Wie versteinert standen sie in dem düsteren Korridor.
Gwen war eine verschwommen blaue Silhouette, ihre Augen glichen schwarzen Höhlen. Ihre Mundwinkel zuckten, was Dirk schrecklich an Bretan und sein Zucken erinnerte. »Sie haben uns gefunden«, sagte sie. »Ja«, erwiderte Dirk. Beide flüsterten, aus Furcht, Bretan Braith könnte sie — wie es die abgestellte Stimme von Challenge vermocht hatte -hören, falls sie sich laut unterhalten würden. Dirk war sich schmerzhaft bewußt, daß ihn Lautsprecher, Ohren und vielleicht auch Augen umgaben. »Wie?« hauchte Gwen. »Ich verstehe das nicht. Es ist unmöglich, die Stadt abzuschalten!«
»Doch, es muß möglich sein. Aber was machen wir jetzt? Soll ich zu ihnen gehen? Was befindet sich überhaupt im 52. Tiefgeschoß?« Gwen runzelte die Stirn.
»Ich weiß nicht. Ich habe niemals zuvor in Challenge gewohnt. Die unterirdischen Stockwerke gehörten aber nicht zum Wohnbereich, soviel mir bekannt ist.«
»Maschinen«, schlug Dirk vor. »Energieerzeugung. Versorgungsanlagen.«
»Computer«, fügte Gwen mit dünnem Flüsterstimmchen hinzu. Dirk setzte die Taschen ab. In dieser Situation schien es absurd zu sein, sich an Kleidung und Besitz festhalten zu wollen. »Sie haben die Stimme zum Schweigen gebracht«, sagte er.
»Vielleicht. Falls man sie wirklich abstellen kann. Ich dachte, sie sei Bestandteil eines riesigen Computernetzes, das den ganzen Turm durchzieht. Ich habe keine Ahnung.
Möglicherweise war die Stimme auch nur eine einzelne große Apparatur.«
»In jedem Fall haben sie das Zentralgehirn erwischt, das Nervenzentrum, was auch immer. Jetzt kommt kein freundlicher Rat mehr aus den Wänden. Und Bretan kann uns wahrscheinlich in diesem Augenblick sehen.«
»Nein«, sagte Gwen. »Warum nicht? Die Stimme konnte es.«
»Ja, vielleicht, obwohl ich andererseits nicht glaube, daß in den Wahrnehmungsvorrichtungen der Stimme Fernsehsensoren enthalten sind. Ich meine, sie hatte so etwas nicht nötig. Sie verfügte über andere Sinne, Sensoren, die Eindrücke aufnahmen, die Menschen nicht spüren und verwerten können. Die Stimme ist ein Supercomputer, der Milliarden Einzelinformationen gleichzeitig verarbeitet. Bretan kann das nicht. Kein Mensch kann es. Abgesehen davon, dürfte er aus den Schaltungen nicht schlau werden, ebensowenig wie du oder ich. Nur die Stimme kann alles überblicken. Selbst wenn Bretan dort steht, wo er Zugang zu allen Daten hat, welche die Stimme bekommt, wird ihm ein Großteil davon als sinnloses Kauderwelsch erscheinen oder so schnell vorbeiflitzen, daß er nichts damit anfangen kann.
Möglicherweise könnte ein geschulter Kybernetiker sich einen Reim darauf machen, obgleich ich auch das bezweifle. Bretan jedoch ist dazu nicht in der Lage. Es sei denn, er kennt ein Geheimnis, von dem wir keine Ahnung haben.« »Er hat uns gefunden«, sagte Dirk.
»Und er wußte, wo sich das Gehirn von Challenge befand und wie man es kurzschließt.« »Ich weiß nicht, wie er uns gefunden hat«, erwiderte Gwen, »aber es war keine Kunst, die Stimme zu finden. Das unterste Tiefgeschoß, Dirk! Er hat einfach geraten, so muß es gewesen sein. Kavalaren bauen ihre Festhalte tief in den Berg hinein, und der unterste Schacht ist immer der sicherste. Dort quartieren sie die Frauen ein und verstecken die Schätze des Festhalts.«
Dirk wurde nachdenklich. »Augenblick mal. Er kann nicht genau wissen, wo wir sind. Weshalb will er uns sonst in den Keller locken, indem er droht, uns zu jagen?«
Gwen nickte. »Falls er jedoch in einem Computerzentrum ist«, fuhr Dirk fort, »müssen wir vorsichtig sein. Dann könnte er uns finden.« »Einige der Computer müssen noch intakt sein«, sagte Gwen und warf einen kurzen Blick auf die trübblaue Kugel einige Meter vor ihnen. »Die Stadt lebt noch — mehr oder weniger jedenfalls.« »Kann er die Stimme fragen, wo wir sind? Falls er sie reaktiviert?« »Vielleicht, aber würde sie es ihm sagen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Wir sind legale, unbewaffnete Bewohner, während er ein gefährlicher Eindringling ist, der alle Normen von pi-Emerel verletzt.« »Er? Du meinst sie. Chell ist bei ihm.
Vielleicht auch noch andere.« »Dann eben eine Gruppe von Eindringlingen.«
»Aber es können nicht mehr als … zwanzig sein.
Weniger? Wie wollen sie eine Stadt von dieser Größe übernehmen?«
»Pi-Emerel ist eine Welt, auf der es keine Gewalt gibt, Dirk. Nie gab es Kriege. Und dies ist ein Festivalplanet.
Ich bezweifle, daß Challenge viele Verteidigungseinrichtungen besitzt. Die Wärter …« Dirk schaute sich plötzlich um. »Ja, die Wärter. Die Stimme erwähnte sie. Sie schickte uns einen hinterher.« Er erwartete nun fast, etwas Großes, Bedrohliches aus einem der Seitenkorridore rollen zu sehen. Aber es kam nichts.
Es gab nur Schatten und Kobaltkugeln und blaues Schweigen.
»Wir können hier nicht stehenbleiben«, sagte Gwen.
Sie hatte wie er mit dem Flüstern aufgehört. Wenn Bretan Braith und seine Kumpane jedes Wort hören konnten, das sie sprachen, gab es sicher auch ein Dutzend anderer Möglichkeiten, sie ausfindig zu machen. Wenn das stimmte, stand ihre Sache hoffnungslos. Flüstern war dann eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme. »Der Gleiter ist nur zwei Stockwerke entfernt«, sagte sie.
»Vielleicht sind die Braiths auch nur zwei Stockwerke entfernt«, erwiderte Dirk. »Selbst wenn es nicht so ist, müssen wir den Gleiter meiden. Sie wissen sicher von ihm und erwarten, daß wir ihn auf schnellstem Wege aufsuchen. Womöglich hat Bretan deshalb seine kleine Ansprache gehalten. Um uns ins Freie zu treiben, damit wir zur leichten Beute werden. Wahrscheinlich warten draußen seine Festhaltbrüder darauf, uns vor den Laser zu bekommen.« Nachdenklich hielt er inne. »Aber hier können wir auch nicht bleiben.«
»Nicht in der Nähe unseres Zimmers«, sagte sie. »Die Stimme wußte, wo wir waren, und Bretan könnte es auch herausfinden. Wir müssen aber in der Stadt bleiben, da hast du recht.« »Dann verstecken wir uns«, sagte Dirk.
»Aber wo?« Gwen zuckte die Achseln. »Hier, da oder dort. Die Stadt ist groß, wie Bretan sehr richtig bemerkt hat.«
Gwen kniete sich rasch nieder und durchstöberte ihre Tasche. Die lästigen Kleidungsstücke warf sie sämtlich hinaus, behielt jedoch die Ausrüstung und den Sensorenkoffer. Dirk schlüpfte in den schweren Mantel, den Ruark ihm gegeben hatte und ließ alles andere liegen. Dann gingen sie in die Richtung des äußeren Boulevards. Gwen wollte so schnell wie möglich aus der Umgebung ihres Zimmers verschwinden, und keiner von beiden hatte große Lust, eine Fahrt mit den Aufzügen zu riskieren.
Die Lichter über dem breiten Boulevard strahlten noch immer hell und weiß, und die Gleitbänder summten gleichförmig. Die Straße, die einem gigantischen Korkenzieher glich, schien über eine autonome Energieversorgung zu verfügen. »Hinauf oder hinunter?« fragte Dirk. Gwen schien nicht zuzuhören. Sie lauschte auf etwas anderes. »Still«, sagte sie. Ihr Mund zuckte.
