6. Kapitel

Non semper ea sunt quae videntur. (Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen)

Phaedrus


Eine englische Rose • Rüschen • Cyril bewacht das Boot • Eine Botschaft von der Anderen Seite • Sehenswürdigkeiten • Ein Butler • Zeichen und Portale • Auf einem Dorffriedhof • Eine Erleuchtung • Ein Deckname • Erklärungen • Ein durchweichtes Tagebuch • Jack der Ripper • Moses im Schilf • Mehr Decknamen • Ein noch weniger erwartetes Ereignis


Ich weiß, daß ich sagte, die Naiade sei das wunderbarste Geschöpf, das ich je gesehen hätte, aber sie war naß und schmutzig gewesen, und selbst obwohl es gewirkt hatte, als wäre sie gerade einem prärafaelitischen Teich entstiegen, so war sie doch unverwechselbar einundzwanzigstes Jahrhundert gewesen.

So wie das Geschöpf auf der Brücke unverwechselbar neunzehntes Jahrhundert war. Keine Historikerin, gleich, wie gekonnt sie ihre weißen Röcke mit der behandschuhten Hand raffte oder wie hocherhoben sie das Haupt und wie gerade sie den aristokratischen Nacken hielt, konnte erhoffen, diese Qualität der Ruhe, der klaräugigen Unschuld einzufangen, die das Mädchen auf der Brücke ausstrahlte. Sie war wie eine zarte Blume, die nur in einer einzigen Zeit erblühen konnte, gebunden an das besondere Gewächshaus des ausgehenden victorianischen Zeitalters: die unberührte Blume, die erblühende englische Rose, der Engel des Hauses. In wenigen Jahren würde sie ausgestorben sein, abgelöst von radfahrenden Mädchen in Knickerbockers, Zigaretten rauchenden Backfischen und den Sufragetten.

Eine Welle tiefster Melancholie überkam mich. Nie würde ich sie mein eigen nennen können. Wie sie dort stand, mit ihrem weißen Schirm und dem klaren Blick ihrer grünlichbraunen Augen, das Abbild von Jugend und Schönheit, würde sie alsbald mit Terence verheiratet, alsbald gestorben und alsbald auf einem Dorffriedhof wie demjenigen oben auf dem Hügel begraben sein.

»Anlegen«, sagte Terence. »Nein, anlegen!« Er ruderte rasch an die Seite der Brücke, wo mehrere Pfähle aus der Erde ragten, an denen man offenbar das Boot vertäuen konnte. Ich schnappte das Seil, sprang in den glitschigen Uferschlamm und machte eine Schlinge, während Terence und Cyril bereits aus dem Boot herausgeklettert und auf dem Weg die steile Uferbank hoch in Richtung Brücke waren. Der Knoten, den ich fabrizierte, sah alles andere als gekonnt aus, und ich wünschte, Finchs Kassetten hätten etwas von Überhandknoten oder festgesteckten Trompetenknoten erzählt. Gab es hier eine Möglichkeit, das Boot mit einem Schloß zu sichern?

Wir sind hier im victorianischen Zeitalter, rief ich mir ins Gedächtnis. Eine Zeit, in der die Menschen einander trauen und in welcher der ernsthafte junge Mann sein Mädchen bekommt und dieses wahrscheinlich eben gerade schon auf der Brücke küßt.

Tat er aber nicht. Er stand oben auf der Uferbank und schaute sich verwirrt um. »Ich seh’ sie nicht«, sagte er, dabei geradewegs die Erscheinung anblickend. »Ihre Cousine ist hier, und dort steht der Landauer«, er zeigte auf eine offene Kutsche, die oben auf dem Hügel neben der Kirche wartete, »also muß sie noch hier sein. Wie spät ist es?« Er zog die Taschenuhr heraus. »Sie wird ja wohl nicht ihre Cousine geschickt haben, damit diese mir sagt, daß sie mich nicht sehen will. Falls sie…« — er brach ab. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Ein Mädchen in Rüschen erschien oben auf dem Hügel. Rüschen zierten den Rocksaum ihres weißen Kleides, die Schulternähte und die Ärmeln. Ihr Sonnenschirm hatte ebenfalls einen Rüschenbesatz, ebenso ihre kurzen weißen Handschuhe. Alle diese Rüschen bewegten sich, wie Fahnen, die in die Schlacht getragen wurden. Auf ihrem Hut befanden sich keine Rüschen, aber wie zum Ausgleich dafür flatterten rosa Bänder herab. Bei jedem Windhauch lockte sich das blonde Haar unter dem Hut und wippte.

»Schau, Cousine, es ist Mr. St. Trewes«, rief sie und kam den Hügel heruntergelaufen, wobei alles an ihr noch mehr in Bewegung geriet. »Ich sagte dir doch, er würde kommen!«

»Tossie«, erwiderte die Erscheinung in Weiß tadelnd, aber Tossie rannte bereits auf den Treidelpfad zu, wobei sie ihre wippenden Röcke gerade genug raffte, daß man die Zehen ungemein kleiner, schnell trippelnder Füße in weißen Schühchen sehen konnte.

Sie erreichte die Uferkante, hielt inne — zumindest das meiste von ihr —, beglückte uns mit einem flatternden Augenaufschlag und sagte zu Cyril: »Ist das süße Hundie wieder zu seiner Tossie gekommen? Tossie hat ihr Hundie so vermißt.«

Cyril schaute erschrocken.

»War unser Hundie auch brav?« gurrte Tossie. »Sein Herrchen aber nicht. War ein ganz garstiger Junge. Kam und kam nicht.«

»Wir wurden aufgehalten«, warf Terence ein. »Professor Peddick…«

»Tossie hatte schon solche Aaangst, daß dieser vergeeeßliche Junge auch sie vergeeeßen haben könnte, nicht wahr, Sssyril?«

Cyril warf Terence einen resignierten Blick zu und trabte hin zu ihr, um sich den Kopf tätscheln zu lassen.

»Oh! Oh!« rief Tossie. Irgendwie brachte sie es fertig, daß es genauso klang, wie ich es in Romanen aus dem victorianischen Zeitalter gelesen hatte. »Oh!«

Cyril blieb verwirrt stehen und schaute Terence an. Dann lief er weiter.

»Böser, böser Hund!« sagte Tossie, die Lippen spitzend, um eine Reihe kleiner Schreie auszustoßen. »Dieses fürchterliche Geschöpf wird mein Kleid ruinieren. Es ist Seidenmusselin.« Sie raffte ihre Röcke nach hinten, aus Cyrils Reichweite. »Papa hat es extra für mich in Paris anfertigen lassen.«

Terence schoß nach vorn und packte Cyril, der bereits zurückgewichen war, am Halsband. »Ich muß mich für Cyrils Benehmen entschuldigen«, sagte er, »ebenso für mein Zuspätkommen. Wir mußten meinen Tutor vor dem Ertrinken retten.«

Die Cousine kam herbei. »Hallo, Cyril«, sagte sie freundlich und kniete sich hin, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen. »Hallo, Mr. St. Trewes. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Ihre Stimme klang kultiviert und gelassen, ohne eine Spur von Babysprache. »Bedeutet Ihr Hiersein, daß Sie Prinzessin Arjumand gefunden haben?«

»O ja, erzählen Sie«, bat Tossie verspätet. »Haben Sie meine arme verlorengegangene Juju gefunden?«

»Leider nein«, sagte Terence. »Aber wir haben vor, weiterzusuchen. Darf ich Ihnen Mr. Henry vorstellen? Mr. Henry — Miss Mering und Miss Brown.«

»Guten Tag, Miss Mering. Guten Tag, Miss Brown«, sagte ich und tippte an meinen Strohhut, wie die Sublimationskassetten mich instruiert hatten.

»Mr. Henry und ich haben ein Boot gemietet.« Terence zeigte zum Fuß der Brücke, wo man die Bootsspitze gerade noch erblicken konnte. »Wir beabsichtigen, jeden Zentimeter der Themse zu erforschen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Miss Brown, »aber ich habe keinen Zweifel daran, daß wir, wenn wir heute abend nach Hause zurückkehren, die Katze gesund und munter vorfinden werden.«

»Nach Hause?« fragte Terence bestürzt.

»Ja«, entgegnete Tossie. »Wir fahren heute nach Muchings End zurück. Mama hat eine Nachricht erhalten, daß wir dort benötigt werden.«

»Ich hoffe, daß nichts Schlimmes passiert ist, das Sie nach Hause zurückruft«, sagte Terence.

