Tyrion

«Seid Ihr sicher, daß Ihr uns schon so bald verlassen müßt?«fragte ihn der Lord Commander.

«Mehr als sicher, Lord Mormont«, erwiderte Tyrion.»Mein Bruder Jaime wird sich fragen, was aus mir geworden ist. Er könnte zu dem Schluß kommen, Ihr hättet mich überredet, das Schwarz zu tragen.«

«Würde ich, wenn ich könnte. «Mormont nahm eine Krebsschere und zerbrach sie in seiner Faust. So alt er sein mochte, der Lord Commander besaß doch noch immer Bärenkräfte.»Ihr seid ein kluger Mann, Tyrion. Für Männer wie Euch haben wir auf der Mauer Verwendung.«

Tyrion grinste.»Dann sollte ich die Sieben Königslande nach Zwergen durchforsten und sie allesamt zu Euch verfrachten, Lord Mormont. «Während sie darüber lachten, schlürfte er das Fleisch aus einem Krebsbein und griff sich das nächste. Die Krebse waren erst am Morgen von Eastwatch eingetroffen, in einem Faß voller Eis, und sie waren saftig.

Ser Alliser Thorne war der einzige Mann am Tisch, der nicht einmal den Anflug eines Lächelns zeigte.»Lannister verspottet uns.«

«Nur Euch allein, Ser Alliser«, beteuerte Tyrion. Diesmal hatte das Gelächter um den Tisch einen unsicheren, nervösen Unterton.

Thornes schwarze Augen richteten sich voller Verachtung auf Tyrion.»Ihr habt eine kühne Zunge, für jemanden, der nicht einmal ein halber Mann ist. Vielleicht solltet Ihr mit mir dem Hof einen Besuch abstatten.«

«Wozu?«fragte Tyrion.»Die Krebse sind hier.«

Diese Bemerkung rief weiteres Gelächter hervor. Ser Alliser stand auf, sein Mund ein schmaler Strich.»Kommt und reißt Eure Scherze mit Stahl in der Hand.«

Tyrion blickte auf seine rechte Hand.»Aber ich habe Stahl in meiner Hand, Ser Alliser, auch wenn es mir eine Krebsgabel zu sein scheint. Sollen wir uns duellieren?«Er sprang auf seinen Stuhl und begann, mit seiner winzigen Gabel an Thornes Brust herumzustechen. Brüllendes Gelächter erfüllte das Turmzimmer. Krebsstücke fielen dem Lord Commander aus dem Mund, während er hustete und würgte. Selbst sein Rabe stimmte mit ein und krächzte laut vom Fenster her.

«Duell! Duell! Duell!«

Ser Alliser Thorne stolzierte derart steif hinaus, als steckte ein Dolch in seinem Hintern.

Noch immer rang Mormont um Atem. Tyrion klopfte ihm auf den Rücken.»Dem Sieger gebührt die Beute«, rief er aus.»Ich verlange Thornes Anteil an den Krebsen.«

Endlich erholte sich der Lord Commander.»Ihr seid ein böser Mensch, unseren Ser Alliser derart zu provozieren«, schalt er Tyrion.

Dieser setzte sich und nahm einen Schluck Wein.»Wenn sich jemand eine Zielscheibe auf die Brust malt, sollte er davon ausgehen, daß früher oder später ein Pfeil auf ihn abgeschossen wird. Ich habe tote Männer gesehen, die mehr Humor als Euer Ser Alliser hatten.«

«Stimmt nicht«, wandte Bowen Marsh, der Lord Haushofmeister, ein, dessen Gesicht rund und rot wie ein Granatapfel war.»Ihr solltet die drolligen Namen hören, die er den Knaben gibt, wenn er sie ausbildet.«

Tyrion hatte einige dieser drolligen Namen gehört.»Ich wette, daß die Knaben auch für ihn den einen oder anderen Namen kennen«, sagte er.»Reibt Euch das Eis aus den Augen, edle Herren. Ser Alliser Thorne sollte Eure Ställe ausmisten, nicht Eure jungen Krieger ausbilden.«