Dann hörte es auch Dirk. Außer dem gleichmäßigen Summen der Gleitwege war noch ein anderes Geräusch auszumachen, entfernt zwar, aber unverkennbar.
Ein Heulen! Es kam aus dem Gang hinter ihnen, dessen war sich Dirk ziemlich sicher. Es drang wie ein kühler Atem aus der warmen, blauen Stille, und es schien länger in der Luft zu hängen als es sollte. Gedämpfte, weit entfernte Rufe folgten unmittelbar darauf. Alles war ruhig. Gwen und Dirk sahen einander an, standen mucksmäuschenstill und lauschten. Wieder erscholl das Geheul, jetzt lauter, deutlicher und diesmal auch ein wenig widerhallend. Es war ein wütendes Heulen, langgezogen und schrill.
»Braithhunde«, sagte Gwen mit festerer Stimme, als man in dieser Situation erwarten konnte.
Dirk erinnerte sich an das Tier, das er auf seinem Gang durch die Straßen Larteyns gesehen hatte — jenen ponygroßen Hund, der beim Näherkommen knurrte, jene Kreatur mit der haarlosen Rattenschnauze und den kleinen roten Augen. Besorgt blickte er den Korridor hinter ihnen entlang, aber in den Kobaltschatten war keine Bewegung zu erkennen. Die Geräusche wurden lauter, kamen näher. »Runter«, sagte Gwen, »und zwar schnell.« Dirk benötigte keine Extraeinladung. Sie eilten über den breiten Boulevard auf den Mittelstreifen zu und sprangen auf das langsamste der abwärtsführenden Gleitbänder. Dann bewegten sie sich nach innen, wobei sie von Band zu Band hüpften, bis sie auf dem schnellsten angekommen waren. Gwen setzte ihre Geländeausrüstung ab und öffnete den Sensorenkoffer.
Während Dirk sich über sie gebeugt und eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, kramte sie sich durch den Inhalt. Er sah die Stockwerknummern vorübergleiten.
Schwarze Wachtposten vor den dunklen Eingeweiden, die zu den inneren Korridoren der Stadt führten. Die Nummern huschten in regelmäßigen Abständen vorbei und wurden dabei immer niedriger.
Sie hatten gerade die Zahlen um 490 erreicht, als sich Gwen erhob und Dirk einen faustgroßen Zylinder aus blauem Metall zeigte. »Zieh dich aus«, sagte sie. »Was?«
»Zieh dich aus«, wiederholte sie. Als Dirk sie nur verwirrt ansah, schüttelte sie ungeduldig den Kopf und tippte ihm mit dem Zylinder gegen die Brust.
»Antigeruch«, erklärte sie. »Arkin und ich benutzen das im Wald. Bevor wir hinausgehen, sprühen wir uns ein.
Unser Körpergeruch wird vier Stunden lang neutralisiert.
Hoffentlich verlieren die Hunde dadurch unsere Spur.«
Dirk nickte und begann seine Kleider abzulegen. Als er nackt war, forderte ihn Gwen auf, sich mit gespreizten Beinen hinzustellen und die Arme über den Kopf zu heben. Sie berührte ein Ende des Metallzylinders. Aus dem anderen Ende sprühte ein feiner grauer Nebel, der auf seiner bloßen Haut kitzelte. Während sie ihn von vorn und hinten, von Kopf bis Fuß behandelte, fror er und kam sich dumm und sehr verwundbar vor. Dann kniete sie sich hin und sprühte auch seine Kleider sorgfältig ein. Nur den schweren Mantel, den er von Ruark hatte, legte sie achtsam beiseite und ließ in unbehandelt. Als sie fertig war, zog sich Dirk wieder an — seine Kleider fühlten sich trocken und wirkten durch die pulvrigen Rückstände des Sprays staubig —, während Gwen sich auszog und sich dann von ihm einsprühen ließ.
»Was ist mit dem Mantel?« fragte er, als sie wieder in ihre Kleider schlüpfte. Sie hatte nichts unbesprüht gelassen: den Sensorenkoffer, die Geländeausrüstung, ihren Jade-und-Silber-Armreif — bis auf Arkins braunen Patchworkmantel. Dirk stieß ihn mit der Stiefelspitze an.
Gwen hob ihn auf und schleuderte ihn über das Geländer auf das schnelle Band eines nach oben führenden Gleitweges. Sie blickten ihm nach, bis er außer Sicht war. »Du brauchst ihn nicht«, sagte Gwen, als der Mantel verschwunden war. »Vielleicht lockt er das Rudel in die falsche Richtung. Die Hunde sind uns sicher bis zum Boulevard gefolgt.«
Dirk blickte skeptisch drein. »Mag sein«, sagte er mit einem Seitenblick auf die innere Wand. Stockwerk 472 kam und verschwand. »Ich denke, wir sollten hinunter«, sagte er plötzlich. »Weg vom Boulevard.« Gwen sah ihn fragend an. »Du hast es selbst gesagt«, meinte er. »Wer hinter uns ist, hat uns wahrscheinlich bis zum Boulevard verfolgt. Falls sie schon auf dem Weg nach unten sind, wird sie mein Mantel nicht sehr verwirren. Sie sehen ihn heraufkommen und lachen sich halb tot.« Sie lächelte.
»Du hast recht. Aber es war einen Versuch wert.«
»Gehen wir also davon aus, daß sie uns nach unten folgen …« »Wir haben jetzt einen guten Vorsprung herausgeholt«, unterbrach sie ihn. »Eine ganze Hundemeute bekommen sie nie auf ein Gleitband, das heißt also, sie werden uns zu Fuß folgen.«
»So? Dennoch ist der Boulevard nicht sicher, Gwen.
Sieh mal, Bretan kann nicht bei denen dort oben sein. Er ist unten in den Tiefgeschossen. Meinst du, daß Chell bei den Hunden ist?«
»Nein. Ein Kavalare jagt mit seinem teyn. Sie trennen sich nicht.« »Das habe ich mir auch gedacht. Also haben wir es mit einem Paar zu tun, das unter uns mit der Energieversorgung seine Spielchen treibt, und einem anderen, das uns im Nacken sitzt. Wie viele andere sind hinter uns her? Weißt du das vielleicht?« »Nein.«
»Es sind bestimmt mehrere. Und selbst wenn es nicht so ist, sollten wir vom ungünstigsten Fall ausgehen und von hier verschwinden. Wenn sich noch andere Braiths in der Stadt herumtreiben und mit den Jägern in Kontakt sind, werden die letzteren den Stand der Jagd durchgeben. Wer weiß, ob die anderen dann nicht den Boulevard abriegeln!« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Das glaube ich nicht. Jagdgruppen arbeiten nur selten zusammen. Jedes Paar will selbst zu Abschüssen kommen. Verdammt, ich wünschte, ich hätte eine Waffe!«
Dirk ignorierte ihren letzten Satz. »Wir sollten es nicht darauf ankommen lassen«, meinte er. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da begannen die hellen Lampen über ihnen zu flackern und schließlich zu verwaschenen grauen Flecken zu werden. Gleichzeitig ruckte das Gleitband unter ihnen und wurde langsamer. Gwen stolperte.
Dirk fing sie auf und hielt sie in den Armen. Das langsamste Band stoppte zuerst, dann das Band daneben und schließlich jenes, auf dem sie standen. Gwen zitterte und sah zu ihm auf. Dirk drückte sie noch enger an sich.
Aus der Nähe und der Wärme ihres Körpers zog er die so verzweifelt benötigte Geborgenheit.
Unter ihnen — Dirk hätte schwören können, daß dieses Geräusch von unten kam, aus der Richtung, in die sie das Transportband getragen hatte —, nicht allzuweit entfernt, gellte ein kurzer schriller Schrei. Gwen befreite sich aus seinen Armen. Sie sagten beide kein Wort, sondern hasteten stumm über die im Schatten liegenden, leeren Fahrbahnen hinweg auf den Durchgang zu, der vom gefährlichen Boulevard hinweg zu den Korridoren führte.
Als sie aus dem grauen Halbdunkel in das blaue Schattenreich traten, warf Dirk einen kurzen Blick auf die Stockwerkzahl: 468. Nun schluckten die Teppiche wieder alle Geräusche, und sie begannen zu laufen.