»O nein«, erwiderte Tossie, »so eine Nachricht war das nicht. Die Nachricht kam von der Anderen Seite. Sie sagte ›Kehre nach Muchings End zurück, um dort dein glückliches Schicksal zu erwarten‹. Also ist Mama fest entschlossen, sofort zu fahren. Wir nehmen den Abendzug.«

»Ja«, mischte sich Miss Brown ein. »Wir sollten zu Madame Iritosky zurückkehren.« Sie streckte eine behandschuhte Rechte aus. »Danke, daß Sie sich so freundlich um Prinzessin Arjumand bemüht haben. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. Henry.«

»Aber wir müssen doch nicht sofort zurück, Cousine Verity«, sagte Tossie. »Der Zug fährt erst um halb sieben. Und Mr. St. Trewes und Mr. Henry haben die Kirche noch nicht besichtigt.«

»Es ist ein recht langer Weg bis zu Madame Iritoskys Haus«, protestierte Cousine Verity. »Deine Mutter sagte ausdrücklich, wir sollten zum Tee zurück sein.«

»Wir haben noch viel Zeit«, erwiderte Tossie. »Wir werden Baine bitten, schnell zu fahren. Sie würden doch auch gern die Kirche besichtigen, nicht wahr, Mr. St. Trewes?«

»Wahnsinnig gern«, sagte Terence inbrünstig. Cyril trabte begeistert zwischen die beiden.

»Sollte Cyril nicht besser beim Boot bleiben?« Tossie zögerte merklich.

»O ja, natürlich«, sagte Terence. »Cyril, du bleibst hier.«

»Er kann doch draußen unterm Dach vor dem Friedhofstor warten«, schlug ich vor, doch ohne Erfolg. Terence hatte sich bereits entschieden.

»Platz, Cyril«, befahl er.

Cyrils Blick glich dem, den Julius Cäsar auf Brutus geworfen haben mußte. Er legte sich auf der schattenlosen Uferböschung nieder, den Kopf auf den Pfoten.

»Laß böse, böse Männer nicht das Boot stehlen«, sagte Tossie. »Sei ein braves, braves Wauwauchen.« Sie spannte ihren Sonnenschirm auf und schickte sich an, den Pfad hochzugehen. »Es ist eine soooo niedliche kleine Kirche. So putzig und altmodisch. Die Leute kommen von weit her, um sie zu besichtigen. Ich liiiebe Besichtigungen, Sie nicht auch? Mama hat versprochen, mit uns nächste Woche Hampton Court zu besuchen.« Sie ging voran, auf Terence und die Erscheinung einplappernd, und ich folgte.

Ihre Meinung über die Kirche stimmte, und Menschen kamen offenbar wirklich ihretwegen von weit her, wenn man die Schilder als Indikator dafür nehmen wollte. Die ersten standen schon am Fuß des Hügels. »Bitte auf dem Weg bleiben!« sagte ein handschriftliches Plakat, »Keine Besichtigungen während des Gottesdienstes!« das nächste, gefolgt von: »Bitte nicht die Wiese betreten!« und »Blumen pflücken verboten!«

»Mama sagte, daß wir eine Seance auf der Empore in Hampton Court abhalten werden. Dort geht nämlich der Geist von Catherine Howard um. Sie war eine der acht Frauen von Heinrich dem Achten. Er hatte acht Frauen. Baine meint, er hätte nur sechs gehabt, aber wenn das stimmt, warum heißt er dann Heinrich der Achte?«

Ich warf Miss Brown, die freundlich lächelte, einen Blick zu. Aus der Nähe betrachtet, war sie noch schöner. Ihr Hut hatte einen Schleier, der hinten weiß über ihr nußbraunes Haar herabfiel, und durch den ihre helle Haut und die rosigen Wangen beinahe durchsichtig wirkten.

»Alle Frauen Heinrichs des Achten wurden geköpft«, sagte Tossie. »Ich fände es scheußlich, geköpft zu werden.« Sie schüttelte vehement ihre blonden Locken. »Man bekommt die Haare abgeschnitten und muß ein ganz furchtbar einfaches Kleid anziehen, ganz ohne Verzierungen.«

Oder Rüschen, dachte ich.

»Ich hoffe, es ist nicht nur Catherine Howards Kopf«, fuhr Tossie fort. »Manchmal erscheint nämlich der Geist nicht vollständig. Als Nora Lyon in Muchings End erschien, materialisierte sich nur ihre Hand. Sie spielte das Akkordeon.« Sie schaute Terence verschämt an. »Wissen Sie, was die Geister mir gestern nacht erzählten? Daß ich einen Fremden treffen würde.«

»Und was erzählten sie Ihnen sonst noch?« fragte Terence. »Vermutlich, daß er groß, dunkelhaarig und gutaussehend ist.«

»Nein«, sagte Tossie vollkommen ernsthaft. »Sie klopften ›Vorsicht‹ und dann den Buchstaben ›W‹. Mama dachte, es wäre eine Nachricht über Prinzessin Arjumand, aber ich glaube, es ist Wasser gemeint, und da wir nicht in der Nähe der See sind, muß der Fremde den Fluß entlangkommen.«

»Wie ich«, antwortete Terence entrückt.

Wir waren nun beinahe oben auf dem Hügel, wo eine offene Kutsche wartete, in der erstaunlicherweise ein Fahrer im vollständigem Stresemann, mit Schwalbenschwanz und gestreiften Hosen saß. Er las in einem Buch, und das Pferd rupfte lustlos Gras. Ich war überrascht, kein»Parken verboten!«-Schild zu entdecken.

Als wir näherkamen, klappte der Fahrer das Buch zu und nahm eine würdevolle Haltung ein. »Ich hatte schon Angst, wir könnten überhaupt nicht kommen«, sagte Tossie und ging an der Kutsche vorbei, ohne den Fahrer eines Blickes zu würdigen. »Madame Iritoskys Bursche sollte uns fahren, aber er befand sich in Trance, und Mama erlaubte uns nicht, den Landauer allein zu kutschieren. Dann fiel mir ein, daß Baine uns fahren könnte. Baine ist unser neuer Butler. Mama hat ihn Mrs. Chattisbourne abgeluchst, die sich waaahnsinnig darüber ärgerte. Gute Butler sind sehr schwer zu bekommen.«

Das erklärte die gestreiften Hosen und die würdevolle Haltung — Finchs Kassette hatte es deutlich erklärt. Butler arbeiteten nicht als Kutscher. Ich betrachtete Baine. Er war jünger, als ich erwartet hatte, auch größer, und wirkte etwas abgehärmt, gerade als bekäme er nicht genug Schlaf. Ich konnte das nachempfinden. Ich fühlte mich, als ob ich Jahrhunderte nicht geschlafen hätte.

Finchs Kassetten hatten gesagt, daß Butler ein Pokergesicht haben sollten, aber auf diesen hier traf das nicht zu. Er sah entschieden aus, als machte er sich über etwas Sorgen. Ich fragte mich, über was wohl. Den Ausflug oder die Aussicht, für jemanden arbeiten zu müssen, der dachte, Heinrich der Achte hätte acht Frauen gehabt? Ich versuchte, einen Blick auf das Buch zu werfen, als wir vorbeigingen. Es war Die französische Revolution von Carlyle.

»Ich mag unseren Butler nicht«, sagte Tossie, als wäre der Mann gar nicht vorhanden. »Er ist immer so barsch.«

Offenbar mochte Cousine Verity ihn ebensowenig. Sie schaute stracks geradeaus, als wir vorbeigingen. Ich nickte dem Butler zu und tippte an meinen Hut. Er nahm das Buch wieder zur Hand, um weiterzulesen.

»Unser früherer Butler war viel netter. Lady Hall warb ihn ab, als sie uns einmal besuchte. Während sie unter unserem Dach weilte — man stelle sich das mal vor! Papa meint, man solle Dienstboten verbieten, Bücher zu lesen. Das würde ihre Moral untergraben. Und ihnen Flausen in den Kopf setzen.«

Terence öffnete das Tor zum Kirchhof, an dem ein Schild hing: »Bitte beim Verlassen Tor schließen!« und Tossie und er gingen weiter zum Kirchenportal. Es war mit Schildern übersät — »Keine Besichtigungen nach vier Uhr!«, »Keine Besichtigungen während der Gottesdienste!«, »Fotografieren nicht erlaubt!«, »Für Auskünfte wenden Sie sich an Mr. Egglesworth, Kirchenvorsteher, Harwood House. Nur in Notfällen stören!«

»Ist sie nicht entzückend?« meinte Tossie. »Schauen Sie doch — diese süßen geschnitzten Zickzacke über der Tür.«

Ich identifizierte sie auch ohne Kassetten als Zahnornamente aus dem zwölften Jahrhundert, ein Resultat meines monatelangen Aufenthaltes in Lady Schrapnells Kathedrale. »Normannische Architektur«, sagte ich.

