte. Das Schimmern Saidars sprang um die erste und dann eine weitere der farbenfroh gekleideten Frauen auf. Die Frauen der Schwesternschaft wirkten bestürzt, obwohl es ihren Redefluß nicht behinderte, aber dann umarmte auch Sumeko die Quelle, dann Tamarla, schließlich die geschmeidige, rehäugige Chilares, und bald schimmerte jede einzelne von ihnen und von den Windsucherinnen, während Worte flogen und Temperamente überschäumten.

Aviendha hätte am liebsten gestöhnt. Jeden Moment würde Blut fließen. Sie würde Elaynes Führung folgen, aber ihre Nächstschwester starrte die Windsucherinnen und den Frauenzirkel gleichermaßen mit kaltem Zorn an. Elayne hatte wenig Geduld mit Einfältigkeit, weder bei sich selbst noch bei anderen, und Beleidigungen herauszuschreien, wenn vielleicht ein Feind nahte, war das schlimmste von allem. Aviendha umfaßte entschlossen ihren Gürteldolch und umarmte kurz darauf Saidar. Leben und Freude erfüllten sie so stark, daß sie am liebsten geweint hätte. Weise Frauen benutzten die Macht nur, wenn Worte versagten, aber hier würden weder Worte noch Stahl genügen. Sie wünschte, sie hätte eine Ahnung, wen sie zuerst töten sollte.

»Das reicht!« Nynaeves durchdringender Schrei schnitt jedermann jäh das Wort ab. Erstaunte Gesichter wirbelten zu ihr herum. Sie wandte drohend den Kopf und streckte einen Finger in Richtung des Frauenkreises aus. »Hört auf, Euch wie Kinder zu benehmen!« Ihre Stimme klang kaum weniger schneidend. »Oder wollt Ihr Euch zanken, bis die Verlorenen kommen, um die Schale und uns zu holen? Und Ihr«, fuhr sie mit zu den Windsucherinnen ausgestrecktem Finger fort, »hört auf, Euch aus der Vereinbarung zu stehlen! Ihr werdet die Schale erst bekommen, wenn Ihr jedes Wort des Vertrags erfüllt habt! Glaubt nicht, daß es anders sein wird!« Dann fuhr Nynaeve zu den Aes Sedai herum. »Und Ihr...!« Die kühle Überraschung, der sie sich jäh gegenübersah, ließ ihren Wortfluß zu einem verärgerten Brummen versiegen. Die Aes Sedai hatten sich nur an dem Geschrei beteiligt, um zu versuchen, es zu unterbinden. Um keine Aes Sedai schimmerte Saidar.

Aber das genügte natürlich nicht, um Nynaeve vollständig zu besänftigen. Sie zog heftig an ihrem Hut, offensichtlich noch immer voller Zorn, den sie abreagieren wollte. Aber die Frauen der Schwesternschaft starrten mit vor Kummer geröteten Gesichtern auf die Pflastersteine, und selbst die Windsucherinnen schienen ein wenig beschämt — ein wenig — und murrten in sich hinein, mieden aber Nynaeves Blick ebenfalls. Das Schimmern verblaßte nacheinander um alle Frauen, bis nur noch Aviendha die Quelle festhielt.

Sie zuckte zusammen, als Elayne ihren Arm berührte. Sie verweichlichte. Menschen an sich heranschleichen zu lassen und bei einer Berührung zusammenzuzucken!

»Der Streit scheint gebannt«, murmelte Elayne. »Vielleicht sollten wir gehen, bevor der nächste ausbricht.« Leichte Röte auf ihren Wangen war das einzige Anzeichen dafür, daß sie noch kurz zuvor zornig gewesen war. Auch Birgittes Wangen waren ein wenig gerötet. Die beiden Frauen spiegelten einander seit Bestehen des Bundes auf mancherlei Art wider.

»Das sollten wir allerdings«, stimmte Aviendha ihr zu. Wenn sie noch länger hier verweilte, wäre sie tatsächlich ein weichherziger Feuchtländer.

Aller Augen folgten ihr, als sie in die Mitte des Stallhofs trat und zu dem Fleck ging, den sie geprüft und erspürt hatte, bis sie ihn mit geschlossenen Augen kannte. Es erfüllte sie mit einer Freude, Saidar zu benutzen, die sie nicht in Worte fassen konnte. Saidar zu umarmen, davon umarmt zu werden, ließ einen lebendiger erscheinen als alles andere. Eine Täuschung, sagten die Weisen Frauen, so trügerisch und gefährlich wie eine Luftspiegelung im Termool, und doch schien es realer als die Pflastersteine unter ihren Füßen, Sie bekämpfte den Drang, noch mehr Saidar heranzuziehen. Sie hielt bereits beinahe so viel fest, wie sie aufnehmen konnte. Alle drängten sich nahe an sie heran, als sie die Stränge zu weben begann.