Schnell rannten sie den ersten Gang hinunter, um danach wieder und wieder die Richtung zu wechseln. Manchmal bogen sie nach links ab, manchmal nach rechts, aber immer willkürlich und ohne System. Sie rannten, bis sie außer Atem waren. Dann hielten sie erschöpft inne und sanken unter dem dämmrigen Licht einer bläulichen Kugel auf den Teppichboden.
»Was war das?« fragte er schließlich, als er wieder zu Atem gekommen war.
Gwen keuchte noch immer unter der Anstrengung, die hinter ihnen lag. Es war ein langer Weg gewesen. Auf allen vieren hockend, versuchte sie, mit dem Kopf nach unten, durchzuatmen. Stumm geweinte Tränen malten nasse Bahnen in ihr Gesicht. »Was glaubst du, was es war?« brachte sie endlich mühevoll hervor. »Das war ein Spottmensch, der dort geschrien hat.«
Dirk öffnete den Mund und schmeckte Salz. Er berührte die Nässe auf seinen eigenen Wangen und fragte sich, wie lange er schon weinte. »Also doch noch mehr Braiths«, flüsterte er.
»Unter uns«, sagte sie. »Und sie haben ein Opfer gefunden. Verdammt, verdammt, verdammt nochmal!
Wir haben sie hierher geführt, wir sind daran schuld. Wie konnten wir nur so dumm sein? Jaan hatte immer Angst davor, daß sie mit der Jagd in den Städten beginnen würden.« »Sie haben schon gestern Jagd auf die Schwarzweiner Puddingkinder gemacht«, versuchte Dirk abzuschwächen. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie hierherkommen würden. Sei nicht ganz so …« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, das vor Wut verzerrt war. Ihre Wangen glänzten naß. »Was?« stieß sie hervor. »Du glaubst, wir seien nicht dafür verantwortlich? Wer denn sonst? Bretan Braith ist dir gefolgt, Dirk. Warum sind wir hierhergekommen? Wir hätten nach dem Zwölften Traum, Musquel oder Esvoch fliegen können. Verlassene Städte. Keinem wäre ein Leid geschehen. Jetzt werden die Emereli… Was sagte die Stimme, wie viele Einwohner es hier noch gibt?« »Ich erinnere mich nicht.
Ungefähr vierhundert, denke ich.« Er versuchte, den Arm um sie zu legen und sie an sich zu ziehen, aber sie schüttelte ihn ab und starrte ihn an.
»Es ist unser Fehler«, warf sie ihm vor. »Wir müssen etwas unternehmen.«
»Wir können höchstens versuchen, am Leben zu bleiben, das ist alles«, sagte er. »Du darfst nicht vergessen, sie sind hinter uns her. Wir können uns nicht auch noch um andere kümmern.«
Gwen blickte in unablässig an. In ihren Augen lag … ja, was? Verachtung vielleicht, dachte Dirk. Ihr Blick jagte ihm einen Schreck ein. »Es ist nicht so, wie du es darstellst«, hielt sie ihm entgegen. »Kannst du eigentlich mal an jemand anders denken als nur an dich?
Verdammt, Dirk — wir haben wenigstens den Geruchsneutralisator auf unserer Seite. Die Emereli haben überhaupt nichts. Keine Waffen, keinen Schutz.
Sie sind Spottmenschen, jagdbares Wild. Wir müssen etwas tun!«
»Und was? Selbstmord begehen? Ist das vielleicht etwas? Du wolltest mich heute morgen nicht gegen Bretan antreten lassen, aber jetzt…« »Ja! Jetzt müssen wir. Auf Avalon hättest du nicht so gesprochen«, sagte sie mit lauter werdender Stimme, bis sie beinahe schrie.
»Damals warst du anders. Jaan würde nicht …«
Plötzlich wurde sie sich ihrer Worte bewußt und verstummte. Dann sah sie fort und begann zu schluchzen.
Dirk verhielt sich ganz ruhig. »Das ist es also«, sagte er nach einer Weile. »Jaan würde nicht an sich denken, richtig? Jaan würde den Helden spielen.« Gwen sah ihn wieder an. »Das würde er — du weißt es.« Er nickte. »Ja, er würde es tun. Früher hätte ich das vielleicht auch getan. Mag sein, daß du recht hast. Vielleicht habe ich mich verändert. Ich kann es nicht mehr beurteilen.« Er fühlte sich krank, müde und besiegt. Er schämte sich.
Seine Gedanken kreisten immer wieder um dasselbe Problem. Sie hatten beide recht, dachte er. Sie hatten die Braiths nach Challenge gelockt und ihnen Hunderte von unschuldigen Opfern ausgeliefert. Gwen hatte recht, die Schuld lag bei ihnen. Aber auch er war im Recht. Jetzt konnten sie nichts mehr tun, absolut nichts. Es mochte egoistisch klingen, aber es war die traurige Wahrheit.
Gwen ließ ihren Tränen ungehemmten Lauf. Noch einmal legte er den Arm um sie. Diesmal ließ sie ihn gewähren und reagierte nicht ablehnend auf seine Tröstungsversuche. Aber während er ihr langes schwarzes Haar streichelte und gegen seine eigenen Tränen ankämpfte, war ihm die ganze Zeit hindurch bewußt, daß es nicht gut war und überhaupt nichts nützte. Die Braiths jagten und töteten — er vermochte sie nicht aufzuhalten.
Er mußte froh sein, wenn er sich selbst retten konnte.
Wirklich, er war nicht mehr jener alte Dirk, der Dirk von Avalon. Und die Frau in seinen Armen war nicht Jenny.
Beide waren sie nur Freiwild.
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Ja«, sagte er laut. Unsicher kam er auf die Füße und zog die verdutzte Gwen mit hoch. »Dirk?«
»Wir können etwas ausrichten«, sagte er und führte sie auf die nächste Zimmertür zu. Sie ließ sich leicht öffnen.
Dirk ging zum Wandschirm vor dem Bett. Die Zimmerbeleuchtung funktionierte nicht, die einzige Lichtquelle war das schwache blaue Rechteck, das durch den Türrahmen fiel. Dort stand Gwen, eine triste, dunkle Silhouette.
Dirk konnte nur hoffen, etwas anderes blieb ihm nicht.
Er aktivierte den Wandschirm. Danach atmete er freier.
Er wandte sich Gwen zu. »Was willst du tun?« fragte sie.
»Sag mir eure Rufnummer in Larteyn.«
Sie verstand. Langsam nickte sie und nannte ihm die Ziffern, die er eine nach der anderen einspeiste. Das flackernde Rufsignal beleuchtete den Raum. Dann verschwand es, und die Lichtmuster formten sich zu den kantigen Gesichtszügen Jaan Vikarys.
Niemand sprach. Gwen trat aus dem Hintergrund hervor und stellte sich neben Dirk, eine Hand auf seiner Schulter. Schweigend musterte Vikary das Paar. Einen Augenblick lang hatte Dirk Angst, er würde einfach abschalten und sie ihrem Schicksal überlassen.
Stattdessen sprach er Dirk an. »Sie waren ein Festhaltbruder. Ich habe Ihnen vertraut.« Dann sah er auf Gwen. »Und dich habe ich geliebt.« »Jaan …« sagte sie schnell, dabei weich und mit so leisem Flüsterton, daß Vikary sie kaum gehört haben konnte. Dann hielt sie inne, wandte sich um und ging rasch aus dem Zimmer.
Noch immer hielt Vikary die Verbindung aufrecht.
»Wie ich sehe, sind Sie in Challenge. Warum haben Sie mich angerufen, t’Larien? Sie wissen doch, was wir jetzt tun müssen, mein teyn und ich?« »Ich weiß es«, sagte Dirk. »Und ich riskiere es. Ich muß es Ihnen einfach mitteilen. Die Braiths sind uns irgendwie gefolgt, wie, das weiß ich auch nicht. Wir hätten niemals geglaubt, daß sie uns aufspüren würden. Aber sie sind hier. Bretan Braith Lantry hat den Stadtcomputer abgeschaltet und scheint den größten Teil der restlichen Einrichtungen zu kontrollieren. Die anderen sind mit Jagdmeuten hier. Sie sind in den Gängen.« »Ich verstehe«, sagte Vikary. Eine seltsame, undeutbare Gefühlsregung zeigte sich auf seinem Gesicht. »Die Einwohner?« Dirk nickte. »Werden Sie kommen?«
Vikary lächelte schwach, beinahe ironisch. »Sie bitten mich um Hilfe, Dirk t’Larien?« Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich sollte mich nicht über Sie lustig machen. Sie bitten nicht für sich selbst. Sie bitten für die anderen, die Emereli. Garse und ich werden kommen.