»Ich liiiebe diese alten Kirchen, Sie nicht auch?« fuhr Tossie, mich vollkommen ignorierend, fort. »Sie sind um so vieles schlichter als unsere modernen.«

Terence öffnete das schlichte, mit Hinweisschildern übersäte Portal. Tossie schloß ihren Schirm und trat ein, von Terence gefolgt. Ich erwartete, daß Cousine Verity sofort folgen würde. Finchs Kassetten hatten gesagt, daß junge victorianische Mädchen nie ohne Anstandsdamen sein durften, und ich nahm an, Cousine Verity war, Erscheinung oder nicht, eine solche Anstandsdame. Unten am Ufer hatte sie tadelnd genug geblickt, und die Kirche war bestimmt nur schwach beleuchtet und äußerst einladend zum Plänkeln.

Und das Schild am Portal sagte eindeutig, daß der Kirchenvorsteher nicht anwesend war.

Miss Brown jedoch schaute nicht einmal auf das halbgeöffnete Portal oder die schattige Dunkelheit im Innenraum der Kirche. Sie öffnete das schmiedeeiserne Tor, das mit dem Schild »Nicht auf den Boden spucken!« verziert war, und betrat den Friedhof.

Langsam schritt sie zwischen den Gräben hindurch, an mehreren Schildern vorbei, die uns anwiesen, weder Blumen zu pflücken noch uns gegen die Grabsteine zu lehnen, bis sie einen schiefstehenden Obelisken erreichte, gegen den sich offenkundig doch jemand gelehnt hatte.

Ich überlegte, was man am besten zu einer jungen victorianischen Dame sagte, wenn man mit ihr allein war. Finchs Kassetten hatten keine Hinweise auf Gesprächsthemen enthalten, die für einen jungen Mann und eine junge Dame, die sich gerade kennengelernt hatten, schicklich gewesen wären.

Politik auf keinen Fall, da ich keine Ahnung hatte, wie es um diese im Jahr 1888 stand, außerdem erwartete man von jungen Damen nicht, daß sie sich ihre hübschen Köpfchen über Staatsangelegenheiten zerbrachen. Religion ebenso wenig, weil Darwin immer noch heftig kontrovers diskutiert wurde. Ich versuchte mich zu erinnern, was die Personen in den victorianischen Theaterstücken zueinander gesagt hatten, die ich gesehen hatte, wie zum Beispiel Oscar Wildes Figuren in Der vortreffliche Chrichton oder Bunbury oder wie wichtig es ist, ernst zu sein.Standesfragen und witzige Epigramme. Ein Butler mit Flausen im Kopf war in diesen Stücken nicht vorgekommen, und witzige Epigramme fielen mir nicht ein. Außerdem ist es mit Humor immer eine gewagte Sache.

Miss Brown hatte den letzten Grabstein erreicht und schaute mich erwartungsvoll an.

Das Wetter. Aber wie sollte ich sie anreden? Miss Brown? Miss Verity? Mylady?

»Nun«, sagte sie ungeduldig. »Haben Sie sie zurückgebracht? Geht’s ihr gut?«

Diesen Gesprächsbeginn hatte ich nicht erwartet. »Wie bitte?« fragte ich.

»Baine hat Sie nicht gesehen, oder?« fragte sie. »Wo haben Sie sie gelassen?«

»Ich fürchte, Sie verwechseln mich mit jemandem…«

»Schon gut«, sagte sie und schaute zur Kirche hinüber. »Sie können uns nicht hören. Sagen Sie mir genau, was passiert ist, nachdem Sie sie durchs Netz gebracht haben.«

Ich mußte einen Rückfall erlitten haben. Das alles ergab keinen Sinn.

»Sie haben sie doch nicht ersäuft?« fragte sie ärgerlich. »Er versprach mir, sie nicht zu ersäufen.«

»Wen nicht ersäufen?«

»Die Katze.«

Es war noch schlimmer als das Gespräch mit der Krankenschwester. »Die Katze? Sie meinen, Tossie — Miss Merings verlorengegangene Katze? Prinzessin Arjumand?«

»Natürlich meine ich Prinzessin Arjumand.« Sie runzelte die Stirn. »Hat Dunworthy sie Ihnen nicht mitgegeben?«

»Dunworthy?« Ich starrte sie an.

»Ja. Hat er Ihnen die Katze nicht mitgegeben?«

Langsam begann es mir zu dämmern. »Sie sind die Naiade aus Dunworthys Büro«, stellte ich verwundert fest. »Aber das kann nicht sein. Sie hieß Kindle.«

»Ich heiße Kindle. Miss Brown ist mein Deckname. Die Merings haben keine Verwandten mit Namen Kindle, und man hält mich hier für eine Cousine zweiten Grades von Tossie.«

Es dämmerte immer mehr. »Sie sind der Unglücksfall«, sagte ich. »Der irgend etwas mit durch das Netz zurückbrachte.«

»Die Katze«, erwiderte sie ungeduldig.

Eine Katze. Natürlich. Das ergab mehr Sinn als Glatze oder Matratze. Und es erklärte den eigentümlichen Blick, den Dunworthy mir zugeworfen hatte, als ich das Plätzchen erwähnte. »Sie haben eine Katze mit durchs Netz gebracht«, sagte ich. »Aber das ist unmöglich. Man kann nichts durch das Netz mit in die Zukunft bringen.«

Jetzt war sie diejenige, die starrte. »Sie wissen nichts von der Katze? Aber ich dachte, man würde Sie mit der Katze zu mir schicken.« Ich fragte mich unbehaglich, ob sie das vielleicht vorgehabt hatten. Finch hatte mir gesagt, ich sollte warten, als ich drüben am Netz stand. Wollte er da die Katze holen, und war ich gesprungen, bevor er sie mir übergeben konnte?

»Sagte man Ihnen, daß man mich mit der Katze zurückschicken wollte?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Dunworthy weigerte sich, mir überhaupt etwas zu sagen. Er meinte, ich hätte bereits genügend Wirbel verursacht, und er wollte nicht, daß ich mich noch weiter einmischte. Ich nahm es einfach an, weil ich Sie in Dunworthys Büro gesehen hatte.«

»Ich war dort, um mit Dunworthy über meine Zeitkrankheit zu sprechen«, sagte ich. »Man hatte mir zwei Wochen strenge Bettruhe verordnet, und deshalb hat Dunworthy mich hierhergeschickt.«

»Ins victorianische Zeitalter?« Sie schaute belustigt.

Ich nickte. »Ich konnte nicht in Oxford bleiben, denn Lady Schrapnell…«

Sie schaute noch belustigter. »Er hat Sie hierhergeschickt, damit Sie aus Lady Schrapnells Reichweite sind?«

»Ja«, erwiderte ich alarmiert. »Sie ist doch nicht etwa hier?«

»Nicht direkt«, sagte sie. »Wenn Sie schon die Katze nicht dabei haben, wissen Sie wenigstens, wen sie damit zurückschicken werden?«

»Nein«, sagte ich und versuchte, mich an die Unterhaltung im Laboratorium zu erinnern. »Nehmen Sie Verbindung auf mit…« hatte Dunworthy gesagt. Andrews? Jetzt entsann ich mich. »Nehmen Sie mit Andrews Verbindung auf«, hatte Dunworthy gesagt.