Es erstaunte Aviendha nach allem, was sie erlebt hatte, noch immer, daß es Dinge gab, welche die Aes Sedai nicht tun konnten. Mehrere der Frauen des Zirkels waren ausreichend stark, aber nur Sumeko und überraschenderweise Reanne beobachteten offen, was sie tat. Sumeko ging sogar so weit, Nynaeves Versuche, sie aufmunternd zu tätscheln, abzuwehren — was einen bestürzten und entrüsteten Blick von Nynaeve bewirkte, den Sumeko jedoch nicht bemerkte, da sie sich auf Aviendha konzentrierte. Alle Windsucherinnen waren ausreichend stark. Sie beobachteten die Vorgänge genauso begierig, wie sie die Schale betrachtet hatten. Der Vertrag gab ihnen jegliches Recht dazu.

Aviendha konzentrierte sich, und die Stränge flössen ineinander und schufen Gleichheit zwischen diesem Ort und jenem, den sie und Elayne und Nynaeve auf einer Karte erwählt hatten. Sie vollführte eine Geste, als öffne sie einen Zelteingang. Es war kein Teil des Gewebes, das Elayne ihr gezeigt hatte, aber es war fast alles, woran sie sich erinnern konnte, etwas, das sie selbst vollbracht hatte, lange bevor Elayne ihr erstes Wegetor eröffnete. Die Stränge verschmolzen zu einem silbrigen, senkrechten Schlitz, der sich drehte und zu einer Öffnung in der Luft wurde, die größer als ein Mensch und ebenso breit war. Jenseits lag eine große Lichtung, von zwanzig oder dreißig Fuß hohen Bäumen umgeben, mehrere Meilen nördlich der Stadt auf der entgegengesetzten Flußseite. Kniehohes braunes Gras reichte bis zum Wegetor und neigte sich in einem leichten Wind hindurch. Das Tor hatte sich nicht wirklich gedreht, sondern es vermittelte nur den Eindruck. Einige der Halme waren jedoch sauber durchschnitten, einige sogar der Länge nach. Die Ränder eines sich eröffnenden Wegetors ließen eine Rasierklinge stumpf erscheinen.

Aviendha war über das Wegetor unzufrieden. Elayne konnte dieses Gewebe mit nur einem Teil ihrer Stärke gestalten, aber es erforderte aus einem unbestimmten Grund fast Aviendhas ganze Kraft. Sie war sich sicher, daß sie ein größeres Wegetor hätte weben können, so groß, wie Elayne es vermochte, welche die Gewebe gestaltet und benutzt hatte, ohne nachzudenken, als sie Rand al'Thor vor anscheinend sehr langer Zeit zu entkommen versuchte, aber ungeachtet dessen, wie oft Aviendha sich abmühte, erreichte sie nur Bruchstücke. Sie verspürte keinen Neid — sie war eher stolz auf die Fertigkeiten ihrer Nächstschwester —, aber ihr Versagen beschämte sie innerlich. Sorilea oder Amys würden sie hart angehen, wenn sie davon erfuhren. Von der Scham. Zuviel Stolz, würden sie es nennen. Amys sollte es verstehen. Sie war einst eine Tochter des Speers gewesen. Es war beschämend, bei etwas zu versagen, wozu man befähigt sein sollte. Hätte sie nicht das Gewebe festhalten müssen, wäre sie davongerannt, damit niemand sie sehen konnte.

Der Aufbruch war sorgfältig geplant worden, und der ganze Stallhof geriet abrupt in Bewegung, sobald sich das Wegetor vollständig eröffnet hatte. Zwei Frauen des Zirkels zogen die Schattenläufer in auf die Füße, und die Windsucherinnen bildeten hinter Renaile clin Calon eilig eine Reihe. Die Diener begannen Pferde aus den Ställen heranzuführen. Lan, Birgitte und einer der Behüter Careanes, ein schlanker Mann namens Cieryl Arjuna, sprangen sogleich einer nach dem anderen durch das Wegetor. Wie die Far

Dareis Mai beanspruchten auch die Behüter stets das Recht, als Kundschafter tätig zu werden. Aviendha wollte ihnen folgen, aber das war nicht möglich. Anders als Elayne konnte sie keine fünf oder sechs Schritte weit gehen, ohne daß ihr Gewebe schwächer wurde, und dasselbe geschah, wenn sie es abbinden wollte. Es war sehr enttäuschend.

Dieses Mal drohte keine erkennbare Gefahr, so daß die Aes Sedai unmittelbar folgten, auch Elayne und Nynaeve. Bauernhöfe standen in dem bewaldeten Gebiet dicht an dicht, und ein wandernder Schafhirte oder ein junges Paar, das Ungestörtheit suchte, müßten vielleicht daran gehindert werden, zuviel zu sehen, aber keine Schattenseelen oder Schattenläufer konnten diese Lichtung kennen. Nur sie, Elayne und Nynaeve kannten sie, und sie hatten bei ihrer Wahl des Ortes aus Angst vor Lauschern nicht darüber gesprochen. Auf der Lichtung sah Elayne Aviendha fragend an, aber Aviendha bedeutete ihr weiterzugehen. Pläne wurden gemacht, um befolgt zu werden, es sei denn, es gab einen Grund, sie zu ändern.