Wir bringen unsere Anstecknadeln mit und machen jeden zum korariel von Eisenjade, den wir vor den Jägern finden können. Dennoch wird es seine Zeit dauern, vielleicht zu lange. Viele werden sterben. Ein Wesen, Mutter genannt, starb gestern in einer anderen Stadt, im sogenannten Sternenlosen Teich. Die Puddingkinder … kennen Sie die Schwarzweiner Puddingkinder?«
»Ja, ich habe von ihnen gehört.«
»Sie brachen aus ihrer Mutter hervor, um sich eine andere zu suchen … und konnten keine finden. Während sie Jahrzehnte in ihrem riesigen Wirtskörper lebten, fingen andere von ihrer Welt das Wesen und brachten es von der Welt des Schwarzweinozeans nach Worlorn.
Dort ließen sie es im Stich. Zwischen den Puddingkindern und den anderen Schwarzweinern, die nicht ihrem Kult angehören, bestehen nicht die besten Beziehungen. Einhundert von ihnen taumelten herum, überrannten ihre Stadt, füllten sie über Nacht mit Leben und wußten nicht, wo sie sich befanden und warum man sie hergebracht hatte. Die meisten waren alt, sehr alt. Aus Furcht begannen sie ihre Totenstadt zu wecken -und so wurde Roseph Hoch-Braith auf sie aufmerksam. Ich tat, was ich konnte, und ich beschützte manche. Da dies aber Zeit in Anspruch nahm, wurden viele von den Braiths gefunden. In Challenge wird es ähnlich sein. Diejenigen, die auf die Korridore hinauslaufen und davonrennen, werden gejagt und zur Strecke gebracht, bevor mein teyn und ich helfen können. Verstehen Sie?« Dirk nickte.
»Es genügt nicht, mich anzurufen«, sagte Vikaty. »Sie müssen selbst eingreifen. Bretan Braith Lantry will Sie, Sie und keinen anderen. Er wird Ihnen sogar ein Duell zugestehen. Die anderen wollen Sie nur als Spottmenschen jagen, aber auch von ihnen werden Sie bedeutend höher als anderes Wild eingestuft. Gehen Sie hinaus, verlassen Sie Ihr Versteck, t’Larien. Für die sich versteckenden Emereli wird dieser Zeitgewinn sehr wichtig sein.«
»Ich verstehe«, sagte Dirk. »Sie wollen, daß Gwen und ich …« Vikary zog sich sichtlich zurück. »Nein, nicht Gwen.«
»Dann ich allein. Sie wollen, daß ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehe? Ohne Waffe?«
»Sie haben eine Waffe«, entgegnete Vikary. »Sie haben sie selbst gestohlen und dadurch Eisenjade beleidigt. Ob Sie diese Waffe anwenden wollen oder nicht, liegt einzig bei Ihnen. Ich verlasse mich nicht darauf, daß Sie die richtige Wahl treffen. Ich habe mich schon einmal auf Sie verlassen. Ich sage es Ihnen nur. Noch etwas anderes, t’Larien. Was Sie auch tun oder unterlassen werden, es ändert sich nichts zwischen uns. Dieser Anruf ändert nichts. Sie wissen, was wir tun müssen.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt«, sagte Dirk. »Ich sage es ein zweites Mal. Ich will, daß Sie sich daran erinnern.« Vikary machte ein finsteres Gesicht. »Und jetzt werde ich gehen. Der Flug nach Challenge ist lang, lang und kalt.« Bevor Dirk eine Antwort finden konnte, wurde der Schirm dunkel. Draußen, neben der Tür, lehnte Gwen an der teppichüberzogenen Wand und wartete. Ihr Gesicht hatte sie in den Händen vergraben. Als Dirk heraustrat, richtete sie sich auf. »Kommen sie?« fragte sie. »Ja.«
»Es tut mir leid, daß ich hinausgerannt bin. Ich konnte ihm nicht gegenübertreten.« »Das macht nichts.«
»Doch.«
»Nein«, sagte er scharf. Sein Magen schmerzte.
Entfernte Schreie hallten in seinen Gedanken wider. »Es macht nichts. Du hast vorher zum Ausdruck gebracht… wie du fühlst.«
»So?« Sie lachte. »Wenn du weißt, wie ich mich fühle, weiß du mehr als ich, Dirk.«
»Gwen, ich habe … Nein, hör mal, es spielt keine Rolle.
Du hattest recht. Wir müssen … Jaan sagte, wir hätten eine Waffe.« Sie runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Denkt er, ich hätte mein Bolzengewehr mitgenommen? Oder was?«
»Nein, ich glaube nicht. Er sagte nur, wir seien im Besitz einer Waffe, die wir selbst entwendet hätten, wodurch Eisenjade eine Beleidigung zugefügt worden wäre.«
Sie schloß die Augen. »Was?« sagte sie. »Natürlich!«
Ihre Augen öffneten sich wieder. »Der Gleiter! Er ist mit Laserkanonen ausgerüstet. Das muß es sein, was er meinte! Aber sie sind nicht feuerbereit, wahrscheinlich nicht einmal angeschlossen. Die meiste Zeit habe ich diesen Gleiter benutzt, und Garse …«
»Schon gut. Aber glaubst du, die Laser könnten in Ordnung gebracht werden?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber was sollte Jaan sonst gemeint haben?«
»Die Braiths mögen den Gleiter natürlich schon entdeckt haben«, sagte Dirk leidenschaftslos, »aber wir müssen diese Chance wahrnehmen. Verstecken können wir uns sowieso nicht — sie werden uns finden. Falls mein Anruf in Larteyn irgendwo dort unten registriert wurde, kann Bretan schon auf dem Weg hierher sein. Nein, wir gehen zum Gleiter zurück. Das werden sie nicht erwarten, wenn sie uns auf dem Boulevard abwärts gefolgt sind.«
»Der Gleiter befindet sich zweiundfünfzig Stockwerke über uns«, stellte Gwen fest. »Wie sollen wir das schaffen? Wenn Bretan tatsächlich die Energieversorgung kontrolliert, wie wir befürchten, dann hat er mit Sicherheit die Aufzüge lahmgelegt. Und er hat die Gleitbänder angehalten.«
»Er wußte, daß wir die Gleitbänder benutzten«, bemerkte Dirk. »Oder zumindest, daß wir uns auf dem Boulevard befanden. Unsere Verfolger teilten es ihm mit.
Sie stehen miteinander in Kontakt, Gwen. Es gibt keine andere Erklärung, die Bänder stoppten im passenden Augenblick. Aber das macht es leicht.« »Leicht? Was?«
»Ihre Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen«, sagte er, »sie auf unsere Fährte zu locken, um die gottverdammten Emereli zu retten. Das will Jaan doch von uns. Ist es nicht das, was du auch willst?« Seine Stimme klang schrill.
Gwen erbleichte ein wenig. »Nun …«, sagte sie.
»Sicher.« »Dann hast du gewonnen. Wir werden es tun.«
Nachdenklich fragte sie: »Nehmen wir die Aufzüge?
Falls sie noch in Betrieb sind?«
»Denen können wir nicht trauen«, widersprach Dirk, »selbst dann nicht, wenn sie noch eingeschaltet sind.
Stell dir mal vor, Bretan setzt sie außer Betrieb, wenn wir unterwegs sind!«
»Von Treppen habe ich nie etwas gehört«, sagte sie.