»Sie sagten, sie wollten mit Andrews Verbindung aufnehmen.«

»Und was sonst noch? Sagte man, wann sie ihn schicken wollen? Und ob der Sprung klappte?«

»Nein«, sagte ich. »Aber ich döste ein paar Mal ein. Wegen der Zeitkrankheit.«

»Wann genau hörten Sie von Andrews?«

»Heute morgen, während ich auf meinen Sprung wartete.«

»Wann kamen Sie durch?«

»Heute morgen. Um zehn Uhr.«

»Das erklärt einiges«, sagte sie erleichtert. »Ich war in großer Sorge, als ich zurückkam und Prinzessin Arjumand nicht vorfand. Ich befürchtete, irgend etwas sei schiefgegangen, und es hätte nicht geklappt, sie durch das Netz zurückzuschicken, oder Baine hätte sie gefunden und erneut versucht, zu ersäufen. Und als Mrs. Mering darauf bestand, wegen der Katze nach Oxford zu kommen, um Madame Iritosky zu konsultieren und dieser junge Mann auf der Bildfläche auftauchte, vermutete ich das Schlimmste. Aber nun ist alles in Ordnung. Man schickte sie offenbar durch, nachdem wir nach Oxford abgereist waren, und der Besuch hier kam gerade gelegen. So waren wir alle aus dem Weg, niemand konnte sehen, wie sie zurückgebracht wurde, und Baine ist auch hier, und so kann er sie nicht ersäufen, bevor wir nicht heimgekehrt sind. Und der Sprung muß erfolgreich gewesen sein oder Sie wären nicht hier. Dunworthy sagte, er würde alle Sprünge ins neunzehnte Jahrhundert stoppen, bis die Katze zurückgebracht worden sei. Also ist alles in Ordnung. Dunworthys Experiment hat geklappt, Prinzessin Arjumand wird zu Hause auf uns warten, um uns zu begrüßen, und es gibt nichts, worüber wir uns Sorgen machen müßten.«

»Warten Sie«, sagte ich vollkommen verwirrt. »Ich glaube, Sie sollten besser von Anfang an erzählen. Setzen Sie sich.«

Ich wies auf eine Bank, die das Schild trug: »Nicht beschmutzen!« Daneben befand sich ein eingekerbtes, von einem Pfeil durchbohrtes Herz, unter dem stand: »Violet und Harold, ’59.«

Sie setzte sich und drapierte graziös ihre weißen Röcke auf der Bank.

»Also gut«, sagte ich. »Sie brachten eine Katze durch das Netz mit in die Zukunft.«

»Ja. Ich war gerade im Gartenpavillon — das ist der Ort, auf den die Sprünge fixiert sind. Es liegt verborgen hinter einem kleinen Wäldchen, ein Rendezvous, das sich alle zehn Minuten öffnet. Ich kam gerade durch, nachdem ich Dunworthy Bericht erstattet hatte, und sah Baine, den Butler, der Prinzessin Arjumand trug…«

»Moment mal! Was machten Sie im victorianischen Zeitalter?«

»Lady Schrapnell schickte mich hierher, um Tossies Tagebuch zu lesen. Sie dachte, darin fände sich ein Hinweis auf des Bischofs Vogeltränke.«

Natürlich! Ich hätte mir denken können, daß dies alles etwas mit des Bischofs Vogeltränke zu tun hatte. »Aber was hat Tossie mit des Bischofs Vogeltränke zu schaffen?« Ein furchtbarer Gedanke schoß mir in den Sinn. »Bitte, sagen Sie jetzt nicht, sie sei die Ururgroßmutter.«

»Urur-Urgroßmutter. Dies ist der Sommer, wo sie nach Coventry ging, des Bischofs Vogeltränke erblickte und…«

»… sich ihr Leben für immer veränderte«, sagte ich.

»Ein Ereignis, das sie immer wieder und mit großer Genauigkeit in den umfangreichen Tagebüchern schilderte, die sie die meiste Zeit ihres Lebens führte, und die Lady Schrapnell las, worauf sie von der Idee, die Kathedrale wiederaufzubauen, besessen wurde, was wiederum ihrLeben von Grund auf veränderte.«

»Und das unsrige«, sagte ich. »Aber wenn sie die Tagebücher kannte, warum schickte man Sie dann ins Jahr 1888, um sie zu lesen?«

»Der Band, in dem Tossie zum ersten Mal das ihr Leben umwälzende Ereignis erwähnte — das einzige, das sie im Sommer 1888 schrieb —, ist durch Feuchtigkeit ziemlich unleserlich. Lady Schrapnell hat zwar eine Gerichtsmedizinerin darangesetzt, aber diese hat nur wenig herausfinden können, also schickte sie mich hierher, um das Tagebuch vor Ort zu lesen.«

»Aber wenn sie die Sache doch so ausführlich in ihren späteren Tagebüchern erwähnte…«

»Sie sagte nie genau, welcher Art die Veränderung war oder an welchem Tag sie nach Coventry kam, und Lady Schrapnell meint, es gäbe in dem Buch noch mehr Details, die wichtig sein könnten. Unglücklicherweise — oder vielleicht sollte ich eher sagen, glücklicherweise, weil Tossie genau so schreibt, wie sie spricht — hält sie ihr Tagebuch unter besserem Verschluß als der Schatzmeister der Königin die Kronjuwelen, und bis jetzt konnte ich noch keinen Blick hineinwerfen.«

»Ich verstehe immer noch nicht ganz«, sagte ich. »Des Bischofs Vogeltränke tauchte nicht vor 1940 auf. Was für einen Zweck hat ein Tagebuch, das 1888 geschrieben wurde?«

»Lady Schrapnell hofft, es gäbe darin einen Hinweis, wer sie der Kirche gegeben haben könnte. Sämtliche Unterlagen über Stiftungen sind während des Luftangriffs auf Coventry verbrannt. Lady Schrapnell glaubt, daß die Nachkommen des Stifters, wer immer es auch war, das Ding vielleicht zu Kriegsbeginn in Sicherheit gebracht haben könnten.«

»Wer immer es gestiftet haben könnte, wollte es wahrscheinlich loswerden.«

»Das nehme ich auch an. Aber Sie kennen doch Lady Schrapnell. ›Dreht jeden Stein dreimal um‹. Also folge ich Tossie schon seit zwei Wochen auf Schritt und Tritt in der Hoffnung, daß sie ihr Tagebuch einmal offen herumliegen läßt. Oder nach Coventry geht. Sie müßte bald dorthin gehen. Als ich Coventry erwähnte, sagte sie, sie sei noch nie dort gewesen, und wir wissen, daß sie irgendwann im Juni dieses Jahres dort war. Es wird also bald geschehen.«

»Und so haben Sie ihre Katze gekidnappt und ihr Tagebuch als Lösegeld verlangt?«

»Nein«, sagte sie. »Es war nach meinem Bericht an Dunworthy. Ich kam zurück und sah Baine, das ist der Butler…«

»Der Bücher liest«, warf ich ein.

»Der ein wahnsinniger Mörder ist«, sagte sie. »Er trug gerade Prinzessin Arjumand im Arm, und als er zur Uferböschung kam, ein vollkommener Junitag. Die Rosen sind so herrlich.«

»Bitte?« Ich fühlte mich wieder desorientiert.

»Und der Goldregen! Mrs. Mering hat eine Laube voll Goldregen, die immer so malerisch wirkt!«

»Entschuldigen Sie, Miss Brown«, sagte Baine, der aus dem Nichts auftauchte, mit einer kleinen, steifen Verbeugung.

»Was ist, Baine?« fragte Verity.

»Es geht um Miss Merings Katze, Ma’am«, sagte Baine unbehaglich. »Ich fragte mich, ob Mr. St. Trewes’ Anwesenheit bedeutet, daß er sie gefunden hat.«

»Nein, Baine«, erwiderte Verity, und die Temperatur um uns herum sank um mehrere Grade. »Prinzessin Arjumand wird immer noch vermißt.«

»Das beunruhigte mich«, sagte er und verbeugte sich wieder. »Soll ich jetzt die Kutsche holen?«

»Nein«, entgegnete sie frostig. »Vielen Dank, Baine.«

»Mrs. Mering erwartet Sie zum Tee zurück.«

»Das weiß ich, Baine. Vielen Dank.«

Er zögerte immer noch. »Die Fahrt zu Madame Iritosky dauert eine halbe Stunde.«

»Ja, Baine. Lassen Sie das meine Sorge sein.« Ihr Blick folgte dem Butler, bis er wieder bei der Kutsche war. »Dieser kaltblütige Mörder!« brach es dann aus ihr heraus. »›Ich fragte mich, ob Mr. St. Trewes die Katze gefunden hat‹. Er weiß genau, daß das nicht so ist. Und das Gerede, wie beunruhigt er sei! Dieses Ungeheuer!«

»Sind Sie sicher, daß er sie ersäufen wollte?« fragte ich.