«In der Wache herrscht kein Mangel an Stallburschen«, knurrte Lord Mormont.»Das scheint heutzutage alles zu sein, was man uns schickt. Stallburschen, Diebe und Vergewaltiger. Ser Alliser ist ein gesalbter Ritter, einer der wenigen, die das Schwarz angelegt haben, seit ich Lord Commander bin. In King's Landing hat er tapfer gekämpft.«

«Auf der falschen Seite«, bemerkte Ser Jaremy Rykker trocken.»Ich muß es wissen, ich stand neben ihm auf den Zinnen. Tywin Lannister ließ uns die Wahl. Geht in Schwarz oder tragt Eure Köpfe noch vor Einbruch der Dunkelheit auf Spießen. Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, Tyrion.«

«Das tut Ihr nicht, Ser Jaremy. Mein Vater ist ein großer Freund von aufgespießten Köpfen, besonders jener Leute, die ihn auf die eine oder andere Weise verärgert haben. Und ein edles Gesicht wie das Eure, nun, zweifelsohne sah er schon vor sich, wie Ihr die Stadtmauer über dem Königstor ziert. Ich glaube, Ihr hättet dort atemberaubend ausgesehen.«

«Danke sehr«, erwiderte Ser Jaremy sarkastisch.

Lord Commander Mormont räusperte sich.»Manchmal fürchte ich, Ser Alliser hätte Euch durchschaut, Tyrion. Ihr verspottet uns und unsere edle Aufgabe hier tatsächlich.«

Tyrion zuckte mit den Schultern.»Wir alle müssen von Zeit zu Zeit verspottet werden, damit wir uns nicht allzu ernst nehmen. Mehr Wein bitte. «Er hielt seinen Becher hin.

Während Rykker diesen für ihn füllte, sagte Bowen Marsh:»Ihr habt großen Durst für einen so kleinen Mann.«

«Oh, ich denke, daß Lord Tyrion ein ziemlich großer Mann ist«, sagte Maester Aemon vom anderen Ende des Tisches her. Er sprach leise, und die hohen Offiziere der Nachtwache schwiegen, um besser zu hören, was der Greis zu sagen hatte.»Ich denke, er ist ein Riese unter uns, hier am Ende der Welt.«

Tyrion antwortete freundlich:»Man hat mich schon vieles genannt, Mylord, doch Riese war nur selten darunter.«

«Nichtsdestoweniger«, sagte Maester Aemon, während sich seine trüben, milchweißen Augen Tyrion zuwandten:»Ich denke, es stimmt.«

Dieses eine Mal fehlten Tyrion Lannister die Worte. Er konnte sich nur höflich verneigen.»Ihr seid zu gütig, Maester Aemon.«

Der blinde Mann lächelte. Er war winzig, faltig und haarlos, eingesunken unter dem Gewicht von einhundert Jahren, so daß die Ordenskette aus den vielen Metallen lose um seinen Hals hing.»Man hat mich schon vieles genannt, Mylord«, sagte er,»doch gütig war nur selten darunter. «Diesmal lachte Tyrion selbst als erster.

Viel später, als das ernste Geschäft des Essens beendet war und die anderen sie verlassen hatten, bot Mormont Tyrion einen Stuhl beim Feuer und einen Becher mit gewürztem Weingeist an, der so stark war, daß er ihm die Tränen in die Augen trieb.»Die Kingsroad kann so weit im Norden gefährlich sein«, erklärte ihm der Lord Commander, während sie tranken.

«Ich habe Jyck und Morrec«, sagte Tyrion,»und Yoren reitet wieder gen Süden.«

«Yoren ist nur ein einziger Mann. Die Wache wird Euch bis Winterfell begleiten«, verkündete Mormont mit einer Stimme, die keine Widerworte duldete.»Drei Mann sollten genügen.«

«Wenn Ihr darauf besteht, Mylord«, fügte sich Tyrion.»Ihr könntet den jungen Snow schicken. Er würde sich über die Gelegenheit freuen, seine Brüder wiederzusehen.«

Mormont sah ihn durch seinen dicken, grauen Bart fragend an.»Snow? Oh, der Stark-Bastard. Ich glaube nicht. Die Jungen müssen das Leben, das sie hinter sich gelassen haben, vergessen, die Brüder und Mütter und all das. Ein Besuch zu Hause würde nur Gefühle wecken, die man am besten unangetastet läßt. Ich kenne das. Meine eigene