»Und ohne die Stimme finden wir sie auch nicht, selbst wenn es sie geben sollte. Wir können den Boulevard hinaufgehen, aber …«
»Mindestens zwei Jagdgruppen der Braiths machen den Boulevard unsicher. Wahrscheinlich noch mehr. Nein.«
»Was dann?« »Was bleibt noch übrig?« sagte er stirnrunzelnd. »Der Zentralschacht.«
Dirk lehnte sich über das schmiedeeiserne Geländer. Er sah hinauf und dann nach unten, und ihm wurde schwindelig. Der Zentralschacht schien sich in beiden Richtungen schier endlos zu erstrecken. Vom Fuß bis zur Spitze waren es nur zwei Kilometer, wie er wohl wußte, aber alles daran vermittelte das Gefühl unendlicher Entfernung. Die aufsteigende Warmluft, die federleichten Teilchen Auftrieb verlieh, füllte den dröhnenden Schacht mit grauweißem Nebel, und die Balkone, die Stockwerk über Stockwerk den Rand bildeten, sahen alle gleich aus und erweckten ein Gefühl unendlicher Wiederholung.
Gwen hatte ein kleines, silbern schimmerndes Metallinstrument aus dem Sensorenkoffer genommen.
Neben Dirk trat sie an das Geländer und warf es mit leichtem Schwung in den Schacht. Beide sahen zu, wie es hinaussegelte, sich dabei überschlug und reflektiertes Licht aufblitzen ließ. Es schwebte ungefähr bis zur Mitte des Abgrunds, bevor es langsam, sanft, halb getragen von der aufsteigenden Luft, zu fallen begann, ein tanzender Metallsplitter im künstlichen Sonnenlicht. Eine Ewigkeit lang sahen sie ihm nach, bis es in der grauen Tiefe unter ihnen verschwunden war. »Na ja«, meinte Gwen, nachdem sie es aus den Augen verloren hatten, »wenigstens funktioniert die Antigravitation noch.« »Ja.
Bretan kennt die Stadt nicht. Jedenfalls nicht gut genug.«
Dirk sah wieder nach oben. »Ich denke, wir sollten es wagen. Wer geht als erster?«
»Bitte nach Ihnen«, meinte Gwen und lächelte.
Dirk öffnete das Balkontor und trat ganz bis zur Wand zurück. Ungeduldig wischte er sich eine Locke aus den Augen, zuckte mit den Schultern, rannte los und stieß sich vom Rand so kräftig wie möglich ab. Der Sprung trug ihn hinaus und hoch, hoch. Einen verrückten Moment lang glaubte er zu fallen, und sein Magen krampfte sich zusammen. Aber dann riß er die Augen auf, sah und fühlte. Nun war es nicht mehr wie Fallen, es war Fliegen, Schweben. Ausgelassen begann er zu lachen, streckte die Arme über seinem Kopf aus und brachte sie mit kräftigem Zug an seinen Körper heran.
Schneller werdend, schwamm er höher. Leere Balkonreihen glitten vorbei: eine Etage, zwei, fünf.
Früher oder später würde er zu sinken beginnen und eine langsam absteigende Kurve in die grau verhüllte Ferne hinein beschreiben. Aber er würde kaum Zeit zum Fallen haben. Die andere Seite des Zentralschachts war nur dreißig Meter entfernt, ein einfacher Sprung durch die papierdünnen Ketten der hier herrschenden Minischwerkraft.
Schließlich kam die konkave Wand näher, und er prallte, sich überschlagend und grotesk aufwärtstaumelnd, vom schwarzen Eisengeländer ab, bevor er eine Strebe des Balkons darüber zu fassen bekam. Er hatte den Zentralschacht durchquert und elf Stockwerke Höhe gewonnen. Lächelnd und merkwürdig angeregt, setzte er sich und sammelte Kraft für einen zweiten Sprung, während er beobachtete, wie Gwen es ihm nachtat. Sie flog wie ein seltsamer, aber anmutiger Vogel. Ihr Haar schimmerte wie schwarze Seide hinter ihr, als sie dahinschwebte und ihn um zwei Stockwerke schlug. Als er die 520. Etage erreichte, hatte Dirk überall am Körper Prellungen, weil er so oft gegen die eisernen Geländer gestoßen war. Dennoch fühlte er sich recht gut.
Am Ende seines sechsten schwindelerregenden Sprunges über die gähnende Tiefe hinweg hätte er sich beinahe geweigert, den Zielbalkon zu betreten und zur normalen Schwerkraft zurückzukehren. Gwen wartete schon auf ihn. Den Sensorenkoffer und die Geländeausrüstung hatte sie auf den Rücken geschnallt. Sie gab ihm die Hand und half ihm über das Geländer. Dann gingen sie hinaus auf den breiten Korridor, der den Zentralschacht umrundete.
An Kreuzungen, wo lange, gerade Passagen wie die Spei-chen eines großen Rades vom Stadtkern fortführten, schienen Leuchtkugeln im nun schon vertrauten trüben Blau. Willkürlich wählten sie eine der Abzweigungen und begannen schnell auf den äußeren Rand der Stadt zuzugehen. Der Weg war länger, als Dirk es für möglich gehalten hätte, und führte an zahlreichen anderen Schnittpunkten vorbei. Bei vierzig hörte er zu zählen auf.
Alle glichen wie ein Ei dem anderen. Es ging vorbei an schwarzen Türen, die sich nur durch ihre Nummerierung unterschieden. Weder er noch Gwen sprachen. Das gute Gefühl, das Dirk während der Ekstasen des schwerelosen Fluges überkommen hatte, verließ ihn auf dem Weg durch die trübe Finsternis so schnell, wie es gekommen war. Schwache Anzeichen von Furcht regten sich in ihm.
Seine Ohren gaukelten ihm Phantomgeräusche vor, leises Geheul und gedämpfte Schritte von Verfolgern, seine Augen ließen aus den weiter entfernten Kugellampen fremdartige, schreckliche Gestalten wachsen und glaubten in jeder Kobaltdecke bedrohliche Schatten auszumachen. Aber sie trafen auf nichts. Es waren nur seine Sinne, die ihm diese Streiche spielten.
Doch die Braiths waren hiergewesen. Nahe am äußeren Rand von Challenge, dort, wo der Diagonalgang auf den Boulevard stieß, fanden sie einen der ballonbereiften Wagen, in denen die Stimme ihre Gäste spazieren zu fahren pflegte. Er war leer und lag umgekippt zur einen Hälfte auf dem blauen Teppichboden, zur anderen Hälfte auf dem glatten, kalten Kunststoff, mit dem der Boulevard säuberlich überzogen war. Als sie ihn erreichten, hielten sie an. Gwen sah Dirk ohne Kommentar in die Augen. Wenn er sich recht erinnerte, hatten diese Wagen keine Handsteuerung, sondern wurden ferngesteuert. Und hier lag einer bewegungslos auf der Seite. Er bemerkte noch etwas anderes. Neben dem einen Hinterrad befand sich eine nasse, übelriechende Stelle auf dem blauen Teppichboden …
»Komm schon«, flüsterte Gwen. In der Hoffnung, daß die Braiths, die sich vor kurzem hier aufgehalten hatten, außer Hörweite waren, überquerten sie den verlassenen Boulevard. Luftschleuse und Gleiter waren nun in unmittelbarer Nähe. Nur eine grausame Ironie des Schicksals konnte sie so kurz vor dem Ziele noch scheitern lassen. Aber Dirk kam es vor, als hallten ihre Schritte schrecklich laut auf der nackten Oberfläche des Boulevards. Mit Sicherheit hörte man sie überall in dem riesigen Gebäude. Selbst Bretan Braith im tiefsten Keller, Kilometer unter ihnen, würden die Schritte nicht verborgen bleiben. Als sie den Fußgängerüberweg erreichten, der die stillgelegten Gleitbänder überbrückte, begannen beide zu rennen. Dirk war sich nicht sicher, ob er plötzlich losgestürmt war. Eben gingen sie noch nebeneinander und versuchten, so schnell wie möglich voranzukommen, ohne dabei allzu laute Geräusche zu verursachen — und im nächsten Augenblick rannten sie beide los.
Hinter dem Boulevard — nackter Korridor, zwei Richtungswechsel, ein breites Tor, das ihren Öffnungsversuchen nicht nachgeben wollte. Schließlich warf sich Dirk mit seiner angeschlagenen Schulter dagegen. Das Tor und er ächzten protestierend, aber die Tür gab schließlich nach. Sie standen auf der Landeplattform des 520. Stocks. Die Nacht war kalt und dunkel. Sie konnten Worlorns unvermeidlichen Wind hören, wie er winselnd um den Emereliturm herumpfiff.