»Natürlich bin ich mir sicher. Er schleuderte sie so weit in den Fluß hinaus, wie er nur konnte.«

»Vielleicht ist es so üblich. Ich erinnere mich gelesen zu haben, daß man Katzen im victorianischen Zeitalter ersäufte. Vor allem, um ihre Zahl in Grenzen zu halten.«

»Ja, neugeborene Kätzchen, aber keine ausgewachsenen Tiere. Und keine Haustiere. Prinzessin Arjumand ist das Liebste, was Tossie besitzt, außer sich selbst. Die Kätzchen, die ersäuft wurden, waren Bauernhoftiere, keine Haustiere. Der Bauer auf dem Hof gerade hinter Muchings End ersäufte letzte Woche einen ganzen Wurf. Steckte sie in einen Sack, der mit Steinen beschwert war, und warf sie in seinen Teich. Das ist zwar barbarisch, aber nicht bösartig. Dies hier war bösartig. Nachdem Baine sie in den Fluß geworfen hatte, rieb er sich die Hände und ging lächelndzum Haus zurück. Er hatte ohne Zweifel vor, sie zu töten.«

»Ich dachte, Katzen könnten schwimmen.«

»Nicht in der Mitte der Themse. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wäre sie von der Strömung abgetrieben worden.«

»Das Fräulein von Shalott«, murmelte ich.

»Wie?«

»Nichts. Warum sollte er die Katze seiner Herrin ertränken wollen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht hat er etwas gegen Katzen. Vielleicht nicht nur gegen Katzen, und wir finden uns eines Nachts alle ermordet in unseren Betten wieder. Vielleicht ist er Jack the Ripper. Der war doch 1888 am Werk, nicht wahr? Und seine wahre Identität wurde nie entdeckt. Ich konnte jedenfalls nicht einfach dastehen bleiben und zusehen, wie Prinzessin Arjumand ertrank. Katzen sind eine ausgestorbene Spezies.«

»Und so tauchten Sie ins Wasser und retteten sie.«

»Ich watete hinein«, verteidigte sie sich. »Ich bekam sie zu fassen und brachte sie zum Ufer zurück, aber gerade als ich das tat, fiel mir ein, daß eine victorianische Dame nie auf diese Art ins Wasser gewatet wäre. Ich hatte nicht einmal die Schuhe ausgezogen. Ich überlegte nicht weiter. Ich handelte. Ich duckte mich ins Netz, und es öffnete sich. Dabei wollte ich mich bloß verstecken. Ich wollte kein Problem erzeugen.«

Kein Problem. Sie hatte etwas getan, von dem die Zeittheorie behauptete, es sei unmöglich. Und damit wahrscheinlich eine Inkonsequenz im Kontinuum erzeugt. Kein Wunder, daß Dunworthy Chiswick alle diese Fragen gestellt und den armen T. J. Lewis so in die Mangel genommen hatte. Kein Problem…

Ein Plätzchen war eine Sache, ein lebendiges Kätzchen eine andere. Und selbst ein Plätzchen würde nicht durchs Netz gelangen. Darby und Gentilla hatten dies bewiesen, damals zu Beginn der Zeitreisen. Sie bauten das Netz als eine Art Piratenschiff, um damit die Schätze der Vergangenheit zu plündern, und probierten es bei allem aus, von der Mona Lisa bis hin zum Grabmal von Tutenchamun, und als das nicht klappte, an alltäglicheren Dingen wie Geld zum Beispiel. Doch außer mikroskopisch kleinen Teilchen gelangte nichts durch das Netz. Wenn sie versuchten, Gegenstände, selbst kleine Münzen oder Fischgabeln, aus ihrer angestammten Zeit zu entfernen, öffnete sich das Netz nicht. Es ließ auch weder Keime noch Strahlung oder elektromagnetische Strömungen durch, worüber Darby, Gentilla und der Rest der Welt hätten dankbar sein müssen, es aber sicher nicht waren.

Die Multis, die Darby und Gentillas Projekte finanzierten, verloren das Interesse, und Zeitreisen wurde Historikern und Wissenschaftlern überlassen, die die Theorien des Schlupfverlustes entwickelten und das Gesetz der Beständigkeit der Geschichte, um die Theorien zu untermauern, und es wurde allgemein als physikalisches Gesetz akzeptiert, daß sich das Netz nicht öffnete, wenn jemand versuchte, etwas aus der Vergangenheit in die Zukunft zu transportieren. Bis jetzt…

»Das Netz öffnete sich also einfach, als Sie versuchten, die Katze mit durchzubringen?« fragte ich. »Ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen, Verzögerungen oder Hüpfer?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war wie immer.«

»Und der Katze ging es gut?«

»Sie schlief. Schlief während des Sprungs in meinem Arm ein und wachte nicht einmal auf, als wir zu Dunworthys Büro kamen. Offenbar wirkt die Zeitkrankheit so auf Katzen. Völliger Blackout.«

»Sie gingen zu Dunworthy?«

»Natürlich«, sagte sie. »Ich brachte die Katze sofort zu ihm, als ich merkte, was ich angestellt hatte.«

»Und er entschied sich für den Versuch, sie zurückzuschicken?«

»Ich bekam aus Finch so viel heraus, daß sie offenbar sofort alle Sprünge ins victorianische Zeitalter überprüfen wollten, und falls es keinen Hinweis auf außergewöhnliche Schlupfverluste gab, hieße das, die Katze sei zurückgebracht worden, bevor ihr Verschwinden Probleme ergeben konnte, und demzufolge wollte man sie zurückschicken.«

Aber es hatte doch ungewöhnliche Verluste gegeben, dachte ich. Hatte Dunworthy nicht Carruthers über Coventry befragt?

»Und was war mit den Problemen, die in Coventry auftauchten?«

»Die hatten laut Finch nichts mit uns zu tun, sondern mit der Tatsache, daß Coventry ein geschichtlicher Krisenpunkt ist. Wegen seiner Verbindung mit Ultra. Es war das einzige Gebiet mit außerordentlichen Verlusten. Bei den Sprüngen ins victorianische Zeitalter gab es keine.« Sie schaute zu mir hoch. »Wie hoch war der Schlupfverlust bei Ihrem Sprung?«

»Ich hatte keinen«, sagte ich. »Ich traf genau ins Schwarze.«

»Gut«, sagte sie mit erleichterter Miene. »Bei mir waren es nur fünf Minuten. Finch sagte, eine Inkonsequenz manifestiere sich zuerst in einem verzögerten Sprung…«

»Oh, ich liiiebe Dorffriedhöfe«, erklang Tossies Stimme, und ich wich von Verity zurück wie ein victorianischer Liebhaber. Verity bewahrte Haltung, öffnete ihren Schirm und erhob sich mit gelassener Grazie.

»Sie sind so herrlich ländlich«, sagte Tossie und kam mit wehenden Fahnen ins Blickfeld. »Ganz anders als unsere modernen Friedhöfe.« Sie blieb stehen, um einen Grabstein zu bewundern, der halb umgestürzt war. »Baine sagt, Kirchhöfe seien etwas Unhygienisches. Sie verunreinigten den Grundwasserspiegel, aber ich glaube, der bleibt völlig unberührt davon. Was meinen Sie, Mr. St. Trewes?«

»›An dieser Ulme, diesem Eschenbaum‹«, zitierte Terence pflichtbewußt, »›wo sich der Grund in Moderhügeln hebt‹…«

Diese Bemerkung über Moder schien Baines Ansicht zu bestätigen, aber es fiel weder Tossie noch Terence auf. Terence vor allem nicht, der weiter deklamierte: »›Ruh’n rohe Ahnen in dem engen Raum, die in dem kleinen Dörfchen einst gelebt.‹«

»Oh, ich liiiebe Tennyson«, sagte Tossie. »Du nicht auch, Cousine?«

»Thomas Gray«, erwiderte Verity. »Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhof.«

»Oh, Mr. Henry«, fuhr Tossie fort, als hätte sie Verity nicht gehört, »Sie müssen unbedingt das Innere der Kirche anschauen. Die verzierte Vase dort ist wirklich allerliebst. Nicht wahr, Mr. St. Trewes?«

Terence nickte abwesend, den Blick verklärt auf Tossie gerichtet. Ich sah, wie Verity die Stirn runzelte. »Das müssen wir unbedingt sehen«, sagte sie und raffte mit der behandschuhten Hand ihre Röcke. »Mr. Henry?«