Blutsverwandtschaft… meine Schwester Maege regiert inzwischen über die Bäreninsel, seit mein Sohn uns Schande gemacht hat. Ich habe Nichten, die ich noch nie gesehen habe. «Er nahm einen Schluck.»Außerdem ist Jon Snow noch ein Junge. Ihr sollt drei kräftige Schwertkämpfer bekommen, damit Ihr sicher seid.«

«Eure Sorge rührt mich, Lord Mormont. «Der starke Trunk ließ Tyrion übermütig werden, wenn auch nicht zu berauscht, um zu merken, daß der alte Bär etwas von ihm wollte.»Ich hoffe, ich kann mich für Eure Freundlichkeit erkenntlich zeigen.«

«Das könnt Ihr«, sagte Mormont barsch.»Eure Schwester sitzt an der Seite des Königs. Euer Bruder ist ein großer Ritter und Euer Vater der mächtigste Lord in den Sieben Königslanden. Sprecht in unserem Namen mit ihnen. Berichtet ihnen von unseren Nöten. Ihr habt es selbst gesehen, Mylord. Die Nachtwache stirbt. Unsere Stärke liegt inzwischen unter tausend Mann. Sechshundert hier, zweihundert im Shadow Tower, weniger noch in Eastwatch, und nur ein knappes Drittel davon sind kämpfende Truppen. Die Mauer ist hundert Wegstunden lang. Überlegt nur. Sollte ein Angriff erfolgen, habe ich drei Mann für jede Meile Mauer.«

«Drei und ein Drittel«, berichtigte Tyrion gähnend.

Mormont schien ihn kaum zu hören. Der alte Mann wärmte seine Hände am Feuer.»Ich habe Benjen Stark auf die Suche nach Yohn Royces Sohn geschickt, der seit seiner ersten Patrouille vermißt wird. Der junge Royce war grün hinter den Ohren wie eine Sommerwiese, dennoch bestand er auf der Ehre, sein eigenes Kommando zu führen, meinte, es sei seine Pflicht als Ritter. Ich wollte seinen Hohen Vater nicht beleidigen, daher habe ich ihm nachgegeben. Ich habe ihn mit zwei Mann losgeschickt, die ich zu den besten der Wache zählte. Ich Narr.«

«Narr«, gab der Rabe ihm recht. Tyrion blickte auf. Der Vogel starrte mit diesen winzigen, schwarzen Augen auf ihn herab und plusterte sich auf.»Narr«, rief er erneut. Zweifelsohne würde der alte Mormont es ihm übelnehmen, wenn er das Vieh erdrosselte. Eine Schande.

Der Lord Commander schenkte dem ärgerlichen Vogel keinerlei Beachtung.»Gared war fast so alt wie ich und länger auf der Mauer«, fuhr er fort,»dennoch scheint es, als hätte er uns abgeschworen und sei geflohen. Ich hätte es nie geglaubt, nicht von ihm, doch Lord Eddard hat mir seinen Kopf von Winterfell geschickt. Von Royce kein Wort. Ein Deserteur und zwei Mann verloren, und jetzt wird auch Benjen Stark vermißt. «Er seufzte schwer.»Wen soll ich auf die Suche nach ihm schicken? In zwei Jahren werde ich siebzig. Zu alt und zu müde für die Last, die ich trage, doch wenn ich sie absetze, wer wird sie aufnehmen? Alliser Thorne? Bowen Marsh? Ich müßte so blind wie Maester Aemon sein, wenn ich nicht sähe, was sie sind. Die Nachtwache ist zu einer Armee trübsinniger Burschen und müder, alter Männer verkommen. Sieht man von den Männern ab, die heute abend hier an meinem Tisch saßen, habe ich vielleicht noch zwanzig, die lesen können, und sogar noch weniger, die denken oder planen oder führen können. Früher verbrachte die Wache die Sommer beim Bau, und jeder Lord Commander hinterließ die Mauer höher, als er sie übernommen hatte. Inzwischen versuchen wir nur noch, am Leben zu bleiben.«