Ein einziger heller Stern leuchtete in dem breiten flachen Rechteck, das die Schleuse aus dem Himmel dieser Außenwelt schnitt. Es war dunkel, draußen wie drinnen.
Kein Licht flammte auf, als sie eintraten.
Aber der Gleiter war noch an Ort und Stelle.
Zusammengekauert wie ein Lebewesen stand er in der Dunkelheit, ganz wie ein Banshee, dem er ähneln sollte.
Und kein Braith bewachte ihn.
Gwen schnallte Sensorenkoffer und Geländeausrüstung ab und warf beides auf den Rücksitz, wo noch immer die Himmelsflitzer lagen. Dirk stand daneben und sah ihr frierend zu. Die Luft an diesem Abend war unangenehm kühl, Ruarks Überwurf hätte er jetzt gut gebrauchen können.
Gwen bediente ein Instrument am Armaturenbrett, und ein Teil der Karosserie des Manta öffnete sich. Dann ging sie um den Gleiter herum und knipste eine Lampe an, die sich an der Unterseite der Haube befand. In dem schwachen Lichtschein sah Dirk, daß sich dort auch Werkzeug in Stecktaschen befand.
Gwen stand im gelben Lichtkegel und studierte die komplizierte Maschinerie des kavalarischen Fahrzeugs.
Dirk trat neben sie.
Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie mit müder Stimme. »Es wird nicht gehen.«
»Vielleicht können wir vom Antischwerkraftgenerator Energie abzweigen«, schlug Dirk vor. »Werkzeug ist vorhanden.« »Ich verstehe nicht genug davon«, sagte sie.
»Ein bißchen nur … Ich hatte gehofft, herausfinden zu können … Ach, ich kann es nicht. Es ist nicht nur eine Frage der Energie. Die Flügellaser sind noch nicht einmal angeschlossen. Viel mehr als ornamentale Zierstücke sind sie in diesem Zustand nicht.« Fragend sah sie Dirk an. »Ich nehme nicht an, daß du … ?«
»Nein«, sagte er.
Sie nickte. »Dann haben wir keine Waffe.«
Dirk starrte an dem Manta vorbei auf Worlorns leeren Himmel. »Wir könnten von hier wegfliegen.«
Gwen klappte die Haube zu, und der dunkle Banshee sah wieder so wild aus wie zuvor. Ihre Stimme klang niedergeschlagen. »Nein! Denk daran, was du gesagt hast. Draußen werden die Braiths warten. Ihre Gleiter starren vor Waffen. Wir hätten keine Chance. Nein.« Sie ging um Dirk herum und stieg in den Gleiter ein.
Nach einer Weile folgte er ihr. Beim Hinsetzen achtete er darauf, daß er weiterhin den kalten Stern am einsamen Nachthimmel beobachten konnte. Er war sich seiner Müdigkeit bewußt und wußte auch, daß sie nicht allein körperlicher Art war. Als sie nach Challenge gekommen waren, hatten ihn seine Gefühle überschwemmt wie Wellen einen Strand. Aber plötzlich schien es ihm, als wäre der ganze Ozean verschwunden, der die .Wellen an den Strand geworfen hatte. »Ich glaube, du hattest vorhin im Korridor recht«, sagte er mit gedankenverlorener, introvertierter Stimme, ohne Gwen anzusehen. »Was meinst du?« fragte sie.
»Die Sache mit dem Egoismus … du weißt schon … wenn man kein weißer Ritter ist.« »Ein weißer Ritter?«
»Wie Jaan. Ich war vielleicht nie ein weißer Ritter, aber auf Avalon habe ich mich gern für einen gehalten. Ich habe an viele Dinge geglaubt. Jetzt kann ich mich nicht einmal mehr an sie erinnern. Außer an dich natürlich, Jenny. An dich habe ich immer gedacht. Und zwar, weil… nun, du weißt schon … In den letzten Jahren habe ich viele Dinge getan … Nichts Schlimmes, aber dennoch Dinge, die ich auf Avalon nicht getan hätte. Zynische Dinge, egoistische Sachen. Aber bis heute habe ich noch nie einen Menschen getötet.«
»Geißle dich nicht selbst, Dirk«, sagte sie. Auch in ihrer Stimme klang Müdigkeit mit. »Es führt zu nichts.«
»Ich will etwas tun«, sagte Dirk. »Ich muß. Ich kann nicht nur… weißt du? Du hattest recht!«
»Wir können nichts anderes tun als davonlaufen und sterben. Und dadurch ändert sich gar nichts. Wir haben keine Waffe.« Dirk lachte gequält. »Warten wir also, bis Jaan und Garse kommen und uns retten, und dann … Unsere Wiedervereinigung war nur von kurzer Dauer, nicht?«
Ohne eine Antwort zu geben, beugte sie sich nach vorn und legte Kopf und Arme auf das Armaturenbrett. Dirk warf ihr einen flüchtigen Blick zu und starrte dann wieder nach draußen. In seiner dünnen Kleidung fror er immer noch, aber irgendwie erschien ihm das nicht mehr wichtig.
Schweigend saßen sie in dem Manta. Bis Dirk sich schließlich umdrehte und ihr eine Hand auf die Schulter legte. »Die Waffe«, sagte er mit seltsam belustigter Stimme. »Jaan sagte, wir hätten eine Waffe.« »Die Laser im Gleiter«, meinte Gwen. »Aber …« »Nein«, sagte Dirk und grinste, »nein, nein, nein\« »Was könnte er sonst gemeint haben?«
Als Antwort schaltete Dirk das Antigravfeld des Gleiters an. Der graue Metallbanshee erwachte summend und hob sich leicht von den Boden- . platten. »Den Gleiter«, sagte er. »Den Gleiter selbst.« »Die Braiths draußen haben auch Gleiter«, sagte sie. »Bewaffnete Gleiter.«
»Ja«, sagte Dirk. »Aber Jaan und ich haben nicht über die Braiths draußen gesprochen. Wir sprachen über die Jagdgruppen in der Stadt, diejenigen, die sich auf dem Boulevard herumtreiben und Menschen umbringen!«
Ihr Lächeln verriet, daß sie begriffen hatte. »Ja«, sagte sie entschlossen und bediente ihre Instrumente. Der Manta röhrte auf, und zwei schlanke, helle Lichtkegel durchschnitten die Dunkelheit vor ihnen. Während das Fahrzeug einen halben Meter über dem Boden schwebte, schwang sich Dirk über den Flügel hinaus, ging zu dem eingedrückten Tor und benutzte seine schmerzende Schulter, um den zweiten Flügel weit genug aufzudrücken, damit dem Gleiter der Durchflug möglich wurde. Dann flog Gwen den Manta auf ihn zu, und er kletterte hinein.
Kurze Zeit später erreichten sie den Boulevard unweit des umgestürzten Wagens. Die hellen Scheinwerferkegel strichen über die ruhenden Gleitbänder und die längst verlassenen Läden, zeigten schließlich den langen Weg hinunter, der die schlanke Turmstadt Challenge umhüllte, bis er endlich den Boden erreichte.
»Es ist dir doch klar, daß wir uns auf der aufwärtsführenden Straße befinden«, bemerkte Gwen, »Der abwärtsführende Verkehr muß die andere Seite benutzen.« Sie zeigten über den Mittelstreifen hinaus.
»Nach den Normen von pi-Emerel ist das zweifellos verboten«, antwortete Dirk lächelnd. »Aber ich glaube nicht, daß die Stimme etwas dagegen einzuwenden hat.«
Gwen lächelte schwach zurück und berührte ihre Instrumente. Der Manta machte einen Satz nach vorn und nahm Geschwindigkeit auf. Immer schneller werdend, schoß der Gleiter ins graue Halbdunkel hinein. Rasch hatte sich Gwen auf die weitgeschwungene Spirale eingestellt, so daß sie kaum noch steuern mußte. Neben ihr starrte Dirk untätig auf die Etagennummern, während Korridor um Korridor hinter ihnen im Zwielicht verschwand.
Lange bevor sie etwas sahen, hörten sie die Braiths. Da war wieder dieses Heulen, das bellende Schreien, so wild, wie es Dirk noch nie von einem Hund gehört hatte, dazu verzerrt und noch unheimlicher durch den Widerhall auf dem Boulevard. Kaum hatte Dirk den ersten Laut der Meute vernommen, da schaltete er die Scheinwerfer des Gleiters ab. Fragend sah ihn Gwen an.