Die Windsucherinnen betraten nacheinander die Lichtung, alle plötzlich unschlüssig, als sie sich diesem Wegetor näherten, von dem sie niemals auch nur geträumt hatten. Sie atmeten tief durch, bevor sie hindurchtraten. Das Kribbeln kehrte jäh zurück.

Aviendha hob den Blick zu den auf den Stallhof hinausführenden Fenstern. Jedermann könnte sich hinter den weißen schmiedeeisernen oder holzgeschnitzten Sichtblenden verbergen. Tylin hatte den Dienern befohlen, diesen Fenstern fernzubleiben, aber wer würde Teslyn aufhalten oder Joline oder... Etwas zog ihren Blick höher hinauf, zu den Kuppeln und Türmen. Schmale Gänge umgaben einige der schlanken Türme, und auf einem sehr hoch aufragenden Turm war eine schwarze Gestalt zu sehen, von dem in ihrem Rücken befindlichen Strahlenkranz der Sonne scharf abgezeichnet. Ein Mann.

Ihr stockte der Atem. Nichts an seiner Haltung mit den Händen auf der Steinbrüstung zeugte von Gefahr, und doch wußte sie, daß er derjenige war, der das Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern verursachte. Eine der Schattenseelen würde nicht einfach dort stehenbleiben und beobachten, aber dieses Wesen, dieser Gholam... Eis bildete sich in ihrer Magengrube. Er war vielleicht einfach nur ein Palastdiener. Vielleicht, aber sie glaubte es nicht. Man mußte sich nicht schämen, Angst zu empfinden.

Sie schaute besorgt zu den noch immer mit quälender Langsamkeit durch das Wegetor ziehenden Frauen. Die Hälfte der Meervolk-Frauen war hindurch gelangt, und der Frauenkreis wartete hinter den übrigen, die Schattenläuferin fest im Griff, während ihr Unbehagen, dort hindurchgehen zu müssen, von Unmut überlagert wurde, weil es den MeervolkFrauen erlaubt war, zuerst zu gehen. Wenn sie ihren Verdacht äußerte, würden sich die Frauen der Schwesternschaft gewiß beeilen — die bloße Erwähnung der Schattenseelen versetzte sie in Angst und Schrecken —, während die Windsucherinnen durchaus versuchen könnten, die Schale sofort für sich zu beanspruchen. Für sie war die Schale wichtiger als alles andere. Aber nur eine blinde Närrin blieb gemächlich stehen, während sich ein Löwe an die Herde anschlich, die sie bewachen sollte. Sie ergriff eine der Atha'an Miere an einem roten Seidenärmel.

»Sagt Elayne...« Ein Gesicht wie glatter schwarzer Stein wandte sich ihr zu. Irgendwie gelang es der Frau, ihre vollen Lippen dünn erscheinen zu lassen. Ihre Augen waren schwarze Kieselsteine, flach und hart. Welche Botschaft konnte sie schicken, die nicht all die Schwierigkeiten heraufbeschwor, die sie von diesen Frauen fürchtete? »Sagt Elayne und Nynaeve, sie sollen vorsichtig sein. Sagt ihnen, Feinde kämen stets dann, wenn man sie am wenigsten erwartet. Ihr müßt ihnen dies wörtlich ausrichten.« Die Windsucherin nickte mit kaum verhaltener Ungeduld, wartete aber überraschenderweise, bis Aviendha sie losließ, bevor sie zögernd durch das Wegetor trat.

Der Gang oben um den Turm war nun verlassen. Aviendha verspürte keine Erleichterung. Er konnte überall sein. Vielleicht auf dem Weg zum Stallhof hinab. Wer auch immer er war, was auch immer er vorhatte — er war gefährlich. Die Gefahr existierte nicht nur in ihrer Einbildung. Die letzten vier Behüter hatten ein Viereck um das Wegetor gebildet, eine Wache, die als letzte gehen würde, und so sehr sie ihre Schwerter auch verachtete, war sie doch dankbar, daß noch jemand außer ihr mit dem scharfen Metall umgehen konnte. Nicht daß die Behüter gegen einen

Gholam — oder, noch schlimmer, gegen eine der Schattenseelen — eine größere Chance als die bei den Pferden wartenden Diener gehabt hätten. Oder eine größere Chance als sie selbst.

Sie zog grimmig die Macht heran, bis die Süße Saidars fast schmerzhaft wurde. Ein Quentchen mehr, und der Schmerz würde während der zum Sterben oder der dafür nötigen Zeit, die Fähigkeit vollkommen zu verlieren, blendende Marter werden. Wenn diese Frauen sich doch nur beeilen würden! Man mußte sich nicht schämen, Angst zu empfinden, aber sie fürchtete doch sehr, daß ihr die Angst ins Gesicht geschrieben stand.

Загрузка...