Es war ihm todernst, wie Tyrion merkte. Es war ihm etwas peinlich für den alten Mann. Lord Mormont hatte einen Gutteil seines Lebens auf der Mauer zugebracht, und er brauchte den Glauben daran, daß diese Jahre von Bedeutung wären.»Ich verspreche Euch, der König wird von Euren Nöten erfahren«, gelobte Tyrion feierlich,»und ich werde außerdem mit meinem Vater und meinem Bruder Jaime sprechen. «Und das würde er auch. Tyrion stand für sein Wort ein. Den Rest ließ er ungesagt. Daß König Robert ihn ignorieren, Lord Tywin ihn fragen, ob er den Verstand verloren habe, und Jaime nur lachen würde.

«Ihr seid ein junger Mann, Tyrion«, setzte Mormont wieder an.»Wie viele Winter habt Ihr schon erlebt?«

Er zuckte mit den Schultern.»Acht, neun, ich weiß nicht.«

«Und alle davon kurz.«

«Wie Ihr es sagt, Mylord. «Er war mitten in einem Winter geboren, einem besonders schrecklichen Winter, von dem die Maester sagten, er habe fast drei Jahre gedauert, doch Tyrions früheste Erinnerungen galten dem Frühling.

«Als ich klein war, sagte man, ein langer Sommer bedeute stets, daß auch ein langer Winter folgte. Dieser Sommer dauerte neun Jahre, Tyrion, und ein zehntes wird sich bald anschließen. Denkt daran.«

«Als ich klein war«, erwiderte Tyrion,»erzählte meine Amme mir, daß eines Tages, sofern die Menschen gut seien, die Götter der Welt einen Sommer ohne Ende schenken würden. Vielleicht waren wir besser, als wir denken, und der Große Sommer ist endlich gekommen. «Er grinste.

Der Lord Commander schien darüber nicht lachen zu können.»Ihr seid nicht Narr genug, um das zu glauben, Mylord. Schon werden die Tage kürzer. Es kann kein Zweifel daran bestehen. Aemon hat Briefe von der Citadel bekommen, Erkenntnisse, die mit seinen eigenen übereinstimmen. Das Ende des Sommers steht uns kurz bevor. «Mormont streckte einen Arm aus und hielt Tyrion fest bei der Hand.»Ihr müßt es Ihnen begreiflich machen. Ich sage Euch, Mylord, die Finsternis kommt. Es gibt wilde Tiere in den Wäldern, Schattenwölfe und Mammuts und Schneebären von der Größe eines Auerochsen, und in meinen Träumen habe ich noch finsterere Gestalten gesehen.«

«In Euren Träumen«, wiederholte Tyrion und dachte daran,

wie dringend er noch einen starken Trunk benötigte.

Mormont war dem scharfen Unterton in seiner Stimme gegenüber taub.»Die Fischer bei Eastwatch haben Weiße Wanderer am Ufer gesehen.«

Diesmal konnte Tyrion seine Zunge nicht hüten.»Die Fischer von Lannisport sehen oftmals Meerjungfrauen.«

«Denys Mallister schreibt, daß die Bergmenschen gen Süden ziehen und in größerer Zahl als je zuvor am Shadow Tower vorüberkommen. Sie fliehen, Mylord… nur wovor fliehen sie?«Lord Mormont trat ans Fenster und starrte in die Nacht hinaus.»Meine Knochen sind alt, Lannister, doch haben sie nie zuvor eine Kälte wie diese gespürt. Berichtet dem König, was ich Euch sage, ich bitte Euch. Der Winter naht, und wenn die Lange Nacht kommt, wird nur die Nachtwache zwischen dem Reich und der Finsternis stehen, die von Norden her drängt. Die Götter mögen uns beistehen, wenn wir dafür nicht vorbereitet sind.«

«Die Götter mögen mir beistehen, wenn ich heute nacht nicht etwas Schlaf bekomme. Yoren ist fest entschlossen, beim ersten Licht des Tages aufzubrechen. «Tyrion erhob sich, schläfrig vom Wein und des Untergangs müde.»Ich danke Euch für alle Freundlichkeit, die Ihr mir entgegengebracht habt, Lord Mormont.«

«Erzählt es ihnen, Tyrion. Erzählt es ihnen, damit sie es glauben. Das ist aller Dank, den ich brauche. «Er stieß einen Pfiff aus, und sein Rabe flog zu ihm und hockte sich auf seine Schulter. Mormont lächelte und gab dem Vogel ein paar Körner aus seiner Tasche, und so ließ Tyrion ihn zurück.