»Wir machen kaum Lärm«, sagte er. »Bei dem Geheul und sonstigem Krach werden sie uns wohl kaum so schnell hören. Wenn sie sich jedoch umdrehen, könnten sie das Licht hinter sich bemerken. Richtig?« »Richtig«, sagte sie. Nichts weiter. Sie konzentrierte sich ganz auf den Gleiter. In dem blaßgrauen Licht, das ihnen verblieb, wurde sie von Dirk beobachtet. Ihre Augen waren wieder aus Jade, hart und glänzend, so wütend, wie die von Garse Janacek manchmal aussehen konnten. Endlich hatte sie ihre Waffe — und die Menschenjäger waren irgendwo vor ihnen.
Kurz vor der 497. Etage kamen sie an verstreut herumliegenden Stoffetzen vorbei, die vom Sog des Gleiters aufgewirbelt wurden. Ein Stück, größer als die anderen, lag in der Mitte der Fahrbahn und bewegte sich kaum. Es waren die Überreste eines braunen Patchworkmantels. Voraus wurde das Geheul stärker, lauter.
Ein Lächeln umspielte eine Sekunde lang Gwens Lippen. Dirk sah es und staunte. Er erinnerte sich an seine sanfte Jenny von Avalon. Dann sahen sie die Gestalten, kleine schwarze Silhouetten auf dem spärlich beleuchteten Boulevard, die rasch zu Menschen und Hunden anschwollen, als der Manta auf sie zujagte. Fünf der großen Hunde trabten frei den Boulevard hinab und folgten einem sechsten, größeren Tier, das mit zwei schweren, schwarzen Ketten im Zaum gehalten wurde.
Zwei Männer hielten die Enden der Ketten und stolperten hinter dem Rudel her, das von dem mächtigen Leittier unbarmherzig mitgezogen wurde.
Sie wuchsen. Wie schnell sie wuchsen! Die Hunde hörten den Luftgleiter zuerst. Das Leittier warf den Kopf herum, und eine Kette wurde dem Braith aus der Hand gerissen. Drei der freien Rudelhunde blieben stehen, und ein vierter kam knurrend in langen Sätzen den Boulevard hochgehetzt, dem Gleiter entgegen. Die Männer schienen einen Augenblick lang verwirrt zu sein. Der eine im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte sich in der Kette verheddert, als der Rudelführer die Richtung wechselte.
Der andere hatte nichts mehr in der Hand und griff zur Hüfte.
Gwen schaltete die Scheinwerfer ein. Im Halbdunkel blendeten die Mantaaugen. Der Gleiter knallte in die Gruppe hinein. Dirks Eindrücke überstürzten sich. Ein langgezogener Heulton verwandelte sich plötzlich in einen Schmerzensschrei, der Aufschlag ließ den Manta erbeben. Wilde, rote Augen glühten entsetzlich nahe, ein Rattengesicht und gelbe Zähne, naß vor Geifer, dann wieder ein Aufschlag, erneutes Erzittern, ein Zubeißen.
Weitere Aufschläge, Übelkeit verursachende klatschende Geräusche, die an Fleisch erinnerten. Ein Schrei, ein sehr menschlicher Schrei, dann wurde ein Mann von den Scheinwerfern erfaßt. Es dauerte scheinbar eine Stunde, bis sie ihn erreichten. Er war groß und kräftig gebaut, in weite Hosen und in eine Jacke aus Chamäleonstoff gekleidet, die beim Näherkommen ihre Farbe zu wechseln schien. Dirk kannte ihn nicht. Der Mann hielt die Unterarme schützend vor das Gesicht. In einer Hand hielt er einen nutzlosen Duell-Laser, und Dirk konnte blankes Metall aus seinem Ärmel ragen sehen. Weißes Haar fiel ihm auf die Schultern. Dann, plötzlich, nach einer Ewigkeit eingefrorener Bewegung, war er verschwunden. Der Manta erbebte. Dirk zitterte mit ihm.
Vor ihnen war graue Leere, die nicht enden wollende Kurve des Boulevards.
Dirk drehte sich herum. Hinter ihnen kam ein Hund hergerannt, der geräuschvoll zwei Ketten hinter sich herzog. Aber während er ihn anstarrte, wurde er kleiner und kleiner. Dunkle Formen lagen auf der kalten Kunststoffstraße. Er kam nicht mehr dazu, sie zu zählen, so schnell waren sie verschwunden.
Ein Lichtstrahl flammte kurz über ihnen auf, verfehlte sie aber um mehrere Meter.
Gwen und er waren wieder allein, und es gab kein Geräusch außer dem Rauschen und Flüstern ihres Gleiters. Sie sah sehr gefaßt aus. Ihre Hände zitterten nicht. Seine schon, »Ich glaube, wir haben ihn getötet«, sagte er.
»Ja«, sagte sie. »Das haben wir. Und einige der Hunde auch.« Sie war eine Weile still. Dann fuhr sie fort:
»Wenn ich mich recht erinnere, war sein Name Teraan Braith soundso.« Beide schwiegen. Gwen schaltete die Scheinwerfer wieder ab.
»Was machst du?« sagte Dirk.
»Vor uns sind noch mehr«, sagte sie. »Denk an den Schrei, den wir gehört haben.«
»Ja.« Er dachte eine Zeitlang nach. »Kann der Gleiter noch einen Zusammenprall aushaken?«
Beinahe hätte sie gelacht. »Ach«, sagte sie. »Im kavalarischen Duellkodex gibt es auch Luftauseinandersetzungen. Gleiter werden oft als Waffen gewählt. Sie sind robust gebaut. Dieser hier ist so konstruiert, daß er Laserfeuer längerer Zeit widersteht.
Die Panzerung … Bedarf es weiterer Erklärungen?«
»Nein.« Er machte eine Pause. »Gwen.« »Ja?«
»Töte keinen mehr von ihnen.«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Sie jagen die Emereli und jeden, der das Pech hat, sich innerhalb von Challenge zu befinden. Mit Vorliebe würden sie uns jagen.«
»Wir könnten sie ablenken und so für die anderen Zeit gewinnen«, sagte er. »Jaan wird bald hier sein. Wir brauchen niemanden zu töten.« Sie seufzte. Ihre Hände bewegten sich, und sie bremste den Gleiter ab. »Dirk«, begann sie. Dann sah sie etwas und drosselte die Geschwindigkeit so weit, daß sie nur noch ganz langsam voranglitten. »Sieh mal, dort.« Sie deutete auf etwas.
In dem schwachen Licht war es schwierig, die Dinge genau auszumachen, bevor sie nicht ganz heran waren.
Und dann … Eine Leiche, oder was davon übrig war.
Mitten auf dem Boulevard. Blutig. Überall Fleischfetzen und angetrocknetes Blut auf dem Kunststoff. »Es muß sich um das Opfer handeln, dessen Schrei wir vor einiger Zeit hörten«, erklärte Gwen im Plauderton.
»Spottmenschen werden gejagt, aber nicht gefressen, mußt du wissen. Man sagt zwar, diese Kreaturen seien nicht menschlich, sondern nur eine Art halbintelligenter Tiere, und man glaubt auch daran. Dennoch überwinden die Jäger den Gestank des Kannibalismus nicht, selbst sie nicht. Sie wagen es nicht. Selbst in den frühesten Tagen Hoch Kavalaans, während der dunklen Jahrhunderte, aßen die Festhaltjäger niemals das Fleisch der Spottmenschen, die sie erlegt hatten. Das überließen sie den Göttern, den Mistmotten und Sandkäfern. Natürlich, nachdem sie aus Dankbarkeit ihren Hunden einige Stücke überlassen hatten. Die Jäger nehmen jedoch Trophäen.
Den Kopf. Siehst du den Rumpf dort? Zeig mir den Kopf.« Dirk fühlte ein Würgen im Hals.