»Unbedingt«, stimmte ich zu, bot ihr meinen Arm, und wir gingen alle gemeinsam in die Kirche hinein, an einem Schild vorbei, auf dem zu lesen stand: »Unbefugten ist das Betreten bei Strafe verboten!«

Die Kirche war kalt, und es roch leicht nach altem Holz und stockfleckigen Gesangbüchern. Der Innenraum war mit dicken normannischen Säulen geschmückt sowie einem hohen frühenglischen Gewölbe, welches das Allerheiligste beherbergte, einem victorianischen Rosettenfenster und einem großen Anschlag, auf dem stand: »Das Betreten des Altarraums ist verboten!«

Tossie ignorierte die Bitte großzügig, ebenso den normannischen Schiefertaufstein, und rauschte zu einer Wandnische gegenüber der Kanzel. »Ist das nicht süüüß?«

Jetzt stand außer Frage, daß sie mit Lady Schrapnell verwandt war, und ebenso, woher Lady Schrapnell ihren Geschmack geerbt hatte, wobei man bei Tossie allerdings noch die Entschuldigung geltend machen konnte, daß sie schließlich Victorianerin und Teil einer Zeit war, die nicht nur den St. Pancras Bahnhof erbaut hatte, sondern auch noch das Albert Memorial.

Die Vase in der Wandnische glich beidem, bloß fehlten die grandiosen Ausmaße. Sie besaß nur eine Ebene und keine korinthischen Säulen, dafür aber Efeuranken und ein Halbrelief, das entweder die Arche Noah oder die Schlacht von Jericho zeigte.

»Was soll das darstellen?« fragte ich.

»Herodes’ Mord an den Erstgeborenen«, murmelte Verity.

»Die Töchter des Pharaos, die im Nil baden«, erklärte Tossie. »Schau, dort im Schilf sieht das Körbchen von Moses. Ich wollte, wir hätten so etwas in Muchings End. In unserer Kirche gibt es nur alten Krimskrams. Das hier ist wie in diesem Gedicht von Tennyson.« Begeistert klatschte sie in die Hände. »Dem Gedicht über eine griechische Vase.«

Das letzte, was wir brauchten, war Terence, der die Ode an eine griechische Vase von Keats zitierte. Ich schaute Verity verzweifelt an und überlegte krampfhaft, unter welchem Vorwand wir uns am unauffälligsten entfernen und wo wir uns am besten unterhalten konnten. Die Zahnornamente? Cyril? Verity betrachtete seelenruhig das steinerne Deckengewölbe, als hätten wir alle Zeit der Welt zur Verfügung.

»›Schönes ist wahr, und Wahres schön‹«, sagte Terence, »›das ist, was ihr auf Erden wißt, mehr…‹«

»Ob’s hier spukt?« fragte Tossie.

Terence hielt mit dem Zitieren inne. »Spukt?«

»Spukt!« wiederholte Tossie glückstrahlend und stieß die Miniversion eines Schreies aus, eine Art Schreichen. »Natürlich tut es das. Madame Iritosky sagt, daß es bestimmte Orte gibt, die als Portale zwischen den Welten dienen.«

Ich schaute Verity an, aber ihre Haltung blieb gelassen, ungerührt davon, daß Tossie gerade das Netz beschrieben hatte.

»Madame Iritosky sagt, daß Geister sich oft neben diesen Portalen aufhalten, durch die ihre Seelen auf die Andere Seite wandern«, erklärte Tossie Terence. »Viele Seancen schlagen deshalb fehl, weil sie nicht nahe genug an einem Portal abgehalten werden. Deshalb hält Madame Iritosky ihre Seancen immer zu Hause ab, anstatt ihre Klienten zu besuchen. Und ein Kirchhof würde eigentlich ein logisches Portal sein.« Sie schaute zu dem Rippengewölbe hoch und stieß ein weiteres Schreichen aus. »Sie könnten eben gerade bei uns sein!«

»Der Kirchenvorsteher wird sicher wissen, ob es hier Geister gibt«, schlug Verity hilfreich vor.

Ja. Und dann ein Schild aufstellen: »Keine Erscheinungen!«. Oder »Kein Ektoplasma bitte!«

»Ja, natürlich!« Tossie gab ein weiteres Schreichen zum Besten. »Mr. St. Trewes, wir müssen den Kirchenvorsteher fragen!« Sie verließen die Kirche, studierten das Schild und gingen dann in Richtung Harwood House, wo der Kirchenvorsteher ohne Zweifel erfreut sein würde, sie zu sehen.

»Dunworthy sagte mir nur, daß er mich zwei Stunden, bevor ich die Katze gerettet hatte, zurückschicken würde«, nahm Verity den Faden wieder auf. »Dann sollte ich Bericht erstatten, ob es irgendwelche Zwischenfälle oder außergewöhnliche Schlupfverluste gegeben habe. Ich nahm an, Prinzessin Arjumand sei bereits wieder in Muchings End eingetroffen. Aber als ich ankam, war sie nicht da. Tossie hatte ihr Verschwinden bemerkt und den ganzen Haushalt alarmiert, nach ihr zu suchen, und ich machte mir langsam Sorgen, daß etwas schiefgegangen sein könnte. Und bevor ich Dunworthy Bericht erstatten und herausfinden konnte, was geschehen war, verfrachtete uns Mrs. Mering schwuppdiwupps nach Oxford, und Tossie lernte Count de Vecchio kennen.«

»Count de Vecchio?«

»Einen jungen Mann. Auf einer der Seancen. Reich, gutaussehend, charmant. In jeder Hinsicht vollkommen, außer daß sein Name mit einem V beginnt und nicht mit einem C. Er interessiert sich für Theosophie«, erklärte sie. »Er interessiert sich aber auch für Tossie. Er bestand darauf, bei der nächsten Seance neben ihr zu sitzen, damit er ihre Hand halten konnte, und er sagte ihr, sie solle sich nicht fürchten, wenn sie etwas ihre Füße berühren fühle, das seien nur die Geister. Deshalb schlug ich einen Spaziergang zur Themse vor, um ihn von ihr fernzuhalten, und da kam Terence herbeigerudert, doch sein Name beginnt auch nicht mit einem C. Und er ist von ihr hingerissen. Nicht, daß das etwas Ungewöhnliches wäre. Jeder junge Mann, der Tossie trifft, ist von ihr hingerissen.« Sie warf mir unter ihrem Schleier einen Blick zu. »Weil wir gerade davon sprechen — warum Sie eigentlich nicht?«

»Sie glaubt, Heinrich der Achte hätte acht Frauen gehabt«, erwiderte ich.

»Ich weiß, aber ich dachte, Ihre Zeitkrankheit hätte Sie in die gleiche Verfassung wie die arme Titania versetzt, dazu verurteilt, herumzuwandern und sich in das erstbeste Mädchen zu verlieben, das Ihnen über den Weg läuft.«

»Welches Sie waren«, sagte ich.

Wäre sie die unberührte englische Rose gewesen, nach der sie aussah, würde sie jetzt unter ihrem Schleier sanft errötet sein, aber sie kam aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert.

»Das geht vorüber«, sagte sie und hörte sich an wie die Krankenschwester. »Wenn Sie sich erst einmal richtig ausgeschlafen haben… Ich wollte, ich könnte dasselbe von Tossies Verehrern sagen. Besonders von Terence. Er scheint Tossie zu gefallen. Sie bestand darauf, heute nachmittag nach Iffley zu fahren, obwohl Madame Iritosky eine spezielle Seance vorbereitet hatte, um Prinzessin Arjumand zu finden. Und auf dem Weg hierher fragte sie mich in der Kutsche, was ich von Pflaumentorte als Hochzeitstorte hielte. Da bekam ich dann richtig Angst, daß die Entwendung der Katze wirklich eine Inkonsequenz geschaffen haben könnte und daß Count de Vecchio und Terence Tossie sonst nie getroffen hätten, wenn sie nicht nach Oxford gekommen wäre. Und ihre Namen beginnen beide nicht mit C.«

Wieder tappte ich im Dunkeln. »Warum müssen ihre Namen mit einem C beginnen?«

»Weil sie in jenem Sommer — diesem Sommer — jemanden heiratete, dessen Name mit C begann.«

»Woher wissen Sie das? Ich dachte, das Tagebuch sei unleserlich.«

»Ist es auch.« Sie ging zu einer Kirchenbank und setzte sich neben ein Schild, das sagte: »Das Sitzen auf den Bänken ist nur während des Gottesdienstes gestattet!«

»Könnte sich das C nicht auf diesen Ausflug nach Coventry beziehen, der ihr Leben so nachhaltig veränderte?« fragte ich. »Coventry beginnt mit C.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihr Tagebucheintrag vom sechsten Mai 1938 sagt: ›Diesen Sommer werden wir fünfzig Jahre verheiratet sein, und ich bin glücklicher als ich mir je vorgestellt habe, Mr. C-was-auch-immer-’s Ehefrau zu sein‹, doch der mittlere Teil des Namens ist verschmiert, ebenso wie das E von Ehefrau.«

»Verschmiert?«

»Ein Tintenklecks. Federhalter klecksten nämlich in jenen Tagen.«

»Sind Sie ganz sicher, daß es C und nicht ein G ist?«

»Ja.«

Es schloß also nicht nur Count de Vecchio und Terence, sondern auch Professor Peddick und Jabez aus. Und, glücklicherweise, mich selbst.