Draußen war es bitterkalt. In dicke Felle gewickelt zog Tyrion seine Handschuhe an und nickte den armen, erfrorenen Wichten zu, die vor dem Turm des Kommandanten Wache schoben. Er machte sich auf den Weg über den Hof zu seinen eigenen Gemächern im King's Tower, wobei er so schnell ging, wie seine kurzen Beine es zuließen. Schnee knirschte unter seinen Füßen, wenn seine Stiefel die nächtliche Kruste durchbrachen, und sein Atem dampfte vor ihm wie ein Banner. Er schob die Hände unter die Achseln und lief schneller, betete, daß Morrec daran gedacht hatte, sein Bett mit heißen Ziegeln aus dem Feuer vorzuwärmen.

Hinter dem King's Tower schimmerte die Mauer im Licht des Mondes, unermeßlich und geheimnisvoll. Einen Augenblick blieb Tyrion stehen, um hinaufzusehen. Seine Beine schmerzten vor Kälte und Eile.

Plötzlich ergriff ihn eine seltsame Tollheit, die Sehnsucht, einmal noch über das Ende der Welt hinauszublicken. Es wäre seine letzte Chance, dachte er, morgen würde er gen Süden reiten, und er konnte sich nicht vorstellen, wieso er jemals wieder in diese erfrorene Einsamkeit zurückkehren sollte. Vor ihm stand der King's Tower mit seinem Versprechen von Wärme und einem weichen Bett, doch merkte Tyrion, daß er an ihm vorüberging, hinüber zur ungeheuren, blassen Palisade der Mauer.

Eine Holztreppe führte an der Südseite hinauf, gestützt von riesigen, grob behauenen Stämmen, die tief im Eis verankert und dort festgefroren waren, gezackt wie ein Blitz. Die schwarzen Brüder hatten ihm versichert, daß sie erheblich stabiler war, als sie aussah, doch Tyrion hatte furchtbare Krämpfe in den Beinen und dachte gar nicht daran, hinaufzulaufen. Statt dessen ging er zum Eisenkäfig neben dem Schacht, kletterte hinein, riß hart am Glockenstrang, dreimal kurz.

Es schien, als mußte er eine Ewigkeit warten, während er dort mit der Mauer im Rücken hinter den Gitterstäben stand. Lange genug, daß Tyrion sich zu fragen begann, weshalb er das alles tat. Gerade hatte er beschlossen, seinen wunderlichen Einfall zu vergessen und ins Bett zu gehen, als der Käfig einen Ruck tat und sich auf den Weg nach oben machte.

Langsam stieg er auf, ruckend und zuckend erst, dann gleichmäßiger. Die Erde blieb unter ihm zurück, der Käfig schaukelte, und Tyrion klammerte sich an die Eisenstäbe. Er konnte das kalte Metall selbst durch seine Handschuhe noch fühlen. Morrec hatte Feuer in seinem Zimmer gemacht, wie er anerkennend bemerkte, doch im Turm des Lord Commanders war alles dunkel. Der alte Bär hatte mehr Verstand als er, wie es schien.

Dann war er über den Türmen, noch immer langsam auf dem Weg nach oben. Castle Black lag unter ihm, scharf umrissen vom Licht des Mondes. Von hier sah man, wie kahl und leer es war, mit fensterlosen Türmen, bröckelnden Mauern, Höfen, die an geborstenen Steinen erstickten. Etwas abseits sah er die Lichter von Mole's Town, dem kleinen Dorf, das etwa eine halbe Wegstunde südlich an der Kingsroad lag, und hier und da das helle Glitzern von Mondlicht auf Wasser, wo eisige Bäche von den Bergen herabströmten, um sich durch die Steppe zu schneiden. Der Rest der Welt war leere Ödnis windgepeitschter Hügel und steiniger Felder voller Schneeflocken.