»Die Haut auch«, fuhr Gwen fort. »Sie tragen Messer zum Abhäuten. Oder besser gesagt, sie trugen diese Messer. Vergiß nicht, die Spottmenschenjagd ist auf Hoch Kavalaan seit Generationen verfemt. Selbst der Hochleibeigenenrat von Braith hat sich dagegen ausgesprochen. Die verbliebenen Jäger töten unrechtmäßig. Sie müssen ihre Trophäen verstecken und prahlen damit höchstens untereinander. Hier jedoch … Nun, Jaan rechnet damit, daß die Braiths so lange auf Worlorn bleiben, wie es ihnen nur eben möglich ist. Sie reden viel davon, das alte Braith hier wieder aufleben zu lassen und ihre betheyns aus den Festhalten der Heimatwelt zu holen. Sie träumen von der Gründung einer neuen Koalition auf Worlorn, die den alten Traditionen verschrieben sein soll und alle vergessenen und absterbenden Scheußlichkeiten wieder ans Tageslicht zerrt. Von Dauer wäre das nicht: vielleicht ein Jahr oder zwei oder zehn, je nachdem, wie lange der toberianische Stratoschild die Wärme hält. Lorimaar Hoch-Larteyn und Komparsen — und keiner kann sie daran hindern.«
»Wahnsinn!«
»Vielleicht. Das hält sie aber nicht zurück. Falls Jaantony und Garse morgen abreisen würden, könnte sie nichts mehr daran hindern, ihr Vorhaben wahrzumachen.
Die Anwesenheit Eisenjades schreckt sie ab. Sollten die anderen reaktionären Braiths in Massen hier auftauchen, so würde das fortschrittliche Eisenjade ebenfalls Männer senden. Das ist ihre Befürchtung. Dann gäbe es nichts mehr zu jagen, und sie und ihre Kinder stünden vor einem kurzen und harten Leben auf einer sterbenden Welt — ohne die Genüsse, auf die sie versessen sind: die Freuden der Hochjagd.« Sie zuckte die Achseln. »Aber es gibt schon jetzt Trophäengalerien in Larteyn. Allein Lorimaar prahlt mit fünf Köpfen, und man sagt, daß er zwei Jacken aus ›Spottmenschenleder‹ besitzt. Er trägt sie nicht. Jaan würde ihn töten.«
Ruckartig ließ sie den Gleiter vorschnellen. »Also — willst du nun immer noch, daß ich ausweiche, wenn wir das nächste Mal auf Jäger stoßen?« fragte sie. »Jetzt weißt du, woran du mit ihnen bist!« Er antwortete nicht.
Wenig später begann es vor ihnen erneut zu rumoren.
Markerschütterndes Jaulen und Geschrei hallten durch den sonst verlassenen Spiralboulevard. Gwen mußte einem weiteren Ballonradwagen ausweichen, der mit zerfetzten Reifen im Wege lag und ein Bild der Verwüstung bot. Kurz darauf versperrte eine unförmige Masse schwarzen Metalls ihre Abfahrt. Es handelte sich um einen mächtigen Roboter, dessen vier ausgestreckte Arme in grotesken Stellungen über seinem Kopf erstarrt waren. Ein dunkler, mit gläsernen Augen besetzter Zylinder bildete den oberen Teil des Körpers. Unten bestand er aus einem mit Rädern versehenen fahrbaren Untersatz von der Größe eines Gleiters. »Ein Wärter«, bemerkte Gwen, als sie an der regungslosen Maschinenleiche vorbeischwebten. Dirk sah, daß man an jedem Arm die Greifzangen abgeschlagen hatte und der Rumpf mit ausgeschmolzenen Laserlöchern übersät war.
»Hat er gegen sie gekämpft?« fragte er.
»Wahrscheinlich«, antwortete sie. »Das bedeutet wohl, daß die Stimme noch nicht ganz außer Gefecht gesetzt wurde. Sie kontrolliert noch einige Funktionen.
Vielleicht haben wir deshalb nichts mehr von Bretan Braith gehört. Es könnte sein, daß sie dort unten Schwierigkeiten haben. Es ist ganz logisch, daß die Stimme ihre Wärter auf den Plan bringt, um die Lebensfunktionen der Stadt zu schützen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es spielt aber keine Rolle. Die Emereli halten es nicht mit der Gewalt. Die Einsatzmöglichkeiten der Wärter sind begrenzt. Sie feuern Betäubungsbolzen ab und können Tränengas durch ein Gitter an ihrer Fahr-plattform absprühen. Die Braiths werden gewinnen.
Jederzeit.« Hinter ihnen war der Roboter schon verschwunden, und vor ihnen lag der Boulevard wieder unberührt und leer. Aber die Geräusche wurden immer lauter.
Diesmal sagte Dirk nichts, als Gwen direkt auf die Jagdgesellschaft zuhielt und die Scheinwerfer einschaltete. Schreie und Stöße wechselten einander in kurzer Folge ab. Sie erwischte beide Braithjäger, obwohl sie wenig später daran zweifelte, daß der zweite Braith tot war. Der Gleiter hatte ihn mit der Schwinge erfaßt und mit großer Wucht auf seinen eigenen Hund geschleudert.
Und Dirk verschlug es die Sprache. Denn als der Mann, sich um die eigene Achse drehend, von dem rechten Flügel ihres Gleiters herabfiel, wurde ihm etwas aus der Hand gerissen, das er die ganze Zeit getragen hatte. Es flog in hohem Bogen durch die Luft und klatschte gegen die Fensterscheibe einer Boutique, wo es eine blutige Schmierspur hinterließ, bevor es zu Boden fiel. Er hatte es an den Haaren gehalten.
Die Korkenzieherstraße wand sich in weiten Kurven um den inneren Mantel von Challenge und verlor dabei langsam, aber stetig an Höhe. Dirk hätte sich nicht träumen lassen, daß es so lange dauern würde, von Stockwerk 388 — wo sie die zweite Jagdgesellschaft der Braith überrascht hatten — bis zur ersten Etage hinunterzukommen. Eine lange Fahrt in grauer Stille.
Sie trafen niemanden mehr an, weder Kavalaren noch Emereli. Auf Stockwerk 120 blockierte ein einsamer Wärter ihren Weg, richtete alle seine Sehzellen auf sie und befahl ihnen zu stoppen. Es war die Stimme, und sie klang noch immer beherrscht und freundlich. Aber Gwen verlangsamte die Fahrt nicht. Als sie ihn fast erreicht hatten, rollte der Wärter aus dem Weg und verschoß weder Bolzen noch Gas. Seine Befehle hallten hinter ihnen her den Boulevard hinunter.
Auf Etage 57 flatterten die trüben Lichter über ihnen und erloschen dann. Einen Augenblick lang flogen sie in völliger Dunkelheit. Dann schaltete Gwen die Scheinwerfer an und verringerte die Geschwindigkeit ein wenig. Keiner von beiden sprach, aber Dirk dachte an Bretan Braith und fragte sich, ob die Stromversorgung von allein ausgefallen war. Er entschied sich dafür, daß der Kavalare für die Dunkelheit verantwortlich war.
Einer der überlebenden Jäger hatte endlich seinen Festhaltbruder im Tiefgeschoß gewarnt.
Im Erdgeschoß mündete der Boulevard in eine prächtige Allee ein, von der in der Dunkelheit allerdings wenig zu erkennen war. Nur dort, wo die Kegel der Scheinwerfer hinleuchteten, sprangen Umrisse und Formen aus dem tiefschwarzen Meer, das sie umgab. Die von der als Kreisel angelegten Straße umschlossene Innenfläche wurde zum größten Teil von einem einzigen Baum eingenommen. Dirk erkannte einen massigen, verwachsenen Stamm, der schon mehr an einen massiven Holzturm erinnerte. Über ihnen war das Rascheln von Blättern zu hören. Gwen folge der Straße halb um den Baum herum. Dort, auf der anderen Seite, führte eine breite Einfahrt in die Nacht hinaus. Dirk spürte den Wind im Gesicht und erkannte, warum die Blätter rauschten.
Als sie weiter dem Kreisel folgten und an der Einfahrt vorüberglitten, sah er hinaus. Hinter dem Torbogen führte das weiße Band einer Straße in das Freigelände hinein.
Über der Straße schwebte ein Gleiter. Er näherte sich der Stadt. Dirk sah ihn nur einen kurzen Moment. Das dürftige Sternenlicht der Außenwelten genügte, um einen metallischen Glanz und die Umrisse eines mißgestalteten Kavalarentiers erkennen zu lassen. Er konnte den Gleiter nicht identifizieren. Die Eisenjades waren es nicht, da war er sich ganz sicher.