»Wer ist dieser Mr. Chips oder Chesterton oder Coleridge, den sie heiraten soll?«

»Das weiß ich nicht. Es ist niemand, den sie je erwähnte und keiner, der je in Muchings End war. Ich fragte Colleen, das Stubenmädchen. Sie hatte nie von so jemandem gehört.«

Stimmen näherten sich von draußen. Verity erhob sich. »Gehen Sie mit mir auf und ab«, sagte sie. »Tun Sie so, als bewunderten wir die Architektur.« Sie schlenderte zu dem Taufstein und betrachtete ihn interessiert.

»Sie wissen also nicht, wer dieser Mr. C ist, aber Sie wissen, daß es jemand ist, den Tossie noch nicht getroffen hat und daß sie ihn in diesem Sommer heiraten wird«, sagte ich und betrachtete ein Schild mit der Aufschrift: »Keine Einrichtungsgegenstände aus der Kirche entfernen!«.»Ich dachte, Victorianer wären immer ziemlich lange verlobt gewesen.«

»Stimmt auch.« Verity schaute grimmig. »Und nach der Verlobungszeit wurde das Aufgebot an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen von der Kanzel herab verlesen, gar nicht zu reden von den Antrittsbesuchen bei den Eltern und dem Nähen der Aussteuer. Und jetzt ist bereits Mitte Juni.«

»Wann heirateten sie?«

»Das wissen wir auch nicht. Die Kirche von Muchings wurde während der letzten großen Epidemie niedergebrannt, und die späteren Tagebücher erwähnen das Heiratsdatum nicht.«

Mir fiel etwas ein. »Aber sie erwähnte doch sicher seinen Namen? Dieser Eintrag vom sechsten Mai kann doch nicht der einzige in fünfzig Jahren gewesen sein, in dem sie ihren Ehemann erwähnte.«

Sie schaute unglücklich. »Sie nannte ihn immer nur ›meinen lieben Schatz‹ oder ›meinen geliebten Gatten‹. Geliebt und Schatz jeweils unterstrichen.«

Ich nickte. »Und mit Ausrufungszeichen.« Ich hatte einige der Tagebücher wegen eventueller Hinweise auf des Bischofs Vogeltränke lesen müssen.

Wir schlenderten zu dem seitlichen Gang hinüber. »Nach unserem Sommer hier hörten die Tagebücher für ein paar Jahre auf«, sagte Verity. »Sie begannen erst wieder 1904. Da lebten sie in Amerika, und er arbeitete in Stummfilmen unter dem Künstlernamen Bertram F. Fauntleroy, den er, als der Tonfilm kam, 1927 in Reginald Fitzhugh-Smythe änderte.«

Sie blieb vor einem Buntglasfenster stehen, das zur Hälfte von dem Schild: »Bitte nicht öffnen!« verdeckt wurde. »Er hatte eine lange und beeindruckende Karriere als Darsteller britischer Aristokraten.«

»Was heißt, daß er wahrscheinlich einer war. Zumindest ein Hinweis, oder? Wenigstens war er offenbar kein zufällig vorbeikommender Landstreicher.« Mir fiel noch etwas ein. »Welcher Name stand in seiner Todesanzeige?«

»Sein Künstlername«, erwiderte sie. »Und in ihrer ebenso.« Sie lächelte gequält. »Sie wurde siebenundneunzig. Fünf Kinder, dreiundzwanzig Enkel und ein großes Filmstudio in Hollywood.«

»Und so gut wie kein Hinweis. Wie steht’s mit Coventry? Könnte sie diesen mysteriösen Mr. C dort getroffen haben, während sie des Bischofs Vogeltränke bewunderte, und könnte das ihr Leben für immer verändert haben?«

»Möglich«, sagte Verity. »Doch da gibt es noch ein Problem. Bis jetzt haben sie nichts von einem Ausflug nach Coventry erzählt. Mrs. Mering sprach davon, nach Hampton Court zu fahren, um Catherine Howards Geist zu sehen, aber von Coventry war noch nicht die Rede, und bevor ich hierhergekommen bin, waren sie auch nicht dort gewesen. Das weiß ich, weil ich…«

»… das Stubenmädchen fragte«, sagte ich.

»Ja. Und wir wissen, daß Tossie irgendwann im Juni Coventry besuchte. Deshalb beunruhigte es mich so, daß sie jetzt nach Oxford fuhren, um Madame Iritosky aufzusuchen. Ich befürchtete, das Verschwinden von Prinzessin Arjumand hätte sie dazu veranlaßt, obwohl sie eigentlich nach Coventry wollten, oder daß Mr. C nach Muchings End kommen könnte, während Tossie hier ist und sie dadurch verpassen würde. Aber wenn Dunworthy und T. J. Prinzessin Arjumand zurückgeschickt haben, bedeutet das, die Katze streunt einfach herum. Und wer weiß? Vielleicht ist Mr. C derjenige, der sie findet und zurückbringt. Vielleicht ist das der Grund für die plötzliche Verlobung, weil Tossie ihm so dankbar ist, daß er Arjumand zurückgebracht hat.«

»Außerdem waren Sie gar nicht so lange von Muchings End fort«, sagte ich. »Nur einen Tag. Wenn Mr. C seine Aufwartung gemacht hätte, hätte das Mädchen ihn sicher gebeten, im Salon zu warten, bis alle zurück sind.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Verity blieb abrupt stehen. Ihre Röcke raschelten.

»Das stellte ich mir so vor«, entgegnete ich überrascht. »Die Victorianer waren doch diejenigen mit den Salons, oder? Und ihre Besucher wurden von den Mädchen gebeten, dort zu warten.«

»Wann kamen Sie hier an?« wollte sie wissen.

»Heute morgen. Ich sagte es Ihnen doch schon. Haargenau ins Schwarze. Zehn Uhr, siebter Juni 1888.«

»Heute ist der zehnte Juni«, sagte Verity.

Der zehnte. »Aber die Zeitung…«

»War wohl eine alte. Ich kam in der Nacht zum siebten an. Wir erreichten Oxford am achten Juni und sind bereits seit drei Tagen hier.«

Verdutzt sagte ich: »Dann muß es einen…«

»… erhöhten Schlupfverlust gegeben haben«, vollendete Verity. »Das ist der Hinweis, daß doch eine Inkonsequenz eingetreten ist.«

»Nicht unbedingt. Ich hatte es ziemlich eilig.« Ich erklärte ihr die Sache mit Lady Schrapnell vor der Tür des Labors. »Vielleicht hatte Miss Warder die Koordinaten noch nicht vollständig eingegeben. Oder ihr ist ein Fehler unterlaufen. Sie hatte bereits siebzehn Sprünge programmiert.«

»Möglich«, sagte Verity zweifelnd. »Wo landeten Sie? An der Follybrücke? Trafen Sie dort auf Terence?«

»Nein, am Bahnhof. Er war dort, um die Verwandtschaft seines Tutors abzuholen, aber sie kam nicht an.« Ich erklärte, daß er von mir hatte wissen wollen, ob ich wohl eine Bootsfahrt plane und mir von seinen finanziellen Problemen erzählt hatte. »Und so bezahlte ich den Rest für das Boot.«

»Und wenn Sie nicht am Bahnhof gestanden hätten, wäre er jetzt nicht hier.« Veritys Gesichtsausdruck wurde noch besorgter. »Hätte er sich das Boot mieten können, wenn Sie ihm nicht das Geld geliehen hätten?«