Schließlich sagte eine heisere Stimme hinter ihm:»Bei allen sieben Höllen, es ist der Zwerg«, und der Käfig kam ruckend zum Stehen und blieb dort hängen, schaukelte langsam hin und her, an knarrenden Seilen.

«Holt ihn rein, verdammt. «Ein Knarren war zu hören, ein lautes Knarren von Holz, als der Käfig seitwärts glitt, und dann war die Mauer unter ihm. Tyrion wartete, bis das Schaukeln ein Ende nahm, dann stieß er die Käfigtür auf und sprang aufs Eis hinab. Eine mächtige Gestalt in Schwarz stützte sich auf die Winde, während eine zweite den Käfig hielt. Ihre Gesichter waren von wollenen Schals verdeckt, so daß man nur ihre Augen sehen konnte, sie selbst waren dick und rund von schichtenweise Wolle und Leder, Schwarz auf Schwarz.»Und was könntet Ihr wollen, um diese nachtschlafende Zeit?«fragte der Mann an der Winde.

«Einen letzten Blick.«

Die Männer sahen sich säuerlich an.»Blickt soviel Ihr wollt«, sagte der andere.»Paßt nur auf, daß Ihr nicht hinunterfallt, kleiner Mann. Der alte Bär würde uns das Fell über die Ohren ziehen. «Eine kleine Holzhütte stand unter dem großen Kran, und Tyrion sah den trüben Schein von Kohlenpfannen und spürte einen kurzen Hauch von Wärme, als die Männer die Tür öffneten und wieder hineingingen. Und dann war er allein.

Schneidend kalt war es, und der Wind zerrte wie eine aufdringliche Geliebte an seinen Kleidern. Oben war die Mauer breiter als mancherorts die Kingsroad, daher fürchtete Tyrion nicht zu fallen, obwohl es glatter war, als ihm recht sein konnte. Die Brüder streuten zermahlene Steine über die Wege, doch das Gewicht zahlloser Schritte schmolz die Mauer darunter, wodurch das Eis um den Kies zu wachsen schien, ihn schluckte, bis der Weg wieder eben war und es Zeit wurde, neue Steine zu zermahlen.

Dennoch war es nichts, was Tyrion nicht meistern konnte. Er blickte in den Osten und den Westen der Mauer, die sich vor ihm erstreckte, eine endlose, weiße Straße ohne Anfang und ohne Ende, mit finsterem Abgrund zu beiden Seiten. Gen Westen, beschloß er aus keinem bestimmten Grund, und er begann, in diese Richtung zu laufen, folgte dem Weg, welcher dem Nordrand am nächsten war, wo der Kies am frischesten zu sein schien.

Seine nackten Wangen waren rot vor Kälte, und seine Beine beklagten sich mit jedem Schritt, doch Tyrion beachtete sie nicht. Der Wind umwehte ihn, Kies knirschte unter seinen Füßen, während vor ihm das weiße Band der Form der Hügel folgte, höher und immer höher anstieg, bis es sich jenseits des westlichen Horizontes verlor. Er kam an einem mächtigen Katapult vorüber, so hoch wie eine Stadtmauer, dessen Fuß tief in der Mauer versenkt war. Der Wurfarm war zur Reparatur entfernt und dann vergessen worden. Er lag dort wie ein zerbrochenes Spielzeug, halb von Eis umschlossen.

Von der anderen Seite des Katapultes war eine Stimme zu hören.»Wer geht da? Halt!«

Tyrion blieb stehen.»Wenn ich zu lange stehenbleibe, werde ich festfrieren, Jon«, rief er, als leise eine helle, zottige Gestalt angelaufen kam und an seinen Fellen schnüffelte.»Hallo, Ghost.«

Jon Snow trat näher. Mit seinen Schichten von Fell und Leder sah er größer und schwerer aus, und die Kapuze seines Mantels hatte er tief ins Gesicht gezogen.»Lannister«, sagte er und riß den Schal von seinem Mund.»Hier hätte ich Euch zuallerletzt erwartet. «Er trug einen schweren Speer mit Eisenspitze, größer als er selbst, und ein Schwert saß in der Lederscheide an seiner Seite. Vor seiner Brust hing ein schwarz schimmerndes Kriegshorn mit silbernem Gurt.