»Kaum.« Ich dachte an Jabez’ Miene. »Obwohl er meinte, er könne sich vielleicht in der ›Mitra‹ noch ein paar Schilling von einer gewissen Mag leihen. Er war fest entschlossen, Tossie wiederzusehen. Wenn ich ihm das Geld nicht geliehen hätte, wäre er wahrscheinlich zu Fuß nach Iffley marschiert.«

»Wahrscheinlich«, sagte sie. »Wer weiß? Wenn er sie hier nicht getroffen hätte, wäre er ihr vielleicht in Muchings End begegnet. Er sagte gestern, daß er eine Bootsfahrt flußabwärts plane. Und drei Tage Schlupfverlust sind auch nicht übermäßig viel.« Sie runzelte die Stirn. »Trotzdem recht viel für eine Vergnügungsreise. Sobald ich wieder in Muchings End bin, springe ich am besten zurück und melde Dunworthy…«

»Bestimmt bringen uns die Geister eine Nachricht von Prinzessin Arjumand«, tönte Tossie Stimme, und schon kam sie mit Terence herbeigeflattert, der seinen Hut in der Hand trug. »Madame Iritosky ist berühmt dafür, Verlorengegangenes aufzuspüren. Sie sagte der Herzogin von Derby, wo ihre verlorene Brosche sei, und die Herzogin belohnte sie mit tausend Pfund. Papa meinte, für Madame Iritosky sei das nicht schwierig gewesen, weil sie die Brosche selbst dort hingelegt habe, doch Mama«, sie betonte die letzte Silbe, »ist sich sicher, daß die Geister es bewirkt haben.«

Verity erhob sich und glättete ihre Röcke. »Was sagte der Kirchenvorsteher?« Ich war erstaunt über ihre Haltung. Wieder wirkte sie ganz wie das heitere, gelassene englische Mädchen jenes Jahrhunderts. »Spukt es in der Kirche von Iffley?«

»Nein«, erwiderte Terence.

»Ja«, sagte Tossie und schaute zum Deckengewölbe hoch. »Egal, was der alte Brummbär sagt. Sie sind hier, die Geister aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit, jetzt gerade im Augenblick. Ich fühle ihre Gegenwart.«

»Der Kirchenvorsteher sagte, es spuke nicht, aber er wünschte sich, es wäre so«, erklärte Terence, »weil Geister nicht so viel Schmutz auf dem Boden hinterlassen und auch seine Notizen nicht abreißen würden. Oder den Kirchenvorsteher beim Fünfuhrtee stören.«

»Tee!« sagte Tossie. »Was für eine wunderbare Idee! Cousine, geh und sage Baine, er soll Tee servieren.«

»Dazu haben wir keine Zeit mehr.« Verity zog sich die Handschuhe an. »Madame Iritosky erwartet uns bereits.«

»Aber Mr. St. Trewes und Mr. Henry haben die Mühle noch gar nicht besichtigt«, protestierte Tossie.

»Das werden sie ohne uns tun müssen«, sagte Verity und rauschte zur Kirchentür hinaus. »Wir wollen unseren Zug nach Muchings End nicht verpassen.« Sie hielt am Kirchhoftor inne. »Mr. St. Trewes, würden Sie unserem Butler sagen, er soll die Kutsche holen?«

»Mit Vergnügen.« Terence tippte sich an den Hut und machte sich auf den Weg zu dem Baum, unter dem Baine lesend saß.

Ich hatte gehofft, Tossie würde mit ihm gehen, damit ich mit Verity allein sein konnte, aber sie blieb am Tor stehen, zog einen Schmollmund und machte ihren Sonnenschirm auf und zu. Mit welcher Entschuldigung konnten wir ein paar Augenblicke allein herausschinden? Ich konnte schlecht vorschlagen, daß sie mit Terence gehen sollte, angesichts der Anziehungskraft, die sie auf ihn bereits ausübte, und sie war der Typ Mädchen, der Befehle erteilte, nicht entgegennahm…

»Mein Sonnenschirm«, sagte Verity. »Ich muß ihn in der Kirche vergessen haben.«

»Ich helfe Ihnen suchen«, bot ich mich an und öffnete schwungvoll das Kirchenportal, wobei die Hinweiszettel nach allen Seiten stoben.

»Ich werde nach Oxford zurückkommen und Dunworthy Bericht erstatten, sobald ich die Gelegenheit dazu habe«, flüsterte Verity, sobald sich das Portal hinter uns geschlossen hatte. »Wo finde ich Sie?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte ich. »Irgendwo auf der Themse. Terence sagte, er wolle nach Henley rudern.«

»Ich werde versuchen, Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen«, sagte sie und ging zum Altarraum vor. »Es kann mehrere Tage dauern.«

»Was soll ich einstweilen tun?«

»Terence von Muchings End fernhalten«, entgegnete sie. »Wahrscheinlich ist es nur eine vorübergehende Vernarrtheit von Tossie, aber ich will kein Risiko eingehen.«

Ich nickte.

»Und machen Sie sich keine Sorgen. Der Schlupfverlust beträgt nur drei Tage, und Dunworthy hätte Sie nicht geschickt, wenn Prinzessin Arjumand nicht längst sicher zurückgekehrt wäre. Ich bin überzeugt, daß alles in Ordnung ist.« Sie tätschelte meinen Arm. »Sehen Sie zu, daß Sie etwas Schlaf bekommen. Schließlich sollen Sie sich hier von der Zeitkrankheit erholen.«

»Ich versuche es«, sagte ich.

Verity zog den Sonnenschirm unter dem Altargitter hervor und wollte gerade zum Portal gehen, als sie noch einmal lächelnd innehielt. »Und falls Sie jemanden mit Namen Chaucer oder Churchill treffen, schicken Sie ihn in Muchings End vorbei…«

»Die Kutsche, Miss«, sagte Baine, der plötzlich in der Tür stand.

»Danke, Baine«, sagte Verity frostig und schritt an ihm vorbei.

Terence half Tossie gerade in die Kutsche. »Ich hoffe, wir sehen uns wieder, Mr. St. Trewes«, sagte Tossie, jetzt wieder ohne Schmollmund. »Wir fahren heute abend mit dem Zug nach Muchings End zurück. Kennen Sie es? Es liegt am Fluß, unterhalb von Streatley.«

Terence nahm den Hut ab und preßte ihn ans Herz. »Bis dann, auf Wiedersehen, Schöne, adieu!«

Die Kutsche fuhr mit einem Ruck an. »Baine!« protestierte Tossie.

»Entschuldigung, Miss«, sagte Baine und ließ die Zügel schnalzen.

»Auf Wiedersehen!« rief Tossie uns zu. Ein Taschentuch flatterte, und alles Übrige an ihr auch. »Auf Wiedersehen, Mr. St. Trewes!« Der Landauer rollte davon. Terence sah ihm nach, bis er außer Sicht war.

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte ich. »Professor Peddick wird bereits warten.« Er seufzte, den Blick sehnsüchtig auf die Staubwolke geheftet, welche die Kutsche hinterließ. »Ist sie nicht wundervoll?«

»Ja«, sagte ich.

»Wir müssen uns sofort auf den Weg nach Muchings End machen«, sagte Terence, schon dabei, den Hügel hinunterzugehen.

»Das können wir nicht.« Ich trabte hinter ihm her. »Wir müssen Professor Peddick nach Oxford zurückbringen. Und was ist mit seiner antiken Verwandtschaft? Falls sie mit dem Nachmittagszug angekommen ist, muß sie abgeholt werden.«

»Ich werde Trotters bitten, das zu erledigen. Er schuldet mir noch etwas für die Lucretiusübersetzung, die ich für ihn gemacht habe«, sagte Terence, ohne stehenzubleiben. »Professor Peddick zurückzurudern dauert höchstens eine Stunde. Wir könnten ihn um fünf Uhr am Magdalen College abliefern. Dann bleiben uns noch vier Stunden bis Einbruch der Dunkelheit. In dieser Zeit müßten wir es eigentlich bis hinter die Culhamschleuse schaffen. Wir könnten morgen mittag in Muchings End sein.«

So viel also zu meinem leichtfertigen Versprechen gegenüber Verity, daß ich Terence von Tossie fernhalten würde, dachte ich, während ich ihm zum Boot hinunter folgte.

Doch es war nicht mehr da.

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