«Hier hätte ich zuallerletzt erwartet, daß mich jemand sieht«, gab Tyrion zu.»Ich bin einer plötzlichen Eingebung gefolgt. Wenn ich Ghost anfasse, wird er mir die Hand abreißen?«

«Nicht wenn ich dabei bin«, versicherte Jon.

Tyrion kraulte den weißen Wolf hinter den Ohren. Die roten Augen betrachteten ihn gleichmütig. Das Tier reichte ihm inzwischen bis zur Brust. Ein Jahr noch, so fürchtete Tyrion, dann würde er zu ihm aufblicken.»Was machst du heute nacht hier oben?«fragte er.»Abgesehen davon, daß du dir deine Männlichkeit abfrierst…«

«Ich bin zur Wache eingeteilt«, erklärte Jon.»Schon wieder. Ser Alliser hat freundlicherweise dafür gesorgt, daß der Wachhabende besonderes Interesse für mich hegt. Er scheint zu glauben, wenn sie mich die halbe Nacht wach halten, schlafe ich bei den morgendlichen Übungen ein. Bisher habe ich ihn enttäuscht.«

Tyrion grinste.»Und hat Ghost schon das Jonglieren

gelernt?«

«Nein«, sagte Jon lächelnd,»aber Grenn hat sich heute morgen gegen Halder behauptet, und Pyp verliert sein Schwert nicht mehr ganz so oft wie sonst.«

«Pyp?«

«Pypar ist sein richtiger Name. Der kleine Junge mit den großen Ohren. Er hat gesehen, wie ich mit Grenn arbeite, und mich dann um Hilfe gebeten. Thorne hatte ihm noch nie gezeigt, wie man ein Schwert richtig hält. «Er wandte sich um und sah nach Norden.»Ich habe eine Meile der Mauer zu bewachen. Wollt Ihr mit mir gehen?«

«Sofern du langsam gehst«, sagte Tyrion.

«Der Wachhabende sagt, daß ich in Bewegung bleiben muß, damit mein Blut nicht gefriert, aber er hat nicht gesagt wie schnell.«

Sie gingen, mit Ghost wie einem weißen Schatten an Jons Seite.»Ich reise am Morgen ab«, sagte Tyrion.

«Ich weiß. «Jon klang seltsam traurig.

«Ich habe vor, auf dem Weg in den Süden auf Winterfell Station zu machen. Falls es eine Nachricht gibt, die ich für dich überbringen kann…«

«Sagt Robb, daß ich die Nachtwache kommandieren und ihn sichern werde, so daß er ebensogut mit den Mädchen stricken und Mikken bitten kann, sein Schwert zu Hufeisen einzuschmelzen.«

«Dein Bruder ist größer als ich. «Tyrion lachte.»Ich weigere mich, Botschaften zu überbringen, die mich das Leben kosten können.«

«Rickon wird fragen, wann ich heimkomme. Versucht zu erklären, wohin ich gegangen bin, falls Ihr es könnt. Sagt ihm, er kann alle meine Sachen haben, solange ich weg bin, das wird ihm gefallen.«

Die Leute schienen heute eine ganze Menge von ihm zu verlangen, dachte Tyrion Lannister.»Du könntest das alles in einem Brief festhalten, weißt du.«

«Rickon kann noch nicht lesen. Bran…«Plötzlich hielt er inne.»Ich weiß nicht, welche Nachricht ich Bran senden soll. Helft ihm, Tyrion.«

«Wie könnte ich ihm helfen? Ich bin kein Maester, der seine Schmerzen lindern kann. Ich kenne keinen Zauber, der ihm seine Beine wiedergeben könnte.«

«Ihr habt mir geholfen, als ich es brauchte«, erwiderte Jon Snow.

«Ich habe dir nichts gegeben«, sagte Tyrion.»Worte.«

«Dann gebt auch Bran Eure Worte.«

«Du bittest einen Lahmen, einen Krüppel das Tanzen zu lehren«, sagte Tyrion.»So ernsthaft die Lektion auch sein mag, dürfte das Ergebnis doch eher grotesk ausfallen. Nur weiß ich, was es heißt, einen Bruder zu lieben, Lord Snow. Ich will Bran alles an Hilfe geben, was in meiner Macht steht, so wenig es auch sein mag.«

«Ich danke Euch, Mylord von Lannister. «Er zog seinen Handschuh aus und reichte ihm die nackte Hand.»Freund.«

Tyrion war seltsam gerührt.»Die meisten aus meiner Verwandtschaft sind Bastarde«, sagte er mit schiefem Lächeln,»aber du bist der erste, den ich zum Freund habe. «Mit den Zähnen zog er seinen Handschuh aus und nahm Snows Hand, Haut auf Haut. Der Junge hatte einen festen, kräftigen Druck.

Als er den Handschuh wieder angezogen hatte, wandte sich Jon Snow abrupt um und trat an die niedrige, eisige Nordbrüstung. Vor ihm fiel die Mauer jäh ab. Vor ihm waren nur Dunkelheit und Wildnis. Tyrion folgte ihm, und Seite an Seite standen sie am Rand der Welt.

Die Nachtwache ließ den Wald nicht näher als eine halbe

Meile an die Nordwand der Mauer kommen. Das Dickicht aus Eisenholz und Wachbäumen und Eichen, das einst dort gewachsen war, hatte man schon vor Jahrhunderten gerodet und einen breiten Streifen freier Fläche geschaffen, den kein Feind ungesehen überqueren konnte. Tyrion hatte gehört, daß an anderer Stelle der Mauer, zwischen den drei Festungen, der wilde Wald im Laufe der Jahrzehnte wieder zurückgekrochen war. An manchen Orten hatten graugrüne Wachbäume und fahlweiße Wehrbäume im Schatten der Mauer Wurzeln geschlagen, doch Castle Black hatte einen gewaltigen Bedarf an Feuerholz, und hier wurde der Wald noch immer von den Äxten der schwarzen Brüder in Schach gehalten.

Doch war er nie weit. Von hier oben konnte Tyrion sehen, wie die dunklen Bäume jenseits der freien Fläche aufragten wie eine zweite Mauer, die man parallel zur ersten errichtet hatte, eine Mauer der Nacht. Nur wenige Äxte waren je in diesem schrecklichen Wald geschwungen worden, wo nicht einmal das Mondlicht das uralte Gewirr von Wurzeln und Dornen und gierigen Ästen durchdringen konnte. Dort drüben wuchsen riesige Bäume, und die Grenzwachen sagten, sie schienen zu brüten und kannten keine Menschen. Es konnte nicht verwundern, daß die Nachtwache vom Verwunschenen Wald sprach.

Während er dort stand und diese Finsternis betrachtete, in der nirgendwo ein Feuer brannte, in welcher der Wind wehte und die Kälte wie ein Speer in seine Magengrube stach, schien es Tyrion Lannister, als konnte er fast das Geschwätz über die Anderen, die Feinde in der Nacht, für bare Münze nehmen. Seine Scherze von Grumkins und Snarks schienen nicht mehr ganz so spaßig.

«Mein Onkel ist da draußen«, flüstere Jon und stützte sich auf seinen Speer, derweil er in die Dunkelheit starrte.»In der ersten Nacht, die man mich hier oben Wache schieben ließ, dachte ich, heute kommt Onkel Benjen zurück, und ich bin der erste, der ihn sieht, und dann stoße ich ins Hörn. Nur ist er nie gekommen. Nicht in jener Nacht und nicht in irgendeiner Nacht seither.«

«Laß ihm Zeit«, sagte Tyrion.

Weit im Norden fing ein Wolf an zu heulen. Eine weitere Stimme nahm den Ruf auf, dann noch eine. Ghost neigte den Kopf und lauschte.»Wenn er nicht zurückkehrt«, versprach Jon,»werden Ghost und ich ihn suchen. «Er legte seine Hand auf den Kopf des Schattenwolfs.

«Das glaube ich dir«, sagte Tyrion, doch was er dachte, war, Und wer sucht dann nach dir? Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

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